4

Das kleine Privatzimmer des im Norden Londons gelegenen Krankenhauses, in das man meinen Vater nach dem Unfall gebracht hatte, schien beinahe vollkommen ausgefüllt zu sein mit den Gestellen und Stricken und Streckapparaten und Gewichten, die sein extra hohes Bett verzierten. Abgesehen von all dem gab es nur ein Fenster mit hohem Sims und schlaffen Blumenvorhängen sowie die Aussicht auf die Hälfte der Rückseite eines anderen Gebäudes und ein Fitzelchen Himmel, ein brusthohes Waschbecken mit hebelbewehrten Wasserkränen, die so gemacht waren, daß man sie auch mit den Ellbogen bedienen konnte, ferner einen Nachttisch, auf dem in einem Glas Wasser seine unteren Zähne ruhten, und eine Art Sessel für Besucher.

Vor den margarinefarbenen Wänden leuchteten keine Blumen, und keine Karten mit Genesungswünschen prangten auf dem Nachttisch. Er machte sich nichts aus Blumen und hätte jeden Strauß gleich auf eine andere Station verbannt, und ich bezweifelte, daß irgend jemand den Fehler begehen würde, ihm mit einer Hochglanz- oder Witzkarte gute Besserung wünschen zu wollen, etwas, das er als geradezu entsetzlich vulgär betrachtet hätte.

Das Zimmer selbst war dürftig im Vergleich zu dem, was er sich ausgesucht hätte oder sich hätte leisten können, aber das Krankenhaus selbst hatte in jenen kritischen ersten Tagen den Eindruck effizienter Routiniertheit gemacht. Hier hatten sie es schließlich, wie einer der Ärzte mir beiläufig erklärte, ständig mit zertrümmerten Körpern aus Autounfällen auf der A I zu tun. Sie waren daran gewöhnt. Dafür ausgerüstet. Der Anteil an Unfallopfern überstieg den der normalen Patienten.

Der Arzt hielt es für einen Fehler, auf Privatbehandlung für meinen Vater zu bestehen, und er erklärte mir, daß die Sekunden auf der allgemeinen Station, wo immer viel los war, nicht ganz so zäh dahintickten, aber ich hatte ihm versichert, daß er meinen Vater nicht kannte. Er hatte mit den Schultern gezuckt und nachgegeben, aber hinzugefügt, daß die Privatzimmer nichts Besonderes seien. Waren sie auch nicht. Sie waren nicht zum Verweilen, sondern eher zum Davonlaufen, sofern man das konnte.

Als ich meinen Vater an diesem Abend besuchte, schlief er. Die verheerenden Auswirkungen der Schmerzen der vergangenen Woche hatten die Linien um seine Augen tiefer und dunkler werden lassen und seine Haut grau gefärbt, und er sah auf eine Art und Weise schutzlos aus, wie er es in wachem Zustand niemals tat. Die herrische Starre seines Mundes war gelöst, und mit geschlossenen Augen schien er nicht mehr neunzehn Zwanzigstel dessen, was geschah, zu mißbilligen. Eine Locke grauweißen Haares fiel weich über seine Stirn und gab ihm ein freundliches, sanftes Aussehen. Das war hoffnungslos irreführend.

Er war kein netter Vater gewesen. Ich hatte den größten Teil meiner Kindheit damit verbracht, ihn zu fürchten, den größten Teil meiner Jugend damit, ihn zu verachten, und erst seit einigen, sehr wenigen Jahren war es mir möglich, ihn zu verstehen. Die Härte, mit der er mich behandelt hatte, war nicht Zurückweisung oder Ablehnung gewesen, sondern Folge eines Mangels an Phantasie und der Unfähigkeit zu lieben. Er hatte nicht an Prügel geglaubt, aber er hatte verschwenderisch andere Strafen ausgeteilt — Liebesentzug und Einsamkeit —, ohne zu begreifen, daß für mich eine Qual war, was für ihn eine Nichtigkeit gewesen wäre. Einen Jungen drei oder vier Tage hintereinander in seinem Zimmer einzusperren konnte vielleicht nicht als echte Grausamkeit bezeichnet werden, mir jedoch hatte es Qualen der Demütigung und Scham bereitet. Und es war mir obwohl ich es versuchte, bis ich das unterdrückteste Kind in

Newmarket war — nicht möglich gewesen, alles zu vermeiden, was mein Vater als Fehler interpretieren konnte.

Dann hatte er mich ins Internat von Eton geschickt, was sich auf seine Weise als genauso herzlos erwies, und an meinem sechzehnten Geburtstag lief ich davon.

Ich wußte, daß er mir nie verziehen hatte. Eine Tante hinterbrachte mir seinen zornigen Kommentar: daß er mich mit Pferden zum Reiten ausgestattet und mich Gehorsam gelehrt habe. Was könne ein Vater mehr für seinen Sohn tun?

Er hatte nicht den Versuch gemacht, mich zurückzuholen, und in all den Jahren meines geschäftlichen Erfolgs hatten wir nicht ein einziges Mal miteinander gesprochen. Nach einer Trennung von vierzehn Jahren war ich eines Tages zu den Ascot-Rennen gegangen, da ich wußte, daß er dort sein würde, und endlich Frieden schließen wollte.

Als ich sagte:»Mr. Griffon…«:, drehte er sich in einer Gruppe von Menschen zu mir um, hob die Augenbrauen und sah mich fragend an. Seine Augen waren kühl und ausdruckslos. Er hatte mich nicht erkannt.

Mit mehr Belustigung als Verlegenheit hatte ich erwidert:»Ich bin dein Sohn… Neil.«

Außer Überraschung zeigte er kein wie auch immer geartetes Gefühl, und mit der stillschweigenden Voraussetzung, daß keiner von uns beiden etwas Derartiges wünschte, machte er den Vorschlag, daß ich, wann immer ich nach Newmarket kam, bei ihm hereinschauen solle.

Das hatte ich seither drei- oder viermal jährlich getan, manchmal auf einen Drink, manchmal zum Mittagessen, aber niemals, um zu bleiben. Mit dreißig war es mir möglich, ihn von einem viel vernünftigeren Standpunkt zu betrachten, als ich das mit fünfzehn getan hatte. Sein Verhalten mir gegenüber war immer noch größtenteils unfreundlich, kritisch und strafend, aber da ich nicht mehr von seiner Anerkennung abhängig war und er mich nicht mehr in mein Zimmer sperren konnte, wenn ich anderer Meinung war als er, fand ich eine Art perverses Vergnügen an seiner Gesellschaft.

Als man mich nach dem Unfall in aller Eile nach Rowley Lodge rief, hätte ich nicht geglaubt, daß ich wieder in meinem alten Zimmer schlafen würde, sondern daß ich mir irgendein anderes aussuchen würde. Aber am Ende schlief ich dann doch darin, weil dieses Zimmer für mich zurechtgemacht worden war und weil in allen anderen immer noch Schonbezüge über den Möbeln lagen.

Als ich die unveränderten Möbelstücke und die fünfzigmal gelesenen Bücher auf dem kleinen Bücherregal betrachtete, kamen zu viele Erinnerungen wieder in mir hoch; und ich konnte mich so zynisch belächeln, wie ich nur wollte, in jener ersten Nacht zu Hause war es mir nicht möglich, bei geschlossener Tür im Dunkel meines Zimmers zu liegen.

Ich setzte mich in den Sessel und las die Times, die auf seinem Bett lag. Seine Hand, gelblich, fleckig und von dicken, knotigen Venen durchzogen, lag schlaff auf den Laken, immer noch halb um die schwarze Brille gekrümmt, die er vor dem Einschlafen abgesetzt hatte. Ich erinnerte mich, daß ich mir mit siebzehn angewöhnt hatte, solche Brillengestelle zu tragen, mit Fensterglas darin, und zwar deshalb, weil sie in meinen Augen für Autorität standen und weil ich meinen Klienten eine ältere und gewichtigere Persönlichkeit hatte präsentieren wollen. Ob es den Brillen zu verdanken war oder nicht, das Geschäft hatte floriert.

Er bewegte sich und stöhnte, und die schlaffe Hand ballte sich krampfhaft zur Faust, so fest, daß sie um ein Haar die Gläser zerbrochen hätte.

Ich stand auf. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz, und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn; er spürte, daß jemand im

Zimmer war, und riß die Augen auf, als wäre er ganz gesund.

«Ach… du bist es.«

«Ich hole eine Krankenschwester«, sagte ich.

«Nein. Geht gleich besser… Eine Minute.«

Aber ich holte trotzdem eine Schwester, und sie warf einen Blick auf die verkehrt herum an ihrem Busen steckende Uhr und bemerkte, daß es Zeit für seine Tabletten war, beinahe jedenfalls.

Nachdem er die Pillen geschluckt hatte und das Schlimmste vorüber war, bemerkte ich, daß es ihm in der kurzen Zeit meiner Abwesenheit gelungen war, seine unteren Zähne wieder einzusetzen. Das Wasserglas stand leer auf dem Nachttisch. Immer auf seine Würde bedacht, mein Vater.

«Hast du jemanden gefunden, der die Lizenz übernimmt?«fragte er.

«Soll ich dir die Kissen aufschütteln?«erkundigte ich mich.

«Laß die Finger davon«, fuhr er auf.»Hast du jemanden gefunden, der den Stall übernimmt?«Er würde so lange weiterfragen, das wußte ich, bis ich ihm eine direkte Antwort gab.

«Nein«, sagte ich.»Das ist nicht nötig.«

«Wie meinst du das?«

«Ich habe beschlossen, selbst zu bleiben.«

Er öffnete den Mund, genau wie Etty, und schloß ihn wieder, mit der gleichen Heftigkeit.

«Das kannst du nicht. Du hast keinen blassen Schimmer davon. Du könntest nicht ein einziges Rennen gewinnen.«

«Die Pferde sind gut, Etty ist gut, und du kannst hier sitzen und die Nennungen machen.«

«Du wirst nicht übernehmen. Du wirst jemanden suchen, der etwas davon versteht, jemanden, mit dem ich einverstanden bin.

Die Pferde sind viel zu wertvoll, um sie herumpfuschenden Amateuren zu überlassen. Du wirst tun, was ich dir sage. Hast du gehört? Du wirst tun, was ich sage.«

Das Schmerzmittel wirkte bereits beruhigend auf seine Augen, wenn auch noch nicht auf seine Zunge.

«Die Pferde werden keinen Schaden nehmen«, sagte ich und dachte an Moonrock und Lucky Lindsay und den Tritt, den der Zweijährige abbekommen hatte, und wünschte von Herzen, den ganzen Schlamassel noch am selben Tag Bredon übergeben zu können.

«Wenn du glaubst«, sagte er mit einer gewissen Boshaftigkeit,»daß du, weil du Antiquitäten verkaufst, einen Rennstall betreiben kannst, dann überschätzt du dich.«

«Ich verkaufe keine Antiquitäten mehr«, bemerkte ich gelassen. Wie er sehr wohl wußte.

«Es gelten andere Prinzipien«, sagte er.

«Die Prinzipien aller Geschäfte sind die gleichen.«

«Blödsinn.«

«Sieh zu, daß die Preise stimmen, und liefere dem Kunden, was er will.«

«Ich kann mir nicht vorstellen, wie du Gewinner liefern willst«, erwiderte er geringschätzig.

«Nun«, sagte ich bescheiden,»ich kann mir nicht vorstellen, warum nicht.«

«Ach, das kannst du nicht?«fragte er ätzend.»Kannst du das wirklich nicht?«

«Nicht, wenn ich auf deinen Rat rechnen kann.«

Er warf mir einen langen, wortlosen Blick zu, während er nach einer angemessenen Antwort suchte. Die Pupillen in seinen grauen Augen hatten sich zu Mikropunkten zusammengezogen. In seinen Kiefermuskeln — kurz zuvor noch verkrampft — war keine Kraft mehr.

«Du mußt einen anderen finden«, sagte er, aber die Worte klangen bereits verschwommen. Ich machte eine unverbindliche Bewegung mit dem Kopf, halb ein Nicken, halb ein Schütteln, und die Auseinandersetzung war für diesen Tag zu Ende. Danach fragte er nur noch nach den Pferden. Ich erzählte ihm von jedem, wie es beim Training galoppiert war, und er schien zu vergessen, daß er bezweifelte, daß ich davon etwas verstand. Als ich ihn kurz darauf allein ließ, war er schon wieder eingeschlafen.

Ich drückte auf die Türklingel meiner Wohnung in Hampstead, zweimal lang, zweimal kurz, und bekam drei schnelle Summer zurück, was bedeutete, komm herein. Also steckte ich meinen Schlüssel in das Schnappschloß und öffnete die Tür.

Gillies Stimme wehte mir körperlos durch den Flur entgegen.

«Ich bin in deinem Schlafzimmer.«

«Wie praktisch«, sagte ich lächelnd zu mir selbst, aber sie strich nur die Wände.

«Ich hab’ heute abend gar nicht mit dir gerechnet«, sagte sie, als ich sie küßte. Sie hielt ihre Arme von mir weg, um kein Ockergelb auf meine Jacke zu schmieren. Auf ihrer Stirn prangte ein gelber Strich, eine feine, ebenfalls gelbe Staubschicht lag auf ihrem leuchtend haselnußbraunen Haar, und sie sah freundlich und unbeschwert aus. Gillie hatte mit sechsunddreißig eine Figur, für die sich jedes Model geschämt hätte, und ein attraktives Gesicht mit graugrünen klugen Augen, aus denen Lebenserfahrung sprach. Sie war selbstsicher, reif, in vielem bewandert und hatte eine gescheiterte Ehe und den Tod ihres Kindes hinter sich. Sie hatte sich auf eine Anzeige in der Times gemeldet, in der ich nach einem Untermieter gesucht hatte, und seit zweieinhalb Jahren war sie nun meine Untermieterin und vieles mehr.

«Was hältst du von dieser Farbe?«fragte sie.»Und dazu nehmen wir einen zimtfarbenen Teppich und gestreifte Vorhänge in Grün und grell Pink.«

«Das ist nicht dein Ernst.«

«Es wird atemberaubend aussehen.«

«Hm«, sagte ich, aber sie lachte nur. Als sie eingezogen war, hatte die Wohnung weiße Wände gehabt, polierte Möbel und blaue Vorhänge. Gillie hatte nur die Möbel behalten — angesichts ihrer neuen Umgebung wäre Sheraton und Chippendale die Luft weggeblieben.

«Du siehst müde aus«, sagte sie.»Lust auf Kaffee?«

«Und ein Sandwich, falls Brot da ist.«

Sie dachte nach.»Wir hätten Knäckebrot.«

Sie war permanent auf Diät, und ihr Trick bestand darin, nichts Eßbares zu kaufen. Das Ergebnis war, daß wir viel auswärts aßen, was ihrem Vorhaben ausgesprochen abträglich war.

Gillie hatte meinen klugen Sprüchen über das Anlegen von Vorräten, von geeigneten Proteinen wie Eiern und Käse aufmerksam zugehört und dann fröhlich weitergemacht wie eh und je, was mich früh zu der Erkenntnis brachte, daß es sie nicht wirklich nach einer Schönheitswettbewerbsfigur gelüstete, sondern daß sie es zufrieden war, solange sie nur nicht aus ihren Strickkleidern Größe zweiundvierzig herausplatzte. Erst wenn die zu eng wurden, nahm sie tatsächlich drei Kilo ab. Sie konnte, wenn sie wollte. Nur, sie wollte eben nicht unbedingt.

«Wie geht es deinem Vater?«erkundigte sie sich, während ich mich durch ein Sandwich aus Roggenknäckebrot und rohen Tomatenscheiben knabberte.

«Hat immer noch Schmerzen.«

«Ich hätte doch gedacht, daß man dagegen etwas tun kann.«

«Nun, das kann man auch, zumindest meistens. Und die zuständige Krankenschwester hat mir heute abend gesagt, daß er in ein oder zwei Tagen wieder auf dem Damm sein wird. Sie machen sich keine Sorgen mehr wegen seines Beines. Die Wunde heilt sauber ab, und das Ganze sollte sich in Kürze soweit beruhigt haben, daß es ihm bessergeht.«

«Er ist natürlich nicht mehr jung.«

«Sechsundsiebzig«, erwiderte ich zustimmend.

«Die Knochen werden eine ganze Weile brauchen, um zu verheilen.«

«Mhm.«

«Ich nehme an, du hast jemanden gefunden, der die Festung halten wird.«

«Nein«, sagte ich,»ich werde selbst bleiben.«

«Junge, Junge«, sagte sie,»hätte ich mir doch denken können.«

Ich sah sie — den Mund voller Krümel — fragend an.

«Alles, was nach einer Herausforderung riecht, liegt ganz auf deiner Linie.«

«Das hier nicht«, sagte ich echt überzeugt.

«Es wird im Stall auf wenig Begeisterung stoßen«, diagnostizierte sie,»und deinen Vater an den Rand eines Schlaganfalls treiben — und einen Riesenerfolg bringen.«

«Korrekt, was die ersten beiden Punkte betrifft, schiefgewickelt bei Nummer drei.«

Sie schüttelte mit dem Schimmer eines Lächelns den Kopf.»Nichts ist unmöglich für einen Senkrechtstarter.«

Sie wußte, daß ich diesen Ausdruck aus dem Pressejargon nicht mochte, und ich wußte, daß sie ihn gern benutzte.»Mein Lover ist ein Senkrechtstarter«, sagte sie einmal bei einer sich müde dahinschleppenden Party in ein plötzliches Schweigen hinein. Und die Männer umlagerten sie.

Sie schenkte mir ein Glas des wunderbaren 61er Chateau Lafite ein, den sie frevelhafterweise zu allem trank, angefangen bei Kaviar bis hin zu Bohnen in Tomatensauce. Als sie einzog, hatte ich den Eindruck, daß ihre Besitztümer beinahe vollständig aus Pelzmänteln und Weinkisten bestanden, die sie mit einem Schlag von ihrer Mutter beziehungsweise ihrem Vater geerbt hatte, nachdem diese bei einem Erdbeben in Marokko zusammen ums Leben gekommen waren. Sie hatte die Mäntel verkauft, weil sie fand, daß sie sie dick machten, und hatte sich nach und nach durch die kostbaren Behältnisse getrunken, nach denen Weinhändler sich händeringend verzehrten.

«Dieser Wein ist eine Investition«, hatte einer von ihnen unter offensichtlichen Qualen zu mir gesagt.

«Aber irgend jemand muß ihn doch trinken«, erwiderte Gillie vernünftig und zog den Korken aus der zweiten Flasche des 61er Cheval Blanc.

Gillie war von ihrer Großmutter her so reich, daß sie es angenehmer fand, den Superstoff zu trinken, als ihn mit Gewinn zu verkaufen und eine Vorliebe für Marke X zu entwickeln. Sie war überrascht gewesen, daß ich ihrer Meinung war, bis ich sie darauf hinwies, daß meine Wohnung voller kostbarer Stücke stand, wo doch bemalte Kiefernbretter denselben Zweck erfüllt hätten. Also legten wir mitunter unsere Füße auf einen spanischen Eßtisch aus Nußbaum, der aus dem sechzehnten Jahrhundert stammte und jeden Antiquitätenhändler schluchzend auf die Knie hätte sinken lassen, tranken ihren Wein aus Waterford-Gläsern aus dem achtzehnten Jahrhundert und lachten über uns selbst, weil die einzig ungefährliche Art und Weise, mit einem gewissen Maß an Wohlstand zu leben, eben das Lachen war.

Gillie hatte einmal gesagt:»Ich verstehe nicht, warum dieser Tisch etwas Besonderes sein soll, nur weil er schon seit den Zeiten der Armada da ist. Sieh dir doch nur diese holzwurmzerfressenen Beine an…«Sie zeigte auf vier Füße, die von Lochfraß durchsetzt, von mehreren Jahrhunderten abgeschabt und vollkommen glanzlos waren.

«Im sechzehnten Jahrhundert wurden die Steinfußböden oft mit Bier geschrubbt, weil sie dadurch weißer wurden. Bier war zwar gut für die Steine, aber doch ein wenig ungünstig für alles Holz, das regelmäßig einen Teil davon abbekam.«

«Verfaulte Beine beweisen, daß er echt ist?«

«Den Nagel auf den Kopf getroffen.«

Ich mochte diesen Tisch lieber als alles andere, was ich besaß, denn auf ihm hatte ich mein ganzes Vermögen gemacht. Sechs Monate nachdem ich Eton den Rücken gekehrt hatte, machte ich mit dem, was ich als Fußbodenkehrer bei Sotheby’s gespart hatte, ein eigenes Geschäft auf, indem ich einen Handkarren durch die Vororte blühender, ländlicher Städte schob und alles kaufte, was man mir anbot und Gewinn versprach. Den Plunder verkaufte ich an Händler für Gebrauchtmöbel weiter, die besseren Stücke an Antiquitätenhandlungen, und als ich siebzehn war, dachte ich über einen eigenen Laden nach.

Den spanischen Tisch entdeckte ich in der Werkstatt eines Mannes, von dem ich gerade eine spätviktorianische Kommode gekauft hatte. Ich betrachtete die eisenbeschlagenen, gekreuzten Rundhölzer, die unter der zehn Zentimeter dicken Platte solide, quadratische Beine verbanden, und hatte plötzlich schändliche Schmetterlinge im Bauch.

Der Mann hatte ihn als Tapeziertisch benutzt, und er war mit Farbtöpfen übersät.

«Den kauf ich auch, wenn Sie wollen«, sagte ich.

«Das ist doch nur ein alter Arbeitstisch.«

«Nun… Wieviel wollen Sie dafür?«Er betrachtete meinen Handkarren, auf den ich gerade mit seiner Hilfe die Kommode geladen hatte. Betrachtete die zwanzig Pfund, die ich ihm dafür gegeben hatte, betrachtete meine schäbigen Jeans und die Lederweste, und dann sagte er freundlich:»Nein, mein Junge, ich will dich nicht ausplündern. Und außerdem, sieh doch nur, die Beine sind unten schon ganz verfault.«

«Ich könnte mir noch mal zwanzig leisten«, sagte ich zweifelnd.»Aber das ist auch so ziemlich alles, was ich dabei habe.«

Ich mußte lange auf ihn einreden, und am Ende wollte er nur fünfzehn nehmen. Er schüttelte den Kopf über mich und sagte mir, daß ich mich besser ein wenig mehr bilden sollte, bevor ich mich ruinierte. Aber ich säuberte den Tisch, polierte die wunderschöne Nußbaumplatte und verkaufte ihn vierzehn Tage später an einen Antiquitätenhändler, den ich aus meiner Sotheby-Zeit kannte — für zweihundertsiebzig Pfund.

Nachdem meine Ersparnisse solchermaßen angeschwollen waren, eröffnete ich meinen ersten Laden, und es ging stetig bergauf. Als ich dann zwölf Jahre später alles an ein amerikanisches Syndikat verkaufte, besaß ich eine Kette von elf Läden, alle freundlich und sauber und voller Schätze.

Kurze Zeit später folgte ich einem sentimentalen Drang, spürte den spanischen Tisch auf und kaufte ihn zurück. Und ich ging auch noch einmal zu dem Bastler mit seiner Werkstatt und gab ihm zweihundert Pfund, die beinahe einen Herzanfall auslösten; also fand ich, wenn irgend jemand das Recht hatte, seine Füße auf dieses teure Brett zu legen, dann ich.

«Woher hast du die ganzen blauen Flecke?«fragte Gillie, während sie sich im Bett des Gästezimmers aufsetzte und mir beim Ausziehen zusah.

Ich blinzelte hinunter auf die malvenfarbenen Stellen an meinem Körper.

«Ein Tausendfüßler hat mich überfallen.«

Sie lachte.»Du bist ein hoffnungsloser Fall.«

«Und ich muß morgen um sieben wieder in Newmarket sein.«

«Dann hör auf, Zeit zu verschwenden. Es ist schon Mitternacht.«

Ich kletterte zu ihr ins Bett, und während wir in nackter Gemeinsamkeit zusammenlagen, kämpften wir uns durch das Times-Kreuzworträtsel.

So war es immer am besten. Wenn wir das Licht ausmachten, waren wir entspannt und ineinander verschlungen und wandten uns einander für einen Akt zu, der ein Teil unserer Beziehung war, aber nicht alles.

«Ich liebe dich ziemlich«, sagte Gillie.»Ob du’s glaubst oder nicht.«

«Oh, ich glaube dir«, sagte ich bescheiden.»Tausend andere täten das nicht.«

«Hör auf, an meinem Ohr zu knabbern; ich mag das nicht.«

«In den Büchern steht, das Ohr sei eine erogene Zone erster Klasse.«

«Die Bücher können mich mal.«

«Entzückend.«

«Und diese ganzen frauenbewegten Veröffentlichungen über den >Mythos des vaginalen Orgasmusc. So ein Quatsch. Natürlich ist das kein Mythos.«

«Das hier soll keine öffentliche Versammlung werden«, sagte ich.»Das hier soll eine nette, kleine, private Liebesszene werden.«

«Na gut… Wenn du darauf bestehst.«

Sie schlängelte sich bequemer in meine Arme hinein.

«Ich erzähl’ dir was, wenn du möchtest«, sagte sie.

«Wenn es unbedingt sein muß.«

«Die Lösung für vier senkrecht ist nicht Halluzination, sondern Halluzinogene.«

Ich schüttelte mich.»Na, vielen Dank.«

«Dachte, du wüßtest das vielleicht gern.«

Ich küßte ihren Hals und legte meine Hand auf ihren Bauch.

«Das heißt, in zwanzig waagerecht ist es kein T, sondern ein G«, sagte sie.

«Stigma?«

«Kluges Kerlchen.«

«Ist das alles?«

«Mhm.«

Nach einer Weile sagte sie:»Findest du den Gedanken an Vorhänge in Grün und grell Pink wirklich so schrecklich?«

«Würde es dir etwas ausmachen, dich einfach nur auf die gerade anstehende Angelegenheit zu konzentrieren?«

Ich konnte in der Dunkelheit spüren, daß sie grinste.

«In Ordnung«, sagte sie.

Und konzentrierte sich.

Am Morgen riß sie mich in brutalster Wecker-Manier aus dem Schlaf. Es war nicht so sehr der Klaps, mit dem sie mich weckte, sondern die Stelle, die sie sich dafür aussuchte. Lachend tauchte ich aus der Tiefe auf.

«Guten Morgen, Kleiner«, sagte sie.

Sie stand auf und machte Kaffee, ihr haselnußbraunes Haar war ein einziges Wirrwarr und ihre Haut blaß und frisch. Morgens sah sie einfach wunderbar aus. Sie rührte einen Schlag dicker Sahne in den starken, schwarzen Kaffee und setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch.

«Da hat es jemand wirklich auf dich abgesehen, wie?«sagte sie beiläufig.

Ich strich Butter auf ein Stück Roggengekrümel und griff nach dem Honig.

«Sozusagen«, gab ich zu.

«Du willst es nicht erzählen?«

«Kann nicht«, sagte ich kurz.»Aber ich werd’s tun, sobald ich kann.«

«Du magst ja einen Willen wie Teakholz haben«, sagte sie,»aber du hast einen genauso verletzlichen Körper wie alle anderen auch.«

Ich sah sie überrascht und mit vollem Mund an. Sie rümpfte die Nase über mich.

«Ich habe dich früher für rätselhaft und aufregend gehalten«, sagte sie.

«Danke.«

«Und jetzt bist du ungefähr so aufregend wie ein Paar alte Hausschuhe.«

«Wie nett«, murmelte ich.

«Früher habe ich gedacht, es wäre etwas Magisches daran, wie du all diese beinahe bankrotten Geschäfte wieder auf die Beine kriegst… Und dann fand ich heraus, daß es keine Magie war, sondern nur schlichter, gesunder Menschenverstand.«

«Ich bin eben ein schlichter, langweiliger Kerl«, gab ich ihr recht und spülte die Krümel mit einem Schluck Kaffee herunter.

«Ich kenne dich jetzt so gut«, sagte sie.»Ich weiß, wie du tickst… Und all diese blauen Flecken…«Sie schauderte plötzlich in dem warmen kleinen Zimmer.

«Gillie«, sagte ich vorwurfsvoll,»dich plagt die Intuition«, und mit dieser Bemerkung allein hatte ich mich bereits vollkommen verplappert.

«Nein… ich interpretiere bloß«, sagte sie.»Und du sieh zu, daß du auf dich aufpaßt.«

«Alles, was du willst.«

«Denn«, erklärte sie ernsthaft,»ich habe keine Lust, mir die Mühe machen zu müssen, nach einer neuen Erdgeschoßwohnung auf die Jagd zu gehen, zu der ein Keller gehört, in den man Wein einlagern kann. Ich habe schon einen ganzen Monat gebraucht, um diese eine zu finden.«

Загрузка...