16

Enzo hatte Carlo und Cal versteckt in einer Gruppe von Büschen in der Nähe der Kreuzung und des Grabs des Jungen gefunden.

Auch wir fanden sie dort, als wir ans Ende der Line-Bahn gingen, um ein vorbeifahrendes Auto anzuhalten, das Etty schnellstens nach Newmarket bringen sollte. Etty, die verzweifelt oben auf der Galoppbahn aufgetaucht war, hatte zuerst wie alle anderen Zuschauer angenommen, die Schüsse seien ein Unfall gewesen. Eine verirrte Kugel, die irgend jemand abgeschossen hatte, der verbrecherisch leichtsinnig mit einem Gewehr umging.

Ich sah, daß Unverständnis über die Wahl meines Transportmittels auf ihrem Gesicht stand — warum ich auf Lancat gekommen war und nicht mit dem Landrover —, aber ich bat sie lediglich mit sachlicher Stimme, nach Newmarket zu rasen und den Abdecker anzurufen und dann mit ihrem eigenen Wagen zurückzukommen. Sie schickte Andy mit Anweisungen für den Rest des Lots weg, und der erste Wagen, der vorbeikam, hielt an, um sie mitzunehmen.

Alessandro ging mit fassungslosem, steinernem Gesicht über die Trainingsbahn, hinaus auf die Straße und kam auf mich zu. Er führte Lucky Lindsay am Zügel, den irgend jemand eingefangen hatte, aber seine Bewegungen waren so automatisch, als nehme er das Pferd gar nicht wahr. Drei oder vier Schritte von mir entfernt blieb er stehen.

«Was soll ich tun?«fragte er. Seine Stimme war ohne Hoffnung oder Angst. Leblos. Ich antwortete nicht sofort, und das war der Augenblick, in dem wir es hörten.

Eine leise, gequälte Stimme, die uns Unverständliches zurief.

Erschrocken ging ich ein Stück die Straße entlang, trat durch

einen dünnen Gürtel von Büschen, und dort fand ich sie.

Alle drei. Enzo und Carlo und Cal.

Es war Cal, der uns gerufen hatte. Er war der einzige, der dazu noch in der Lage war. Carlo lag ausgestreckt auf dem Rücken mit in die Sonne geöffneten Augen und einem scharlachroten Rinnsal, das ihm aus einem Loch in der Stirn sickerte.

Cal hatte einen größeren, nasseren, sich ausbreitenden Fleck auf der Vorderseite seines Hemdes. Sein Atem ging flach und schnell, und die Anstrengung, laut genug zu rufen, um gefunden zu werden, hatte den größten Teil seiner Energie aufgezehrt.

Die Lee Enfield lag quer über seinen Beinen. Seine Hand bewegte sich zuckend auf den Kolben zu, aber er hatte nicht mehr die Kraft, die Waffe aufzuheben.

Und Enzo… Cal hatte Enzo mit der Lee Enfield aus einer Entfernung von etwa zwei Metern erschossen. Auf diese kurze Entfernung hatte sie sich einen Eintritt in Tellergröße gegraben.

Die Wucht des Schusses hatte Enzo nach hinten geschleudert, gegen einen Baum. Nun saß er am Fuß dieses Baums, seine schallgedämpfte Pistole immer noch in der Hand, den Kopf auf die Brust gesunken. Wo sein Bierbauch gewesen war, war jetzt nur noch eine grauenhafte Masse, und sein Rücken war untrennbar mit der Borke verbunden.

Ich hätte verhindert, daß Alessandro seinen Vater so sah, aber ich hörte ihn nicht kommen. Ich hörte nur das Stöhnen neben mir, und als ich mich jäh umdrehte, sah ich an dem Schweiß auf seiner Stirn, wie übel ihm war.

Für Cal war sein Erscheinen dort mehr als makaber.

«Sie…«:, sagte er.»Sie… sind tot.«

Alessandro starrte ihn nur an, zu schockiert, um zu begreifen, zu schockiert, um zu sprechen.

Cals Augen öffneten sich weit, und seine Stimme wurde in einem Ausbruch nutzlosen Ärgers kräftiger.

«Er sagte… ich hätte Sie getötet. Seinen Sohn getötet. Er war… von Sinnen. Er sagte… ich hätte wissen müssen, daß Sie es waren…«Er hustete, und Blut floß schäumend über seine Unterlippe.

«Sie haben tatsächlich auf Alessandro geschossen«, sagte ich.»Aber Sie haben ein Pferd getroffen.«

Mit sichtbar geringer werdenden Kräften sagte Carlo:»Er hat Carlo erschossen… und er hat auf mich geschossen… Also hab ich’s ihm auch gegeben… diesem Hurensohn… Er war… von Sinnen.«

Die Stimme brach. Es gab nichts mehr, was wir für ihn tun konnten — in diesem Augenblick und unmerklich starb er.

Er starb an der Stelle, an der er Tommy Hoylake aufgelauert hatte. Als ich neben ihm niederkniete, um seinen Puls zu fühlen, und den Kopf hob, um über die Galoppbahn zu schauen, bot sich mir derselbe Blick, den er gehabt hatte: klare Sicht auf die herannahenden Pferde, durch die spärlichen niedrigen Zweige eines Gebüschs, das ein hervorragendes Versteck war. Die dunkle Gestalt Lancats lag wie ein kleiner Hügel auf dem Gras, dreihundert Meter entfernt, und eine neue Gruppe von Pferden jagte sorglos um die Kurve und kam auf mich zu.

Ein leichter Schuß für einen guten Schützen. Er hatte es nicht einmal für nötig befunden, ein Zielfernrohr zu benutzen. Auf diese Entfernung und mit einer Lee Enfield brauchte man auch keins. Man brauchte auch nicht punktgenau zu zielen: ein Treffer irgendwo am Kopf oder Rumpf, und die Sache war erledigt. Ich seufzte. Hätte er ein Zielfernrohr benutzt, wäre ihm wahrscheinlich aufgefallen, daß er auf Alessandro zielte.

Ich stand auf. Unbeholfen, unter Schmerzen und den Moment verwünschend, in dem ich niedergekniet war.

Alessandro war nicht ohnmächtig geworden. Hatte sich nicht übergeben. Der Schweiß auf seinem Gesicht war getrocknet, und er sah seinen Vater unverwandt an.

Als ich auf ihn zuging, drehte er sich um, aber er brauchte zwei oder drei Versuche, bevor seine Stimme ihm wieder gehorchte.

Schließlich gelang es ihm. Er klang angespannt, verzerrt, heiser — und was er sagte, taugte auch ganz gut als Grabinschrift.

«Er hat mir alles gegeben«, sagte er.

Wir gingen zurück zur Straße, wo Alessandro Lucky Lindsay an einen Zaun gebunden hatte. Der Hengst, von den Geschehnissen unbeeindruckt, weidete im Gras.

Keiner von uns sagte etwas.

Etty kam mit dem Landrover angepoltert, und ich überredete sie, ihn zu wenden und mich direkt in die Stadt zu fahren.

«Ich bin gleich wieder da«, sagte ich zu Alessandro, aber er starrte nur schweigend und mit Augen, die zu viel gesehen hatten, ins Leere.

Als ich zurückkam, hatte ich die Polizei bei mir. Etty war auf Rowley Lodge geblieben, um dort nach dem Rechten zu sehen, denn es war immer noch und unglaublicherweise Guineas-Tag, und wir mußten uns um Archangel kümmern. In der Stadt machte ich noch einen Abstecher zum Arzt, wo ich an einer empörten Schlange in seinem Wartezimmer vorbeiging und ihn dazu brachte, die Enden meines Schlüsselbeins wieder in eine gerade Linie zu bringen. Danach war es etwas erträglicher, aber immer noch kein Grund zum Jubeln.

Den größten Teil des Vormittags verbrachte ich oben an der Kreuzung. Beantwortete einige Fragen und schwieg zu anderen. Alessandro hörte, wie ich dem ranghöchsten Polizisten, der aus Cambridge gekommen war, erzählte, daß Enzo auf mich einen äußerst unausgeglichenen Eindruck gemacht habe.

Der Polizeiarzt nahm diese Laienäußerung mit Skepsis auf.

«In welcher Hinsicht?«fragte er ohne besonderen Respekt.

Ich hielt inne, um nachzudenken.»Schon mal einen Syphilitiker gesehen?«fragte ich, und seine Augen weiteten sich jäh, bevor er wieder im Gebüsch verschwand.

Alessandro gegenüber benahmen sie sich sehr rücksichtsvoll. Er saß am Straßenrand im Gras auf irgend jemandes Regenmantel, und später verabreichte der Polizeiarzt ihm ein Beruhigungsmittel.

Es war eine Injektion, und Alessandro wollte sie nicht. Die Männer schenkten seinen Einwänden keine Beachtung, und als die Nadel in seinem Arm steckte, bemerkte ich, daß er mir starr ins Gesicht sah. Er wußte, daß auch ich an viele andere Injektionen dachte, an mich selbst, an Carlo und Moonrock und Indigo und Buckram. Zu viele Nadeln. Zu viel Tod.

Das Medikament machte ihn nicht bewußtlos, sondern ließ ihn nur noch benommener aussehen als zuvor. Die Polizei beschloß, er solle ins Forbury Inn zurückkehren und schlafen, und jemand führte ihn zu einem Streifenwagen.

Er blieb vor mir stehen, bevor er den Wagen erreichte, und sah mich aus den dunklen Augenhöhlen, die tief in seinem grauen, ausgezehrten Gesicht lagen, ergriffen an.

«Sehen Sie nur die Blumen«, sagte er.»Auf dem Grab des Jungen.«

Als er fort war, ging ich hinüber zu dem Regenmantel, auf dem er gesessen hatte, ganz in der Nähe des kleinen Hügels.

Dort standen hellgelbe Schlüsselblumen und am Rand blaue Vergißmeinnicht — und der ganze mittlere Bereich war voller Stiefmütterchen. Dunkelpurpurne, samtene Stiefmütterchen, die im Sonnenlicht einen schwarzen Schimmer hatten.

Es war zynisch von mir, daß ich überlegte, ob er selbst die Blumen gepflanzt haben konnte.

Enzo lag im Leichenschauhaus, und Alessandro war in tiefen

Schlaf versunken, als Archangel und Tommy Hoylake das Guineas gewannen.

So hatten sie es nicht geplant.

Den ganzen Nachmittag fühlte ich mich gedrückt wie vor einem drohenden Gewitter, obwohl es nun gar keinen Grund mehr dafür gab. Die Bekämpfung Enzos nahm nicht mehr die Hälfte meiner Energie in Anspruch, aber ich fand es unmöglich, seinen Einfluß auf einen Schlag abzuschütteln. Erst jetzt begriff ich, wie stark dieser Einfluß geworden war.

Was ich hätte empfinden müssen, war Erleichterung darüber, daß der Stall gerettet war. Was ich tatsächlich empfand, war Niedergeschlagenheit.

Der Bankier, Archangels Besitzer, glühte praktisch vor Glück. Mit strahlendem Gesicht und zitternd vor Stolz stand er im Absattelring und scherzte mit der Presse.

«Gut gemacht, mein Junge, wirklich gut gemacht«, sagte er zu mir, zu Tommy und zu Archangel gleichermaßen und sah so aus, als würde er uns gleich alle umarmen.

«Und jetzt, mein Junge, jetzt auf zum Derby, hm?«

«Jetzt auf zum Derby«, nickte ich und fragte mich, wie bald mein Vater nach Rowley Lodge zurückkehren würde.

Am nächsten Tag besuchte ich ihn.

Er sah noch bedrohlicher aus als gewöhnlich, denn er hatte alles über die mehrfachen Morde auf der Galoppbahn gehört.

Er gab mir die Schuld daran, daß etwas Derartiges geschehen konnte. Es bewahrte ihn außerdem davor, überlegte ich säuerlich, etwas Nettes über Archangel sagen zu müssen.

«Du hättest diesen Lehrling niemals nehmen dürfen.«

«Nein«, sagte ich.

«Der Jockey Club wird ernsthaft verstimmt sein.«»Ja.«

«Der Mann muß wahnsinnig gewesen sein.«

«So ungefähr.«

«Absolut wahnsinnig, zu glauben, er könne, indem er Tommy Hoylake tötet, erreichen, daß sein Sohn Archangel reiten darf.«

Ich hatte der Polizei irgend etwas sagen müssen, und ich hatte ihnen das gesagt. Es schien zu genügen.

«Besessen«, pflichtete ich ihm bei.

«Aber das hätte dir doch gewiß vorher auffallen müssen? Er hat doch gewiß irgendwelche Anzeichen gezeigt?«

«Das hat er wohl«, stimmte ich neutral zu.

«Dann hättest du doch gewiß in der Lage sein müssen, ihn aufzuhalten.«

«Ich habe ihn aufgehalten… in gewisser Hinsicht.«

«Nicht sehr wirkungsvoll«, beklagte er sich.

«Nein«, sagte ich geduldig und dachte, daß der einzige, der Enzo wirkungsvoll und endgültig aufgehalten hatte, Cal gewesen war.

«Was ist los mit deinem Arm?«

«Habe mir das Schlüsselbein gebrochen«, sagte ich.

«Pech.«

Er blickte auf sein immer noch in der Luft schwebendes Bein und sprach damit beinahe, aber nicht ganz aus, daß ein Schlüsselbein ein Pappenstiel war im Vergleich zu dem, was er ertragen hatte. Womit er übrigens recht hatte.

«Wie bald wirst du rauskommen?«fragte ich.

Er antwortete mit einer halb selbstgefälligen, halb unverkennbar boshaften Freude.»Früher, als es dir vielleicht gefällt.«

«Ich wünsche mir wirklich nicht, daß du hierbleibst«, protestierte ich.

Er machte einen leicht bestürzten Eindruck, einen leicht beschämten.

«Nein… na ja… die Ärzte sagen, es dauert jetzt nicht mehr lange.«

«Je früher, desto besser«, sagte ich und versuchte, es auch so zu meinen.

«Mach kein Training mehr mit Archangel. Ich entnehme übrigens dem Rennkalender, daß du eigene Nennungen gemacht hast. Ich möchte nicht, daß du das tust. Ich bin durchaus in der Lage, selbst zu entscheiden, wo meine Pferde laufen sollen.«

«Wie du meinst«, sagte ich milde und stellte mit überraschend geringer Freude fest, daß ich keinen Grund mehr hatte, ihm irgendwie ins Handwerk zu pfuschen.

«Sag Etty, daß sie sich mit Archangel sehr gut geschlagen hat.«

«Mach ich«, sagte ich.»Um genau zu sein, hab’ ich das schon getan.«

Seine Mundwinkel verzogen sich nach unten.»Sag ihr, ich hätte das gesagt.«

«Ja«, sagte ich.

Es hatte sich zwischen uns doch nicht allzuviel geändert. Er war immer noch das, wovor ich mit sechzehn davongelaufen war, und ich würde diesmal weit weniger Zeit brauchen, um ihn zu verlassen. Ich hätte unmöglich als sein Assistent bleiben können, selbst wenn er mich darum gebeten hätte.

«Er hat mir alles gegeben«, hatte Alessandro von seinem Vater gesagt. Ich hätte von meinem gesagt, daß er mir nicht besonders viel gegeben hatte. Und ich empfand etwas für ihn, was Alessandro niemals für seinen Vater empfunden hatte, nicht in Momenten der Liebe, nicht in solchen des Hasses.

Ich empfand — Gleichgültigkeit.

«Geh jetzt«, sagte er.»Und sag auf deinem Weg nach draußen einer Schwester Bescheid. Ich brauche eine Bettpfanne. Wenn ich klingele, dauert es manchmal eine halbe Stunde, bis jemand kommt. Und ich will die Bettpfanne jetzt, sofort.«

Der Fahrer des Mietwagens, den ich mir in Newmarket genommen hatte, war ganz zufrieden damit, Hampstead in die Reiseroute einzubeziehen.

«Ein paar Stunden?«fragte ich, nachdem ich mich auf den Gehsteig vor der Wohnung gehievt hatte.

«Geht in Ordnung«, sagte er.»Vielleicht kann ich irgendwo Tee trinken, obwohl es Sonntag ist. «Voller Hoffnung fuhr er davon, gutgläubige Seele, die er war.

Gillie sagte, sie habe drei Pfund abgenommen und das Badezimmer schlammgrün gestrichen, und wie ich gedenke, sie zu lieben, wenn ich aussah wie die schlaffe Ausgabe eines Schwindsüchtigen im Endstadium.

«Ich«, sagte ich,»gedenke gar nicht.«

«Ah«, sagte sie weise.»Alle Männer haben ihre Grenzen.«

«Und wenn du schon Vergleiche ziehen mußt, vergleiche mich lieber mit einem Rennpferdtrainer, der gerade sein erstes klassisches Rennen gewonnen hat. «Sie öffnete den Mund und war offensichtlich nicht willens, mit dem notwendigen Kompliment rauszurücken.»In Ordnung«, unterbrach ich sie resigniert.

«Nicht ich habe gewonnen. Jeder andere, aber nicht ich. Ich bin ja absolut deiner Meinung. Von ganzem Herzen.«

«Selbstmitleid ist abscheulich«, sagte sie.

«Hm. «Ich setzte mich behutsam in einen blauen Sessel, lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Das trug mir auch kein Mitleid ein.

«Also hast du die Schrammen einkassiert«, bemerkte sie.

«Stimmt.«»Dummer Junge.«

«Ja.«

«Möchtest du Tee?«

«Nein danke«, erwiderte ich höflich.»Kein Mitleid, keinen Tee.«

Sie lachte.»Dann vielleicht Brandy?«

«Wenn du welchen da hast.«

Sie hatte genug da, um die Sorgen der Welt einen Schritt zurücktreten zu lassen, und am Ende zeigte sie doch noch ihre eigene Marke von Mitgefühl.

«Zuck nicht zusammen«, sagte sie,»wenn ich dich küsse.«

«Dann küß mich nicht so verdammt hart.«

Nach einer Weile sagte sie:»Ist diese Schulter alles? Oder kommt da noch mehr?«

«Das ist alles«, sagte ich und gab ihr einen umfassenden Bericht von den Ereignissen. Gekürzt und schnodderig, aber mehr oder weniger umfassend.

«Und weiß dein eigener lieber Vater von all dem?«

«Gott behüte«, sagte ich.

«Aber er wird es erfahren, oder? Wenn du diesen Alessandro sperren läßt? Und dann wird er begreifen, wieviel er dir verdankt?«

«Ich will nicht, daß er es begreift«, sagte ich.»Es wäre ihm zuwider.«

«Charmanter Bursche, dein Vater.«

«Er ist, wie er ist«, sagte ich.

«Und war Enzo, wie er war?«

Ich lächelte sie schief an.»Dasselbe Prinzip, nehme ich an.«

«Du bist ein Spinner, Neil Griffon.«

Das konnte ich nicht bestreiten.

«Wie lange dauert es noch, bis er aus dem Krankenhaus kommt?«fragte sie.

«Ich weiß nicht. Er hofft, schon bald wieder auf den Beinen zu sein. Dann noch ein oder zwei Wochen Physiotherapie und Gehübungen mit Krücken oder etwas in der Art. Er rechnet damit, zum Derby zu Hause zu sein.«

«Was wirst du dann machen?«

«Weiß nicht«, sagte ich.»Aber es wird noch mindestens drei Wochen dauern, und die Hebelwirkung findet keine Anwendung mehr. Also, würdest du immer noch gern nach Rowley Lodge kommen?«

«Hm«, sagte sie nachdenklich.»Da ist ein dreijähriges Mädchen aus Nigeria, das ich bei einer Familie in Dorset unterbringen soll.«

Ich fühlte mich sehr müde.»Vergiß es.«

«Ich könnte am Mittwoch kommen.«

Als ich zurück nach Newmarket kam, ging ich, bevor ich ins Haus trat, noch über den Hof. Er lag friedlich im sanften Licht des Sonnenuntergangs, dem Anfang der Abenddämmerung. Die Ziegelsteine leuchteten in einem warmen Rosaton, die Sträucher waren voller Blüten, und die Sechs-Millionen-Pfund-Pferde standen hinter den grüngetünchten Türen und mahlten laut ihren Abendhafer. Friede in allen Stallgassen, Sieger in vielen Boxen und eine Atmosphäre von Erfolg und Zeitlosigkeit über dem Ganzen.

Ich würde bald fort sein; und Enzo war fort und Alessandro ebenfalls. Wenn mein Vater zurückkam, würde es so sein, als hätte es diese letzten drei Monate nie gegeben. Er und Etty und Margaret würden weitermachen, wie sie es zuvor getan hatten, und ich würde von den vertrauten Pferden in der Zeitung lesen.

Ich wußte noch nicht, was ich tun wollte. Fest stand, daß ich die Arbeit meines Vaters schätzen gelernt hatte, und vielleicht würde ich mir irgendwo anders einen eigenen Stall aufbauen. Ich würde jedenfalls nicht zu den Antiquitäten zurückkehren, und zu diesem Zeitpunkt war mir bereits klar, daß ich auch nicht mehr für Russell Arletti arbeiten würde.

Bau ein neues Imperium auf, hatte Gillie gesagt.

Nun ja, vielleicht würde ich das tun. Ich sah noch bei Archangel vorbei, der nun nicht mehr von Männern, Hunden und Elektronik bewacht wurde. Der große braune Hengst hob seinen Kopf von der Krippe und drehte sich mit fragendem Blick zu mir um. Ich lächelte ihm unwillkürlich zu. Er zeigte noch die Nachwirkungen seines harten Rennens vom Vortag, aber er war gesund und kräftig, und die Chancen standen sehr gut, daß er dem Bankier sein Derby geben würde.

Ich unterdrückte ein Seufzen, ging ins Haus und hörte das Telefon im Büro klingeln.

Es kam oft vor, daß Besitzer am Samstagabend anriefen, aber es war kein Besitzer, es war das Krankenhaus.

«Es tut mir sehr leid«, sagte die Stimme am anderen Ende mehrfach.»Wir versuchen schon seit einigen Stunden, Sie zu erreichen. Es tut mir sehr leid. Sehr leid.«

«Aber er kann nicht tot sein«, sagte ich töricht.»Es war alles in Ordnung mit ihm, als ich ihn verließ. Ich war heute nachmittag bei ihm, und da war er noch vollkommen in Ordnung.«

«Direkt, nachdem Sie gegangen sind«, sagte die Stimme.»Innerhalb einer halben Stunde.«

«Aber wie?«Ich konnte es nicht fassen.»Er hatte doch nur ein gebrochenes Bein… und das war verheilt.«

Ob ich mit dem zuständigen Arzt sprechen wolle, wurde ich gefragt. Ja, ich wollte.

«Er war in Ordnung, als ich ihn verließ«, protestierte ich.»Um genau zu sein, er schrie nach einer Bettpfanne.«

«Ah. Ja. Hm«, sagte eine schrille und mit professionellem Mitleid durchdrungene Stimme.»Das ist… ähm… das ist ein sehr typischer Beginn für eine Lungenembolie. Nach einer Bettpfanne zu rufen… Sehr charakteristisch. Aber seien Sie versichert, Mr. Griffon, Ihr Vater starb sehr schnell. Binnen Sekunden. Ja, wirklich.«

«Was«, sagte ich mit dem Gefühl völliger Unwirklichkeit,»ist eine Lungenembolie?«

«Blutgerinnsel«, erwiderte er prompt.»Unglücklicherweise nicht ungewöhnlich bei älteren Leuten, die längere Zeit bettlägerig gewesen sind. Und die Fraktur Ihres Vaters. Nun ja, es ist tragisch, tragisch, aber nicht ungewöhnlich. Tut mir leid. Der Tod lauert am Krankenbett, sagen einige Leute. Ging sehr schnell, Mr. Griffon. Sehr schnell. Es gab nichts, was wir hätten tun können, glauben Sie mir.«

«Ich glaube Ihnen.«

Aber es war unmöglich, dachte ich. Er konnte nicht tot sein. Ich hatte doch gerade an diesem Nachmittag erst mit ihm gesprochen.

Das Krankenhaus hätte gerne Anweisungen, hieß es zartfühlend.

Ich würde jemanden von Newmarket schicken, sagte ich vage. Einen Leichenbestatter aus Newmarket, um ihn nach Hause zu holen.

Den Montag verbrachte ich mit endlosem Gerede. Redete mit der Polizei, redete mit dem Jockey Club, redete mit etwa einem Dutzend Besitzern, die angerufen hatten, um zu fragen, was jetzt aus ihren Pferden werden würde.

Redete und redete.

Margaret wurde mit dem unablässigen Hochdruck so gelassen fertig wie mit Susie und ihrer Freundin. Und Susies Freundin, sagte sie, habe, nebenbei bemerkt, berichtet, daß Alessandro sein Zimmer nicht mehr verlassen habe, seit die Polizei ihn am Samstag morgen dorthin gebracht hatte. Er habe nichts gegessen und wolle mit niemandem reden, außer um zu sagen, daß man ihn in Ruhe lassen sollte. Die Mutter von Susies Freundin habe gesagt, es sei ja alles gut und schön, aber Alessandro habe niemals Geld bei sich gehabt, und seine Rechnung sei nur bis zum vergangenen Samstag bezahlt, und sie dächten darüber nach, ihn zum Gehen aufzufordern.

«Sagen Sie der Mutter von Susies Freundin, daß ich Alessandro noch Geld schulde und daß er in der Schweiz sehr reich sein wird.«

«Gemacht«, sagte sie und rief sofort im Forbury Inn an.

Etty kümmerte sich beim Training um beide Lots, und irgendwie wurden die richtigen Starter nach Bath gebracht. Vic Young fuhr mit ihnen und sagte später, daß der Lehrling, der an Alessandros Stelle Pullitzer geritten habe, keinen Pfifferling tauge.

Der Polizei hatte ich alles erzählt, was am Samstagmorgen vorgefallen war, aber nichts von den Ereignissen davor. Enzo sei kürzlich in England angekommen, sagte ich, und habe diese ungewöhnliche fixe Idee entwickelt. Sie hatten keinen Grund, diese gekürzte Version nicht zu glauben, und ich hätte nichts gewonnen, wenn ich ihnen mehr erzählt hätte.

Unten im Jockey Club hatte ich eine lange Sitzung mit einem Komitee aus Mitgliedern der Rennleitung und des Renngerichts, die eigens zu diesem Zweck nach dem Guineas-Rennen dortgeblieben waren, und der Ausgang dieser Besprechung war gleichermaßen zufriedenstellend.

Danach wies ich Margaret an, alle anfragenden Besitzer wissen zu lassen, daß ich für den Rest der Saison auf Rowley Lodge bleiben würde und daß sie, wenn sie wollten, ihre Pferde wegholen könnten.

«Tun Sie das wirklich?«fragte sie.»Bleiben Sie da?«

«Bleibt mir kaum etwas anderes übrig, oder?«sagte ich. Aber wir lächelten beide.

«Seitdem Sie diese Lüge verbreitet haben, daß Sie angeblich niemanden fänden, der übernimmt, und das, obwohl Sie die ganze Zeit über John Bredon hätten bekommen können — seitdem habe ich gewußt, daß es Ihnen hier gefällt.«

Ich ließ ihr ihre Illusionen.

«Ich bin froh, daß Sie bleiben«, sagte sie.»Ich nehme an, es ist sehr unloyal Ihrem Vater gegenüber, da er erst gestern gestorben ist, aber ich habe viel lieber für Sie gearbeitet.«

Ich war nicht so despotisch, das war alles. Sie hätte für jeden gute Arbeit geleistet.

Bevor sie um drei Uhr ging, sagte sie, daß bisher keiner der Besitzer, die angerufen hatten, seine Pferde wegholen wolle, und das galt auch für Archangels Bankier.

Als sie weg war, schrieb ich meinen Anwälten in London und bat sie, mir das Päckchen, das sie im Falle meines plötzlichen Todes hätten öffnen sollen, nach Newmarket zurückzuschicken.

Danach schluckte ich ein paar Codeinpillen und überlegte, wie lange es dauern würde, bis mir nichts mehr weh tat, und von fünf bis halb sieben machte ich mit Etty zusammen die Abendstallzeit.

Wir kamen an Lancats leerer Box vorbei.

«Dieser verdammte Alex«, sagte Etty mit rückblickendem Zorn. Die Vergangenheit war Vergangenheit. Die Rennen von morgen waren alles, was zählte. Morgen in Chester. Sie sprach von Zukunftsplänen. Sie war zufrieden, ausgefüllt und tatkräftig. Der Übergang von meinem Vater zu mir war so allmählich vonstatten gegangen, daß jetzt keine plötzlichen Änderungen notwendig waren.

Ich überließ ihr wie gewöhnlich die Überwachung der Abendfütterung und ging zurück zum Haus. Irgend etwas ließ mich die Einfahrt hinaufblicken, und dort stand reglos und nur halb sichtbar vor den Baumstämmen Alessandro.

Es sah aus, als wäre er den halben Weg die Einfahrt hinuntergekommen, bevor ihn der Mut verlassen hatte. Ohne Hast trat ich aus dem Hof und ging ihm entgegen.

Die Anspannung hatte ihn so sehr altern lassen, daß er jetzt eher vierzig als achtzehn Jahre alt schien. Die Knochen ragten scharf durch seine Haut, und in den schwarzen Augen lag nichts als absolute Hoffnungslosigkeit.

«Ich bin gekommen«, begann er.»Ich brauche… ich meine, Sie sagten am Anfang, daß ich die Hälfte des Geldes haben könne, das ich beim Rennen gewinne… Kann ich es… immer noch haben?«

«Das können Sie«, sagte ich.»Selbstverständlich.«

Er schluckte.»Es tut mir leid, daß ich gekommen bin. Ich mußte kommen. Um Sie wegen des Geldes zu fragen.«

«Sie können es sofort haben«, sagte ich.»Kommen Sie mit ins Büro.«

Ich wandte mich halb von ihm ab, aber er rührte sich nicht von der Stelle.

«Nein. Ich… kann nicht.«

«Dann schick’ ich es Ihnen ins Forbury Inn«, sagte ich.

Er nickte.»Vielen Dank.«

«Haben Sie irgendwelche Pläne?«fragte ich ihn.

Die Schatten auf seinem Gesicht schienen sich sogar noch zu vertiefen.

«Nein.«

Er nahm sichtbar jeden Funken an Entschlossenheit zusammen, biß sich auf die Lippen und stellte mir die Frage, die ihn in Stücke riß.

«Wann werde ich gesperrt?«

Neil Griffon war ein Spinner, wie Gillie sagte.

«Sie werden nicht gesperrt«, erklärte ich ihm.»Ich habe heute morgen mit dem Jockey Club geredet. Ich habe ihnen gesagt, daß Sie Ihre Lizenz nicht verlieren sollten, weil Ihr Vater verrückt geworden ist, und das hat sie überzeugt. Es wird Ihnen vielleicht nicht gefallen, daß ich die Geisteskrankheit Ihres Vaters erwähnt habe, aber das war das Beste, was ich tun konnte.«

«Aber…«, sagte er voller Verwirrung und dann plötzlich begreifend:»Haben Sie ihnen denn nichts von Moonrock und Indigo gesagt. und von Ihrer Schulter?«

«Nein.«

«Ich verstehe nicht… warum Sie es nicht getan haben.«

«Ich sehe keinen Sinn darin, mich an Ihnen für das zu rächen, was Ihr Vater getan hat.«

«Aber… er hat es… am Anfang… nur getan, weil ich ihn darum gebeten hatte.«

«Alessandro«, sagte ich.»Wie viele Väter würden wohl tun, was er getan hat? Wie viele Väter würden, wenn ihre Söhne sagen, sie wollten Archangel im Derby reiten, sogar Mord in Kauf nehmen, um ihnen diesen Wunsch zu erfüllen?«

Nach einer langen Pause sagte er:»Er war also wahnsinnig. Er war es wirklich.«

Das war eindeutig kein Trost für ihn.

«Er war krank«, sagte ich.»Diese Krankheit, die er hatte, nachdem Sie geboren wurden. Sie hat sein Gehirn in Mitleidenschaft gezogen.«

«Dann werde ich… nicht…?«:

«Nein«, sagte ich.»Sie können es nicht erben. Sie sind so gesund wie jeder andere. So gesund, wie Sie sein wollen.«

«Wie ich sein will«, wiederholte er ausdruckslos. Seine Gedanken waren nach innen gerichtet. Ich ließ ihm Zeit. Ich wartete mit größter Geduld, denn was er sein wollte, das war der letzte Zug im Spiel.

«Ich will Jockey sein«, sagte er matt.»Ein guter.«

Ich holte Luft.»Es steht Ihnen frei, Rennen zu reiten, wo immer Sie wollen«, sagte ich.»Überall auf der Welt.«

Er sah mich mit einem Gesicht an, aus dem alle Arroganz verschwunden war. Er schien nicht mehr derselbe Junge zu sein, der vor drei Monaten aus der Schweiz gekommen war, und tatsächlich war er das auch nicht mehr. All seine Werte waren auf den Kopf gestellt worden, und die Welt, wie er sie gekannt hatte, existierte nicht mehr.

Um den Vater zu besiegen, hatte ich den Sohn verändert. Hatte ihn zuerst nur als Lösung eines Problems verändert, aber später auch, weil das zum Vorschein kommende Produkt die Mühe lohnte. Es schien irgendwie eine Verschwendung zu sein, ihn gehen zu lassen. Abrupt sagte ich:»Sie können auf Rowley Lodge bleiben, wenn Sie wollen.«

Irgend etwas brach in ihm in Stücke, wie zerspringendes Glas. Als er sich abwandte, hätte ich gegen alle Wahrscheinlichkeit schwören können, daß in seinen Augen Tränen standen.

Er machte vier Schritte und blieb stehen.

«Nun?«fragte ich.

Er drehte sich um. Die Tränen waren in die Tränenkanäle zurückgeflossen, wie das bei jungen Menschen oft geschieht.

«Als was?«fragte er ängstlich, in Erwartung irgendwelcher Fußangeln.

«Als Stalljockey«, sagte ich.»Zweiter nach Tommy.«

Er ging noch sechs Schritt weiter die Einfahrt hinunter, als wären seine Knöchel Sprungfedern.

«Kommen Sie zurück«, rief ich.»Was ist mit morgen?«

Er sah über die Schulter zu mir hinüber.»Ich werde zum Training da sein.«

Noch drei weitere federnde Schritte.

«Werden Sie nicht«, rief ich.»Sie werden gut schlafen und gut frühstücken und um elf Uhr hier sein. Wir fliegen rüber nach Chester.«

«Chester?«Er drehte sich um und rief mir seine überraschte Frage zu, bevor er noch zwei Schritte rückwärts machte.

«Clip Clop«, schrie ich.»Schon mal von ihm gehört?«

«Ja«, schrie er zurück, und unkontrollierbares Lachen bemächtigte sich seiner, bevor er sich umdrehte, und die Einfahrt hinunterlief, mit Luftsprüngen wie ein Sechsjähriger.

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