1

Die beiden trugen dünne Gummimasken.

Identische.

Mit ungläubigem Erstaunen starrte ich die beiden identischen, gesichtslosen Gesichter an. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die zwanzig Minuten vor Mitternacht Besuch von gummimaskentragenden Individuen bekommen, die nichts Gutes im Schilde führen. Ich war vierunddreißig Jahre alt, ein nüchtern denkender Geschäftsmann, der gerade in aller Ruhe die Rechnungsbücher der väterlichen Trainingsställe in Newmarket auf den neuesten Stand brachte. Ich saß über meiner Arbeit, im Lichtkegel der Schreibtischlampe, und die beiden Gummigesichter bewegten sich bleich vor der fast schwarzen Vertäfelung des düsteren Raumes wie zwei fremde Monde, deren Bahnen sich der Sonne nähern. Ich hatte aufgeblickt, als ich das Schnappschloß klicken hörte, und da waren sie, zwei dunkle Gestalten, die gelassen eintraten; kurz waren sie als Silhouetten im sanften Licht des Flurs des großen Hauses zu sehen, bevor sie die Tür schlossen und vor der dunklen Vertäfelung wieder unsichtbar wurden. Sie bewegten sich ohne jedes Quietschen, ohne jedes Scharren über den blanken, gebohnerten Fußboden. Abgesehen von den vermummten Gesichtern waren sie von Kopf bis Fuß schwarz.

Ich griff nach dem Telefonhörer und wählte die erste von drei Neunen.

Einer von ihnen näherte sich nun schneller, riß den Arm hoch und ließ ihn auf das Telefon herunterkrachen. Ich zog meinen Finger gerade noch rechtzeitig zurück, kurz bevor er mit der zweiten Neun fertig war; die dritte würde ohnehin niemand mehr zuwege bringen. Die schwarzbehandschuhte Hand befreite langsam einen schweren Polizeiknüppel aus den zerschmetterten

Resten des Posteigentums.

«Es gibt nichts zu stehlen«, bemerkte ich. Der zweite Mann hatte nun auch den Schreibtisch erreicht. Er stand auf der anderen Seite, mir gegenüber, und blickte auf mich herab. Dann zog er eine Automatik — ohne Schalldämpfer — hervor, mit der er unerschütterlich auf meinen Nasenrücken zielte. Ich konnte weit in den Lauf hineinsehen.

«Sie«, sagte er,»Sie kommen mit uns.«

Seine Stimme war ausdruckslos, ohne Betonung, bedächtig. Er hatte keinen besonderen Akzent, aber er war kein Engländer.

«Warum?«

«Sie kommen mit.«

«Wohin?«

«Sie kommen mit.«

«Das werde ich nicht, wissen Sie«, sagte ich freundlich, streckte die Hand aus und drückte auf den Knopf, der die Schreibtischlampe ausschaltete.

Die plötzliche, totale Dunkelheit verschaffte mir einen Zwei-Sekunden-Vorteil. Ich nutzte ihn, um aufzustehen, nach der schweren, gebogenen Lampe zu greifen und den Fuß mit einem weiten Bogen in die ungefähre Richtung zu schwingen, aus der die Stimme der Maske gekommen war.

Es gab einen dumpfen Aufprall, als ich zuschlug, und ein Stöhnen. Treffer, dachte ich, aber kein K. o.

Ohne den Knüppel zu meiner Linken zu vergessen, sprang ich hinter dem Schreibtisch hervor und sprintete zur Tür. Aber niemand verschwendete Zeit darauf, in der Dunkelheit herumzufuchteln, in der Hoffnung, mich zu treffen. Ein Taschenlampenstrahl blitzte auf, fuhr herum, zuckte über mein Gesicht und kam hüpfend hinter mir her.

Ich sprang zur Seite. Duckte mich. Kam von meinem geraden Weg zur Tür ab und sah aus den Augenwinkeln, daß das

Gummigesicht, das ich mit der Lampe getroffen hatte, entschlossen seinem Ziel zustrebte.

Der Taschenlampenstrahl flackerte von mir weg, kreiste kurz und ruhte schließlich felsenfest auf dem Lichtschalter neben der Tür. Bevor ich ihn erreichen konnte, schoß die schwarzbehandschuhte Hand herunter und klickte die fünf doppelten Wandleuchter an, zehn nackte Kerzenbirnen, die den quadratischen, holzvertäfelten Raum in kaltes Licht tauchten.

Es gab zwei Fenster mit grünen, bodenlangen Vorhängen. Einen Teppich aus Istanbul. Drei nicht zusammenpassende William-und-Mary-Stühle. Eine Eichentruhe aus dem sechzehnten Jahrhundert. Einen niedrigen Walnußschreibtisch. Es war ein karges Zimmer, Spiegel der kargen und spartanischen Seele meines Vaters.

Ich war immer der Meinung gewesen, daß der beste Zeitpunkt, eine Entführung zu vereiteln, der Augenblick war, in dem sie begann; daß man sich, wenn man den Marschbefehlen gehorchte, zwar augenblicklichen Schmerz, aber keine Langzeitangst ersparen konnte; daß Entführer später töten mochten, aber nicht am Anfang, und daß ein Mensch, dessen Sicherheit auf dem Spiel stand, töricht wäre, sich kampflos geschlagen zu geben.

Nun, ich kämpfte.

Ich kämpfte noch ganze neunzig Sekunden lang, während derer es mir mißlang, die Lichter auszuschalten, durch die Tür zu entkommen oder mich durch eines der Fenster ins Freie zu stürzen. Ich hatte dem Knüppel des einen und der schußbereiten Automatik des anderen nur meine Hände und keine besonderen Fähigkeiten entgegenzusetzen. Die identischen Gummigesichter kamen mit entnervendem Mangel an menschlichem Ausdruck auf mich zu, und obwohl ich — wahrscheinlich unklugerweise — versuchte, einem von ihnen die Maske wegzureißen, erreichte ich nicht mehr, als zu spüren, wie meine Finger über die zähe, glatte Oberfläche glitten.

Sie zogen den Nahkampf vor, das Opfer an die Wand gedrängt. Da sie zu zweit waren und Meister ihres Gewerbes zu sein schienen, bezog ich in diesen ewigwährenden neunzig Sekunden solche Dresche, daß ich zutiefst wünschte, meine Entführungsvermeidungstheorien nicht in die Praxis umgesetzt zu haben.

Es endete damit, daß ein Fausthieb in meinem Magen landete, die Pistole mich mit voller Wucht im Gesicht traf, mein Kopf gegen die Holzvertäfelung krachte und der Knüppel das Werk dann irgendwo hinter meinem rechten Ohr krönte. Als ich später wieder zu Bewußtsein kam, war die Zeit nur allzu deutlich fortgeschritten. Ansonsten hätte ich nicht mit dem Gesicht nach unten und schmerzhaft hinter meinem Rücken gefesselten Händen auf dem Rücksitz eines fahrenden Wagens liegen dürfen.

Für eine schöne lange Zeit glaubte ich zu träumen. Dann wachte mein Gehirn langsam auf und machte mir klar, daß das nicht stimmte. Ich fühlte mich abscheulich unwohl und fror furchtbar, da der dünne Pullover, den ich im Haus getragen hatte, sich als jämmerlicher Schutz gegen eine frostkalte Nacht erwies.

Mein Kopf dröhnte wie ein Dampfhammer. Peng, peng, peng.

Hätte ich die dazu erforderliche geistige Energie aufbringen können, wäre ich schrecklich wütend auf mich gewesen, weil ich mich als solcher Schlappschwanz erwiesen hatte. Wie die Dinge lagen, brachte ich jedoch nur unkomplizierte Reaktionen zustande, wie dumpfes, geistloses Erdulden und nebelhafte Verwirrung. Unter allen Entführungskandidaten hätte ich mich zu den unwahrscheinlichsten gerechnet.

Es gab vieles, was für ein halb bewußtloses Gehirn in einem halb bewußtlosen Körper sprach. Mens blotto in corpore ditto… Die Worte tröpfelten unlogisch durch meine Gedanken, und ein

Lächeln begann irgendwo entlang des richtigen Nervs, kam jedoch nicht bis zu meinem Mund. Mein Mund war ohnehin halb auf Tuchfühlung mit irgendeinem Bezug aus Lederimitat, der nach Hund roch. Es heißt, viele erwachsene Männer riefen in Augenblicken der Todesangst nach ihren Müttern und dann nach ihrem Gott: Ich jedenfalls hatte keine Mutter mehr, seit ich zwei war, und bis ich sieben wurde, hatte ich geglaubt, Gott sei jemand, der mit ihr davongelaufen war und nun an irgendeinem anderen Ort mit ihr zusammenlebte… (»Gott hat deine Mutter genommen, Schätzchen, weil er sie mehr brauchte als du«), ein Umstand, der ihn mir nie besonders sympathisch gemacht hatte, und außerdem hatte ich gar keine Todesangst, sondern lediglich eine gewaltige Gehirnerschütterung, ein paar sehr schmerzhafte Stellen am Körper und vielleicht eine grausige Zukunft am Ende der Reise. Inzwischen ging die Fahrt weiter und weiter. Sie wurde in keiner Hinsicht angenehmer. Nach mehreren Jahren blieb der Wagen ruckartig stehen. Ich fiel beinahe vom Sitz. Mein Gehirn war schlagartig wach, und mein Körper verwünschte es dafür.

Die beiden Gummigesichter ragten über mir auf, zerrten mich aus dem Auto und trugen mich ein paar Stufen hinauf und in ein Haus. Einer von ihnen hatte seine Hände unter meinen Achseln, und der andere hielt mich an den Fußknöcheln fest. Meine hundertsechzig Pfund schienen keine besondere Last zu sein.

Das plötzliche Licht hinter der Tür blendete mich, ein Grund so gut wie jeder andere, die Augen zu schließen. Ich schloß sie. Der Dampfhammer hatte keineswegs aufgegeben.

Sie ließen mich fallen, auf die Seite, auf einen hölzernen Fußboden. Gebohnert. Ich konnte das Bohnerwachs riechen. Parfümiert. Schauderhaft. Ich öffnete meine Augen einen kleinen Schlitz weit und fand meine Vermutung bestätigt. In kleinen, zusammengesetzten Quadraten verlegtes Parkett, modern. Birkenfurnier, hauchdünn. Nichts Besonderes. Dicht über mir sprach eine Stimme, die den unverkennbar aufsteigenden Zorn nur mit hörbarer Anstrengung beherrschte.

«Und wer bitte ist das hier?«

Es entstand eine lange, atemlose Stille, in der ich gelacht hätte, hätte ich es gekonnt. Die Gummigesichter hatten nicht mal den richtigen Mann geschnappt. Diese ganzen Prügel für nichts und wieder nichts. Und auch keine Garantie, daß sie mich wieder nach Hause bringen würden.

Ich blinzelte ins Licht. Der Mann, der gesprochen hatte, saß auf einem ledergepolsterten Lehnstuhl, die Finger steif über einem anschwellenden Wanst gefaltet. Seine Stimme hatte ziemliche Ähnlichkeit mit der von Gummimaske: ohne besonderen Akzent, aber nicht englisch. Seine Schuhe, die mehr auf meiner Höhe lagen, waren weich, handgemacht und aus Genueser Leder.

Italienischer Stil. Nicht besonders aufschlußreich: Italienische Schuhe werden von Hongkong bis San Francisco verkauft.

Eines der Gummigesichter räusperte sich.»Es ist Griffon.«

Die Überreste des Lachens erstarben kalt. Griffon war tatsächlich mein Name. Wenn ich nicht der richtige Mann war, mußten sie es auf meinen Vater abgesehen haben. Aber das machte genausowenig Sinn: Er war wie ich in keinem entführungsanfälligen Beruf tätig.

Der Mann auf dem Lehnstuhl sagte, noch immer mit demselben gezügelten Zorn, durch zusammengebissene Zähne:»Es ist nicht Griffon.«

«Doch«, beharrte Gummigesicht matt.

Der Mann erhob sich von seinem Lehnstuhl und rollte mich mit seiner eleganten Schuhspitze auf den Rücken.

«Griffon ist ein alter Mann«, sagte er. Die beißende Schärfe seiner Stimme ließ die beiden Gummigesichter einen Schritt zurücktaumeln, als hätte er sie geschlagen.

«Sie haben uns nicht gesagt, daß er alt ist.«

Das andere Gummigesicht unterstützte seinen Kollegen mit einem defensiven Jaulen und einem anderen Akzent. Diesmal waschechtes Amerika.»Wir haben ihn den ganzen Abend beobachtet, er ist durch die Ställe gegangen und hat sich die Pferde angesehen. Jedes einzelne. Die Männer, die haben ihn wie ihren Boß behandelt. Er ist der Trainer, er ist Griffon.«

«Griffons Assistent«, sagte der dicke Mann wutentbrannt. Er setzte sich wieder und hielt sich mit derselben Anstrengung an der Armlehne fest, mit der er seine Fassung zu wahren versuchte.

«Stehen Sie auf«, sagte er plötzlich zu mir.

Ich schaffte es mühsam fast bis auf die Knie, aber der Rest war entmutigend, und ich dachte, warum um alles in der Welt sollte ich mir solche Mühe machen, also legte ich mich vorsichtig wieder hin. Es trug nicht dazu bei, das allgemeine Klima zu verbessern.

«Stehen Sie auf«, sagte er wütend.

Ich schloß die Augen. Es folgte ein scharfer Schlag auf meinen Oberschenkel. Ich öffnete die Augen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie das Gummigesicht mit der amerikanischen Stimme zu einem neuen Tritt ausholte. Alles, was man sagen konnte, war, daß er Schuhe trug und keine Stiefel.

«Hör auf damit. «Die scharfe Stimme ließ ihn mitten im Tritt innehalten.»Setz ihn einfach nur auf den Stuhl da.«

Amerika-Gummigesicht zog besagten Stuhl herbei und stellte ihn dem Lehnstuhl gegenüber auf, zwei Meter davon entfernt. Viktorianische Epoche, Mitte, schätzte ich automatisch. Mahagoni. Hatte wahrscheinlich einmal eine Sitzfläche aus Rohrgeflecht, war aber jetzt mit einem rosagrundigen, geblümten, glänzenden Chintz bezogen. Die beiden Gummigesichter hoben mich gewaltsam hoch und drapierten mich so auf den Stuhl, daß meine gefesselten Handgelenke hinter der Rückenlehne hingen. Als sie damit fertig waren, traten sie zurück, genau so weit, daß sie einen Schritt hinter jeder meiner Schultern standen.

Aus dieser Höhe hatte ich einen besseren Blick auf ihren Herrn, wenn nicht gar auf die ganze Situation.

«Griffons Assistent«, wiederholte er. Aber diesmal war der Zorn verklungen. Er hatte den Fehler erkannt und überlegte jetzt, was er aus der Situation machen sollte.

Er brauchte nicht lange.

«Pistole«, sagte er, und Gummigesicht gab sie ihm.

Er war korpulent und glatzköpfig, und ich vermutete, daß es ihm kein Vergnügen bereiten würde, alte Fotos von sich zu betrachten. Unter den gerundeten Wangen, dem schweren Kinn, den Falten der Augenlider lag eine feine Knochenstruktur. Sie trat immer noch in dem starken, klaren Höcker der Nase zutage und in den Bögen über den Augenhöhlen. Er verfügte über die Basisausrüstung eines gutaussehenden Mannes, aber er sah aus, dachte ich abstruserweise, wie ein vornehm vor die Hunde gegangener Cäsar. Und man hätte das Fett als Zeichen von Weichheit werten können, wäre da nicht die Härte gewesen, die unübersehbar aus seinen schmal gewordenen Augen blickte.

«Schalldämpfer«, sagte er scharf. Er war voll Verachtung und gereizt, und seine gummigesichtigen Narren waren ihm ein offensichtlicher Greuel.

Ein Gummigesicht zog einen Schalldämpfer aus seiner Hosentasche, und Cäsar begann, ihn aufzuschrauben. Schalldämpfer bedeuteten blutigen Ernst, wo nackte Läufe das vielleicht nicht taten. Er hatte die Absicht, den Fehler seiner Angestellten aus der Welt zu schaffen. Meine Zukunft sah entschiedenermaßen düster aus. Zeit für ein paar wohlgewählte Worte, vor allem, wenn sie sich als meine letzten erweisen sollten.

«Ich bin nicht Griffons Assistent«, sagte ich.»Ich bin sein Sohn.«

Er war fertig mit dem Aufschrauben des Schalldämpfers und machte sich daran, ihn auf meine Brust zu richten.

«Ich bin Griffons Sohn«, wiederholte ich.»Und was genau soll das Ganze eigentlich?«

Der Schalldämpfer erreichte den Breitengrad meines Herzens.

«Wenn Sie mich töten«, sagte ich,»könnten Sie mir zumindest sagen, warum.«

Meine Stimme klang mehr oder weniger normal. Er konnte, wie ich hoffte, nicht sehen, daß mir am ganzen Körper der Schweiß ausbrach.

Eine Ewigkeit verstrich. Ich starrte ihn an. Er starrte zurück. Ich wartete. Wartete, während die Zahnräder in seinem Gehirn ineinandergriffen: Wartete darauf, daß ein Daumen nach dem anderen nach unten zeigte, klick, klick, klick, wie bei einem Spielautomaten, der mit drei Nieten das Aus verkündet.

Schließlich sagte er, ohne die Pistole einen Millimeter zu senken:»Wo ist Ihr Vater?«

«Im Krankenhaus.«

Neuerliche Pause.

«Wie lange wird er dort bleiben?«

«Das weiß ich nicht. Zwei oder drei Monate vielleicht.«

«Wird er sterben?«

«Nein.«

«Was ist los mit ihm?«

«Er hatte einen Autounfall. Vor einer Woche. Hat sich ein Bein gebrochen.«

Wieder Pause. Die Waffe rührte sich immer noch nicht. Niemand, dachte ich wild, sollte so unfair sterben. Aber Menschen starben unfair. Wahrscheinlich hatte es nur einer von einer Million wirklich verdient. Der Tod an sich war etwas Unfaires, aber in mancher Gestalt eben unfairer als in anderen.

Mord, so erschien es mir mit Nachdruck, war die unfairste Todesart von allen.

Alles, was er am Ende — in milderem Ton — sagte, war:»Wer wird in diesem Sommer die Pferde trainieren, wenn es Ihrem Vater nicht gut genug geht?«

Nur lange Erfahrung mit gerissenen Verhandlungspartnern, die mit großen Drohungen um sich warfen, so daß sie ihre eigentlichen Ziele erreichen konnten, indem sie sie als harmlose Nebensächlichkeit präsentierten, bewahrte mich davor, ins offene Messer zu laufen. Um ein Haar und aus Erleichterung über eine so arglose Frage hätte ich ihm die Wahrheit gesagt: daß darüber noch nicht entschieden war. Wenn ich das getan hätte, so begriff ich später, hätte er mich erschossen, denn was er wollte, ging ausschließlich den augenblicklichen Trainer von Rowley Lodge an. Temporäre Stellvertreter, irrtümlich entführt, waren zu gefährlich, als daß man sie frei herumlaufen und alles mögliche erzählen lassen konnte.

Instinktiv antwortete ich also:»Ich werde sie selbst trainieren«, obwohl ich nicht die geringste Absicht hatte, dies länger zu tun, als ich brauchte, um jemand anderes zu finden.

Es war tatsächlich die entscheidende Frage gewesen. Der furchteinflößende schwarze Kreis des Schalldämpferlaufs senkte sich um einen Bruchteil, wurde zur Ellipse, verschwand vollkommen. Er legte die Waffe auf seinen Schoß und balancierte sie auf einem wohlgepolsterten Oberschenkel.

Mein Atem hob und senkte meine Brust in hektischen Stößen, und die Lösung der unmittelbaren Anspannung verursachte mir Übelkeit. Nicht, daß plötzlich absolute Sicherheit als

Verheißung am Horizont aufgeflackert wäre. Ich war immer noch gefesselt und in einem fremden Haus, und ich hatte immer noch keine Ahnung, zu welchem möglichen Zweck ich als Geisel dienen konnte.

Der dicke Mann beobachtete mich weiter. Dachte weiter nach.

Ich versuchte, die Steifheit, die in meine Muskeln kroch, zu mildern, versuchte, die unbedeutenden Schmerzen und das pochende Kopfweh auszublenden, die ich nicht im geringsten wahrgenommen hatte, solange ich einer noch größeren Bedrohung gegenübergestanden hatte.

Im Zimmer war es kalt. Die Gummigesichter schienen es mollig warm zu haben in ihren Masken und Handschuhen, und der dicke Mann war gut isoliert und unempfindlich, aber in meinem Falle trug die Kälte eindeutig das Ihre zu meinem Jammer bei. Ich fragte mich, ob die Kälte als psychologische Einschüchterungsmaßnahme für meinen schon älteren Vater geplant oder ob sie einfach nur Zufall war. Nichts in dem Raum machte einen gemütlichen, bewohnten Eindruck.

Alles in allem war es ein Mittelklassewohnzimmer in einem kleinen Mittelklassehaus, erbaut, so schätzte ich, in den dreißiger Jahren. Man hatte die Möbel vor die gestreifte, cremefarbene Tapete geschoben, um dem dicken Mann ausreichenden Handlungsspielraum zu geben: Möbel, die aus einer phantasielosen dreiteiligen, mit rosafarbenem Chintz bezogenen Sitzgarnitur bestanden, einem Klapptisch, einer Stehlampe mit pergamentfarbenem Schirm und einer Glasvitrine mit gähnender Leere hinterm Glas. Auf dem auf Hochglanz gebrachten Birkenparkett lagen keine Teppiche, es gab keinen Schnickschnack, keine Bücher, keine Zeitschriften, überhaupt nichts Persönliches. So kahl wie die Seele meines Vaters, aber nicht sein Geschmack.

Der Raum paßte nicht im geringsten zu dem, was ich bisher von der Persönlichkeit des dicken Mannes gesehen hatte.

«Ich werde Sie freilassen«, sagte er,»unter gewissen Bedingungen.«

Ich wartete. Er schätzte mich ab und ließ sich immer noch Zeit.

«Wenn Sie meine Anweisungen nicht aufs genaueste befolgen, werde ich Ihren Vater ruinieren.«

Ich spürte, wie mein Mund sich erstaunt öffnete. Ich klappte ihn wieder zu.

«Ich nehme an, Sie bezweifeln, daß ich das tun könnte. Zweifeln Sie nicht. Ich habe schon Besseres zerstört als den kleinen Reitstall Ihres Vaters.«

Ich reagierte nicht auf die Stichelei mit dem Wort» klein«. Vor Jahren schon hatte ich gelernt, daß man sich, wenn man auf Sticheleien reagiert, eine Verteidigungshaltung aufzwingen läßt, die nur dem Gegner nutzt. In Rowley Lodge standen, wie er zweifellos wußte, fünfundachtzig Vollblüter, deren Gesamtwert sechs Millionen Pfund überstieg.

«Wie?«fragte ich ohne Umschweife.

Er zuckte mit den Schultern.»Was wichtig für Sie ist, ist nicht, wie ich es tun könnte, sondern wie Sie mich davon abhalten können. Und das ist natürlich vergleichsweise einfach.«

«Nur die Pferde nach Ihren Instruktionen laufen lassen?«meinte ich in neutralem Ton.»Nur auf Befehl verlieren?«

Ein Anfall neu entfachten Zorns verzerrte die dicklichen Gesichtszüge, und die Pistole hob sich um fünfzehn Zentimeter von seinem Knie. Die Hand, die sie hielt, entspannte sich langsam, und er legte sie wieder hin.

«Ich bin«, sagte er schwerfällig,»kein mieser, kleiner Gauner.«

Aber du reagierst auf eine Beleidigung, dachte ich, selbst auf eine, die nicht beabsichtigt war, und eines Tages, wenn das Spiel lange genug dauerte, würde mir das vielleicht einen Vorteil verschaffen.

«Ich entschuldige mich«, sagte ich ohne Sarkasmus.»Aber diese Gummigesichter sind nicht gerade Spitzenklasse.«

Er warf einen gereizten Blick auf die beiden Gestalten, die hinter mir standen.»Die Masken sind ihre eigene Wahl. Sie fühlen sich sicherer, wenn man sie nicht erkennen kann.«

Wie Strauchdiebe, dachte ich, die am Ende baumeln.

«Sie können Ihre Pferde laufen lassen, wie Sie wollen. Sie haben absolute Wahlfreiheit… mit einer Ausnahme.«

Ich gab keinen Kommentar. Er zuckte mit den Schultern und fuhr fort.

«Sie werden jemanden einstellen, den ich Ihnen schicke.«

«Nein«, sagte ich.

«Doch. «Er sah mich, ohne mit der Wimper zu zucken, an.

«Sie werden diese Person einstellen. Wenn Sie das nicht tun, werde ich den Stall zerstören.«

«Das ist Wahnsinn«, beharrte ich.»Es ist sinnlos.«

«Nein, das ist es nicht«, widersprach er.»Außerdem werden Sie niemandem erzählen, daß Sie gezwungen wurden, diese Person einzustellen. Sie werden versichern, daß es Ihr eigener Wunsch sei. Sie werden sich vor allem nicht bei der Polizei beklagen, weder über heute nacht, noch über irgend etwas, was sonst noch geschehen mag. Sollten Sie in irgendeiner Hinsicht versuchen, diese Person in Mißkredit zu bringen oder aus Ihren Ställen zu entfernen, werde ich Sie ruinieren. «Er hielt inne.

«Haben Sie verstanden? Wenn Sie irgend etwas gegen diese Person unternehmen, wird Ihr Vater nichts mehr haben, zu dem er zurückkehren kann.«

Nach einem kurzen, gespannten Schweigen fragte ich:»In welcher Eigenschaft soll diese Person für mich arbeiten?«

Er antwortete mit Bedacht.»Er wird die Pferde reiten«, sagte er.»Er ist Jockey.«

Ich konnte das Zucken um meine Augen spüren. Auch er bemerkte es. Das erste Mal, daß er mich wirklich erreicht hatte.

Es stand außer Frage. Er würde es mir nicht jedesmal sagen müssen, wenn er ein Rennen verloren haben wollte. Er brauchte es lediglich seinem Mann zu sagen.

«Wir brauchen keinen Jockey«, sagte ich.»Wir haben schon Tommy Hoylake.«

«Ihr neuer Jockey wird nach und nach seinen Platz einnehmen.«

Tommy Hoylake war der zweitbeste Jockey Großbritanniens und gehörte zu den zwölf besten der Welt. Niemand konnte seinen Platz einnehmen.

«Die Besitzer wären nicht einverstanden«, sagte ich.

«Sie werden sie überreden.«

«Unmöglich.«

«Die Existenz Ihres Stalles hängt davon ab.«

Es entstand eine neuerliche, ziemlich lange Pause. Eines der Gummigesichter trat von einem Fuß auf den anderen und seufzte wie aus Langeweile, aber der dicke Mann schien es nicht eilig zu haben. Vielleicht verstand er sehr gut, daß mir immer kälter wurde und daß ich mich von Minute zu Minute unbehaglicher fühlte. Ich hätte ihn gerne gebeten, die Fesseln an meinen Händen zu lösen, doch mir war klar, daß er, falls er ablehnte, einen Punkt für sich verbuchen würde.

Schließlich sagte ich:»Mit Ihrem Jockey hätte der Stall ohnehin keine Zukunft.«

Er zuckte mit den Schultern.»Es wird vielleicht Einbußen geben, aber der Stall wird es überstehen.«

«Es ist untragbar«, sagte ich.

Er blinzelte. Seine Hand schob die Pistole auf seinem wohlgefüllten Hosenbein sanft hin und her.

Er sagte:»Ich sehe, daß Sie die Situation nicht ganz verstanden haben. Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie hier unter gewissen Bedingungen wegkommen. «Sein ausdrucksloser Ton ließ das Wahnsinnige vernünftig klingen.»Diese Bedingungen sind, daß Sie einen gewissen Jockey einstellen und daß Sie bei niemandem Hilfe suchen, auch nicht bei der Polizei. Sollten Sie irgendeine dieser Abmachungen verletzen, wird der Stall zerstört werden. Aber…«, er sprach nun langsamer und mit Betonung,»… wenn Sie diesen Bedingungen erst gar nicht zustimmen, werden Sie nicht freigelassen.«

Ich sagte nichts.

«Haben Sie verstanden?«

Ich seufzte.»Ja.«

«Gut.«

«Kein mieser, kleiner Gauner, sagten Sie, glaube ich.«

Seine Nasenflügel bebten.»Ich bin ein Drahtzieher.«

«Und ein Mörder.«

«Ich morde niemals, es sei denn, das Opfer besteht darauf.«

Ich starrte ihn an. Er lachte innerlich über seinen hübschen kleinen Witz, und die Belustigung brach in kleinen Zuckungen seiner Mundwinkel und winzigen, schnaubenden Atemstößen aus ihm heraus.

Dieses Opfer würde wohl nicht darauf bestehen. Sollte er sich ruhig amüsieren.

Ich bewegte meine Schultern ein wenig und versuchte, die Muskeln zu lockern. Er sah aufmerksam zu und enthielt sich jeder Bemerkung.

«Wer«, sagte ich,»ist denn dieser Jockey?«

Er zögerte.

«Er ist achtzehn«, sagte er.

«Achtzehn…«

Er nickte.»Sie werden ihm die guten Pferde zum Reiten geben. Er wird Archangel im Derby reiten.«

Unmöglich. Vollkommen unmöglich. Ich betrachtete die Pistole, die so still auf der teuren Schneiderware lag. Ich sagte nichts. Es gab nichts zu sagen.

Als er wieder zu sprechen begann, lag neben der bedachtsamen Akzentlosigkeit die Befriedigung des Sieges in seiner Stimme.

«Er wird morgen zum Stall kommen. Sie werden ihn engagieren. Er hat noch nicht viel Rennerfahrung. Sie werden dafür sorgen, daß er sie bekommt.«

Ein unerfahrener Reiter auf Archangel. Der helle Wahnsinn. Ein solcher Wahnsinn, daß er mit Entführung und Morddrohungen arbeiten mußte, um klarzumachen, daß er es ernst meinte.

«Sein Name ist Alessandro Rivera«, sagte er.

Nach einer kurzen Bedenkzeit fügte er noch den Rest hinzu.

«Er ist mein Sohn.«

Загрузка...