15

Samstag morgen, 2. Mai. Two-Thousand-Guineas-Tag.

Die Sonne erhob sich zu einer neuerlichen goldenen Reise über die Heide, und ich mühte mich millimeterweise aus dem Bett, mit Unbehagen und weniger Seelenstärke, als ich für bewunderungswürdig gehalten hätte. Den Gedanken, daß Enzo noch mehr Schaden anrichten konnte, schob ich hastig beiseite. Und doch hatte ich selbst alle Punkte auf seiner Abschußliste blockiert und ihm nur eine einzige Zielscheibe übriggelassen. Nachdem ich sozusagen einen vollen Frontalzusammenstoß eingefädelt hatte, war es nun zu spät, um zu wünschen, ich hätte es nicht getan.

Ich seufzte. Waren fünfundachtzig Vollblüter, der Lebensunterhalt meines Vaters, die Zukunft des Stalls und vielleicht Alessandros Freiheit ein gebrochenes Schlüsselbein wert?

Nun, ja, das waren sie.

Aber zwei gebrochene Schlüsselbeine?

Gott behüte.

Durch das Summen meines Rasierapparates erwog ich das Für und Wider einer schnellen Flucht. Eines gut organisierten, verfolgerlosen Rückzugs in die Festung von Hampstead. Leicht genug zu arrangieren. Das schlimme war nur, irgendwann würde ich zurückkommen müssen, und solange ich fort war, würde der Stall zu verletzlich sein.

Vielleicht konnte ich das Haus mit Gästen füllen und dafür sorgen, daß ich niemals allein war… Aber die Gäste würden in ein oder zwei Tagen abreisen, und Enzos Rachedurst hielt sich wohl so gut wie Napoleon-Brandy, die Zeit konnte ihm keinen Abbruch tun.

Ich kämpfte mich in einen Pullover, ging hinunter in den

Garten und gab mich der Hoffnung hin, daß selbst Enzo einsehen würde, wie sinnlos Rache war, wenn man dadurch verlor, was einem das Wichtigste auf Erden war. Wenn er mir noch weiteren Schaden zufügte, würde er seinen Sohn verlieren.

Es war schon vor langer Zeit festgelegt worden, daß Tommy Hoylake die Gelegenheit seiner Übernachtung in Newmarket nutzen sollte, um am Morgen einen Trainingsgalopp zu reiten. Dementsprechend steuerte er um sieben Uhr seinen Jaguar den Kies hinauf und hielt mit einem Ruck draußen vorm Bürofenster.

«Morgen«, sagte er und stieg aus dem Wagen.

«Morgen. «Ich sah ihn genau an.»Sie sehen nicht besonders gut aus.«

Er schnitt ein Gesicht.»Hatte die ganze Nacht Bauchschmerzen. Habe auch mein Abendessen wieder von mir gegeben. Passiert mir manchmal. Nerven, nehme ich an. Wie dem auch sei, jetzt geht es mir etwas besser. Und ich werde am Nachmittag wieder in Ordnung sein, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

«Sind Sie sicher?«fragte ich besorgt.

«Ja. «Er schenkte mir ein bleiches Grinsen.»Ich bin sicher. Wie ich schon sagte, das passiert mir ab und zu. Nichts Besorgniserregendes. Aber sehen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich diesen Galopp heute morgen nicht reiten würde?«

«Nein«, erwiderte ich.»Natürlich nicht. Von mir aus lassen Sie es wirklich besser sein… Wir wollen doch nichts tun, was Ihrer Genesung bis heute nachmittag im Wege stehen könnte.«

«Aber ich sag’ Ihnen was. Ich könnte Archangel schon ein bißchen auf Trab bringen. Mit einem schönen, ruhigen Ritt. Wie wär’s?«

«Wenn Sie sicher sind, daß Ihnen das nicht zuviel wird?«sagte ich zweifelnd.

«Klar. Dafür geht es mir gut genug. Ehrlich.«

«Also schön«, erwiderte ich, und er führte Archangel in Begleitung von Clip Clop hinaus, und sie kanterten schnelle achthundert Meter, beobachtet von Hunderten der mehreren tausend Besucher, die ihn am Nachmittag auf der Rennbahn anfeuern würden.

Etty nahm den Rest des Lots mit hinüber nach Waterhall, wo mehrere Pferde für eine halbschnelle Meile über die Line-Galoppbahn vorgesehen waren.

«Wen sollen wir auf Lucky Lindsay setzen, jetzt, da wir Tommy nicht haben?«fragte Etty. Und das stellte ein kleines Problem dar, denn wir waren knapp an geschickten Pflegern.

«Wir sollten sie wohl besser umsetzen«, sagte ich,»und Andy Lucky Lindsay geben und Faddy Irrigate und.«

«Nicht nötig«, unterbrach mich Etty mit einem Blick zur Einfahrt.»Alex ist gut genug, oder?«

Ich drehte mich um. Alessandro kam den Hof hinunter, in Arbeitskleidung. Lange verschwunden waren die geschniegelte Kleidung und die hellen Waschlederhandschuhe. Er erschien nun regelmäßig in einem kamelfarbenen Pullover mit einem blauen Hemd darunter, ein Aufzug, den er Tommy Hoylake abgeguckt hatte, in der Überzeugung, daß, wenn ein Topjockey sich so zum Ausreiten kleidete, es genau das war, was Alessandro Rivera ebenfalls tragen sollte.

Heute war kein Mercedes zu sehen, der hinter ihm in der Einfahrt wartete. Kein wachsamer Carlo, der in den Hof starrte. Alessandro sah meine unwillkürliche Suche nach dem treuen Begleiter und sagte verlegen:»Ich bin ausgebüxt. Sie meinten, ich sollte nicht herkommen, aber Carlo ist irgendwo hingefahren, also dachte ich, ich tu’s trotzdem. Darf ich… ich meine, lassen Sie mich reiten?«

«Warum um alles in der Welt denn nicht?«fragte Etty, die wirklich nicht wußte, warum um alles in der Welt nicht.

«Nur zu«, pflichtete ich Etty bei.»Sie können den Galopp auf Lucky Lindsay reiten.«

Er war überrascht.»Aber in allen Zeitungen stand doch, daß Tommy diesen Galopp heute morgen reiten würde.«

«Er hat Bauchschmerzen«, sagte ich und fügte, als ich die wilde Hoffnung in seinem Gesicht aufflackern sah, hinzu:»Keine unnötige Aufregung. Es geht ihm schon besser, und er wird sicher heute nachmittag wieder in Ordnung sein.«

«Oh.«

Er begrub die zerschmetterte Hoffnung, so gut er konnte, und ging davon, um Lucky Lindsay zu holen. Etty ritt Cloud Cuckoo-land zusammen mit dem Lot, während ich für mich arrangiert hatte, daß George mich später im Landrover hinunterfahren sollte, damit ich mir die Galopps ansehen konnte. Die Pferde ritten aus dem Hof, kreisten eine Weile im Trabring, damit die Reiter umgesetzt werden konnten, verschwanden dann durchs Tor und bogen nach links auf die Trainingsbahn Richtung Waterhall ein.

Auch Lancat war bei ihnen, aber er sollte nach seinem harten Rennen von vor zwei Tagen nur bis zur Kreuzung an der Hauptstraße mitgehen und dann zurückkommen.

Ich sah den Pferden nach, lauter glänzende, elegante Geschöpfe — es war einer jener dunstigen Maimorgen, die schienen wie die ersten Tage der Welt. Ich holte tief und bedauernd Atem. Es war seltsam… Aber trotz Enzo und seinem Sohn hatte ich meine Amtszeit als Rennpferdtrainer genossen. Ich würde traurig sein, wenn ich gehen mußte. Trauriger als ich mir je vorgestellt hätte. Seltsam, dachte ich. Sehr seltsam.

Ich ging zurück, in den Hof hinein, unterhielt mich ein paar Minuten mit Archangels Sicherheitsposten, der die Gelegenheit nutzte, um in der Kantine zu frühstücken, ging dann ins Haus, machte mir etwas Kaffee und nahm meine Tasse mit ins Büro. Margaret kam samstags nicht. Ich trank etwas von dem Kaffee und öffnete die Morgenpost, indem ich die Umschläge zwischen den Knien hielt und sie mit einem Papiermesser aufschlitzte.

Ich hörte einen Wagen auf dem Kies und das Zuschlagen einer Tür und konnte um einen Augenblick den Neuankömmling nicht vom Fenster aus erkennen, weil ich die Geschwindigkeit, mit der ich meinen Kopf drehen konnte, falsch eingeschätzt hatte. Alle möglichen Leute konnten am Guineas-Morgen dem Stall einen Besuch abstatten. Jeder der Besitzer, die sich für die Zeit des Rennens in Newmarket aufhielten. Jeder.

Es war Enzo. Enzo mit seinem schalldämpferbestückten Gleichmacher. Er fuchtelte wie gewöhnlich damit herum. So früh am Morgen, dachte ich bloß. Waffen vorm Frühstück. Wie dumm.

Es ist aus, dachte ich. Es ist verdammt noch mal aus und vorbei.

Wenn Enzo früher wütend ausgesehen hatte, so wirkte er jetzt geradezu explosiv. Der kurze, dicke Körper bewegte sich wie ein Panzer um den Schreibtisch herum auf meinen Stuhl zu, und ich wußte, was Alessandro gemeint hatte, als er sagte, ich wisse nicht, wie er sein könne. Enzo oben bei der Eisenbahn war ein Appetithäppchen gewesen — dieser hier der volle Hauptgang.

Er ging direkt auf mich los, mit einem wilden rechten Aufwärtshaken auf die schönen Bandagen des guten alten Arztes, und raubte mir auf einen Streich den Atem, meine Fassung und den größten Teil meines Widerstands. Ich machte einen ernsthaften Versuch, ihn mit dem Papiermesser zu erwischen, woraufhin er mein Handgelenk gegen die Kante des Aktenschranks krachen ließ. Er war stark und energiegeladen und furchteinflößend, und ich war von Enzo weniger besiegt als überwältigt. Er schlug mir mit der Pistole ins Gesicht, schwenkte sie dann am Schalldämpfer herum und ließ den Griff bösartig auf meine Schulter niedersausen — ich war zu diesem Zeitpunkt schon halb besinnungslos und beinahe jenseits von Angst.

«Wo ist Alessandro?«schrie er, zwei Zentimeter von meinem rechten Ohr entfernt.

Ich sackte ziemlich rückgratlos über dem Schreibtisch zusammen. Die Augen hatte ich geschlossen. Ich tat mein dürftiges Bestes, um mit einem Ausmaß an Gefühl fertig zu werden, das praktisch außerhalb meiner Kontrolle stand.

Er schüttelte mich. Nicht nett.»Wo ist Alessandro?«brüllte er.

«Auf einem Pferd«, erwiderte ich schwach. Wo sonst?» Auf einem Pferd.«

«Sie haben ihn entführt«, schrie er.»Sie werden mir sagen, wo er ist. Sagen Sie’s mir… oder ich breche Ihnen die Knochen. Alle.«

«Er reitet auf einem Pferd«, sagte ich.

«Das tut er nicht«, rief Enzo.»Ich habe es ihm verboten.«

«Na ja… er tut es doch.«

«Auf welchem Pferd?«

«Was spielt das für eine Rolle?«

«Welches Pferd?« Er schrie mir praktisch direkt ins Ohr.

«Lucky Lindsay«, sagte ich. Als wäre das von Bedeutung. Ich schob mich aufrecht auf den Stuhl und schaffte es, die Augen zu öffnen. Enzos Gesicht war nur Zentimeter entfernt, und seine Augen sprachen ein Todesurteil.

Die Pistole fuhr hoch. Ich wartete wie betäubt.

«Halten Sie ihn auf«, sagte er.»Holen Sie ihn zurück.«

«Ich kann nicht.«

«Sie müssen. Holen Sie ihn zurück, oder ich bringe Sie um.«

«Er ist seit zwanzig Minuten weg.«

«Holen Sie ihn zurück!« Seine Stimme war heiser, schrill und ängstlich. Endlich begriff ich, daß seine Wut sich in entsetzliche Angst verwandelt hatte. Aus Zorn war Furcht geworden. In den schwarzen Augen brannte eine unvorstellbare Marter.

«Was haben Sie getan?«fragte ich starr.

«Holen Sie ihn zurück«, wiederholte er, als könnte er mit Gebrüll allein alles erreichen.»Holen Sie ihn zurück!«Er hob die Pistole, aber ich glaube, daß nicht einmal er selbst wußte, ob er mich damit erschießen oder schlagen wollte.

«Das kann ich nicht«, erwiderte ich ausdruckslos.»Sie können tun, was Sie wollen, ich kann es nicht.«

«Man wird ihn töten«, schrie er wild.»Mein Sohn… mein Sohn wird getötet werden. «Er fuchtelte unkontrolliert mit den Armen, und sein ganzer Körper zitterte.»Tommy Hoylake. In den Zeitungen steht, daß Tommy Hoylake heute morgen Lucky Lindsay reiten würde.«

Ich rutschte auf die Vorderkante des Stuhls, zog meine Beine an und machte mich schwerfällig an die Aufgabe, mich zu erheben. Enzo versuchte nicht, mich zurückzustoßen. Er war zu beschäftigt mit der entsetzlichen Vorstellung, die vor seinem inneren Auge Gestalt annahm.

«Tommy Hoylake… Hoylake reitet Lucky Lindsay.«

«Nein«, sagte ich rauh.»Alessandro reitet ihn.«

«Tommy Hoylake. Hoylake. Er muß es sein, er muß es sein…«Seine Augen weiteten sich noch mehr, und seine Stimme wurde schriller und schriller.

Ich hob die Hand und schlug ihm hart ins Gesicht.

Sein Mund blieb offen, aber die Geräusche, die zuvor daraus gekommen waren, hörten so plötzlich auf, als hätte man einen Schalter gedrückt.

Die Muskeln in seinen Wangen zuckten. Sein Kehlkopf bewegte sich unablässig. Ich gab ihm Zeit, wieder in Gang zu kommen.

«Sie hatten die Absicht, Tommy Hoylake zu töten.«

Keine Antwort.

«Wie?«fragte ich.

Keine Antwort. Ich schlug ihm noch einmal ins Gesicht, mit soviel Kraft, wie ich aufbringen konnte. Es war nicht besonders viel.

«Wie?«

«Carlo. und Cal. «Die Worte waren kaum voneinander zu unterscheiden.

Pferde auf der Heide, dachte ich. Tommy Hoylake, der Lucky Lindsay reitet, Carlo, der jedes Pferd auf dem Hof kannte, der alle Pferde jeden Tag beobachtet hatte und Lucky Lindsay mit derselben Unfehlbarkeit erkannte wie jeder Turfspion. Und Cal… Ich spürte, wie meine eigenen Gedärme sich genauso zusammenzogen, wie Enzos es getan haben mußten. Cal hatte die Lee Enfield 303.

«Wo sind sie?«sagte ich.

«Ich… weiß… nicht.«

«Sie sollten sie besser finden.«

«Sie… verstecken… sich.«

«Gehen Sie, und finden Sie sie«, sagte ich.»Gehen Sie los, und finden Sie sie. Es ist Ihre einzige Chance. Es ist Alessandros einzige Chance. Finden Sie ihn, bevor sie ihn erschießen… Sie schwachsinniger, dreckiger Mörder.«

Er stolperte wie blind um den Schreibtisch herum und ging auf die Tür zu. Die Pistole noch in der Hand, krachte er gegen den Rahmen und taumelte hin und her. Dann richtete er sich auf, stürmte durch den kurzen Flur und hinaus auf den Hof, wo er auf unsicheren Beinen und halb im Laufschritt auf seinen dunkelroten Mercedes zustolperte. Er brauchte drei Versuche, um den Motor anzulassen, bevor dieser zündete. Dann holte er zu einem verzweifelten Wendemanöver aus, dröhnte die

Einfahrt hinunter und bog mit quietschenden Reifen nach rechts auf die Bury Road ein.

Verfluchter, dreckiger Mörder. Ich folgte ihm aus dem Büro, ging aber den Hof hinunter.

Laufen unmöglich. Die neuerlichen Hiebe, die er meiner Schulter verpaßt hatte, machten selbst das Gehen zu einer schrecklichen Strapaze. Törichter, wahnsinniger Mörder — Bastard. Zwanzig Minuten, seit Alessandro auf Lucky Lindsay davongeritten war… Zwanzig Minuten, wenn nicht mehr. Sie mußten schon ein gutes Stück auf der Waterhall-Bahn zurückgelegt haben. Kreisten jetzt wahrscheinlich am Ende der Line-Galoppbahn und formierten sich zu Gruppen. Ritten los…

Verdammt, dachte ich. Warum setze ich mich nicht einfach hin und warte ab, was passiert. Wenn Enzo seinen kostbaren Sohn tötet, geschieht es ihm ganz recht.

Ich beschleunigte meinen Schritt, ging durch die Tore zu den unteren Stallgassen. Durch das Tor auf der anderen Seite. Über den kleinen Trabring. Hinaus auf die Heide. Wandte mich nach links.

Bitte, laß ihn zurückkommen, dachte ich. Laß ihn zurückkommen. Lancat, der von seinem Ausflug zurückkehrte, gesattelt und aufgezäumt und bereit loszureiten. Er war da, kam am Zaun entlang auf mich zu, geführt von einem der weniger tüchtigen Reiter, zurückgeschickt von Etty, da er ihr bei den Galopps nur von geringem Nutzen sein konnte.

«Helfen Sie mir, meinen Pullover auszuziehen«, sagte ich drängend.

Er sah überrascht aus, aber Pfleger, die mein Vater ausgebildet hatte, machten niemals irgendwelche Einwände. Er half mir, den Pullover auszuziehen. Er war keine Florence Nightingale. Ich wies ihn an, mir auch die Schlinge abzunehmen. Niemand konnte mit einer Schlinge vernünftig reiten.

«Jetzt helfen Sie mir rauf.«

Er tat auch das.

«Okay«, sagte ich.»Gehen Sie rein. Ich werde Lancat später zurückbringen.«

«Jawohl, Sir«, sagte er. Und wenn ich ihm befohlen hätte, einen Kopfstand zu machen, hätte er auch nichts anderes gesagt als» Jawohl, Sir«.

Ich lenkte Lancat zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Dann ließ ich ihn über die Schrittbahn traben. Zu langsam. Viel zu langsam. Begann zu kantern und brach damit die Regeln der Heide. Es war schrecklich. Ich riß ihn herum, auf die Bury-Hill-Bahn, die während der nächsten vierzehn Tage eigentlich nicht benutzt werden durfte, und hielt direkt auf die Bury-Road-Kreuzung zu.

Könnte genausogut galoppieren… Ich legte die ersten tausend Meter auf der Galoppbahn zurück und die nächsten sechshundert auf der Schrittbahn, ohne viel langsamer zu werden, und erschreckte eine Reihe frühmorgendlicher Autofahrer, als ich die Hauptstraße überquerte.

Zu viele Pferde auf der Waterhall-Bahn. Aus einer Entfernung von mehr als einer halben Meile konnte ich das Rowley-Lodge-Lot nicht von den anderen unterscheiden. Alles, was ich sehen konnte, war, daß es noch nicht zu spät war. Die morgendliche Szene war friedlich und wohlgeordnet. Keine zu Tode erschrockenen Menschentrauben, die sich über blutende Leiber beugten.

Ich ließ Lancat weiter galoppieren. Er hatte vor zwei Tagen ein hartes Rennen gehabt, und ich hätte ihn eigentlich nicht so fordern dürfen, wie ich es tat… Er war schnell und bereitwillig, aber ich ritt ihn zuschanden.

Es war technisch ziemlich schwierig, mit einem Rucksackverband zu reiten, ganz zu schweigen von allem anderen. Der Boden sah außerdem sehr hart aus und lag viel zu weit unten. Ich blieb im Sattel, weil dies das geringere von zwei beträchtlichen Übeln war. Ich wünschte allerdings inbrünstig, ich wäre zu Hause geblieben. Ich kannte die Geschichten von Jockeys, die mit gebrochenen Schlüsselbeinen Jagdrennen ritten. Sie waren verrückt. Das taten nur Irre.

Ich konnte Etty sehen. Konnte einige der vertrauten Pferde sehen.

Ich konnte Alessandro und Lucky Lindsay sehen.

Ich war zu weit weg, als daß sie mich hätten hören können, selbst wenn ich genug Luft gehabt hätte, um zu schreien, und keiner von ihnen blickte nach hinten.

Alessandro spornte Lucky Lindsay zu einem schnellen Kanter an und jagte mit zwei anderen Pferden die Line-Galoppbahn hinauf.

Eine Meile entfernt, oben am anderen Ende des Hügels, waren Bäume und Gebüsch und ein kleines Wäldchen.

Und Carlo. Und Cal.

Ich hatte ein schreckliches Vorgefühl von unvermeidlichem Unglück; es war wie in einem Alptraum, in dem man versucht, durch eine Sirupmasse wegzulaufen. Lancat konnte den frischen Lucky Lindsay oben auf der Galoppbahn unmöglich einholen. Die einzige Möglichkeit bestand darin, ihm den Weg abzuschneiden, aber auch da konnte ich mich so entsetzlich leicht verkalkulieren.

Ich ritt quer durch Waterhall, galoppierte über die Kanterbahn und stürmte dann über die Mittelbahn, und zwar genau entgegengesetzt zu den Pferden, die dort arbeiteten. Zornige Schreie von allen Seiten konnten mich nicht aufhalten. Ich hoffte, Lancat würde genug Vernunft besitzen und nicht frontal in ein anderes Pferd hineinlaufen, aber abgesehen davon war meine einzige, meine allumfassende, ausschließliche, verzehrende Sorge, Alessandro zu erwischen, bevor eine Kugel es tat.

Endlose Meter über Gras… nur eine Meile, plusminus… aber endlos. Lancat wurde müde, und jeder neue Schritt kostete ihn größere Mühe… Sein flüssiger Rhythmus war zu ruckartigem Stoßen geworden. Er würde monatelang kein Rennen bestreiten können… Ich forderte seine Reserven, die letzten Vorräte an Kraft, die er besaß… und er gab sie großzügig hin.

Endlose Meter… und nicht im richtigen Winkel… Lancat wurde langsamer — ich würde die Line-Galoppbahn erst erreichen, nachdem Alessandro vorbei war. Ich hielt mich weiter rechts… schwankte gefährlich im Sattel, konnte mit meiner linken Hand nicht einmal die Zügel halten und wollte mich mit meiner rechten an den Halsriemen klammern, wollte mich um des lieben Lebens willen festklammern, doch wenn ich mich festklammerte, konnte ich nicht lenken… Es war nicht weit, nicht wirklich weit. Überhaupt keine Entfernung für ein frisches Pferd. Überhaupt keine Entfernung für Lucky Lindsay.

All diese Bäume und Büsche da vorn. Irgendwo dort drin lagen Carlo und Cal… Und wenn Enzo nicht wußte, wo, würde er sie nicht finden. Die Leute lagen nicht für jedermann sichtbar herum, nicht mit einer auf ein galoppierendes Pferd zielenden Lee Enfield; und Cal würde auf dem Boden liegen müssen. Würde es müssen, um genau genug zielen zu können. Die Lee Enfield schoß so präzise wie keine andere Waffe, aber nur, wenn man während des Zielens und Abfeuerns auf dem Boden lag. Sie hatte einen zu starken Rückstoß, um noch zuverlässig zu sein, wenn der Schütze stand.

Enzo würde sie nicht finden. Vielleicht würde er den Wagen finden. Alessandros Mercedes. Aber er würde Carlo und Cal nicht finden, bis das donnernde Krachen ihren Standort verriet… Und selbst dann würde niemand außer Enzo sie finden, bevor sie den Wagen erreichten und davonfuhren. Alle würden sich auf Alessandro konzentrieren, Alessandro mit einem gewaltigen Loch in der Brust, Alessandro in seinem kamelfarbenen Pullover und dem blauen Hemd, die genauso waren wie die

Kleidungsstücke, die Tommy Hoylake trug.

Carlo und Cal kannten Alessandro… Sie kannten ihn gut… aber sie glaubten, er habe seinem Vater gehorcht und sei im Hotel geblieben… Und ein Jockey sah so ziemlich wie der andere aus, aus einer gewissen Entfernung auf einem galoppierenden Pferd.

Alessandro, dachte ich. Alessandro, der an dem goldenen Maimorgen immer weiter galoppierte. direkt in den Tod.

Schneller konnte ich nicht. Lancat konnte nicht schneller. Über den Atem des Pferdes konnte ich nichts sagen, aber meiner ging nur noch in gewaltigen Stößen. Mehr Schluchzer, möchte ich sagen. Ich hätte wirklich zu Hause bleiben sollen.

Ich steuerte noch eine Spur mehr nach rechts und trieb Lancat an. Schwächlicher Versuch. Steigerte das Tempo nicht im mindesten.

Wir kamen näher. Der Winkel wurde plötzlich schärfer, als die Line-Bahn ihre Kehre nach rechts machte. Lucky Lindsay kam um die Ecke, raste auf den Streckenabschnitt zu, auf dem Alessandro am verwundbarsten sein würde… Carlo und Cal waren bestimmt dort… dort vorne, denn Cal konnte sichergehen, daß er einen Mann treffen würde, der direkt auf ihn zukam… Auf diese Weise gab es nicht dieselben Probleme, wie wenn man versuchte, ein bewegliches Ziel zu treffen.

Sie mußten auch mich sehen können, dachte ich. Aber wenn Cal durch sein Visier blickte und das Fadenkreuz im Ring auf Alessandros braunen Pullover und den schwarzen, gesenkten Kopf richtete, würde er mich nicht bemerken… und würde ohnehin nichts Besonderes darin sehen, nur ein weiteres Pferd, das über die Heide galoppierte.

Lancat schwenkte aus eigenem Antrieb auf Lucky Lindsay zu und nahm das Rennen auf… Durch und durch Kämpfernatur, die er selbst in der totalen Erschöpfung noch war, entschlossen, den Kopf nach vorn zu bekommen.

Zehn Meter, drei… und immer näher.

Alessandro war mehrere Längen vor den beiden Pferden, mit denen er gestartet war. Mehrere Längen vor ihnen, ganz allein.

Lancat stieß in einem Winkel zu Lucky Lindsay und warf den Kopf hoch, um einen Zusammenstoß zu vermeiden., und Alessandro wandte sein Gesicht in ungläubigem Staunen mir zu…, und obwohl ich die Absicht gehabt hatte, ihm zuzurufen, er solle abspringen und sich flach auf den Boden legen, bis sein Vater es geschafft hatte, Carlo und Cal zu finden, gingen die Dinge nicht ganz so vonstatten.

Lancat stieg halb hoch, warf mich zur Seite ab, so daß ich auf Lucky Lindsay fiel, und ich legte meinen rechten Arm auf Alessandro und riß ihn mit, so daß wir gemeinsam ins Gras fielen. Und auch Lancat stürzte und lag zu unseren Füßen. Der tapfere, schnelle, entschlossene Lancat — er würde nirgendwo mehr hingehen.

Die Hälfte von Lancats Hals war weggerissen, und sein Blut und sein Leben rannen hinaus auf den hellgrünen Rasen.

Alessandro versuchte, sich aus meiner Umklammerung herauszuwinden und aufzustehen.

«Bleiben Sie liegen!«rief ich wild.»Tun Sie einfach, was ich sage, und bleiben Sie flach liegen.«

«Ich bin verletzt«, sagte er.

«Daß ich nicht lache.«

«Ich habe mir das Bein verletzt«, protestierte er.

«Sie werden ein Loch im Herzen haben, wenn Sie aufstehen.«

«Sie sind verrückt«, sagte er.

«Sehen Sie sich doch Lancat an… Was glauben Sie, fehlt ihm? Glauben Sie, er liegt zum Spaß da?«Ich schaffte es nicht, die Bitterkeit aus meiner Stimme fernzuhalten, und versuchte es auch nicht.»Das hat Cal getan. Cal und sein großes, verdammtes Gewehr. Sie sind hier rausgekommen, um Tommy

Hoylake zu erschießen, doch Sie haben an seiner Stelle Lucky Lindsay geritten, und die beiden konnten den Unterschied nicht erkennen, was Sie freuen sollte… Und wenn Sie jetzt aufstehen, werden sie’s noch mal versuchen.«

Er blieb liegen. Sprachlos. Und ganz, ganz flach.

Ich rollte mich von ihm weg und preßte mir die Faust auf die Zähne, denn, um die Wahrheit zu sagen, ich hatte größere Schmerzen, als ich für möglich gehalten hätte. Er und sein verfluchter blöder Vater. Die freien, scharfen Enden meines Schlüsselbeins schnitten sich neue und ungeplante Wege durch mehrere protestierende Gewebeschichten.

Um uns herum entwickelte sich ein ziemliches Theater. Als der Ring schockierter Zuschauer schützend und dicht genug geworden war, erlaubte ich ihm aufzustehen, aber er kam nur bis auf seine Knie, neben Lancat, und auf seinen Reithosen und seinem Pullover waren Spritzer von dem Blut des Pferdes.

«Lancat…«, sagte er hoffnungslos, und in seiner Stimme lag tödliches Entsetzen. Als eine Reihe hilfsbereiter Zuschauer mich auf die Beine brachten, sah er zu mir hin, und die Verzweiflung auf seinem Gesicht war tief und grenzenlos.

«Warum?«fragte er.»Warum hat er das getan?«

Ich antwortete nicht. Brauchte ihm nicht zu antworten. Er wußte es bereits.

«Ich hasse ihn«, sagte er.

Die Menschen um uns herum begannen, Fragen zu stellen, aber weder Alessandro noch ich beantwortete sie.

Von irgendwo rechts von uns hörte man ein neuerliches lautes, unvermißverständliches Krachen. Ich und die Hälfte der versammelten Menschenmenge gingen unwillkürlich in Deckung, aber die Kugel hätte uns bereits erreicht, wäre auf uns gezielt worden.

Ein Krachen, dann Stille. Das Echo über Waterhall erstarb

ziemlich rasch, aber es würde für alle Zeiten durch Alessandros Leben hallen.

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