Napoleon hatte den Krieg mit Rußland angefangen, weil er gar nicht anders konnte als nach Dresden fahren, gar nicht anders konnte, als sich durch die Ehrenbezeigungen dort verblenden lassen. Er mußte die polnische Uniform anziehen, mußte sich dem Einfluß jenes zu Unternehmungen auffordernden Junimorgens hingeben und war in Gegenwart Kurakins und später Balaschews einfach außerstande, seinen Zorn zu meistern.
Alexander wies alle Verhandlungen zurück, weil er sich persönlich beleidigt fühlte. Barclay de Tolly bemühte sich, die Truppen nach bestem Können und Gewissen zu führen, um seine Pflicht zu erfüllen und sich den Ruhm eines guten Feldherrn zu erwerben. Rostow sprengte deshalb zur Attacke gegen die Franzosen vor, weil er dem Wunsch, über das freie Feld zu jagen, nicht widerstehen konnte. Und ganz ebenso, nach ihren persönlichen Eigenschaften, Gewohnheiten, Gründen und Zielen, handelten alle die unzähligen Persönlichkeiten, die an diesem Krieg teilnahmen. Sie fürchteten sich, prahlten, freuten sich, waren unzufrieden und fällten Urteile, immer in dem Glauben, daß sie wüßten, was sie täten, und alles selbständig, aus sich heraus vollbrächten, und doch waren sie alle nur unfreiwillige Werkzeuge der Geschichte und erfüllten eine ihnen verborgene, uns aber verständliche Aufgabe. Dies ist das unabänderliche Schicksal aller im praktischen Leben tätigen Menschen, die um so unfreier sind, je höher sie auf der Stufenleiter menschlicher Rangordnung stehen.
Jetzt sind die im Jahre 1812 Mitwirkenden längst vom Schauplatz abgetreten, ihre persönlichen Interessen sind spurlos verweht, und nur die geschichtlichen Tatsachen jener Zeit liegen noch vor uns.
Wenn wir aber annehmen, daß die Völker Europas unter Napoleons Oberbefehl in das innere Rußland eindringen mußten, um dort umzukommen, werden uns all diese sich selbst widersprechenden, sinnlosen, grausamen Handlungen der Teilnehmer an diesem Krieg auf einmal klar.
All diese Menschen, die danach strebten, persönliche Ziele zu erreichen, hat die Vorsehung gezwungen, zusammenzuwirken, um ein einziges großes Ergebnis zu erzeugen, von dem kein Mensch, weder Napoleon noch Alexander noch gar irgendein anderer Kriegsteilnehmer, die geringste Ahnung gehabt hat.
Uns ist es jetzt klar, was im Jahre 1812 der Grund zur Vernichtung der französischen Armee gewesen ist. Niemand wird heute noch bestreiten, daß der Untergang von Napoleons großer Armee einerseits dadurch verursacht worden ist, daß er zu so später Jahreszeit, ohne auf einen Winterfeldzug vorbereitet zu sein, bis tief ins Innere Rußlands eindrang, andrerseits aber auch durch den Charakter, den der Krieg angenommen hatte, nachdem eine Anzahl russischer Städte eingeäschert und ein solcher Haß gegen den Feind im russischen Volk geweckt worden war. Doch damals sah niemand voraus, was uns heute klar auf der Hand liegt, daß nur auf diesem Weg einer achtmalhunderttausend Mann starken Armee, die die tapferste in der ganzen Welt war und noch dazu von dem hervorragendsten Feldherrn geführt wurde, von einer halb so starken, unerfahrenen, von weniger geübten Führern geleiteten russischen Armee der Untergang bereitet werden konnte. Aber nicht nur, daß dies niemand voraussah, man machte sogar russischerseits unentwegt noch alle nur möglichen Anstrengungen, um das zu verhindern, was allein Rußland zu retten vermochte, während französischerseits, trotz aller Erfahrungen Napoleons, dieses sogenannten Feldherrngenies, alle nur denkbaren Anstrengungen gemacht wurden, um noch vor Ende des Sommers Moskau zu erreichen, das heißt gerade das zu tun, was den Untergang des französischen Heeres herbeiführen mußte.
In den historischen Abhandlungen über das Jahr 1812 sprechen französische Geschichtsschreiber mit Vorliebe davon, wie Napoleon die Gefahr, die in einer solchen Ausdehnung seiner Angriffslinie liege, erkannt und deshalb eine Entscheidungsschlacht herbeizuführen gesucht habe, wie seine Marschälle ihm geraten hätten, in Smolensk zu bleiben, und was dergleichen Argumente mehr sind, die beweisen sollen, daß man schon damals das Gefährliche eines solchen Feldzuges erkannt habe. Die russischen Geschichtsschreiber hingegen sprechen mit noch größerer Vorliebe davon, daß schon zu Anfang des Feldzuges der Plan eines Skythenkrieges bestanden habe, der Plan nämlich, Napoleon ins Innere Rußlands zu locken, und schreiben diesen Plan bald Pfuel, bald irgendeinem Franzosen, bald Barclay de Tolly, bald dem Kaiser Alexander selber zu, indem sie dies aus Memoiren, Entwürfen und Briefen zu beweisen suchen, in denen sich auch tatsächlich Andeutungen auf einen solchen Aktionsplan finden. Aber alle diese Andeutungen, daß man das, was sich ereignet hat, sowohl von seiten der Franzosen als auch russischerseits vorausgesehen habe, werden jetzt nur zur Schau gestellt, weil die Ereignisse sie gerechtfertigt haben. Hätten sich die Ereignisse nicht in der Art vollzogen, so wären auch jene Andeutungen der Vergessenheit anheimgefallen, wie Tausende und aber Tausende entgegengesetzter Andeutungen und Vermutungen vergessen worden sind, die damals im Umlauf waren, sich aber als falsch erwiesen haben. Über den Ausgang jedes Ereignisses, das sich vollzieht, pflegen immer so viele Voraussagungen gemacht zu werden, daß, wie es auch ausgehen möge, immer Leute da sein werden, die sagen können: »Ich habe es damals doch gleich gesagt, daß es so kommen wird«, und man vergißt dann ganz und gar, daß bei der Unzahl der Voraussagungen auch solche gemacht worden sind, die gerade das Gegenteil behaupteten.
Daß sich Napoleon der Gefahr, die in der Ausdehnung seiner Angriffslinie lag, bewußt gewesen wäre, und daß die Russen absichtlich den Feind ins Innere Rußlands gelockt hätten, sind zweifellos Annahmen dieser Art, und die Geschichtsschreiber ziehen die Dinge arg an den Haaren herbei, wenn sie Napoleon solche Bedenken und den russischen Heerführern derartige Pläne zuschreiben. Alle Tatsachen widersprechen solchen Vermutungen vollkommen. Nicht nur, daß man während des ganzen Feldzuges russischerseits keineswegs das Bestreben zeigte, die Franzosen ins Innere Rußlands hineinzulocken, sondern man tat von ihrem ersten Einfall in Rußland an sogar alles, was man nur konnte, um sie aufzuhalten, und Napoleon empfand bei der Ausdehnung seiner Front nicht nur keine Besorgnis, sondern freute sich über jeden Schritt, den er vorwärts tat, wie über einen Triumph und zeigte sich in dem Bestreben, eine Schlacht herbeizuführen, ziemlich lässig und durchaus nicht so wie bei seinen früheren Feldzügen.
Von Anfang des Krieges an ist unser Heer getrennt, und das einzige Ziel, nach dem wir streben, besteht darin, es wieder zu vereinen, obgleich die Vereinigung des Heeres bei einem Zurückziehen und Hereinlocken des Feindes ins Innere Rußlands gar keinen Vorteil gebracht hätte. Der Kaiser befindet sich an der Front, um die Truppen zur Verteidigung jedes Zolls russischen Bodens zu begeistern, nicht aber, um sie zum Rückzug aufzumuntern. Man hat nach Pfuels Plan das gewaltige Lager an der Drissa errichtet und ist nicht gesonnen, noch weiter zurückzuweichen. Für jeden Schritt, den es rückwärts geht, macht der Kaiser dem Oberkommandierenden Vorwürfe. Nicht nur den Brand Moskaus, sondern sogar schon die Übergabe von Smolensk kann Kaiser Alexander kaum fassen, und da das Heer nun wieder vereinigt ist, zeigt sich der Kaiser entrüstet, daß Smolensk hingegeben und eingeäschert und nicht vor seinen Mauern eine Entscheidungsschlacht geliefert wurde.
So denkt der Kaiser, die russischen Feldherren aber und das gesamte russische Volk sind noch entrüsteter darüber, daß sich unsere Truppen bis ins Innere Rußlands zurückziehen.
Napoleon rückt, nachdem er unser Heer getrennt hat, ins Innere des Landes vor und läßt sich verschiedene Gelegenheiten, eine Schlacht zu schlagen, entgehen. Im August ist er in Smolensk und denkt nur daran, wie er noch weiter vorrücken könne, obgleich, wie es uns jetzt klar vor Augen liegt, dieses Vordringen sein Verderben werden muß.
Diese Tatsachen beweisen offenbar, daß weder Napoleon in seinem Vorrücken nach Moskau eine Gefahr gesehen hat noch Kaiser Alexander und die russischen Heerführer daran gedacht haben, den Feind ins Innere des Landes zu locken, sondern daß beide gerade das Gegenteil im Sinn hatten. Daß Napoleon in das Innere des Landes gelockt wurde, geschah nicht nach irgendeinem Plan – kein Mensch dachte an die Möglichkeit eines solchen –, sondern infolge jenes Spiels von Intrigen, Absichten und Wünschen der Kriegsteilnehmer, die von dem, was sich vollziehen mußte und allein zu Rußlands Rettung dienen konnte, keine Ahnung hatten.
Alle Ereignisse kommen unerwartet. Unser Heer wird gleich zu Beginn des Feldzuges geteilt. Wir bemühen uns, es wieder zu vereinen mit dem offenkundigen Ziel, eine Schlacht zu liefern und den einfallenden Feind aufzuhalten, aber eben in diesem Streben nach Wiedervereinigung müssen wir einer Schlacht mit dem stärkeren Feind aus dem Wege gehen, und indem wir uns so unfreiwillig im spitzen Winkel zurückziehen, führen wir selber die Franzosen bis nach Smolensk. Und nicht genug damit, daß wir uns im spitzen Winkel zurückziehen und die Franzosen zwischen unseren beiden Armeen vorrücken – der Winkel wird sogar noch spitzer, und wir müssen noch weiter zurückgehen, weil Barclay de Tolly ein unbeliebter Deutscher ist und von Bagration gehaßt wird, der sich unter sein Oberkommando stellen soll, und weil deshalb Bagration, der die zweite Armee befehligt, sich Mühe gibt, die Vereinigung mit Barclay so weit wie möglich hinauszuschieben, um sich nicht unter dessen Kommando stellen zu müssen. Obgleich die Vereinigung der beiden Armeen das Hauptziel aller kommandierenden Persönlichkeiten bildet, schiebt Bagration diese doch lang hinaus, weil er angeblich fürchtet, durch einen solchen Marsch seine Armee in Gefahr zu bringen, und es für vorteilhafter hält, sich mehr nach links und nach Süden zurückzuziehen, wo er den Feind in der Flanke und im Rücken beunruhigen und seine Armee in der Ukraine wieder vervollständigen kann. Aber es scheint doch, daß er sich das nur deshalb ausgedacht hat, um sich dem verhaßten Barclay nicht unterordnen zu müssen, der ein Deutscher ist und noch dazu dem Rang nach unter ihm steht.
Der Kaiser befand sich an der Front, um die Truppen anzufeuern, und doch lähmte seine Gegenwart und seine Unschlüssigkeit, für was man sich entscheiden sollte, sowie die gewaltige Menge der Ratgeber und Pläne nur die Tatkraft der ersten Armee, so daß auch sie sich zurückziehen mußte.
Man hatte vorgehabt, im Lager an der Drissa zu bleiben, aber unerwarteterweise macht Paulucci, der den Posten eines Oberkommandierenden im Auge hat, mit der ihm eignen Energie seinen ganzen Einfluß auf Alexander geltend, und so wird Pfuels ganzer Plan umgestoßen und die Angelegenheit Barclay übergeben. Da man aber zu Barclay nicht das rechte Vertrauen hat, wird ihm seine Macht beschnitten. Das Heer wird zerstückelt; es gibt kein einheitliches Oberkommando; Barclay ist unbeliebt. Und diesem ganzen wirren Knäuel: Zerstückelung der Truppen und Unbeliebtheit des deutschen Oberkommandierenden entspringt einerseits dieses Schwanken und Vermeidenwollen einer Schlacht – der man sich nicht hätte zu entziehen brauchen, wenn die Armee vereint und Barclay nicht Oberkommandierender gewesen wäre – und andrerseits die immer größer werdende Mißstimmung gegen die Deutschen und das Aufleben des patriotischen Geistes.
Endlich reist der Kaiser von der Front ab, und als einzigen annehmbaren Vorwand dieser Abreise hat man den Gedanken ausgeheckt: der Kaiser müsse das Volk in den Hauptstädten für einen Volkskrieg begeistern. Und diese Reise des Kaisers nach Moskau verdreifacht auch die Streitkraft der russischen Truppen.
Der Kaiser reist deshalb von der Front ab, um dem Oberkommandierenden in seiner uneingeschränkten Macht nicht im Weg zu sein, und man hofft, daß nun entschiedenere Maßnahmen getroffen werden, aber die Lage der obersten Heeresleitung wird dadurch noch verwirrter und ihre Macht noch schwächer. Bennigsen, der Großfürst und ein Schwarm von Generaladjutanten sind bei der Armee geblieben, um alle Aktionen des Oberkommandierenden zu verfolgen und ihn zur Tatkraft anzuspornen, aber Barclay fühlt sich unter all diesen »Augen des Kaisers« noch unfreier, wird bei entscheidenden Operationen noch vorsichtiger und geht jeder Schlacht aus dem Wege.
Barclay ist für Vorsicht. Der Großfürst macht Anspielungen, als ob dies Verrat sei, und fordert eine Generalschlacht. Lubomirski, Bronnizkij, Wlozkij und noch andere mehr gießen noch Öl in dieses Feuer, so daß Barclay unter dem Vorwand, dem Kaiser Dokumente zustellen zu müssen, den polnischen Generaladjutanten nach Petersburg schickt und einen unverblümten Kampf gegen Bennigsen und den Großfürsten eröffnet.
Bei Smolensk werden die beiden Armeen endlich vereinigt, wie wenig das auch im Interesse Bagrations liegt.
Bagration fährt in einem Wagen an dem Haus vor, das Barclay bewohnt. Barclay bindet sich die Schärpe um, geht ihm entgegen und stattet ihm als Rangälterem Bericht ab. Nach diesem Wetteifer an Hochherzigkeit ordnet sich Bagration trotz seines höheren Ranges dennoch Barclay unter, stimmt aber, nachdem er dies getan hat, noch weniger mit ihm überein als früher. Auf Befehl des Kaisers muß Bagration persönlich Bericht darüber erstatten. Er schreibt an Araktschejew:
»Der Wille des Kaisers ist mir Befehl, aber ich kann nun einmal mit dem Minister (Barclay) nicht zusammenarbeiten. Schicken Sie mich um Gottes willen irgendwo anders hin, und wenn es nur ist, um ein Regiment zu kommandieren, aber hier kann ich nicht länger bleiben. Das ganze Hauptquartier ist mit Deutschen vollgepfropft, so daß für einen Russen das Leben hier rein unmöglich wird und gar keinen Sinn hat. Ich war in dem Glauben, meinem Kaiser und Vaterland ehrlich zu dienen, in Wahrheit aber stellt sich heraus, daß ich Barclay diene. Ich muß gestehen, das paßt mir nicht.«
Der Schwarm der Bronnizkijs, Wintzingerodes und anderer Berater vergiftet die Beziehungen der beiden Oberkommandierenden noch mehr, und so wird noch weniger Einigkeit erzielt. Man trifft Anstalten, die Franzosen vor Smolensk anzugreifen.
Ein General wird ausgeschickt, um die Stellung in Augenschein zu nehmen. Dieser General, der Barclay haßt, reitet jedoch zu einem Freund, der ein Korps kommandiert, verlebt einen Tag bei ihm, kehrt dann zu Barclay zurück und äußert sich in allen Punkten abfällig über ein Schlachtfeld, das er gar nicht gesehen hat.
Während über das künftige Schlachtfeld hin und her gestritten und Intrigen gesponnen werden, während wir den Feind suchen und uns über seine Stellung irren, stoßen die Franzosen auf die Division Newjerowskij und dringen bis zu den Mauern von Smolensk vor.
Gegen unsere Erwartungen müssen wir eine Schlacht bei Smolensk annehmen, um unsere Verbindungen zu retten. Die Schlacht wird geschlagen. Sowohl auf der einen wie auf der anderen Seite fallen Tausende von Menschen.
Smolensk wird gegen den Willen des Kaisers und des ganzen Volkes übergeben. Aber die von ihrem eignen Gouverneur Hintergangenen Einwohner zünden ihre Stadt an, wodurch sie für ganz Rußland zum Vorbild werden, ziehen gänzlich verarmt nach Moskau, denken nur an das, was sie verloren haben, und schüren dadurch den Haß gegen den Feind. Napoleon rückt vor, wir weichen zurück, und so wird erreicht, was Napoleons Niederlage herbeiführen sollte.
Am Tag nach der Abreise seines Sohnes ließ Fürst Nikolaj Andrejewitsch Prinzessin Marja zu sich rufen.
»Na, nun bist du wohl zufrieden?« sagte er zu ihr. »Hast mich nun mit meinem Sohn entzweit. Bist du nun zufrieden? Das hatte dir doch nur noch gefehlt. Nun wirst du wohl zufrieden sein … Aber mir tut das weh, sehr weh. Ich bin alt und schwach, aber das wolltest du ja eben. Na, freue dich, freue dich nur …«
Darauf sah Prinzessin Marja ihren Vater eine ganze Woche lang nicht. Er war krank und kam nicht aus seinem Zimmer.
Zu ihrer Verwunderung mußte sie die Beobachtung machen, daß während der ganzen Zeit seiner Krankheit der alte Fürst auch Mademoiselle Bourienne nicht zu sich ins Zimmer ließ. Nur Tichon ging zu ihm hinein.
Nach acht Tagen kam der Fürst wieder zum Vorschein und fing sein früheres Leben wieder an: er beschäftigte sich besonders eifrig mit seinen Bauten und Gärten, seine früheren Beziehungen zu Mademoiselle Bourienne nahm er jedoch nicht wieder auf Seine Miene und sein kalter Ton gegen Prinzessin Marja schienen ihr zu sagen: Siehst du, da hast du dir nun über mich etwas ausgeheckt, hast dem Fürsten Andrej vorgelogen, daß ich Beziehungen zu dieser kleinen Französin hätte, und nun siehst du daß ich weder dich noch sie brauche.
Die eine Hälfte des Tages verlebte Prinzessin Marja bei Nikoluschka, indem sie seine Lektionen beaufsichtigte, ihm selber Stunden in der russischen Sprache und Musik erteilte oder sich mit Dessalles unterhielt, die andere Hälfte verbrachte sie bei ihren Büchern, mit den alten Kinderwärterinnen oder Gottesleuten, die sich ab und zu über die Hintertreppe zu ihr stahlen.
Über den Krieg dachte Prinzessin Marja so, wie Frauen über Kriege zu denken pflegen. Sie schwebte in Angst um den Bruder, der mit dabei war, entsetzte sich über die ihr unbegreifliche Grausamkeit, die die Menschen dazu trieb, einander totzuschlagen, aber die Bedeutung dieses Krieges verstand sie nicht, er schien ihr ebenso sinnlos wie alle früheren Kriege. Sie hatte für diesen Kampf kein Verständnis, obgleich sich Dessalles, der ihr ständiger Gesellschafter war, leidenschaftlich für den Gang der Operationen interessierte und sich alle Mühe gab, ihr seine Mutmaßungen und Schlüsse auseinanderzusetzen, obgleich alle Gottesleute, die zu ihr kamen, ihr voll Entsetzen und jeder in seiner Art die Gerüchte zutrugen, die über den Einfall des Antichristen im Volk in Umlauf waren, und obgleich Julie, die jetzt Fürstin Drubezkaja hieß und wieder mit ihr in Briefwechsel getreten war, ihr aus Moskau äußerst patriotische Briefe sandte.
»Ich schreibe Ihnen auf russisch, meine liebe Freundin«, schrieb Julie, »weil ich alle Franzosen hasse, und ebenso ihre Sprache, die ich nicht mehr hören, nicht mehr sprechen kann … Wir in Moskau sind alle hingerissen von Begeisterung für unseren vergötterten Kaiser.
Mein armer Mann trägt die Strapazen und den Hunger in jüdischen Dorfschenken, aber die Nachrichten, die ich von ihm erhalte, begeistern mich noch mehr.
Sicherlich haben Sie schon von Rajewskijs Heldentat gehört: wie er die Arme um seine Söhne geschlungen und gesagt hat: ›Mit ihnen zusammen will ich untergehen, aber keinen Schritt weichen!‹ Und tatsächlich sind wir auch nicht zurückgegangen, obgleich der Feind noch einmal so stark war. Wir hier in Moskau verbringen die Zeit, so gut wir können, aber es ist eben im Krieg, wie es ist. Die Prinzessinnen Alina und Sophie sitzen ganze Tage bei mir, und wir unglücklichen Witwen von Männern, die noch am Leben sind, führen beim Scharpiezupfen[153] erbauliche Gespräche, nur Sie, meine liebe Freundin, fehlen dabei …« und so weiter.
Vor allem aber verstand Prinzessin Marja die ganze Bedeutung dieses Krieges deshalb nicht, weil der alte Fürst niemals über ihn sprach, ihn nicht anerkannte und sich bei Tisch über Dessalles lustig machte, wenn dieser davon zu reden anfing. Der Ton des alten Fürsten war dabei so ruhig und überzeugt, daß Prinzessin Marja, ohne viel darüber nachzudenken, ihm Glauben schenkte.
Den ganzen Juli über war der alte Fürst außerordentlich geschäftig und sogar lebhaft. Er ließ noch einen neuen Garten anlegen und ein neues Flügelgebäude errichten, wo das Gesinde wohnen sollte. Der einzige Umstand, der Prinzessin Marja beunruhigte, war, daß er so wenig schlief, der Gewohnheit, in seinem Arbeitszimmer die Nacht zu verbringen, untreu wurde und sich jeden Tag einen anderen Platz für sein Nachtlager wählte. Bald gab er den Befehl, sein Feldbett auf der Galerie aufzuschlagen, bald blieb er auf dem Diwan liegen oder in seinem großen Armstuhl im Salon sitzen und schlummerte angekleidet ein, während ihm nicht Mademoiselle Bourienne, sondern der Bursche Peter vorlesen mußte, bald verbrachte er die Nacht im Eßzimmer.
Am ersten August kam der zweite Brief vom Fürsten Andrej an. In seinem ersten Brief, der kurz nach seiner Abreise eingetroffen war, hatte er seinen Vater in aller Ergebenheit gebeten, ihm das, was er sich ihm zu sagen erlaubt habe, zu verzeihen und ihm sein Wohlwollen wieder zuzuwenden. Auf diesen Brief hatte der alte Fürst mit einem freundlichen Schreiben geantwortet, und seit jener Zeit die Französin von sich ferngehalten. Der zweite Brief des Fürsten Andrej, der bei Witebsk geschrieben war, nachdem die Franzosen diese Stadt besetzt hatten, bestand in einer kurzen Beschreibung des ganzen Feldzugs nebst einer im Brief eingezeichneten Kartenskizze und aus Berechnungen und Schlüssen über den weiteren Gang des Krieges. In diesem Brief stellte Fürst Andrej seinem Vater vor, welch unbequeme Folgen es für ihn haben könne, daß Lysyja-Gory so nah am Kriegsschauplatz und gerade auf der Linie der Truppenbewegung lag, und riet ihm, nach Moskau überzusiedeln.
Als an diesem Tag bei Tisch Dessalles davon sprach, daß, wie er gehört habe, die Franzosen schon in Witebsk eingerückt seien, fiel dem alten Fürsten der Brief seines Sohnes ein.
»Ich habe heute vom Fürsten Andrej einen Brief bekommen«, sagte er zu Prinzessin Marja, »hast du ihn schon gelesen?«
»Nein, mon père«, erwiderte Prinzessin Marja erschrocken; sie konnte doch einen Brief, von dessen Eintreffen sie nicht einmal wußte, noch gar nicht gelesen haben.
»Er schreibt da von einem Feldzug«, sagte der Fürst mit jenem ihm zur Gewohnheit gewordenen verächtlichen Lächeln, mit dem er immer vom gegenwärtigen Krieg zu reden pflegte.
»Das muß sehr interessant sein«, meinte Dessalles. »Der Fürst ist doch in der Lage, beurteilen zu können …«
»Ach, wie interessant!« rief Mademoiselle Bourienne.
»Gehen Sie und holen Sie ihn mir her«, wandte sich der alte Fürst an Mademoiselle Bourienne. »Sie wissen, auf dem kleinen Tisch unter dem Briefbeschwerer.«
Mademoiselle Bourienne sprang freudig auf.
»Ach nein«, rief er sie sogleich mit finsterer Stirn wieder zurück. »Geh du, Michail Iwanytsch!«
Michail Iwanytsch stand auf und ging in das Arbeitszimmer. Kaum war er aber hinausgegangen, als sich der alte Fürst unruhig umblickte, die Serviette beiseite warf und selber hinging.
»Nichts verstehen sie! Alles bringen sie durcheinander!«
Während er hinausging, sahen Prinzessin Marja, Dessalles, Mademoiselle Bourienne und sogar Nikoluschka schweigend einander an. Mit dem Brief und einem Plan in der Hand, kehrte der alte Fürst eiligen Schrittes zurück, gefolgt von Michail Iwanowitsch, und legte den Brief neben sich, ohne ihn bei Tisch jemand zum Lesen zu geben.
Als man nach Tisch in den Salon hinübergegangen war, gab er den Brief Prinzessin Marja und befahl ihr, indem er den Plan seines Neubaus vor sich ausbreitete und seine Augen nicht von ihm abwandte, den Brief laut vorzulesen. Nachdem Prinzessin Marja dies getan hatte, blickte sie ihren Vater fragend an. Dieser besah sich immer noch den Plan und schien ganz in seine Gedanken versunken zu sein.
»Wie denken Sie darüber, Fürst?« erlaubte sich Dessalles ihn zu fragen. »Ich? Ich?« erwiderte der Fürst, ohne die Augen von seinem Bauplan zu erheben, als wäre es ihm unangenehm, aus seinen Grübeleien aufgerüttelt zu werden.
»Es ist sehr leicht möglich, daß der Kriegsschauplatz so nah zu uns herankommt, daß …«
»Ha, ha, ha! Kriegsschauplatz!« lachte der Fürst. »Ich habe immer gesagt und sage auch jetzt noch, daß der Kriegsschauplatz Polen ist, und daß der Feind niemals weiter als bis zum Njemen vordringen wird.«
Dessalles blickte erstaunt den Fürsten an, der vom Njemen sprach, wo doch der Feind bereits am Dnjepr stand. Aber Prinzessin Marja, die die geographische Lage des Njemen nicht recht im Gedächtnis hatte, glaubte, daß das, was der Vater behauptete, wahr sei.
»Wenn der Schnee schmilzt, werden sie in den polnischen Sümpfen versinken. Jetzt können sie die bloß nicht sehen«, fuhr der Fürst fort und dachte offenbar an den Feldzug vom Jahre 1807, der, wie er glaubte, erst vor ganz kurzer Zeit gewesen war. »Bennigsen hätte früher in Preußen einfallen müssen, da hätte die Sache eine ganz andere Wendung bekommen …«
»Aber, Fürst«, warf Dessalles schüchtern ein, »im Brief ist doch von Witebsk die Rede …«
»So? In dem Brief? Ja …« brummte mißmutig der Fürst. »Ja … ja …« Sein Gesicht nahm plötzlich einen finsteren Ausdruck an. Er schwieg. »Ja, er schreibt, die Franzosen sind geschlagen. Wie hieß doch der Fluß gleich?« Dessalles schlug die Augen nieder.
»Davon schreibt der Fürst nichts«, erwiderte er leise.
»So, davon schreibt er also nichts? Na, soll ich mir das vielleicht selber ausgedacht haben?«
Alle schwiegen eine ganze Weile.
»Ja … ja … Nun, Michail Iwanytsch«, fing plötzlich der alte Fürst wieder an, hob den Kopf und wies auf den Bauplan, »sage mir mal, wie du das umbauen willst …«
Michail Iwanowitsch trat an den Plan heran; der alte Fürst warf Prinzessin Marja und Dessalles einen bösen Blick zu und ging, nachdem er mit dem Baumeister ein paar Worte über den Plan des Neubaus gewechselt hatte, auf sein Zimmer.
Prinzessin Marja sah den verlegenen und erstaunten Blick, den Dessalles ihrem Vater zuwarf, sie bemerkte sein Schweigen und wunderte sich darüber, daß ihr Vater den Brief seines Sohnes im Salon auf dem Tisch liegen ließ, aber sie fürchtete sich nicht nur, darüber zu reden und Dessalles nach dem Grund seiner Verwirrung und seines Stillschweigens zu fragen, sondern fürchtete sich sogar, nur daran zu denken.
Gegen Abend kam Michail Iwanowitsch, vom Fürsten geschickt, zu Prinzessin Marja, um den Brief des Fürsten Andrej zu holen, den der Fürst im Salon liegen gelassen hatte. Sie gab den Brief hin. Obgleich es ihr unangenehm war, erlaubte sie sich dennoch, Michail Iwanowitsch zu fragen, was der Vater mache.
»Er hat immer viel zu tun«, erwiderte Michail Iwanowitsch mit einem ehrerbietigen, aber doch spöttischen Lächeln, das Prinzessin Marja erbleichen machte. »Heute ist er wegen des neuen Flügels in großer Aufregung. Er hat ein bißchen gelesen und jetzt«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort, »sitzt er am Schreibtisch und ist anscheinend mit seinem Testament beschäftigt.« Es war in letzter Zeit eine Lieblingsbeschäftigung des alten Fürsten gewesen, die Papiere zu ordnen, die nach seinem Tod zurückbleiben sollten und die er sein Testament nannte.
»Und wird Alpatytsch noch nach Smolensk geschickt?« fragte Prinzessin Marja.
»Gewiß, er wartet schon darauf.«
Als Michail Iwanowitsch mit dem Brief in der Hand in das Arbeitszimmer zurückkehrte, saß der alte Fürst mit der Brille und einem Blendschirm vor den Augen bei Kerzenlicht vor seinem offenen Schreibtisch, hielt ein Blatt Papier in der weit vorgestreckten Hand und las in feierlicher Pose die Schriftstücke durch – ses remarques, wie er sie nannte –, die nach seinem Tode dem Kaiser überreicht werden sollten.
Als Michail Iwanowitsch eintrat, standen ihm Tränen der Erinnerung in den Augen, der Erinnerung an jene Zeit, da er das geschrieben hatte, was er jetzt las. Er nahm den Brief aus Michail Iwanowitschs Hand, steckte ihn in die Tasche, legte die Papiere beiseite und ließ den schon lange wartenden Alpatytsch hereinrufen.
Er hatte sich auf einem Zettel alles aufgeschrieben, was in Smolensk besorgt werden sollte, ging nun im Zimmer vor dem an der Tür wartenden Alpatytsch auf und ab und fing an, seine Befehle zu erteilen.
»Also zuerst – Briefpapier, hörst du, acht Buch nach diesem Muster hier, mit Goldschnitt … Hier ist die Probe, daß du mir ja dasselbe bringst. Dann Lack, Siegellack … ganz wie Michail Iwanytsch dir aufgeschrieben hat.«
Er ging weiter im Zimmer auf und ab und warf einen Blick auf den Merkzettel.
»Ferner überbringst du dem Gouverneur persönlich meinen Brief über die nachgelassenen Schriften.«
Dann brauchte man noch Türriegel für das neue Gebäude, die unbedingt die Form haben mußten, wie der Fürst sie sich ausgedacht hatte, ferner mußte beim Buchbinder ein Kasten besorgt werden, um die Papiere des Testamentes hineinpacken zu können.
Das Erteilen der Befehle an Alpatytsch dauerte über zwei Stunden. Der Fürst entließ ihn immer noch nicht. Er setzte sich wieder hin, versank in Nachdenken, schloß die Augen und fing an einzunicken. Alpatytsch machte sich bemerkbar.
»Na, geh nur, geh! Wenn ich noch etwas brauche, werde ich dich rufen lassen.«
Alpatytsch ging hinaus. Der Fürst trat wieder an seinen Schreibtisch, sah hinein, fuhr mit der Hand über die Papiere, schloß sich dann wieder ein und setzte sich an den Tisch, um den Brief an den Gouverneur zu schreiben.
Es war schon sehr spät, als er endlich aufstand und den Brief siegelte. Er war müde und wollte schlafen, aber er wußte, daß er nicht werde einschlafen können, und daß ihm im Bett die trübsten Gedanken kommen würden. Er rief nach Tichon und ging durch die Zimmer, um ihm zu sagen, wo heute nacht sein Bett aufgestellt werden sollte. Er wanderte durch alle Räume und sah sich jeden Winkel daraufhin an.
Nirgends schien es ihm recht, am allerschlechtesten aber war es auf dem gewohnten Diwan im Arbeitszimmer. Wahrscheinlich war ihm dieser Diwan deshalb so furchtbar, weil ihm, während er dort lag, so schwere Gedanken gekommen waren. Nirgends war es gut, am besten vielleicht noch im Diwanzimmer in der Ecke hinter dem Klavier: dort hatte er noch nie geschlafen.
Tichon schleppte mit einem Diener das Bett herbei und fing an, es aufzuschlagen. »Nicht so! Nicht so!« schrie der Fürst und rückte selber das Bett ein Stück aus der Ecke heraus, schob es aber dann sogleich wieder zurück.
Na, endlich, nun ist alles vollbracht, jetzt werde ich ausruhen, dachte der Fürst und ließ sich von Tichon auskleiden.
Grimmig zog er die Stirn in Falten wegen der Anstrengung, die es kostete, ihm den Kaftan und die Hosen auszuziehen, ließ es aber geschehen, setzte sich schwer auf den Bettrand nieder und betrachtete, wie in Gedanken versunken, verächtlich seine gelben, vertrockneten Beine. Aber er dachte nicht weiter nach, sondern zögerte nur vor der Mühe, die ihm nun bevorstand, die Beine aufzuheben und sich auf das Bett zu legen. Ach, wie schwer! Oh, wenn nur diese Plage so bald wie möglich zu Ende wäre und ihr mich ließet! dachte er. Die Lippen zusammenpressend wiederholte er endlich diese Anstrengung zum soundsovielten Male und legte sich hin. Aber kaum hatte er sich lang gelegt, als sich plötzlich das ganze Bett unter ihm gleichmäßig vorund rückwärts zu bewegen schien, als atme und stieße es schwer. Das ging ihm fast jede Nacht so. Er riß die Augen, die ihm schon zugefallen waren, wieder auf.
»Keine Ruhe, diese verdammte Gesellschaft!« murmelte er voller Ingrimm gegen irgend jemand. »Ja, ja, da war noch etwas Wichtiges, etwas sehr Wichtiges, das ich mir für die Nacht im Bett aufgehoben hatte. Die Riegel? Nein, die habe ich ja bestellt. Nein, es war etwas anderes, etwas im Salon. Prinzessin Marja hat mir irgend etwas vorgelogen. Und dann gab Dessalles, dieser Schafskopf, auch seinen Senf dazu. Ich hatte was in der Tasche … Ich komme nicht darauf.«
»Tischka, von was haben wir bei Tisch gesprochen?«
»Vom Fürsten Michail …«
»Halt’s Maul!« Der Fürst schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ja, ich weiß, der Brief vom Fürsten Andrej. Prinzessin Marja hat ihn vorgelesen. Dessalles sagte etwas von Witebsk. Jetzt werde ich den Brief lesen.«
Er ließ sich den Brief aus der Tasche geben und das Tischchen mit der Limonade und der gedrehten Wachskerze ans Bett rücken, setzte die Brille auf und fing an zu lesen. Erst hier in der Stille der Nacht, beim schwachen Schein der Kerze, der durch den grünen Lichtschirm drang, begriff er zum erstenmal, während er den Brief las, für einen Augenblick seine ganze Bedeutung.
»Die Franzosen in Witebsk! In vier Tagemärschen können sie in Smolensk sein! Vielleicht sind sie jetzt schon dort! Tischka!« Tichon sprang herbei. »Nein, es ist gut, ich brauche nichts«, brummte der Fürst.
Er steckte den Brief unter den Leuchter und schloß die Augen. Da sah er vor sich die Donau, einen strahlenden Mittag, Schilfrohr, das russische Lager, und er, ein junger General, ohne eine Falte im Gesicht, forsch, munter und gesund, tritt in Potemkins[154] bemaltes Zelt, und der brennende Neid gegen diesen Günstling erregt ihn noch jetzt ebenso stark wie damals. Und alle die Worte fallen ihm wieder ein, die bei seiner ersten Begegnung mit Potemkin fielen. Und er sieht eine kleine, volle, wohlbeleibte Dame vor. sich mit gelblich fettem Gesicht: die Kaiserin, denkt an ihr Lächeln, ihre Worte, als sie ihn zum erstenmal in ihrer liebenswürdigen Art empfing, und dann fällt ihm ihr Gesicht auf dem Totenbett ein und der Streit um das Recht, ihr die Hand küssen zu dürfen, den er damals an ihrem Katafalk mit Subow hatte.
Ach, könnte man doch bald, bald zu jenen Zeiten zurückkehren, damit alles Gegenwärtige möglichst schnell ein Ende hätte! Ach, wenn mich nur alle in Ruhe ließen!
Lysyja-Gory, das Gut des Fürsten Nikolaj Andrejewitsch Bolkonskij, lag sechzig Werst hinter Smolensk und drei Werst von der Straße nach Moskau entfernt.
Am selben Abend, an dem der Fürst dem Verwalter Alpatytsch seine Befehle erteilt hatte, ließ sich Dessalles bei Prinzessin Marja melden und gab ihr untertänigst den Rat, da der Fürst nicht wohl sei und selber keinerlei Maßnahmen für seine Sicherheit treffe, aber aus dem Brief des Fürsten Andrej klar hervorgehe, daß ein längeres Verweilen in Lysyja-Gory nicht ohne Gefahr sei, selber an den Gouverneur einen Brief zu schreiben und ihn durch Alpatytsch nach Smolensk zu schicken, mit der Bitte, sie über den Stand der Dinge und die Größe der Gefahr, die Lysyja-Gory drohe, aufzuklären. Dieses Schreiben an den Gouverneur hatte Dessalles für Prinzessin Marja selber aufgesetzt, sie unterschrieb es nur, und der Brief wurde Alpatytsch eingehändigt mit dem Auftrag, ihn dem Gouverneur zu überbringen und im Fall einer Gefahr so schnell wie möglich zurückzukommen.
Nachdem er alle Aufträge entgegengenommen hatte, trat Alpatytsch, von seinen Hausgenossen begleitet, mit Stock und weißem, weichem Reisehut, einem Geschenk des Fürsten, so, wie der Fürst selber herauszutreten pflegte, vor die Tür und setzte sich in das Landaulet mit dem Lederverdeck, das mit drei wohlgenährten Rotschimmeln bespannt war.
Die Glöckchen waren unterbunden und die Schellen mit Papier umwickelt. Der Fürst gestattete in Lysyja-Gory niemandem, mit Schellengeläut zu fahren. Aber Alpatytsch mochte auf dem weiten Weg das Bimmeln der Glöckchen und Schellen nicht entbehren. Alpatytschs Stab: der Schreiber, der Buchhalter, die beiden Köchinnen, zwei weitere alte Frauen, der Hausbursche, die Kutscher und noch verschiedene vom Hofgesinde, gaben ihm das Geleit.
Seine Tochter legte ihm hinter den Rücken und auf den Sitz kattunüberzogene Federkissen. Seine alte Schwägerin schob im geheimen ein Bündelchen hinein. Einer der Kutscher war ihm beim Einsteigen behilflich.
»Na, so ein Haufen Frauenzimmer! Diese Weibsbilder, diese Weibsbilder!« fauchte Alpatytsch hastig vor sich hin, ebenso wie es der Fürst zu machen pflegte, und setzte sich in den Wagen.
Nachdem er dem Schreiber die letzten Befehle für seine Arbeiten gegeben hatte, wobei er den alten Fürsten nicht mehr nachzuahmen bestrebt war, nahm er den Hut von seinem kahlen Kopf und bekreuzigte sich dreimal.
»Wenn aber dort etwas … komm ja gleich zurück, Jakow Alpatytsch! Um Christi willen, denk an uns und erbarme dich unser«, rief ihm seine Frau nach, auf die Kriegsgerüchte und das Anrücken des Feindes anspielend.
»Diese Frauenzimmer! Dieses Weibervolk!« brummte Alpatytsch vor sich hin und fuhr ab. Er überschaute die Felder ringsum, die teils mit gelbem Roggen, teils mit dichtem, noch grünem Hafer bestanden waren oder auch schwarz und unbebaut dalagen, dort, wo das zweite Umpflügen erst begonnen hatte.
Während Alpatytsch so beim Vorüberfahren über die breiten Flächen der Roggenfelder hinsah, wo man schon hier und da mit Schneiden begonnen hatte, freute er sich über die ausgezeichnete Ernte an Sommergetreide in diesem Jahr, stellte seine wirtschaftlichen Berechnungen über Aussaat und Ernte an, um jedoch gleich wieder daran zu denken, ob er auch keinen der Aufträge des Fürsten vergessen habe.
Nachdem die Pferde unterwegs zweimal gefüttert worden waren, langte Alpatytsch am 4. August gegen Abend in Smolensk an.
Schon unterwegs hatte er verschiedene Fuhren und Truppen getroffen und überholt. Als er in die Nähe der Stadt kam, hörte er in der Ferne schießen, aber dieses Geräusch machte weiter keinen Eindruck auf ihn. Mehr als alles andere befremdete ihn, als er sich Smolensk näherte, der Anblick eines prächtigen Haferfeldes, auf dem sich Truppen gelagert hatten, die den Hafer anscheinend zum Futter für ihre Pferde abmähten. Über diesen Umstand staunte Alpatytsch sehr, aber er vergaß es bald wieder, da er an seine eignen Angelegenheiten zu denken hatte.
Länger als dreißig Jahre waren Alpatytschs sämtliche Lebensinteressen immer nur vom Willen des Fürsten beherrscht gewesen, und niemals war er aus diesem Kreise herausgekommen. Alles, was nicht mit der Erfüllung des fürstlichen Willens zusammenhing, hatte für ihn nicht nur keinen Wert, sondern war für Alpatytsch überhaupt nicht vorhanden.
Alpatytsch kam also am 4. August gegen Abend in Smolensk an und stieg in der Gatschensker Vorstadt jenseits des Dnjepr in der Herberge des Wirtes Ferapontow ab, wo er schon seit Jahren einzukehren pflegte. Dieser Ferapontow hatte vor einigen Jahren durch Alpatytschs Vermittlung dem Fürsten einen Wald abgekauft, hatte einen Handel angefangen und besaß jetzt in der Hauptstadt ein eignes Haus, eine Herberge und einen Mehlladen. Er war ein dicker, schwarzhaariger, rotbackiger Mann von etwa vierzig Jahren, mit einem Schmerbauch, wulstigen Lippen, einer dicken Gurkennase und ebensolchen Wülsten über den schwarzen finsteren Augenbrauen.
Ferapontow stand in Weste und baumwollnem Hemd vor seinem Laden, der nach der Straße zu lag. Als er Alpatytsch sah, ging er auf ihn zu. »Willkommen, Jakow Alpatytsch! Die Leute hier fahren aus der Stadt fort, und du kommst herein«, sagte der Wirt.
»Warum denn fort aus der Stadt?« fragte Alpatytsch.
»Ich sag’s ja auch: die Leute sind dumm. Haben alle Angst vor den Franzosen.«
»Weibergewäsch! Weibergewäsch!« entgegnete Alpatytsch.
»Das ist meine Ansicht auch, Jakow Alpatytsch. Ich sage: der Befehl ist erlassen, den Feind nicht hereinzulassen, also ist die Sache doch sicher. Ja, und drei Rubel verlangen die Bauern für eine Fuhre, die reinsten Wucherer und Heiden!«
Jakow Alpatytsch hörte aufmerksam zu. Er verlangte einen Samowar und Heu für die Pferde, trank seinen Tee und legte sich sogleich schlafen.
Die ganze Nacht über zogen auf der Straße Truppen an der Herberge vorüber. Am nächsten Morgen legte Alpatytsch sein Kamisol an, das er nur in der Stadt zu tragen pflegte, und ging fort, um seine Besorgungen zu machen. Es war ein sonniger Tag, und schon um acht Uhr morgens machte sich die Hitze fühlbar. Ein Tag, nicht mit Gold zu bezahlen für die Getreideernte, dachte Alpatytsch. Vor der Stadt hörte man vom frühen Morgen an schießen.
Von acht Uhr an gesellte sich zu dem Knattern des Gewehrfeuers noch das Donnern der Geschütze. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen und Soldaten, die alle irgendwohin eilten, doch die Droschkenkutscher fuhren herum wie immer, die Kaufleute standen vor ihren Läden, und in den Kirchen war Gottesdienst. Alpatytsch ging in die Läden, zu den Behörden, auf die Post und zum Gouverneur. Bei den Behörden, in allen Läden und auch auf der Post sprach man nur vom Krieg und von den Franzosen, die schon die Stadt überfielen, einer fragte den andern was man tun solle, und jeder gab sich Mühe, den andern zu beruhigen.
Vor dem Haus des Gouverneurs fand Alpatytsch eine große Volksmenge, Kosaken und einen Reisewagen, der dem Gouverneur gehörte. Auf der Freitreppe traf Jakow Alpatytsch zwei adelige Herren, von denen er den einen kannte. Der ihm bekannte Herr, ein früherer Chef der Landpolizei, redete in großer Aufregung.
»Aber das ist doch kein Spaß«, sagte er. »Wer allein steht, für den mag’s ja noch gehen. Einer allein und nicht viel Habe – meinetwegen, wenn man aber eine Familie von dreizehn Köpfen hat und all das Hab und Gut … Soweit haben sie es nun kommen lassen, daß wir alles verlieren werden. Was ist das für eine Obrigkeit nach alledem? … Pfui, aufhängen sollte man sie alle miteinander, diese Räuber …«
»Aber ich bitte Sie, man wird es hören«, warf der andere ein.
»Was kümmert das mich? Mögen Sie es nur hören! Was wollen Sie denn, wir sind doch keine Hunde«, sagte der ehemalige Polizeichef, sah sich um und erblickte Alpatytsch.
»Ach, Jakow Alpatytsch, was machst denn du hier?«
»Ich will im Auftrag Seiner Durchlaucht zum Herrn Gouverneur«, erwiderte Alpatytsch, stolz den Kopf erhebend, und steckte die Hand vorn in die Brust, was er immer zu tun pflegte, wenn er vom Fürsten sprach. »Seine Durchlaucht haben mich beauftragt, über die Lage der Dinge Erkundigungen einzuziehen«, fuhr er fort.
»Na, das sollst du gleich erfahren«, schrie der Gutsbesitzer. »Soweit haben sie’s kommen lassen, daß keine Fuhre mehr zu haben ist, nichts! … Da sind sie schon, hörst du es?« sagte er und wies nach der Seite, von der man die Schüsse hörte.
»Soweit haben sie’s kommen lassen, daß wir nun alle zugrunde gehen … die Räuber«, sagte er noch einmal und ging dann die Stufen hinunter.
Alpatytsch schüttelte den Kopf und stieg die Treppe hinauf. Im Wartezimmer saßen Kaufleute, Frauen und Beamte, die schweigend einander anblickten. Die Tür zum Arbeitszimmer öffnete sich, alle standen von ihren Plätzen auf und drängten vor. Aus der Tür kam ein Beamter gelaufen, sprach ein paar Worte mit einem Kaufmann, rief dann einem dicken Beamten mit einem Orden am Hals zu, ihm zu folgen, und verschwand wieder hinter der Tür, sichtlich bemüht, allen ihm geltenden Blicken und Fragen zu entgehen. Alpatytsch hatte sich vorgedrängt, und als der Beamte das nächstemal herauskam, schob er die Hand in seinen zugeknöpften Oberrock, wandte sich an den Beamten und überreichte ihm seine zwei Briefe.
»An Herrn Baron Asch vom General en chef Fürsten Bolkonskij«, meldete er so feierlich und bedeutsam, daß sich der Beamte nach ihm umwandte und ihm seine Briefe abnahm.
Nach ein paar Minuten wurde Alpatytsch vom Gouverneur empfangen, der hastig zu ihm sagte: »Melde dem Fürsten und der Prinzessin, daß ich von allem unterrichtet gewesen bin: ich habe auf höheren Befehl gehandelt – hier …« er gab Alpatytsch ein Flugblatt. »Übrigens, da der Fürst nicht wohl ist, rate ich ihm, nach Moskau zu reisen. Ich selber fahre auch gleich dahin. Bestelle …«
Aber der Gouverneur sprach nicht zu Ende, ein ganz mit Staub und Schweiß bedeckter Offizier stürzte zur Tür herein und sagte etwas auf französisch. Auf dem Gesicht des Gouverneurs malte sich Entsetzen.
»Geh«, sagte er, nickte Alpatytsch zu und fing dann an den Offizier auszufragen.
Gierige, erschrockene und hilflose Blicke empfingen Alpatytsch, als dieser aus dem Arbeitszimmer des Gouverneurs herauskam. Unwillkürlich horchte er jetzt gespannter auf das nahe, immer stärker werdende Schießen und eilte in seine Herberge zurück. Auf dem Flugblatt, das der Gouverneur Alpatytsch gegeben hatte, stand folgendes:
»Ich versichere Ihnen, daß der Stadt Smolensk nicht die geringste Gefahr bevorsteht, und daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch niemals von einer solchen bedroht werden wird. Ich gehe von der einen und Fürst Bagration von der andern Seite vor, um vor Smolensk die Vereinigung der beiden Armeen herbeizuführen, die sich am 22. d. M. vollziehen wird, und beide Armeen werden dann mit vereinten Kräften ihre Mitbürger in der Ihnen anvertrauten Gouvernementsstadt schützen, bis es ihren Anstrengungen gelungen sein wird, die Feinde des Vaterlands von ihnen abzuwehren, oder bis ihre tapferen Reihen bis auf den letzten Mann vernichtet sein werden. Sie ersehen hieraus, daß Sie ein volles Recht haben, die Einwohner von Smolensk zu beruhigen, denn wer unter dem Schutz zweier so tapferer Armeen steht, darf sich auf ihren Sieg verlassen.« (Order Barclay de Tollys an den Zivilgouverneur von Smolensk, Baron Asch 1812.)
Das Volk trieb sich unruhig auf den Straßen herum.
Hochbepackte Fuhren mit Hausgerät, Stühlen und Schränken kamen fortwährend aus den Torwegen der Häuser und fuhren dann die Straße entlang. Auch neben dem Hause Ferapontows standen solche Fuhren, und heulend und mit vielen Worten nahmen die Weiber Abschied. Ein Hofhund umsprang bellend die angeschirrten Pferde.
Mit eiligerem Schritt als gewöhnlich ging Alpatytsch über den Hof, geradewegs auf den Schuppen zu, wo seine Pferde und sein Wagen untergebracht waren. Der Kutscher schlief, er weckte ihn, befahl ihm anzuspannen und ging in den Hausflur. Aus der Stube des Wirtes hörte man Kinderweinen, das krampfhafte Schluchzen einer Frau und die zornige, heisere Stimme Ferapontows. Als Alpatytsch in den Hausflur eintrat, lief gerade die Köchin wie ein gescheuchtes Huhn vorbei.
»Halbtot hat er sie geschlagen … die Frau! … Geschlagen hat er sie und an den Haaren geschleift! …«
»Warum denn?« fragte Alpatytsch.
»Sie hat ihn gebeten fortzufahren. Das ist doch ihre Pflicht als Mutter. ›Schaff mich fort‹, hat sie gesagt, ›richte mich mit meinen kleinen Kindern nicht zugrunde. Alle Leute‹, hat sie gesagt, ›sind schon weggefahren. Wozu bleiben wir denn noch hier?‹ hat sie gesagt. Und da hat er angefangen, sie zu schlagen. Und so hat er sie geschlagen! So hat er sie geschleift!«
Alpatytsch nickte wie beifällig zu ihren Worten, ging aber, da er von der Sache nichts weiter hören wollte, auf das der Stube der Wirtsleute gegenüberliegende Zimmer zu, wo er seine Einkäufe verstaut hatte.
»Du Bösewicht! Du Mörder!« schrie in diesem Augenblick die hagere, blasse Frau, das Tuch war ihr vom Kopf gerutscht, und sie stürzte mit ihrem Kind auf dem Arm aus der Tür und lief die Treppe zum Hof hinunter.
Ferapontow trat hinter ihr ebenfalls aus der Stube, und als er Alpatytsch sah, zog er die Weste zurecht, strich sich übers Haar, gähnte und ging Alpatytsch nach in dessen Zimmer.
»Willst du denn schon wieder wegfahren?« fragte er ihn.
Ohne sich nach dem Wirt umzuwenden und auf seine Frage eine Antwort zu geben, packte Alpatytsch seine Einkäufe zusammen und fragte, wieviel er ihm für das Quartier schulde.
»Wir werden schon miteinander ins reine kommen. Nun und? Warst du beim Gouverneur?« fragte Ferapontow. »Was für einen Bescheid hat er dir gegeben?«
Alpatytsch erwiderte, der Gouverneur habe ihm nichts Bestimmtes gesagt.
»Kann man etwa bei unserem Geschäft so einfach auf und davon fahren?« sagte Ferapontow. »Bis Dorogobusch verlangen sie bereits sieben Rubel für eine Fuhre. Ich sage ja: Wucherer sind das und Heiden!« fuhr er fort. »$Seiiwanow, der hat am Donnerstag noch Glück gehabt, hat sein Mehl an die Armee verkauft für neun Rubel den Sack. Aber wie ist’s, willst du nicht etwas trinken?« fügte er hinzu.
Während die Pferde angespannt wurden, tranken Alpatytsch und Ferapontow zusammen Tee und unterhielten sich über Kornpreise, über die Ernte und das prächtige Erntewetter.
»Wenigstens ist es nun ruhiger geworden«, sagte Ferapontow, nachdem er drei Tassen Tee getrunken hatte, und erhob sich. »Unsere Truppen werden wohl gesiegt haben. Es war ja angezeigt worden: der Feind wird nicht hereingelassen. Das heißt doch so viel wie: wir haben die Macht … Da neulich hieß es, Matwej Iwanytsch Platow habe welche in die Marina gejagt und an die achtzehntausend Mann an einem Tag ersäuft.«
Alpatytsch raffte seine Einkäufe zusammen, übergab sie dem eintretenden Kutscher und rechnete mit dem Wirt ab. Dann hörte man vom Torweg her das Rollen der Räder, das Stampfen der Hufe und das Klingeln der Schellen des vorfahrenden Wagens.
Es war schon lange Mittag vorbei, die eine Hälfte der Straße lag bereits im Schatten, während die andere noch grell von der Sonne beschienen wurde. Alpatytsch sah zum Fenster hinaus und ging nach der Tür. Plötzlich hörte man das seltsame Geräusch eines fernen Pfeifens und Einschlagens, und gleich darauf ertönte das ununterbrochene Getöse eines Kanonenfeuers, daß die Fenster zitterten.
Alpatytsch trat auf die Straße hinaus, zwei Männer liefen vorbei auf die Brücke zu. Von verschiedenen Seiten hörte man das Pfeifen und Einschlagen der Kanonenkugeln und das Platzen der Granaten, die in die Stadt fielen. Aber dieses Krachen war weniger hörbar und lenkte die Aufmerksamkeit der Bewohner weniger auf sich als das Getöse des Kanonenfeuers, das man vor der Stadt hörte. Es war dies ein Bombardement aus hundertunddreißig Geschützen, das Napoleon um fünf Uhr auf die Stadt zu eröffnen befohlen hatte. Zuerst verstand das Volk den Sinn dieses Bombardements nicht.
Anfänglich erweckte das Krachen der einschlagenden Granaten und Kanonenkugeln nur die Neugier der Bevölkerung. Ferapontows Frau, die bis jetzt hinter dem Schuppen ununterbrochen geheult hatte, wurde auf einmal still, trat mit dem Kind auf dem Arm in den Torweg, blickte stumm auf die Menge und horchte auf das Getöse.
Nun traten auch die Köchin und der Kommis aus dem Laden vor das Tor. Alle strengten sich mit vergnügter Neugier an, die über ihre Köpfe hinsausenden Geschosse mit den Augen zu erkennen. Um die Straßenecke bogen ein paar Männer in lebhaftem Gespräch.
»Hat das eine Wucht«, sagte der eine. »Dach und Decke durchgeschlagen, daß nur so die Splitter flogen!«
»Und die Erde aufgewühlt wie ein Schwein!« sagte der andere. »Wie das wirkt! Wie das einem die Nerven kitzelt!« fügte er lachend hinzu. »Ein Glück, daß du beiseite sprangst, sonst hätte dir das was Ordentliches auswischen können.«
Die Menge wandte sich den Männern zu. Sie blieben stehen und erzählten, wie dicht neben ihnen Kanonenkugeln in ein Haus eingeschlagen hätten. Unterdessen flogen ununterbrochen andere Geschosse, bald Kanonenkugeln mit schnellem, dumpfem Sausen, bald Granaten mit angenehmem Pfeifen, über die Köpfe der Menge, aber keines der Geschosse ging in der Nähe nieder, alle flogen darüber hinweg. Alpatytsch setzte sich in seinen Wagen. Der Wirt stand vor dem Tor.
»Was hast du da zu gaffen?« schrie er der Köchin zu, die mit aufgestreiften Ärmeln und in rotem Unterrock, die nackten Ellbogen hin und her wiegend, an die Ecke gelaufen war, um zuzuhören, was dort erzählt wurde.
»Nein, so etwas! Nein, so etwas!« sagte sie immer wieder. Als sie aber die Stimme des Wirtes hörte, zog sie den aufgeschürzten Rock herunter und kehrte um.
Wieder fing es an zu pfeifen, aber diesmal ganz in der Nähe, und etwas senkte sich wie ein fliegender Vogel herab; mitten in der Straße blitzte ein Feuerschein auf, es krachte, und die ganze Straße wurde in Rauch gehüllt.
»Du Satanskugel, was hast du angerichtet!« schrie der Wirt und lief zu der Köchin hin.
In diesem Augenblick hörte man von verschiedenen Seiten Frauen jämmerlich aufheulen, ein Kind fing erschrocken zu weinen an, und stumm drängte sich die Menge mit bleichen Gesichtern zu einem Knäuel zusammen. Doch deutlicher als alles vernahm man aus dem Haufen heraus das Stöhnen und Klagen der Köchin.
»Oh, oh, oh! Ihr lieben, guten Leute! Ihr lieben, guten Leute! Laßt mich nicht sterben! Ihr lieben, guten Leute!«
Nach fünf Minuten war kein Mensch mehr auf der Straße. Die Köchin, der ein Granatsplitter die Hüfte zerschmettert hatte, hatte man in die Küche geschafft. Alpatytsch, sein Kutscher, Ferapontows Frau mit den Kindern und der Hausknecht saßen im Keller und lauschten. Das Donnern der Geschütze, das Pfeifen der Granaten und das jämmerliche Stöhnen der Köchin, das all dieses Getöse noch übertönte, schwiegen nicht einen Augenblick. Die Wirtin schaukelte und beruhigte bald das Kindchen, bald fragte sie in kläglichem Flüstern alle, die in den Keller kamen, ob sie nicht wüßten, wo ihr Mann sei, der auf der Straße geblieben war. Der nun auch in den Keller flüchtende Kommis sagte ihr, der Wirt sei mit der Menge in die Kathedrale gegangen, wo das wundertätige Muttergottesbild von Smolensk gezeigt werde.
Als es zu dämmern anfing, begann das Geschützfeuer nachzulassen. Alpatytsch kam aus dem Keller heraus und stellte sich vor die Tür. Der erst so klare Abendhimmel war ganz von Rauch verhüllt, und durch diesen Rauch hindurch schimmerte seltsam die hoch am Himmel stehende, schmale Sichel des zunehmenden Mondes. Nachdem das Getöse der Geschütze von vorhin verstummt war, schien über der ganzen Stadt ein großes Schweigen zu liegen, das nur durch das Hallen eiliger Schritte, das durch die ganze Stadt zu klingen schien, durch Stöhnen, fernes Geschrei und durch das Knistern von Bränden unterbrochen wurde. Das Wehklagen der Köchin war jetzt verstummt. Von zwei Seiten erhoben sich schwarze Rauchsäulen von Feuersbrünsten und breiteten sich weithin aus. Auf der Straße gingen und liefen Soldaten in allerlei Uniformen und nach verschiedenen Richtungen vorbei, nicht in Reih und Glied, sondern wie Ameisen aus einem zerstörten Ameisenhaufen. Einige von ihnen liefen vor Alpatytschs Augen in Ferapontows Hof hinein. Alpatytsch trat vor das Tor. Irgendein Regiment, drängend und hastend auf dem Rückzug begriffen, versperrte die Straße.
»Die Stadt wird übergeben! Flieht! Flieht!« rief ein Offizier ihm zu, der ihn bemerkt hatte, im selben Augenblick wandte er sich aber schon wieder zu den Soldaten und schrie sie an: »Wollt ihr auf die Höfe laufen? Ich werde euch helfen!«
Alpatytsch kehrte ins Haus zurück, rief seinen Kutscher und befahl ihm, alles zur Abfahrt bereit zu machen. Nach Alpatytsch und seinem Kutscher kamen auch alle Hausgenossen Ferapontows aus dem Keller hervor. Als sie den Rauch und sogar die offenen Flammen der Feuersbrünste erblickten, die nun bei anbrechender Dunkelheit deutlich zu sehen waren, fingen die Weiber, die bis jetzt geschwiegen hatten, auf einmal zu heulen und zu schreien an. Wie zu ihrer Begleitung erhob sich am andern Ende der Straße ein ebensolches Jammergeschrei. Mit zitternden Händen brachten Alpatytsch und der Kutscher unter dem Vordach die verfitzten Zügel und Stränge der Pferde in Ordnung.
Als Alpatytsch aus dem Torweg fuhr, sah er, wie in Ferapontows offenem Laden etwa ein Dutzend Soldaten unter lautem Streiten ihre Säcke und Tornister mit Weizenmehl und Sonnenblumenkernen füllten. In diesem Augenblick kehrte Ferapontow zurück und trat von der Straße aus in den Laden. Als er die Soldaten erblickte, wollte er ihnen etwas zuschreien, hielt aber plötzlich inne, fuhr sich an den Kopf und brach in ein schluchzendes Gelächter aus.
»Schleppt alles fort, Kinder! Laßt diesen Teufeln nichts zurück!« schrie er, packte selbst ein paar Säcke an und warf sie auf die Straße.
Ein paar Soldaten erschraken und rissen aus, andere fuhren fort einzusacken. Als Ferapontow Alpatytsch erblickte, wandte er sich ihm zu.
»Es ist aus mit Rußland!« schrie er. »Alpatytsch, es ist alles aus! Ich selber stecke mein Haus in Flammen! Es ist alles aus …« und Ferapontow lief auf den Hof.
Die ganze Straße war mit Soldaten versperrt, die ununterbrochen vorübermarschierten, so daß Alpatytsch nicht vorbei konnte und warten mußte. Ferapontows Frau mit den Kindern saß ebenfalls auf einem Wagen und wartete darauf, fortfahren zu können.
Es war schon Nacht geworden. Am Himmel standen die Sterne, und hin und wieder schimmerte der vom Rauch verhüllte Mond hindurch. Am Abhang zum Dnjepr hinunter mußten die Fuhrwerke Alpatytschs und der Wirtin, die nur langsam durch die Reihen der Soldaten und anderer Gespanne vorwärtskamen, abermals haltmachen. Nicht weit von der Straßenkreuzung, wo die Fuhrwerke warten mußten, brannte in einer Quergasse ein Haus mit ein paar Buden. Das Feuer war schon fast niedergebrannt. Bald schien die Flamme zu erlöschen und in schwarzen Qualm überzugehen, bald loderte sie wieder grell auf und beleuchtete seltsam deutlich die Gesichter der Menschen, die an der Straßenkreuzung zusammengedrängt standen. Vor der Brandstätte huschten schwarze Gestalten auf und ab, und durch das nimmer versiegende Knistern des Feuers hindurch hörte man reden und schreien.
Alpatytsch stieg von seinem Wagen, da er sah, daß man die Fuhrwerke nicht so bald durchlassen werde, und bog in das Gäßchen ein, um sich das Feuer anzusehen. Soldaten rannten ununterbrochen an der Brandstätte vorbei und wieder zurück und Alpatytsch sah, wie zwei Militärpersonen und mit ihnen ein Zivilist in einem Friesmantel brennende Balken aus dem Feuer über die Straße in ein Nachbarhaus zogen, während andere Arme voll Heu herbeischleppten.
Alpatytsch trat zu einem dichten Menschenauflauf hinzu, der sich gegenüber einem in vollem Brand stehenden hohen Speicher angesammelt hatte. Alle Wände standen in hellen Flammen, die Rückwand war zusammengestürzt, das hölzerne Dach eingesunken, die Balken glühten. Offenbar wartete die Menge auf den Augenblick, in dem das Dach zusammenbrechen werde. Auch Alpatytsch wartete darauf.
»Alpatytsch!« rief plötzlich eine bekannte Stimme dem alten Mann zu.
»Väterchen! Euer Durchlaucht!« erwiderte Alpatytsch, der augenblicklich die Stimme seines jungen Fürsten erkannt hatte.
Fürst Andrej, in einen Mantel gehüllt, hielt auf einem Rappen hinter der Menge und blickte Alpatytsch an.
»Wie kommst du denn hierher?« fragte er.
»Euer … Euer Durchlaucht«, stammelte Alpatytsch und fing an zu schluchzen. »Euer … Euer … Sind wir denn wirklich ganz verloren? Der Vater …«
»Wie kommst du hierher?« fragte Fürst Andrej noch einmal.
In diesem Augenblick loderte die Flamme grell auf und zeigte Alpatytsch das blasse, hohle Gesicht seines jungen Herrn. Alpatytsch berichtete, wie er hierher geschickt worden sei und nur mit Mühe wieder fortkönne.
»Ist es wahr, Euer Durchlaucht, daß wir verloren sind?« fragte er noch einmal.
Fürst Andrej gab keine Antwort, zog sein Notizbuch hervor hob ein wenig das Knie und schrieb etwas mit Bleistift auf ein herausgerissenes Blatt. Er schrieb an seine Schwester:
»Smolensk kapituliert. In acht Tagen wird Lysyja-Gory vom Feind besetzt sein. Fahrt sofort nach Moskau. Gib mir umgehend Antwort, wann ihr abfahrt, schicke mir einen Eilboten nach Uswjasch.«
Nachdem er dies geschrieben und das Blatt Alpatytsch übergeben hatte, gab er ihm noch mündliche Anweisungen, wie die Abreise des Fürsten, der Prinzessin Marja und seines Sohnes mit dem Lehrer zu bewerkstelligen sei, und wohin man ihm sogleich eine Antwort schicken solle. Er war mit seinen Befehlen noch nicht zu Ende, als ein Stabsoffizier zu Pferde, von Gefolge begleitet, auf ihn zusprengte.
»Sind Sie der Oberst?« schrie der Stabsoffizier mit deutschem Akzent und einer Stimme, die dem Fürsten Andrej bekannt war. »In Ihrer Gegenwart werden Häuser angezündet, und Sie stehen dabei? Was soll das heißen? Sie werden sich dafür zu verantworten haben!« schrie Berg, der die Stellung eines Gehilfen des Stabschefs des obersten Befehlshabers am linken Flügel der Infanterietruppen der ersten Armee innehatte, ein recht angenehmer Posten, wo man zur Geltung kommt, wie Berg selber sagte.
Fürst Andrej warf ihm einen Blick zu und fuhr dann, ohne ihm eine Antwort zu geben, an Alpatytsch gewandt, fort: »Bestelle also, daß ich bis zum zehnten auf Antwort warten werde. Wenn ich bis zum zehnten keine Nachricht erhalten habe, werde ich alles stehen und liegen lassen und selber nach Lysyja-Gory kommen.«
»Ich habe Ihnen das nur deshalb gesagt, Fürst«, fing Berg an, nachdem er den Fürsten Andrej erkannt hatte, »weil ich meinen Befehl ausführen mußte, dem ich immer aufs genaueste nachkomme. Entschuldigen Sie, bitte …« suchte sich Berg zu rechtfertigen.
Da prasselte etwas ins Feuer. Die Flammen legten sich einen Augenblick; schräge Dampf Schwaden drangen unter dem Dach hervor. Dann fing es noch ärger zu prasseln an, und etwas Gewaltiges stürzte herab.
»Uh-u-u-uuh!« brüllte die Menge und begleitete damit das Krachen des einstürzenden Speicherdaches. Das verbrennende Getreide roch wie frischgebackene Pfannkuchen. Die Flamme züngelte wieder auf und beleuchtete die freudig erregten und erschöpften Gesichter der Leute, die das Feuer umstanden.
Der Mann im Friesmantel hob die Hände hoch und schrie: »Großartig! Das Feuer greift um sich! Recht so, Kinder!«
»Das ist der Besitzer selber«, hörte man aus der Menge.
»Also höre«, sagte Fürst Andrej zu Alpatytsch gewandt, »bestelle alles, wie ich es dir gesagt habe!« Und ohne Berg eine Antwort zu geben, der schweigend neben ihm wartete, spornte er sein Pferd und ritt eine Quergasse hinunter.
Von Smolensk aus wichen unsere Truppen immer weiter zurück. Der Feind setzte ihnen nach. Am 10. August kam das Regiment, das Fürst Andrej kommandierte, auf seinem Marsch die große Straße entlang an dem Seitenweg vorbei, der nach Lysyja-Gory führte.
Über drei Wochen herrschte nun schon Hitze und Trockenheit. Jeden Tag zeigten sich am Himmel krause Wolken, die ab und zu die Sonne verdeckten, aber gegen Abend wurde es dann immer wieder klar, und in rotbraunem Dunst ging die Sonne unter. Nur der starke Tau nachts erfrischte die Erde. Das nicht abgeerntete Getreide verdorrte und verlor seine Körner. Die Sümpfe trockneten aus. Das Vieh brüllte vor Hunger, da es auf den von der Sonne versengten Wiesen kein Futter fand. Nur nachts und in den Wäldern, solange der Tau noch haftete, war es kühl. Aber auf der Straße, auf der großen Landstraße, auf der die Truppen marschierten, war weder des Nachts noch in den Wäldern etwas von dieser Frische zu bemerken. In dem Sand und Staub, der fußhoch den Weg bedeckte, war nichts von Tau zu spüren.
Sobald es morgens nur zu dämmern anfing, setzte sich alles in Bewegung. Lautlos rollte der Train und die Artillerie, bis an die Naben der Räder einsinkend, weiter, während die Infanterie bis an die Knöchel durch den weichen, heißen Staub watete, der sich auch über Nacht nicht abgekühlt hatte und den Atem benahm. Teilweise wurde dieser sandige Staub von den Füßen und Rädern festgestampft, teilweise aber auch aufgewirbelt, lagerte nun in dichten Wolken über den Truppen und setzte sich in die Augen, in die Haare, in die Ohren, in die Nasen und vor allem in die Lungen der Menschen und Tiere, die auf diesem Weg entlang zogen. Je höher die Sonne stieg, um so höher wurden auch die Staubwolken, und durch diesen feinen heißen Staub konnte man mit bloßem Auge in die Sonne sehen, auch wenn sie nicht von Wolken verhüllt war. Sie sah aus wie ein großer purpurner Ball. Kein Lüftchen regte sich; die Leute erstickten fast in dieser schwülen Luft. Alle hatten sich auf dem Marsch Nase und Mund mit Tüchern zugebunden. Kam man in ein Dorf, so stürzte alles an den Brunnen. Man schlug sich um das Wasser und trank es bis zum Schlamm aus.
Fürst Andrej kommandierte ein Regiment, und wurde durch die Leitung, die Sorge für das Wohlergehen seiner Mannschaften sowie durch die Notwendigkeit, Befehle zu empfangen und zu erteilen, gänzlich in Anspruch genommen. Der Brand von Smolensk und die Preisgabe der Stadt waren für den Fürsten Andrej zu einem entscheidenden Ereignis geworden. Ein neues Gefühl der Erbitterung gegen den Feind machte ihn seinen eignen Kummer vergessen. Er gab sich ganz den Angelegenheiten seines Regimentes hin, sorgte für seine Leute und Offiziere und behandelte sie freundlich. Man nannte ihn ›unser Fürst‹ im Regiment, war stolz auf ihn und hatte ihn gern. Aber sanft und gut war er nur gegen die Leute seines Regiments, gegen Timochin und seinesgleichen, gegen alle, die ihm fremd waren, seinen Kreisen fernstanden und von seiner Vergangenheit nichts wissen und begreifen konnten. Sobald er aber mit einem seiner früheren Bekannten, einem Kameraden vom Stab, zusammentraf, zeigte er sich widerborstig, boshaft, spöttisch und verächtlich. Alles, was mit der Erinnerung an seine Vergangenheit zusammenhing, stieß ihn ab, und er mußte sich Gewalt antun, den Beziehungen zu dieser früheren Welt gerecht zu werden und seine Pflichten gegen sie zu erfüllen.
Überhaupt erschien dem Fürsten Andrej alles in düstrem, trübem Licht, besonders seit jenem 6. August, an dem man Smolensk geräumt hatte, das seiner Ansicht nach hätte gehalten werden können und müssen, nachdem sein kranker Vater genötigt gewesen war, nach Moskau zu fliehen und sein so sehr geliebtes Lysyja-Gory, das er selber erbaut und besiedelt hatte, der Plünderung preiszugeben. Aber trotz alledem konnte Fürst Andrej doch noch an etwas anderes denken, was mit diesen allgemeinen Fragen gar nicht in Zusammenhang stand: an sein Regiment.
Am 10. August kam die Abteilung, zu der sein Regiment gehörte, in der Nähe von Lysyja-Gory vorüber. Zwei Tage vorher hatte Fürst Andrej die Nachricht erhalten, daß sein Vater, sein Sohn und seine Schwester nach Moskau abgefahren seien. Obgleich somit Fürst Andrej in Lysyja-Gory gar nichts zu tun hatte, entschloß er sich, da er nun einmal dazu neigte, in seinem Schmerz zu wühlen, dennoch nach Lysyja-Gory hinüberzureiten.
Er ließ sich ein Pferd satteln und ritt, von der Marschroute seitwärts abbiegend, zu dem väterlichen Gute hinüber, wo er geboren war und seine Kindheit verlebt hatte. Als er an dem Teich vorbeiritt, wo sonst immer Dutzende von Weibern unter eifrigem Schwatzen ihre Wäsche mit Waschhölzern schlugen und dann spülten, bemerkte er, daß der Teich ganz verlassen dalag und das losgerissene Floß, halb vom Wasser überschwemmt, seitlich auf der Mitte des Teiches trieb.
Fürst Andrej ritt am Wächterhäuschen vorbei. Am steinernen Eingangstor war kein Mensch und die Tür stand offen. Die Wege im Garten waren schon verwachsen, und Kälber und Pferde weideten im englischen Park. Fürst Andrej ritt an die Gewächshäuser heran: die Scheiben waren eingeschlagen, einige von den Bäumen in den Kübeln umgeworfen, andere vertrocknet.
Er rief nach Taras, dem Gärtner. Niemand antwortete ihm. Als er dann um die Treibhäuser herum zu den Obstanpflanzungen kam, sah er, daß der Bretterzaun am Boden lag und die Pflaumen mit den Zweigen abgerissen waren.
Ein alter Bauer – Fürst Andrej hatte ihn in seiner Kindheit oft am Tor gesehen – saß auf der grünen Bank und flocht Bastschuhe. Da er taub war, hatte er das Heranreiten des Fürsten Andrej nicht gehört. Er saß auf jener Bank, auf der der alte Fürst immer gern gesessen hatte, und neben ihm hing der Bast auf den Zweigen einer abgebrochenen, verdorrten Magnolie.
Fürst Andrej ritt vor das Herrenhaus. Ein paar Linden im alten Garten waren umgehauen, und eine Mutterstute mit ihrem Füllen spazierte dicht vor dem Haus durch die Rosenbeete. Alle Läden waren geschlossen; nur im Erdgeschoß stand ein Fenster offen. Ein Hofjunge rannte ins Haus, als er den Fürsten Andrej bemerkte.
Alpatytsch hatte seine Familie weggeschickt und war allein in Lysyja-Gory geblieben. Er saß im Haus und las im Leben der Heiligen. Als er von der Ankunft des Fürsten Andrej hörte, kam er, mit der Brille auf der Nase und sich schnell den Rock zuknöpfend, herausgelaufen, eilte auf den Fürsten Andrej zu, fing, ohne ein Wort zu sagen, zu weinen an und küßte ihm das Knie.
Dann wandte er sich ab, erzürnt über seine eigne Schwäche, und fing an, dem Fürsten über den Stand der Dinge Bericht zu erstatten. Alle Wertsachen und Kostbarkeiten waren nach Bogutscharowo geschafft worden. Auch das Getreide, an die hundert Tschetwert, hatte man dorthin gebracht. Das Futter aber und das Sommergetreide, das, wie Alpatytsch meinte, in diesem Jahr ganz besonders gut geraten sei, hatten die Soldaten noch unreif abgemäht und mitgenommen. Die Bauern waren zugrunde gerichtet, die meisten ebenfalls nach Bogutscharowo übergesiedelt und nur ein kleiner Teil zurückgeblieben.
Fürst Andrej hörte ihn nicht bis zu Ende an, sondern fragte gleich: »Wann sind mein Vater und meine Schwester abgereist?« und meinte damit, wann sie nach Moskau abgefahren seien.
Alpatytsch, in der Annahme, der Fürst frage nach ihrer Abreise nach Bogutscharowo, erwiderte, sie seien am 7. August abgefahren, und fuhr dann gleich wieder fort, ihm Wirtschaftsangelegenheiten auseinanderzusetzen. Er bat seinen jungen Herrn um Anweisungen.
»Soll ich den Kommandeuren Hafer gegen Quittungen ablassen? Wir haben noch gegen sechshundert Tschetwert übrig«, fragte Alpatytsch.
Was soll ich ihm darauf antworten? dachte Fürst Andrej, indem er den in der Sonne glänzenden Kahlkopf des Alten betrachtete und aus seinem Gesichtsausdruck las, daß Alpatytsch selber wußte, wie unzeitgemäß es war, so zu fragen, aber diese Frage nur gestellt hatte, um seinen eignen Kummer zu übertäuben.
»Ja, laß ihnen nur welchen ab«, antwortete er.
»Sie werden im Garten Unordnung gefunden haben«, fuhr Alpatytsch fort, »aber es war unmöglich, etwas dagegen zu tun. Drei Regimenter sind durchgekommen und haben hier übernachtet, vor allem Dragoner. Ich habe mir Titel und Namen der Kommandeure aufgeschrieben, um eine Beschwerde einreichen zu können.«
»Nun und du selber, was wirst du tun? Willst du hier bleiben, wenn das Gut vom Feind besetzt wird?« fragte ihn Fürst Andrej.
Alpatytsch wandte sein Gesicht dem Fürsten Andrej zu, sah ihn an und hob plötzlich mit feierlicher Gebärde die Hand gen Himmel.
»Er ist mein Beschützer, sein Wille geschehe!« erwiderte er.
Eine Schar von Bauern und Gutsleuten kam mit bloßen Köpfen über die Wiese auf den Fürsten Andrej zu.
»Nun leb wohl«, sagte Fürst Andrej und beugte sich zu Alpatytsch nieder. »Fahr du selber auch weg, nimm mit, was du kannst und schicke die Leute auf das Gut in Rjasan oder auf das bei Moskau.«
Alpatytsch preßte sich an das Bein seines Herrn und brach in Schluchzen aus. Fürst Andrej schob ihn vorsichtig beiseite, spornte sein Pferd und sprengte im Galopp die Allee hinunter.
Vorn auf der Bank saß noch immer, teilnahmslos wie eine Fliege auf dem Antlitz eines teuren Toten, der alte Bauer und klopfte an den Leisten seines Bastschuhs, während zwei kleine Mädchen mit Pflaumen in den aufgehobenen Röckchen, die sie in den Obstpflanzungen von den Bäumen gerissen hatten, von dorther gelaufen kamen und gerade mit dem Fürsten Andrej zusammenstießen. Als sie den jungen Herrn sahen, packte die Ältere mit erschrockenem Gesicht ihre kleine Gefährtin an der Hand und versteckte sich mit ihr hinter den Birken, ohne sich die Zeit zu lassen, die dabei verlorenen, grünen Pflaumen wieder aufzulesen.
Fast ängstlich wandte sich Fürst Andrej von ihnen ab, um sie nicht merken zu lassen, daß er sie gesehen hatte. Ihm tat das hübsche, erschrockene Mädchen leid. Er scheute sich davor, nach ihr hinzusehen, fühlte aber gleichzeitig den unwiderstehlichen Wunsch, es zu tun. Ein neues erquickendes und beruhigendes Gefühl ergriff ihn, als er sich beim Anblick dieser kleinen Mädchen bewußt wurde, daß es noch andere, ihm ganz fremde, aber ebenso berechtigte menschliche Interessen gab wie jene, die ihn selber in Anspruch nahmen. Diese kleinen Dinger hatten offenbar nur den einen sehnlichen Wunsch: ihre unreifen Pflaumen in Sicherheit zu bringen und aufzuessen, ohne dabei erwischt zu werden, und mit ihnen zusammen empfand auch Fürst Andrej den Wunsch, daß ihnen dies Unternehmen glücken möge. Aber er konnte es doch nicht über sich gewinnen, nicht noch einmal zu ihnen hinzusehen. Überzeugt, der Gefahr entronnen zu sein, sprangen sie aus ihrem Versteck hervor, zwitscherten mit ihren feinen Stimmchen einander etwas zu und liefen, die Röckchen hochhebend, mit ihren verbrannten, nackten Beinchen lustig und flink über das Gras der Wiese.
Fürst Andrej hatte diesen Abstecher aus dem Bereich des Landstraßenstaubes, in dem sich die Truppen vorwärtsbewegten, als Erfrischung empfunden. Nicht weit hinter Lysyja-Gory mußte er jedoch wieder auf die große Straße abbiegen und erreichte sein Regiment am Damm eines kleinen Teiches, wo es rastete.
Es war zwei Uhr nachmittags. Die Sonne, ein in Staub gehüllter roter Ball, stach unerträglich und brannte durch die schwarze Uniform auf den Rücken. Immer noch lagerte der Staub wie eine unbewegliche Wolke über den Häuptern der Truppen, die sich unter lautem Redegeschwirr gelagert hatten Kein Lüftchen regte sich. Als Fürst Andrej auf den Damm ritt kam ihm ein Geruch von Schlamm und kühlem Wasser entgegen. Ein Verlangen, in dieses Wasser zu steigen, überkam ihn, mochte es so schmutzig sein, wie es wolle. Er sah sich nach dem Teich um von wo Geschrei und Gelächter herüberdrang. Der kleine, trübe, grün bewachsene Weiher war so voll von nackten, weißen Soldatenleibern, die mit ziegelroten Armen, Gesichtern und Hälsen darin herumplätscherten, daß er sichtlich um einen Fuß gestiegen war und den Damm beinahe überschwemmte. Und alle diese nackten, weißen, menschlichen Fleischmassen plantschten unter Lachen und Kreischen in dieser schmutzigen Pfütze herum wie Karauschen in einer Gießkanne. Es lag ein solch harmloser Frohsinn in diesem Plätschern, daß man ganz besonders wehmütig davon gestimmt wurde.
Ein junger blonder Soldat mit einem kleinen Riemen unterhalb der Wade – Fürst Andrej kannte ihn sogar, er war von der dritten Kompanie – bekreuzigte sich, trat etwas zurück, um einen tüchtigen Anlauf nehmen zu können, und stürzte sich kopfüber in die Flut. Ein anderer, ein schwarzer, immer struppiger Unteroffizier, stand bis an den Gürtel im Wasser, zuckte wohlig mit dem muskulösen Oberleib und prustete lustig, indem er sich mit den schwarzen Händen Wasser über den Kopf goß. Man hörte, wie sie sich gegenseitig klatschten und dabei kreischten und juchzten.
An den Ufern, auf dem Damm, im Teich – überall wimmelte es von weißem, gesundem, muskulösem Menschenfleisch. Timochin, ein Offizier mit roter Nase, trocknete sich gerade auf dem Damm mit einem Handtuch ab und geriet, als er den Fürsten sah, etwas in Verlegenheit. Dennoch faßte er sich ein Herz und wandte sich an ihn.
»Ist das schön! Durchlaucht sollten es auch machen«, sagte er.
»Zu schmutzig«, erwiderte Fürst Andrej mit zusammengezogenen Brauen.
»Gleich werde ich das Wasser für Euer Durchlaucht sauber machen lassen.« Und Timochin lief, so wie er war, davon, um die Säuberung des Teiches anzuordnen.
»Der Fürst will baden.«
»Was für einer? Unser Fürst?« klangen die Stimmen durcheinander, und alle hatten es so eilig, daß sie Fürst Andrej nur mit Mühe wieder beruhigen konnte. Er war auf den Gedanken gekommen, sich lieber im Schuppen mit Wasser zu begießen.
Menschenfleisch, Soldatenkörper, chair à canon, dachte er, seinen nackten Körper betrachtend, und schauderte nicht sowohl vor Kälte als vielmehr vor einem ihm selber unverständlichen Entsetzen, das er beim Anblick dieser gewaltigen Menge in dem schmutzigen Teich herumplätschernder Menschenleiber empfunden hatte.
Am 7. August schrieb Fürst Bagration von seinem Rastplatz Michailowka an der Straße von Smolensk folgenden Brief:
»Hochgeehrter Graf Alexej Andrejewitsch!«
Er schrieb an Araktschejew, wußte aber, daß der Kaiser diesen Brief lesen werde, und überlegte sich deshalb genau jedes Wort, soweit er dazu fähig war.
»Ich nehme an, daß der Minister bereits von der Übergabe der Stadt Smolensk an den Feind berichtet hat. Die ganze Armee ist in Verzweiflung. Es ist recht schmerzlich und höchst bedauerlich, daß ein so äußerst wichtiger Platz ohne weiteres aufgegeben worden ist. Ich habe den Minister persönlich auf die eindringlichste Weise gebeten und zuletzt auch an ihn geschrieben, aber nichts konnte seinen Willen ändern. Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß sich Napoleon in einer solchen Klemme befand wie noch nie, und daß er nicht nur Smolensk nicht hätte einnehmen, sondern sogar die Hälfte seiner Armee hätte verlieren können. Unsere Truppen schlugen sich und schlagen sich jetzt noch wie nie zuvor. Ich habe mit fünfzehntausend Mann länger als fünfunddreißig Stunden standgehalten und den Feind geschlagen, er aber wollte keine vierzehn Stunden aushalten. Das ist eine Schmach und ein Schandfleck für unsere Armee, und ich meine, ihm selber müßte doch das Leben auf der Welt dadurch arg verleidet worden sein. Wenn er meldet, daß unsere Verluste groß seien, so ist das eine Unwahrheit, es können höchstens gegen viertausend Mann und nicht mehr sein, und auch die noch nicht einmal. Aber selbst wenn es ihrer zehntausend gewesen wären, was hätte das zu sagen? Dafür ist Krieg. Denn auch der Feind hat große Verluste gehabt.
Was hätte es uns gekostet, noch zwei Tage auszuhalten? Der Feind wäre schließlich von selber gegangen, denn es fehlte ihm an Wasser, um Leute und Pferde zu tränken. Er hatte mir sein Wort gegeben, nicht zurückzugehen, plötzlich aber schickt er mir die Verfügung, daß er sich noch in der Nacht zurückziehen werde. Auf diese Weise ist kein Krieg zu führen, und wenn das so weiter geht, werden wir den Feind bald in Moskau haben …
Es geht das Gerücht, daß Sie an Frieden dächten. Bewahre uns Gott davor, jetzt Frieden zu schließen! Wenn Sie nach all diesen Opfern und unsinnigen Rückzügen jetzt Frieden schließen wollten, brächten Sie ganz Rußland gegen sich auf, und jeder von uns sähe es als Schande an, die Uniform zu tragen. Wenn es nun schon einmal so weit gekommen ist, muß man sich schlagen, solange Rußland noch kann und noch Leute auf den Beinen sind.
Einer allein muß kommandieren, aber nicht zwei zusammen. Ihr Minister mag vielleicht für ein Ministerium gut sein, aber als General ist er nicht nur schlecht, sondern hundsmiserabel! Und einem solchen Mann ist das Schicksal unseres Vaterlandes in die Hand gegeben … Ich verliere tatsächlich aus Ärger darüber beinahe den Verstand. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen dies alles so von der Leber weg schreibe. Es ist ganz klar, daß derjenige, der den Rat gegeben hat, Frieden zu schließen und das Kommando über die Armee diesem Minister anzuvertrauen, den Kaiser nicht liebt und den Untergang unser aller herbeiwünscht. Darum schreibe ich Ihnen die Wahrheit: halten Sie die Landwehr bereit. Denn dieser Minister führt Ihnen noch auf äußerst meisterliche Art und Weise die ungebetenen Gäste bis in die Hauptstadt. In großem Verdacht steht bei der Armee auch der Flügeladjutant Wolzogen. Er soll, wie man sagt, Napoleon näher stehen als uns, und dabei berät er doch den Minister in allem. Ich zeige mich gegen ihn nicht nur höflich, sondern gehorche ihm sogar wie ein Korporal, obgleich ich älter bin als er. Das ist schmerzlich. Da ich aber meinen Wohltäter und Kaiser liebe, füge ich mich. Mir tut nur der Kaiser leid, daß er solchen Männern seine ruhmreiche Armee anvertraut. Bedenken Sie auch, daß wir bei diesem Rückzug über fünfzehntausend Mann durch Erschöpfung und Krankheit an die Hospitäler verloren haben, was nicht gewesen wäre, wenn wir angegriffen hätten. Ich frage Sie um Gottes willen, was soll unser Mütterchen Rußland dazu sagen, daß wir so feige sind? Wozu liefern wir unser gutes, heiliges Vaterland solchem Gesindel aus? Warum pflanzen wir Haß und Beschämung in das Herz jedes Untertanen? Warum schrecken wir feige zurück und wen fürchten wir eigentlich? Meine Schuld ist es nicht, daß der Minister unentschlossen, feige, unbegabt und langsam ist und alle nur möglichen schlechten Eigenschaften besitzt. Die ganze Armee ist trostlos darüber und wünscht ihn zu allen Teufeln.«
Betrachten wir die zahlreichen Einteilungen, die sich auf die Erscheinungen des Lebens anwenden lassen, so können wir diese Erscheinungen zusammenfassen in solche, bei denen der Inhalt vorwiegt, und solche, bei denen die Form das Ausschlaggebende ist. Zu den zweiten kann man das Petersburger Leben rechnen, vor allem das gesellschaftliche, im Gegensatz zum Leben auf dem Lande, dem Leben in den Kreis- und Gouvernementsstädten, ja sogar dem Leben in Moskau.
Dieses Petersburger Leben ist unveränderlich. Im Jahre 1805 hatten wir mit Napoleon Frieden geschlossen und uns dann aufs neue mit ihm herumgeschlagen, hatten Konstitutionen geschaffen und sie wieder zunichte gemacht, aber Anna Pawlownas und Helenes Salons waren noch ganz ebenso, wie der eine vor sieben, der andere vor fünf Jahren gewesen war.
Bei Anna Pawlowna sprach man immer noch mit derselben Verständnislosigkeit über die Erfolge Bonapartes und sah in allen diesen Erfolgen und in der Unterwürfigkeit der europäischen Fürsten weiter nichts als eine boshafte Verschwörung, deren einziges Ziel es sei, jenem von Anna Pawlowna vertretenen Hofkreis Ärger und Unruhe zu bereiten. Und ebenso schwärmte man in Helenes Salon, den sogar Rumjanzew, der die Hausherrin für eine außerordentlich kluge Frau hielt, seines Besuches würdigte, im Jahre 1812 ganz ebenso, wie man es 1808 getan hatte, von der großen Nation und dem großen Mann und sah mit Bedauern diesen Bruch mit Frankreich. Diesem Bruch mußte nach Ansicht derer, die sich in Helenes Salon versammelten, baldigst durch den Frieden ein Ende gemacht werden.
In letzter Zeit, nach des Kaisers Rückkehr von der Armee, war in diesen beiden gegensätzlichen Salonkreisen eine gewisse Erregung zu bemerken gewesen, die zu gegenseitigen Demonstrationen geführt hatte. Die Richtung der beiden Kreise jedoch war dieselbe geblieben. In Anna Pawlownas Kreis wurden an Franzosen nur die eingefleischten Legitimisten empfangen und der patriotische Sinn wurde dadurch zum Ausdruck gebracht, daß man nicht in das französische Theater ging, dessen Schauspieler, wie man sagte, ebensoviel Unterhalt kosteten wie ein ganzes Korps Soldaten. Gierig verfolgte man alle Ereignisse bei den Truppen und verbreitete die günstigsten Gerüchte über unser Heer.
In Helenes Kreis, dem Kreis Rumjanzews und der Franzosen, widersprach man den Gerüchten von der Grausamkeit des Feindes und des Krieges und beurteilte alle Versuche Napoleons, eine Versöhnung herbeizuführen, günstig. Man tadelte diejenigen, die den Rat zu jenen scheinbar übereilten Maßnahmen gegeben hatten, wie: den Hof und die Erziehungsanstalten für Mädchen, die unter dem Protektorat der Kaiserinmutter standen, nach Kasan zu verlegen, überhaupt wurden alle Angelegenheiten des Krieges in Helenes Salon wie leere Demonstrationen angesehen, denen in aller Kürze durch den Frieden ein Ende gemacht würde. Die Ansicht Bilibins, der jetzt in Petersburg täglicher Gast bei Helene war – jeder kluge Mensch mußte in ihrem Salon verkehren –, die Ansicht nämlich, daß nicht das Pulver die Sache entscheiden werde, sondern jene, die es erfunden hätten, fand hier allgemeinen Anklang. In diesem Kreis spöttelte man ironisch und geistreich, natürlich auch in aller Vorsicht, über die Begeisterung in Moskau, wovon die Kunde gleichzeitig mit der Ankunft des Kaisers selber in Petersburg einlief.
Im Kreis Anna Pawlownas hingegen begeisterte man sich an dieser Begeisterung und sprach von ihr wie Plutarch von den Patrioten des Altertums[155]. Fürst Wassilij, der noch immer dieselben hohen Ämter bekleidete, bildete zwischen beiden Kreisen das Bindeglied. Er ging zu »ma bonne amie Anna Pawlowna« und »dans le salon diplomatique de ma fille«, aber bei dem fortwährenden Hinundherwechseln von einem Lager ins andere kam es zuweilen vor, daß er sich versprach und bei Helene das sagte, was er bei Anna Pawlowna sagen mußte, und umgekehrt.
Kurz nach der Rückkehr des Kaisers unterhielt sich Fürst Wassilij bei Anna Pawlowna einmal über Kriegsangelegenheiten, klagte Barclay de Tolly mit aller Grausamkeit an, konnte sich aber nicht recht entscheiden, wem er als Oberkommandierendem recht geben sollte. Einer der Gäste, der mit dem Zusatz »un homme de beaucoup de mérite« vorgestellt worden war, erzählte, daß er heute den zum Chef der Petersburger Landwehr ernannten Kutusow in der Staatskammer bei einer Sitzung über die Einstellung der Wehrleute gesehen habe, und erlaubte sich mit aller Vorsicht die Vermutung auszusprechen, daß vielleicht Kutusow der Mann wäre, der allen Anforderungen gerecht werden könne.
Anna Pawlowna lächelte schwermütig und bemerkte, daß Kutusow dem Kaiser bisher nichts als Unannehmlichkeiten bereitet habe.
»Ich habe in der Adelsversammlung geredet und geredet«, fiel Fürst Wassilij ein, »aber man hat nicht auf mich gehört. Ich sagte, Kutusows Wahl zum Chef der Landwehr werde wohl kaum den Beifall des Kaisers haben. Aber sie haben ja nicht auf mich gehört.«
»Überall jetzt diese Manie zu frondieren«, fuhr er fort. »Und gegen wen? Alles nur, weil wir die dumme Moskauer Begeisterung nachäffen wollen«, sagte Fürst Wassilij, versah sich und vergaß, daß es ja bei Helene war, wo man sich über den Moskauer Enthusiasmus lustig machte, während man bei Anna Pawlowna davon entzückt sein mußte. Aber er kam gleich wieder ins rechte Fahrwasser.
»Gehört sich das etwa für einen Grafen Kutusow, den ältesten General in ganz Rußland, hier in der Staatskammer zu sitzen? Et il en restera pour sa peine! Kann man denn zum Oberkommandierenden einen Mann wählen, der nicht zu Pferd sitzen kann, im Kriegsrat einschläft und sich durch üblen Lebenswandel auszeichnet? In Bukarest hat er ja schön von sich reden gemacht! Von seinen Eigenschaften als General will ich gar nicht reden. Darf man aber in solch einem Augenblick einen altersschwachen und blinden, einfach blinden Führer wählen? Das wäre ja eine schöne Sache, ein blinder General! Er sieht ja nichts. Das reine Blindekuhspiel würde das werden … einfach nichts sieht er!«
Niemand hatte darauf etwas zu erwidern.
Am 24. Juli mochte das vielleicht noch stimmen. Jedoch am 29. Juli wurde Kutusow in den Fürstenstand erhoben. Diese Verleihung der fürstlichen Würde konnte freilich auch bedeuten, daß man ihn abfinden wolle, und daß deshalb das Urteil des Fürsten Wassilij noch zu Recht bestehen bleiben konnte, obgleich er es jetzt bereits nicht mehr so eilig hatte, es auszusprechen. Aber am 8. August wurde ein Komitee zur Beratung der Kriegsangelegenheiten einberufen, das aus Generalfeldmarschall Saltikow, Araktschejew, Wiasmitinow, Lopuschin und Kotschubej bestand. Dieses Komitee war der Ansicht, alle Mißerfolge kämen nur daher, weil das Oberkommando nicht in einer Hand liege, und machte deshalb, obgleich allen Persönlichkeiten des Komitees die Abneigung des Kaisers gegen Kutusow bekannt war, nach kurzer Beratung den Vorschlag, Kutusow zum Oberkommandierenden zu ernennen. Und am selben Tag noch wurde Kutusow zum unumschränkten Oberbefehlshaber der Armee und des ganzen besetzten Gebietes ernannt.
Am 9. August traf Fürst Wassilij bei Anna Pawlowna wieder mit l’homme de beaucoup de mérite zusammen. Dieser Herr machte Anna Pawlowna sehr den Hof, weil er wünschte, zum Kurator einer Mädchenerziehungsanstalt ernannt zu werden. Fürst Wassilij trat mit der Miene eines glücklichen Siegers in den Salon, wie ein Mensch, der das Ziel seiner Wünsche erreicht hat.
»Eh bien, vous savez la grande nouvelle? Le prince Koutouzoff est maréchal. Alle Meinungsverschiedenheiten haben nun ein Ende. Wie glücklich bin ich darüber, wie froh!« rief Fürst Wassilij aus. »Enfin voilà un homme!« fuhr er fort und sah ernst und bedeutsam alle an, die im Salon anwesend waren.
L’homme de beaucoup de mérite konnte es sich trotz seines Wunsches, die Stelle zu erhalten, doch nicht versagen, den Fürsten Wassilij an sein früheres Urteil zu erinnern. Dies war zwar unhöflich, sowohl gegen den Fürsten, als auch gegen Anna Pawlowna selber, die diese Nachricht so freudig aufgenommen hatte, aber er konnte es sich trotzdem nicht versagen.
»Mais on dit qu’il est aveugle, mon prince?« sagte er, den Fürsten Wassilij an seine eignen Worte erinnernd.
»Allez donc, il voit assez«, erwiderte der Fürst etwas hüstelnd, mit tiefer, hastiger Stimme und in jenem Tonfall und mit jenem Hüsteln, womit er alle schwierigen Angelegenheiten entschied.
»Allez, il voit assez«, sagte er noch einmal. »Und vor allem habe ich mich gefreut«, fuhr er fort, »daß der Kaiser ihm uneingeschränkte Macht über die ganze Armee und über das ganze besetzte Gebiet gegeben hat – eine Macht, wie sie noch kein Oberkommandierender je besessen hat. Er ist ein zweiter Selbstherrscher«, schloß er mit siegreichem Lächeln.
»Gott segne ihn, Gott segne ihn!« sagte Anna Pawlowna.
L’homme de beaucoup de mérite, der in Hofkreisen noch ein Neuling war, wollte Anna Pawlowna etwas Angenehmes sagen, indem er, ihre frühere Ansicht über diese Entscheidung bestätigend, äußerte: »Man sagt, der Kaiser habe Kutusow nur ungern diese Macht übertragen. On dit, qu’il rougit comme une demoiselle, à laquelle on lirait Joconde[156], en lui disant: le souverain et la patrie vous decernent cet honneur.«
»Peut-être que le cœur n’était pas de la partie«, sagte Anna Pawlowna.
»O nein, nein!« mischte sich hitzig Fürst Wassilij ein. Jetzt wollte er nichts mehr auf Kutusow kommen lassen. Seiner Ansicht nach war jetzt Kutusow nicht nur an sich vortrefflich, sondern wurde auch von allen vergöttert. »Nein, nein, das kann nicht sein, der Kaiser hat ihn doch schon früher hochgeschätzt!« sagte er.
»Gebe Gott nur«, fing Anna Pawlowna an, »daß Fürst Kutusow diese Macht auch tatsächlich in seine eigne Hand nimmt und niemandem gestattet, ihm Stecken in die Räder zu schieben, des bâtons dans les roues.«
Fürst Wassilij verstand sogleich, wen sie mit diesem »niemand« gemeint hatte. Flüsternd sagte er: »Ich weiß genau, daß Kutusow als unerläßliche Bedingung verlangt hat, der Thronfolger dürfe nicht bei der Armee bleiben. Vous savez, ce qu’il a dit à l’empereur?«
Und Fürst Wassilij wiederholte die Worte, die Kutusow angeblich zum Kaiser gesagt haben sollte: »Ich kann ihn weder bestrafen, wenn er etwas Dummes macht, noch belohnen, wenn er sich gut führt.«
»Oh, dieser Fürst Kutusow ist ein äußerst kluger Mensch! Je le connais de longue date.«
»Es wird sogar behauptet«, sagte l’homme de beaucoup de mérite, der noch nicht den höfischen Takt besaß, »Seine Durchlaucht habe als unerläßliche Bedingung verlangt, daß der Kaiser selber der Armee fernbleibe.«
Kaum hatte er dies ausgesprochen, so wandten sich augenblicklich Fürst Wassilij und Anna Pawlowna von ihm ab, sahen einander bedauernd an und seufzten ob seiner Naivität.
Während dies in Petersburg vorging, hatten die Franzosen Smolensk schon hinter sich und näherten sich Moskau mehr und mehr. Napoleons Geschichtsschreiber Thiers sagt, indem er seinen Helden zu rechtfertigen sucht, daß Napoleon gegen seinen Willen zu den Mauern Moskaus hingelockt worden sei, was auch andere Geschichtsschreiber behaupten. Er hat ebenso recht wie alle jene Historiker, die geschichtliche Ereignisse aus dem Willen eines einzelnen Menschen zu erklären versuchen, ebenso recht wie jene russischen Geschichtsschreiber, die da behaupten, Napoleon sei durch die Kunst russischer Feldherrn nach Moskau gelockt worden. Hier spielen außer dem Gesetz des nachträglichen Hineindeutens auch noch die Wechselbeziehungen mit hinein, die alles noch mehr verwirren. Ein guter Schachspieler ist, wenn er eine Partie verloren hat, fest überzeugt, daß dieser Verlust durch einen Fehler seinerseits verursacht ist, und sucht diesen Fehler am Anfang seines Spieles. Aber er denkt nicht daran, daß im Verlauf des ganzen Spiels bei jedem Zug solche Fehler gemacht worden sind, und daß auch nicht ein einziger Zug ganz fehlerfrei gewesen ist. Und gerade der Fehler, auf den er seine Aufmerksamkeit lenkt, fällt ihm nur deshalb auf, weil der Gegner Vorteil daraus gezogen hat. Um wieviel verwickelter aber ist nun das Spiel eines Krieges, das unter gewissen zeitlichen Bedingungen abrollt und wo nicht ein einziger Wille leblose Marionetten lenkt, sondern alles, was sich ereignet, dem Zusammenfluß zahlloser, mannigfaltiger Willkürlichkeiten entspringt.
Hinter Smolensk suchte Napoleon eine Schlacht bei Dorogobusch, bei Wjasma und dann bei Zarewo-Saimischtsche, aber es kam infolge eines Zusammentreffens zahlloser Umstände doch so, daß die Russen eine Schlacht nicht früher annehmen konnten als bei Borodino, hundertzwölf Werst von Moskau. Von Wjasma aus befahl Napoleon, geradewegs auf Moskau vorzurücken.
Moscou, la capitale asiatique de ce grand empire, la ville sacrée des peuples d’Alexandre, Moscou, avec ses innombrables églises en forme de pagodes chinoises – dieses Moskau ließ der Phantasie Napoleons keine Ruhe.
Auf dem Marsch von Wjasma nach Zarewo-Saimischtsche ritt Napoleon auf seinem isabellfarbenen, englisierten Paßgänger, begleitet von Gardereitern, seiner Leibwache, Pagen und Adjutanten. Berthier, der Chef des Stabes, war etwas zurückgeblieben, um einen russischen Gefangenen auszufragen, den die Kavallerie soeben eingebracht hatte. Von dem Dolmetscher Lelorme d’Ideville begleitet, holte er soeben im Galopp Napoleon wieder ein und hielt mit vergnügtem Gesicht sein Pferd an.
»Eh bien?« fragte Napoleon.
»Un cosaque de Platow sagt, Platows Korps habe sich mit der großen Armee vereinigt, und Kutusow sei zum Oberkommandierenden ernannt. Très intelligent et bavard!«
Napoleon lächelte und befahl, diesem Kosaken ein Pferd zu geben und ihn herbeizuführen. Er wollte selber mit ihm sprechen. Einige Adjutanten sprengten davon, und nach einer Stunde kam Lawruschka, Denissows Leibeigner, den er Rostow überlassen hatte, in seiner Burschenjacke auf einem französischen Kavalleriepferd mit durchtriebenem, betrunkenem, vergnügtem Gesicht zu Napoleon herangeritten. Napoleon ließ ihn neben sich herreiten und fing an, ihn auszufragen.
»Sie sind Kosak?«
»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren.«
»Der Kosak, der nicht ahnte, in welcher Gesellschaft er sich befand, denn Napoleons einfache Art hatte nichts an sich, was einer orientalischen Phantasie die Gegenwart eines Monarchen hätte verraten können, unterhielt sich mit ihm in aller Zutraulichkeit über die Angelegenheiten des laufenden Krieges«, sagt Thiers, der diese kleine Episode erzählt. Lawruschka hatte sich nämlich tags zuvor betrunken, seinen Herrn ohne Mittagessen gelassen und war deshalb ausgepeitscht und in ein Dorf geschickt worden, um dort Hühner zu requirieren. Hier hatte er sich vom Eifer des Marodierens immer weiter fortreißen lassen und war schließlich von den Franzosen gefangengenommen worden. Lawruschka war einer von jenen rohen, frechen, mit allen Hunden gehetzten Bedienten, die es für ihre Pflicht halten, stets niederträchtig und schlau vorzugehen, die bereit sind, jedem Herrn jeden Dienst zu leisten, und pfiffig die schlechten Regungen ihrer Vorgesetzten, besonders Eitelkeit und Kleinlichkeit, zu durchschauen verstehen.
Als Lawruschka in Napoleons Gesellschaft geraten war, dessen Persönlichkeit er sehr wohl und leicht erkannte, wurde er nicht etwa verlegen, sondern bemühte sich nur aus Leibeskräften, sich diesem neuen Herrn dienstbar zu zeigen.
Er wußte genau, daß dies Napoleon selber war, aber die Gegenwart Napoleons konnte ihn ebenso wenig in Verlegenheit bringen wie diejenige Rostows oder des Wachtmeisters mit den Ruten, weil er eben nichts besaß, was ihm der Wachtmeister oder Napoleon hätten wegnehmen können.
Er schwatzte all das zusammen, was gerade unter den Burschen im Umlauf war. Vieles davon stimmte genau. Doch als ihn Napoleon fragte, ob denn die Russen dächten, daß sie Bonaparte besiegen würden, kniff er die Augen zusammen und überlegte. Er erblickte hierin eine feine List, wie Leute seines Schlages immer in allem eine List vermuten, zog die Stirn kraus und schwieg.
»Das heißt«, fing er nachdenklich an, »wenn es zu einer Schlacht kommt, und zwar bald, so siegt ihr. Das ist mal ganz sicher. Wenn aber von heute ab noch drei Tage vergehen, dann bedeutet das so viel, daß sich auch die Schlacht selber noch in die Länge ziehen wird.«
Diese Worte wurden Napoleon so übersetzt: »Wird die Schlacht innerhalb von drei Tagen geliefert, so werden die Franzosen sie gewinnen, wird sie später geschlagen, weiß Gott, was sich ereignen mag.« So gab Lelorme d’Ideville lächelnd den Sinn wieder. Napoleon lächelte nicht, obgleich er sich sichtlich in bester Laune befand, und ließ sich diese Worte wiederholen.
Lawruschka entging dies nicht und um Napoleon einen Spaß zu machen, sagte er, sich stellend, als wisse er nicht, wer er sei: »Wir wissen, daß ihr einen Bonaparte habt, der alle in der Welt geschlagen hat, na, aber mit uns ist das doch eine andere Sache …« fuhr er fort und geriet, ohne selber zu wissen wie und warum, in einen großsprecherischen Patriotismus hinein.
Der Dolmetscher übersetzte diese Worte Napoleon, ließ aber den Schluß weg, und Bonaparte lächelte. »Der junge Kosak brachte seinen mächtigen Fragesteller zum Lächeln«, erzählt Thiers.
Nachdem sie ein paar Schritte schweigend weitergeritten waren, wandte sich Napoleon an Berthier und sagte, er wünsche den Eindruck zu sehen, den die Eröffnung auf cet enfant du Don machen werde, daß jener Mann, mit dem er sich unterhielt, der Kaiser selber war, jener Kaiser, der seinen unsterblich siegreichen Namen auf die Pyramiden geschrieben[157] hatte.
So wurde dem enfant du Don diese Eröffnung gemacht.
Lawruschka durchschaute, daß dies nur geschah, um ihn zu verblüffen, und daß Napoleon glaubte, er werde nun einen tüchtigen Schreck bekommen, und so stellte er sich, um seinem neuen Herrn diesen Gefallen zu tun, sogleich völlig verwirrt und starr vor Staunen, drehte die Augen heraus und machte dasselbe Gesicht, das er gewöhnlich aufsetzte, wenn er zum Auspeitschen abgeführt wurde.
»Kaum hatte Napoleons Dolmetscher dies gesagt«, erzählt Thiers, »als der Kosak wie von einer Art Erstarrung ergriffen wurde: er konnte kein Wort mehr hervorbringen und heftete nur beim Weiterreiten die Augen unablässig auf diesen Eroberer, dessen Name selbst über die Steppen des Ostens bis zu ihm gedrungen war. Seine ganze Beredsamkeit war mit einem Schlag versiegt, um einem Gefühl naiver, stummer Bewunderung Platz zu machen. Nachdem ihn Napoleon belohnt hatte, ließ er ihm die Freiheit schenken, wie man einen Vogel den heimatlichen Gefilden zurückgibt.«
Napoleon ritt weiter und träumte von jenem Moskau, das seine Phantasie so sehr beschäftigte, während der »Vogel, den man seinen heimatlichen Gefilden zurückgegeben hatte«, zu unseren Vorposten zurücksprengte, wobei er sich im voraus allerlei ausdachte, was er gar nicht erlebt hatte, aber seinen Kameraden erzählen wollte. Denn das, was tatsächlich mit ihm geschehen war, mochte er nicht erzählen, hauptsächlich deshalb nicht, weil es ihm nicht der Rede wert schien. Er kam zu den Kosaken, fragte sich durch, wo sein Regiment sei, das zum Platowschen Korps gehöre, und fand noch gegen Abend desselben Tages seinen Herrn Nikolaj Rostow wieder, der in Jankowo einquartiert war und gerade aufs Pferd stieg, um mit Iljin einen Spazierritt durch die umliegenden Dörfer zu machen. Er ließ Lawruschka ein frisches Pferd bringen und nahm ihn mit.
Prinzessin Marja war nicht in Moskau und nicht aller Gefahr entronnen, wie Fürst Andrej glaubte.
Nachdem Alpatytsch aus Smolensk zurückgekehrt war, war der alte Fürst plötzlich wie aus einem Schlaf zu sich gekommen. Er ließ in den Dörfern die Landwehrleute einziehen und bewaffnen und schrieb an den Oberkommandierenden einen Brief, in dem er ihm mitteilte, er habe den Entschluß gefaßt, bis zum äußersten in Lysyja-Gory auszuharren und sich zu verteidigen, und stelle es nun seinem Ermessen anheim, zum Schutz von Lysyja-Gory Maßnahmen zu ergreifen oder nicht; im zweiten Fall werde daselbst einer der ältesten russischen Generäle gefangengenommen oder totgeschlagen werden. Seinen Hausgenossen erklärte er, daß er in Lysyja-Gory bleiben werde.
Doch wenn er auch selber in Lysyja-Gory bleiben wollte, hatte der alte Fürst dennoch angeordnet, daß die Prinzessin, Dessalles und der kleine Nikoluschka nach Bogutscharowo und von dort aus nach Moskau fahren sollten. Prinzessin Marja aber, erschrocken über diese fieberhafte Tätigkeit ihres Vaters, die seine frühere Lässigkeit abgelöst hatte und ihm fast den Schlaf raubte, konnte sich nicht entschließen, ihn allein zu lassen, und erlaubte sich zum erstenmal in ihrem Leben, ihrem Vater nicht zu gehorchen. Sie weigerte sich, wegzufahren, und des alten Fürsten Zorn entlud sich wie ein furchtbares Ungewitter über ihrem Haupt. Er erinnerte sie an alles, worin er ungerecht gegen sie gewesen war. In dem Bestreben, sie zu beschuldigen, warf er ihr vor, daß sie ihn nur quäle, ihn mit seinem Sohn entzweit habe, einen abscheulichen Verdacht gegen ihn hege und es sich zur Lebensaufgabe gemacht habe, sein Dasein zu vergiften. Dann jagte er sie aus seinem Zimmer und sagte, daß es ihm vollständig gleichgültig sei, ob sie wegfahre oder hierbleibe, er wolle von ihrer Existenz nichts wissen, nur das eine sage er ihr im voraus: sie solle sich nicht unterstehen, ihm noch einmal vor Augen zu kommen. Daß er gegen Prinzessin Marjas Befürchtungen nicht befahl, sie mit Gewalt fortzubringen, sondern ihr nur verbot, ihm vor die Augen zu kommen, freute sie. Sie wußte, dies war ein Beweis, daß er im Grund seines Herzens froh war, wenn sie im Hause blieb und nicht wegfuhr.
Am nächsten Morgen, nachdem Nikoluschka abgereist war, ließ sich der alte Fürst die Uniform anziehen und schickte sich an, zum Oberkommandierenden zu fahren. Der Wagen stand bereits vor der Tür. Prinzessin Marja sah, wie er in Uniform und mit allen Orden geschmückt aus dem Hause trat, um die bewaffneten Bauern und Gutsleute zu besichtigen. Sie saß am Fenster und hörte seine Stimme, die vom Garten herüberdrang. Plötzlich kamen ein paar Leute mit erschrockenen Gesichtern die Allee entlang gerannt.
Prinzessin Marja lief auf die Freitreppe hinaus und über den Blumenweg in die Allee hinüber. Ihr entgegen bewegte sich eine große Menge von Landwehrmännern und Gutsleuten, und in ihrer Mitte brachten ein paar Männer die zusammengesunkene Gestalt des alten Fürsten, den sie unter die Arme gefaßt hatten, in seiner Uniform mit den Orden, herbeigeschleppt. Prinzessin Marja lief auf ihn zu, konnte sich aber bei diesem in kleinen, spielenden Ringen durch den Schatten der Lindenallee fallenden Licht über die Veränderung, die in seinem Gesicht vorgegangen war, keine Rechenschaft ablegen. Das einzige, was sie sah, war, daß die frühere Strenge und Entschlossenheit in seinem Gesicht einem Ausdruck der Schüchternheit und Duldsamkeit Platz gemacht hatte. Als er die Tochter sah, bewegte er ohnmächtig die Lippen und fing an zu röcheln. Es war nicht möglich zu verstehen, was er wollte. Man hob ihn auf, trug ihn in sein Arbeitszimmer und legte ihn auf jenen Diwan, den er in letzter Zeit so gefürchtet hatte.
Es wurde sofort ein Arzt geholt, der ihn noch in derselben Nacht zur Ader ließ und erklärte, der Fürst habe einen rechtsseitigen Schlaganfall erlitten.
In Lysyja-Gory zu bleiben wurde von Tag zu Tag gefährlicher, und so schaffte man denn den alten Fürsten am nächsten Tag nach Bogutscharowo. Der Arzt begleitete ihn.
Als sie in Bogutscharowo eintrafen, war Dessalles mit dem kleinen Fürsten bereits nach Moskau abgefahren.
Drei Wochen lang lag nun der alte Fürst vom Schlaganfall gelähmt, ohne daß sich sein Zustand gebessert oder verschlimmert hätte, in Bogutscharowo in dem neuen Haus, das Fürst Andrej gebaut hatte. Er war nicht bei Bewußtsein und lag da entstellt und wie ein Toter. Immer murmelte er etwas vor sich hin und zuckte mit Augenbrauen und Lippen, aber es war nicht herauszubekommen, ob er Verständnis hatte für das, was ihn umgab, oder nicht. Eins aber war mit Sicherheit zu erkennen: nämlich, daß er sich abmühte und das Bedürfnis empfand, etwas zu sagen. Was dies aber war, konnte niemand herausbekommen. War es irgendeine Laune des Kranken und Halbgeisteskranken, bezog es sich auf den allgemeinen Gang der Dinge oder auf Familienangelegenheiten?
Der Arzt meinte, diese Unruhe habe gar nichts zu bedeuten und beruhe auf physischen Gründen, aber Prinzessin Marja glaubte – und der Umstand, daß in ihrer Gegenwart seine Unruhe immer zunahm, bestärkte sie noch in ihrer Annahme –, daß er ihr etwas sagen wolle.
Er litt offenbar seelisch ebenso wie körperlich. Hoffnung auf Genesung war nicht vorhanden. Ihn fortzubringen war ebenfalls unmöglich. Denn was hätte man tun sollen, wenn er unterwegs gestorben wäre?
Wäre es nicht besser, wenn es zu Ende ginge, ganz zu Ende ginge? dachte Prinzessin Marja manchmal. Tag und Nacht beobachtete sie ihn, fast ohne zu schlafen, und beobachtete ihn, so schrecklich es ist, dies auszusprechen, nicht in der Hoffnung, ein Zeichen der Besserung bei ihm zu entdecken, sondern mit dem Wunsch, die Symptome des herannahenden Endes bei ihm wahrzunehmen.
Wie sonderbar es Prinzessin Marja auch vorkam, daß sie sich eines solchen Gefühles bewußt wurde – es war dennoch vorhanden. Und noch furchtbarer schien ihr, daß seit der Zeit, da ihr Vater krank lag, vielleicht schon etwas früher, etwa seit jenen Tagen, als sie, wie auf irgend etwas wartend, bei ihm in Lysyja-Gory geblieben war, all die vergessenen persönlichen Hoffnungen und Wünsche in ihr wieder wach wurden, die lange in ihrem Herzen geschlafen hatten. Gedanken, die ihr seit Jahren nicht in den Sinn gekommen waren, an ein freies Leben ohne die Angst vor dem Vater, Gedanken sogar an die Möglichkeit von Liebe und Familienglück umgaukelten jetzt beständig wie Versuchungen des Teufels ihre Phantasie. Wie sehr sie sich auch dagegen wehrte, unaufhörlich gingen ihr jetzt Fragen durch den Kopf, wie sie sich »nachher« ihr Leben einrichten werde. Das waren die Lockungen des Teufels, das wußte sie und wußte auch, daß die einzige Waffe gegen diesen das Gebet war, und deshalb versuchte sie zu beten. Sie nahm die Stellung zum Gebet ein, blickte nach den Heiligenbildern und sprach die Worte vor sich hin, aber beten konnte sie nicht. Sie fühlte, daß jene andere Welt jetzt ganz von ihr Besitz ergriffen hatte, jene Welt des Erdenlebens, der Arbeit und freien Betätigung, die jener geistigen Welt, in der sie früher eingeschlossen gewesen war und in der sie ihren besten Trost im Gebet gefunden hatte, so völlig entgegengesetzt war. Sie konnte nicht beten und konnte nicht weinen, weltliche Sorgen hatten sich ganz ihrer bemächtigt.
In Bogutscharowo zu bleiben, wurde immer gefährlicher. Von allen Seiten hörte man von den heranrückenden Franzosen, und in einem fünfzehn Werst von Bogutscharowo entfernten Dorf war das Gutshaus von französischen Marodeuren ausgeplündert worden.
Der Arzt bestand fest darauf, daß man den Fürsten abtransportiere. Der Adelsmarschall schickte einen Beamten zu Prinzessin Marja, der sie überreden sollte, so schnell wie möglich abzufahren. Der Polizeichef, der selber nach Bogutscharowo kam, bestand ebenfalls darauf und sagte, die Franzosen seien nur noch vierzig Werst entfernt, in den Dörfern gingen schon französische Proklamationen um, und wenn Prinzessin Marja bis zum 15. nicht mit ihrem Vater abgefahren sei, stehe er für nichts mehr.
So beschloß Prinzessin Marja, am 15. abzufahren. Die Vorbereitungen, das Erteilen der Befehle, um die sich nun jeder an sie wandte, nahmen sie den ganzen Tag in Anspruch. Die Nacht vom 14. zum 15. verbrachte sie wie immer, ohne sich auszukleiden, in einem Zimmer neben dem, wo der alte Fürst ruhte. Ab und zu wachte sie auf und hörte ihn ächzen und murmeln, hörte das Knarren der Bettstelle und die Schritte Tichons und des Arztes, die ihn umbetteten. Ein paarmal horchte sie an der Tür, und ihr schien, daß er heute lauter murmelte und unruhiger war. Sie konnte nicht schlafen, ging ein paarmal bis an die Tür, horchte und wollte hineingehen, konnte sich aber nicht entschließen, dies zu tun. Obgleich er nicht sprechen konnte, so sah und wußte doch Prinzessin Marja, wie unangenehm ihm jeder Ausdruck der Besorgnis um ihn war. Sie hatte mehrmals beobachtet, wie unzufrieden er seinen Blick von ihr abgewandt hatte, wenn ihre Augen unwillkürlich lang auf ihm haften geblieben waren. Sie wußte, daß ihr Kommen in der Nacht, zu so ungewöhnlicher Zeit, ihn aufregen würde.
Aber noch nie zuvor war es ihr so schmerzlich, so furchtbar gewesen, ihn zu verlieren. Sie erinnerte sich an ihr ganzes Leben mit ihm zusammen und fand in jedem seiner Worte, in jeder seiner Handlungen einen Ausdruck seiner Liebe zu ihr. Bisweilen drängten sich in ihrer Phantasie mitten unter diese Erinnerungen die Verlockungen des Teufels: die Gedanken, was nach seinem Tode werden würde, und wie sie sich ihr neues, freies Leben einrichten könne. Aber mit Abscheu jagte sie diese Gedanken davon. Gegen Morgen wurde er stiller, und sie schlief ein.
Es war schon spät, als sie erwachte. Jene Aufrichtigkeit, die dem Menschen beim Erwachen eigen ist, zeigte ihr klar, was sie während der Krankheit ihres Vaters am meisten beschäftigt hatte. Sie machte sich vollends munter, horchte, was hinter der Tür vorging, und als sie sein Ächzen vernahm, sagte sie sich mit einem Seufzer, daß noch alles unverändert sei.
»Aber was soll denn auch sein? Was habe ich denn gewollt? Ich wünsche ihm den Tod«, rief sie voll Abscheu gegen sich selbst.
Sie wusch sich, zog sich an, sprach ihr Gebet und trat auf die Freitreppe hinaus.
Vor der Tür standen, noch unbespannt, die Wagen, auf die bereits das Gepäck aufgeladen wurde.
Der Morgen war warm und grau. Prinzessin Marja blieb auf der Freitreppe stehen; sie schauderte immer noch vor der Schlechtigkeit ihres Herzens und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen, ehe sie zu ihm hineinging.
Der Arzt kam die Treppe herunter und trat zu ihr.
»Es geht ihm heute besser«, sagte er. »Ich suchte Sie. Man kann jetzt etwas von dem verstehen, was er sagt, sein Kopf ist klarer. Kommen Sie. Er verlangt nach Ihnen …«
Bei dieser Nachricht fing Prinzessin Marjas Herz so stark zu klopfen an, daß sie ganz bleich wurde und sich an die Tür lehnen mußte, um nicht umzufallen. Ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen, ihm jetzt unter die Augen zu treten, wo ihr ganzes Herz von diesen schrecklichen, verbrecherischen Versuchungen voll war, erschien ihr, bei aller Freude, als furchtbare Qual.
»Kommen Sie!« sagte der Arzt.
Prinzessin Marja ging zu ihrem Vater hinein und trat an das Bett. Er lag, hochgestützt, auf dem Rücken, die kleinen, knochigen, mit knotigen lila Adern überzogenen Hände ruhten auf der Bettdecke. Das linke Auge schien starr, das rechte schielte, Augenbrauen und Lippen zuckten nicht mehr. Er sah mager, klein und jammervoll aus. Sein Gesicht schien ausgetrocknet oder hinweggeschmolzen zu sein, seine Züge waren wie verwischt. Prinzessin Marja trat auf ihn zu und küßte ihm die Hand.
Seine linke Hand drückte die ihrige so stark, daß deutlich daraus hervorging: er hatte schon lange auf sie gewartet. Er zog ihre Hand zu sich heran, und seine Lippen und Brauen fingen an, sich zornig zu bewegen.
Erschrocken blickte sie ihn an, bemüht, zu erraten, was er von ihr wollte. Als sie die Stellung etwas geändert hatte und ihm so nahe gekommen war, daß er mit dem linken Auge ihr Gesicht sehen konnte, beruhigte er sich für ein paar Sekunden, ließ sie aber nicht aus dem Auge. Dann bewegte er wieder Lippen und Zunge, Laute wurden hörbar, und er fing an zu reden, wobei er sie schüchtern und flehend ansah, da er sichtlich fürchtete, sie werde ihn nicht verstehen.
Prinzessin Marja nahm alle ihre Aufmerksamkeit zusammen und sah ihn an. Die komische Mühsamkeit, mit der er die Zunge bewegte, zwang sie, die Augen niederzuschlagen, und nur mit Mühe konnte sie das Schluchzen unterdrücken, das ihr in der Kehle aufstieg. Er sagte etwas, indem er die Worte mehrmals wiederholte. Prinzessin Marja konnte sie nicht verstehen, aber sie gab sich Mühe, zu erraten, was er sagte, und wiederholte fragend die von ihm gesprochenen Laute.
»He … he … Ang…« wiederholte er mehrmals.
Niemand konnte seine Worte verstehen. Der Doktor glaubte, es erraten zu haben, indem er fragend ergänzte: »Ob die Prinzessin Angst hat?«
Der Fürst schüttelte verneinend den Kopf und wiederholte wieder dieselben Laute.
»Ums Herz ist dir’s bang?« rief Prinzessin Marja.
Er röchelte bejahend, nahm ihre Hand und drückte sie auf verschiedene Stellen seiner Brust, als suche er den richtigen Platz für sie.
»Immer Gedanken! … An dich …« stammelte er dann bedeutend besser und verständlicher als vorher, jetzt, wo er überzeugt war, daß man ihn verstand.
Prinzessin Marja drückte ihren Kopf an seine Brust, bemüht, ihr Schluchzen und ihre Tränen zu verbergen.
Er strich ihr mit der Hand übers Haar.
»Ich habe die ganze Nacht nach dir gerufen …« stammelte er.
»Wenn ich das gewußt hätte …« sagte sie unter Tränen. »Ich hatte Angst, hereinzukommen.«
Er drückte ihre Hand.
»Hast du nicht geschlafen?«
»Nein, ich habe nicht geschlafen«, erwiderte sie und schüttelte verneinend den Kopf.
Sich dem Vater anpassend, versuchte sie jetzt ebenso wie er mehr durch Zeichen zu sprechen, als koste es auch sie Anstrengung, die Zunge zu bewegen.
»Mein Seelchen …« oder »Herzchen …« Marja konnte es nicht genau verstehen, aber nach dem Ausdruck seines Blickes zu urteilen, war es sicherlich ein so liebes, zärtliches Wort gewesen, wie er es noch nie zu ihr gesagt hatte. »Warum bist du nicht gekommen?«
Und ich habe seinen Tod, seinen Tod gewünscht! dachte Prinzessin Marja.
Er schwieg eine Zeitlang.
»Ich dankte dir … meine Tochter … mein gutes Kind … für alles, für alles … verzeih … ich danke dir … verzeih … ich danke dir …« und Tränen rannen ihm aus den Augen.
»Ruft Andrjuscha!« rief er plötzlich, und etwas kindlich Schüchternes und Unsicheres drückte sich dabei auf seinem Gesicht aus.
Es war, als wüßte er selber, daß sein Verlangen sinnlos war. Der Prinzessin Marja kam das wenigstens so vor.
»Ich habe einen Brief von ihm bekommen«, antwortete sie.
Er sah sie verwundert und schüchtern an.
»Wo ist er denn?«
»Er ist bei der Armee, mon père, in Smolensk.«
Er schwieg lange und schloß die Augen. Dann nickte er zustimmend als Antwort auf seine Zweifel und zur Bestätigung, daß er jetzt alles verstand und sich an alles erinnerte, und schlug die Augen wieder auf.
»Ja«, sagte er leise und klar. »Rußland ist verloren. Sie haben es zugrunde gerichtet.«
Und wieder fing er an zu schluchzen, und Tränen rannen ihm aus den Augen. Prinzessin Marja konnte sich nicht länger beherrschen und fing beim Anblick seines tränenüberströmten Gesichtes ebenfalls zu weinen an.
Abermals schloß er die Augen. Sein Schluchzen verstummte. Er zeigte mit der Hand auf sein Gesicht, und Tichon verstand und wischte ihm die Tränen ab.
Darauf schlug er die Augen wieder auf und sagte etwas, das lange niemand verstehen konnte, bis endlich Tichon es verstand und wiederholte. Prinzessin Marja suchte den Sinn seiner Worte nach jener Stimmung hin, in der er einen Augenblick zuvor gesprochen hatte. Bald dachte sie, er spräche von Rußland bald vom Fürsten Andrej, bald von ihr, von seinem Enkel von seinem Tod. Und deshalb konnte sie auch nicht auf seine Worte kommen.
»Zieh dein weißes Kleid an, das habe ich gern!« hatte er gesagt.
Als sie diese Worte hörte, fing Prinzessin Marja noch lauter zu schluchzen an. Der Arzt nahm sie bei der Hand, führte sie aus dem Zimmer auf die Terrasse hinaus und redete ihr zu, sich zu beruhigen und in den Vorbereitungen zur Reise Ablenkung zu suchen.
Als Prinzessin Marja hinausgegangen war, fing der alte Fürst wieder an von seinem Sohn zu reden und vom Krieg und vom Kaiser, zog zornig die Brauen zusammen, wobei er die heisere Stimme immer mehr erhob, und erlitt endlich den zweiten und letzten Schlaganfall.
Prinzessin Marja war auf der Terrasse geblieben. Das Wetter wurde immer klarer und schöner, es war sonnig und heiß. Sie konnte nichts fassen, nichts denken und nichts fühlen als nur die leidenschaftliche Liebe zu ihrem Vater, eine Liebe, deren sie sich, wie es ihr schien, bis zu diesem Augenblick gar nicht in ihrer ganzen Größe bewußt gewesen war. Sie lief in den Garten und eilte schluchzend die mit jungen, vom Fürsten Andrej gepflanzten Linden umsäumten Wege zum Teich hinunter.
»Und ich … ich … ich … habe seinen Tod gewünscht! Ja, ich wünschte, daß es bald zu Ende gehen sollte … ich wollte Ruhe haben … Aber was soll nun aus mir werden? Was hilft mir die Ruhe, wenn er nicht mehr ist?« murmelte sie laut vor sich hin, während sie mit schnellen Schritten durch den Garten lief und die Hände auf die Brust preßte, aus der sich ein krampfhaftes Schluchzen losrang.
Als sie den Rundweg durch den Garten entlang gegangen war, der sie wieder zum Hause führte, sah sie Mademoiselle Bourienne auf sich zukommen – die in Bogutscharowo geblieben war und nicht von dort weggehen wollte – und mit ihr zusammen einen unbekannten Herrn. Es war der Adelsmarschall des Kreises, der persönlich gekommen war, um der Prinzessin die dringende Notwendigkeit einer baldigen Abreise vor Augen zu stellen. Prinzessin Marja hörte ihn an, ohne etwas von dem, was er sagte, zu verstehen, führte ihn ins Haus, bot ihm ein Frühstück an und setzte sich zu ihm. Dann entschuldigte sie sich bei dem Adelsmarschall und eilte zum Zimmer des alten Fürsten. Der Arzt trat mit erregtem Gesicht zu ihr heraus und sagte, sie könne jetzt unmöglich herein.
»Gehen Sie, Prinzessin, gehen Sie, gehen Sie!«
Prinzessin Marja ging wieder in den Garten und setzte sich hinter dem Berg am Teich, wo niemand sie sehen konnte, ins Gras. Sie wußte nicht, wie lange sie wohl dort gesessen hatte, als hastige weibliche Schritte, die den Weg entlang kamen, sie aufschrecken ließen. Sie stand auf und sah, wie Dunjascha, ihre Zofe, die offenbar kam, um sie zu suchen, plötzlich wie erschrocken stehen blieb, als sie ihre Herrin erblickte.
»Bitte, Prinzessin … der Fürst …« sagte Dunjascha mit stockender Stimme.
»Ich komme gleich, ich komme«, erwiderte die Prinzessin hastig, ohne Dunjascha Zeit zu lassen, das auszusprechen, was sie zu sagen hatte, und eilte, ängstlich bemüht, Dunjascha nicht anzusehen, ins Haus.
»Prinzessin, Gottes Wille geschieht … Sie müssen auf alles gefaßt sein«, sagte der Adelsmarschall, mit dem sie an der Einganstür zusammenstieß.
»Lassen Sie mich, es ist nicht wahr«, fuhr sie ihn feindselig an.
Der Arzt wollte sie anhalten. Sie stieß ihn beiseite und lief nach der Tür des Krankenzimmers.
Warum wollen mich diese Leute mit den erschrockenen Gesichtern alle aufhalten? Ich brauche niemanden. Was machen sie nur alle hier? dachte sie. Sie öffnete die Tür und erschrak über das grelle Tageslicht, das diesen bisher halbverdunkelten Raum erfüllte. Im Zimmer befanden sich Frauen und die Kindermuhme. Als Prinzessin Marja eintrat, wichen sie alle vom Bett zurück und machten ihr Platz. Der alte Fürst lag noch ebenso da, aber der strenge Ausdruck auf seinem ruhigen Gesicht bannte Prinzessin Marja auf der Schwelle fest.
Nein, er ist nicht gestorben … es kann nicht sein, sagte sie sich im stillen, trat auf ihn zu, überwand das Grauen, das sie erfaßt hatte, und drückte ihre Lippen auf seine Wange. Aber im selben Augenblick fuhr sie auch gleich wieder von ihm zurück. Die ganze Kraft der Zärtlichkeit, die sie ihm gegenüber in sich gefühlt hatte, war verschwunden und hatte einem Gefühl des Grauens vor dem, der vor ihr lag, Platz gemacht.
Nein, er ist nicht mehr! Er ist nicht mehr! Und dort, auf derselben Stelle, wo er soeben noch war, ist jetzt etwas Fremdes, Feindseliges, ein furchtbares, grauenhaftes, abstoßendes Geheimnis! Und Prinzessin Marja schlug beide Hände vors Gesicht und sank in die Arme des Arztes, der sie auffing.
Im Beisein Tichons und des Arztes wuschen die Frauen die sterblichen Überreste des alten Fürsten, banden ihm ein Tuch um den Kopf, damit ihm der Mund beim Erstarren nicht offen bleibe, und ein zweites um die sich spreizenden Beine. Dann zogen sie ihm die Uniform mit den Orden an und legten den kleinen, vertrockneten Körper auf den Tisch. Gott weiß, wer sich um alles gekümmert hatte und wann, aber es vollzog sich alles in bester Ordnung. Am Abend brannten rings um den Sarg die Kerzen, der Sarg war mit einer Decke bedeckt, der Fußboden mit Wacholderzweigen bestreut, unter dem vertrockneten Kopf des Toten lag ein gedrucktes Gebet, und in der Ecke saß ein Küster, der Psalmen las.
Wie Pferde um ein gefallenes Pferd scheuen, sich drängen und schnaufen, so drängte sich im Salon um den Sarg eine Menge fremder Leute und Hausgenossen, der Adelsmarschall, der Dorfschulze und viele Weiber. Sie alle bekreuzigten sich erschrocken und mit starren Augen, verbeugten sich und küßten die kalte, starre Hand des alten Fürsten.
Bogutscharowo hatte, ehe Fürst Andrej dorthin übergesiedelt war, nie unter dem Auge eines Herrn gestanden, und seine Bauern hatten daher einen ganz anderen Charakter als die in Lysyja-Gory. Sie unterschieden sich von ihnen sowohl in ihrer Kleidung als auch in ihren Reden und Sitten. Man nannte sie Steppenbauern[158]. Der alte Fürst hatte sie, wenn sie nach Lysyja-Gory gekommen waren, um dort bei der Ernte zu helfen oder Teiche und Kanäle auszustechen, wegen ihrer Ausdauer bei der Arbeit immer gelobt, konnte sie aber wegen ihrer Unbotmäßigkeit nicht recht leiden.
Fürst Andrej hatte während seines letzten Aufenthaltes in Bogutscharowo durch seine Neuerungen – Krankenhäuser, Schulen und Herabsetzung des Pachtzinses – ihre Sitten auch nicht gemildert, sondern vielmehr jene Charaktereigenschaften, die der alte Fürst Unbotmäßigkeit nannte, noch in ihnen verstärkt. Fortwährend waren bei ihnen gewisse unklare Gerüchte im Umlauf: bald hieß es, man wolle sie alle unter die Kosaken stecken oder zu einem neuen Glauben bekehren, bald munkelte man von einem Schreiben des Zaren oder von dem Eid Pawel Petrowitschs im Jahre 1797, von dem es hieß, daß er schon damals die Leibeigenschaft aufgehoben habe, was aber vom Adel wieder unterdrückt worden sei, bald erzählte man sich von Peter Fjodorowitsch[159], der in sieben Jahren den Thron besteigen, alles freimachen und so einfach einrichten werde, daß es keine Schwierigkeiten mehr gebe. Die Gerüchte vom Krieg, von Bonaparte und seinem Einfall in Rußland verbanden sich in ihren Köpfen mit ebenso unklaren Vorstellungen vom Antichrist, vom Weltuntergang und völliger persönlicher Freiheit.
In der Gegend von Bogutscharowo lagen nur große Dörfer, die teils dem Staat, teils Herrschaften gehörten. Gutsbesitzer lebten in diesem Kreis nur wenige, und folglich auch wenig Gutsgesinde und Leute, die lesen und schreiben konnten. Deshalb traten im Leben der Bauern dieser Gegend auch merklicher und stärker als anderswo jene geheimnisvollen Strömungen des russischen Volkslebens zutage, deren Ursache und Bedeutung den Zeitgenossen oft unerklärlich sind.
Eine solche Erscheinung war auch jene Bewegung gewesen, die vor etwa zwanzig Jahren unter den Bauern dieser Gegend entstanden war, das Bestreben, an »warme Flüsse« überzusiedeln[160]. Hunderte von Bauern, unter ihnen auch die von Bogutscharowo, fingen plötzlich an, ihr Vieh zu verkaufen und mit ihren Familien in die weite Ferne, nach Südosten, zu ziehen. Wie Vögel irgendwohin übers Meer fliegen, so strebten plötzlich diese Leute mit Frauen und Kindern dorthin, nach Südosten, wo keiner von ihnen je gewesen war. In ganzen Karawanen zogen sie dahin, die einen hatten sich losgekauft, die anderen waren einfach fortgelaufen, und so fuhren und pilgerten sie dorthin, nach den »warmen Flüssen«. Viele wurden bestraft, nach Sibirien geschickt, viele starben vor Kälte und Hunger am Wege, viele kehrten aus eignem Antrieb zurück, und so verlief die Bewegung ganz von selbst wieder im Sande, geradeso wie sie ohne ersichtlichen Grund entstanden war. Aber die unterirdischen Strömungen in diesem Volk versiegten nicht, sammelten sich zu neuer Kraft, um dann ebenso unerwartet und sonderbar und dabei doch einfach, urwüchsig und stark hervorzubrechen. Jedermann, der in naher Berührung mit diesem Volk lebte, konnte jetzt, im Jahre 1812, deutlich merken, daß diese unterirdischen Strömungen wühlten und arbeiteten und ihr Ausbruch nahe bevorstand.
Alpatytsch, der kurz vor dem Hinscheiden des alten Fürsten nach Bogutscharowo gekommen war, hatte bemerkt, daß hier eine Bewegung im Volk vor sich ging, die alldem, was sich in der Gegend von Lysyja-Gory in einem Umkreis von sechzig Werst ereignet hatte, völlig zuwiderlief. Dort waren die Bauern alle geflohen und hatten ihre Dörfer den Kosaken zum Zerstören überlassen, hier aber, in der Steppengegend von Bogutscharowo unterhielten die Bauern, wie verlautete, Beziehungen zu den Franzosen, bekamen Flugschriften, die bei ihnen von Hand zu Hand gingen, und blieben in ihren Ortschaften. Alpatytsch hatte durch ihm ergebene Gutsleute erfahren, daß der Bauer Karp, der vor ein paar Tagen mit einer stattlichen Fuhre weggewesen war, ein Mann, der großen Einfluß in seiner Gemeinde besaß, mit der Nachricht zurückgekehrt war, die Kosaken zerstörten die Dörfer, die von ihren Bewohnern verlassen würden, während die Franzosen sie nicht anrührten. Alpatytsch wußte ferner, daß ein anderer Bauer gestern sogar aus der Ortschaft Wislouchowo, wo die Franzosen standen, ein Schriftstück von einem französischen General mitgebracht hatte, worin den Bewohnern erklärt wurde, daß ihnen kein Leid angetan und alles bezahlt werde, was man von ihnen entnehme, wenn sie in ihren Ortschaften blieben. Zum Beweis dafür hatte jener Bauer aus Wislouchowo hundert Rubel in Banknoten mitgebracht – er wußte nicht, daß sie gefälscht waren –, die man ihm im voraus für sein Heu gegeben hatte.
Und endlich, was die Hauptsache war, wußte Alpatytsch auch noch, daß am selben Tag, an dem er dem Dorfschulzen befohlen hatte, Fuhren zusammenzubringen, um das Gepäck der Prinzessin Marja aus Bogutscharowo fortzuschaffen, morgens im Dorf eine Gemeindeversammlung stattgefunden hatte, in der beschlossen worden war, nicht fortzugehen, sondern abzuwarten. Unterdessen drängte die Zeit aber immer mehr. Am Todestag des alten Fürsten, am 15. August, drang der Adelsmarschall nochmals in Prinzessin Marja, daß sie noch am selben Tag abfahren solle, da es immer gefährlicher werde. Er sagte, daß er nach dem 16. für nichts mehr einstehen könne. Er selber reiste am Todestag des Fürsten abends ab, versprach aber, am anderen Tag zur Beerdigung wiederzukommen. Doch konnte er sein Versprechen nicht halten, da einer ihm zugegangenen Nachricht zufolge die Franzosen plötzlich vorgerückt waren und er kaum Zeit gehabt hatte, seine Familie und die kostbarsten Wertgegenstände aus seinem Gut fortzuschaffen.
Seit dreißig Jahren waltete in Bogutscharowo der Dorfschulze Dron, den der alte Fürst Dronuschka zu nennen pflegte.
Dieser Dron war einer jener körperlich und geistig starken Bauern, die von den Jahren an, wo ihnen der Bart wächst, bis zu einem Lebensalter von sechzig oder siebzig Jahren sich kaum verändern, nicht ein graues Haar und nicht eine Zahnlücke bekommen und mit sechzig Jahren noch ebenso aufrecht und stark sind wie mit dreißig.
Dron war kurz nach der beabsichtigten Übersiedlung an die »warmen Flüsse«, an der er wie andere teilgenommen hatte, zum Dorfschulzen von Bogutscharowo ernannt worden und hatte seither dieses Amt dreiundzwanzig Jahre lang ohne Tadel verwaltet. Die Bauern fürchteten ihn mehr als ihren Herrn. Die Herrschaft, sowohl der alte als auch der junge Fürst und der Verwalter, schätzten ihn und nannten ihn scherzweise den Minister. Während der ganzen Zeit seiner Amtsführung war Dron nicht ein einziges Mal betrunken oder krank gewesen, niemals, weder nach schlaflosen Nächten noch sonstigen Anstrengungen, welcher Art sie auch immer gewesen sein mochten, hatte er die geringste Müdigkeit gezeigt, und obgleich er weder lesen noch schreiben konnte, vergaß er doch nie eine Summe in seinen Berechnungen oder auch nur ein einziges Pfund Mehl von all den gewaltigen Fuhren, die er verkaufte, oder eine Getreidegarbe auf irgendeinem Feld der Flur von Bogutscharowo.
Diesen Dron ließ nun Alpatytsch, nachdem er aus dem zerstörten Lysyja-Gory angekommen war, am Tag der Beerdigung des Fürsten zu sich rufen und befahl ihm, zwölf Pferde für die Wagen der Prinzessin und achtzehn Fuhren für das Gepäck, das aus Bogutscharowo fortgeschafft werden sollte, bereitzuhalten. Obgleich die Bauern Zins zahlten, konnte die Ausführung dieses Befehls nach Alpatytschs Ansicht auf keinerlei Hindernisse stoßen, da in Bogutscharowo zweihundertunddreißig Familien wohnten und alle Bauern wohlhabend waren.
Doch der Dorfschulze Dron senkte schweigend die Augen, als er diesen Befehl vernommen hatte. Alpatytsch nannte ihm einige Namen von Bauern, die er kannte, von denen er die Fuhren zu entnehmen befahl.
Dron erwiderte, diese Bauern hätten ihre Pferde mit Fuhren weggeschickt. Alpatytsch nannte andere Namen. Aber auch die hatten, nach Drons Aussagen, keine Pferde: die einen hätten Fuhren für den Staat, die anderen besäßen nur schwache Pferde, und wieder anderen seien die Tiere aus Mangel an Futter eingegangen. Nach Drons Ansicht war es unmöglich, Pferde zusammenzubekommen, für die Fuhren wie für die Reisewagen.
Alpatytsch sah Dron aufmerksam an und machte ein finsteres Gesicht. Ebenso wie Dron das Muster eines Dorfschulzen war, so hatte auch Alpatytsch die Güter des Fürsten nicht zwanzig Jahre lang erfolglos verwaltet: er war zum Muster eines Beamten geworden. Er besaß im höchsten Grad die Fähigkeit, instinktiv die Bedürfnisse und Begierden der Leute, mit denen er zu tun hatte, zu erfassen, und war daher ein vorzüglicher Verwalter. Während er Dron ansah, verstand er augenblicklich, daß dessen Antworten nicht Ausdruck seiner eigenen Denkweise waren, sondern jener allgemeinen Stimmung in der Gemeinde von Bogutscharowo, von der der Dorfschulze nun auch ergriffen worden war. Gleichzeitig wußte Alpatytsch aber auch, daß der reich gewordene und von seiner Gemeinde gehaßte Dron zwischen den beiden Lagern – der Herrschaft und den Bauern – schwanken mußte. Alpatytsch bemerkte dieses Schwanken in seinem Blick und trat deshalb mit finsterer Stirn auf ihn zu.
»Hör mal, Dronuschka«, sagte er, »mach mir keinen blauen Dunst vor. Seine Durchlaucht Fürst Andrej Nikolajewitsch haben mir selber befohlen, alle Leute fortzuschicken, damit keiner mit dem Feind zusammenkommt. Außerdem gibt es hierüber einen Erlaß vom Zaren. Wer hier bleibt, ist ein Verräter am Zaren. Hörst du?«
»Ich höre«, erwiderte Dron, ohne die Augen aufzuschlagen.
Doch Alpatytsch war mit dieser Antwort nicht zufrieden.
»Ei, ei, Dron, das wird eine böse Sache werden!« sagte Alpatytsch und wiegte den Kopf hin und her.
»Es steht in Ihrer Macht«, entgegnete Dron betrübt.
»Hör mal, Dron, nun ist’s aber genug!« rief Alpatytsch, zog die Hand aus der Brust und zeigte mit feierlicher Gebärde auf den Boden unter Drons Füßen. »Ich sehe nicht nur durch dich hindurch, sondern noch drei Arschin in den Boden hinein, auf dem du stehst«, sagte er und blickte auf den Boden unter Drons Füßen.
Dron wurde verwirrt, sah flüchtig nach Alpatytsch hinüber und senkte dann wieder die Augen.
»Also laß jetzt den Unsinn und sage deinen Leuten, daß sie sich fertigmachen, um ihre Häuser zu verlassen und nach Moskau zu gehen, und daß die Fuhren für das Gepäck der Prinzessin morgen früh zur Stelle sind. Du selber aber geh nicht in ihre Versammlungen. Hörst du?«
Dron fiel plötzlich Alpatytsch zu Füßen.
»Jakow Alpatytsch, entlasse mich! Nimm mir die Schlüssel ab, entlaß mich, um Christi willen!«
»Genug!« sagte Alpatytsch streng. »Ich sehe drei Arschin tief in den Boden unter deinen Füßen hinein«, wiederholte er, weil er wußte, daß seine Meisterschaft in der Bienenzucht, seine Kenntnis, wann man den Hafer säen mußte, und der Umstand, daß er zwanzig Jahre lang verstanden hatte, es dem alten Fürsten recht zu machen, ihm schon lange den Ruf eines Zauberers eingetragen hatten, und daß man Zauberern die Kunst zuschreibt, drei Arschin tief in den Boden unter des Menschen Fuß hineinzusehen.
Dron erhob sich und wollte etwas erwidern, aber Alpatytsch unterbrach ihn.
»Was fällt euch denn ein? Was? Was denkt ihr euch denn eigentlich? Wie?«
»Was soll ich mit den Leuten anfangen?« antwortete Dron. »Sie sind gar nicht zu halten. Ich habe ihnen schon gesagt …«
»Na also«, sagte Alpatytsch. »Sie trinken wohl?« fragte er dann kurz.
»Gar nicht zu halten sind sie, Jakow Alpatytsch, das zweite Faß haben sie schon angeschleppt.«
»Also höre. Ich fahre zum Polizeichef. Du aber teile den Leuten mit, sie sollen den Unfug lassen und Fuhren stellen.«
»Zu Befehl«, erwiderte Dron.
Weiter drang Jakow Alpatytsch nicht auf ihn ein. Er hatte lange genug mit dem Volk zu tun gehabt, um zu wissen, daß das Hauptmittel, Leute zum Gehorsam zu zwingen, darin besteht, ihnen zu zeigen, daß man an ihrem Gehorsam zweifelt.
Nachdem er bei Dron das ergebene »Zu Befehl« erreicht hatte, gab er sich damit zufrieden, obgleich er nicht nur daran zweifelte, daß die Fuhren zur Stelle sein würden, sondern sogar fest davon überzeugt war, daß er ohne Hilfe eines Militärkommandos nichts erreichen werde.
Und wirklich waren auch die Fuhren bis zum Abend noch nicht gestellt. Vor der Schenke im Dorf fand wieder eine Versammlung statt, und in dieser Versammlung wurde beschlossen, die Pferde in den Wald zu jagen und keine Fuhren zu stellen. Alpatytsch sagte der Prinzessin nichts davon, ließ seine eignen Koffer von dem aus LysyjaGory eingetroffenen Wagen abladen und befahl, diese Pferde für den Wagen der Prinzessin bereitzuhalten, während er selber sich zur Obrigkeit begab.
Nach der Beerdigung ihres Vaters schloß sich Prinzessin Marja in ihrem Zimmer ein und ließ niemanden zu sich herein. Ihre Zofe kam an die Tür und meldete, Alpatytsch sei gekommen, um ihre Befehle zur Abreise entgegenzunehmen. Das war noch vor Alpatytschs Unterredung mit Dron gewesen.
Prinzessin Marja erhob sich vom Diwan, auf dem sie gelegen hatte, und antwortete durch die geschlossene Tür, daß sie nie und nirgendwohin abreisen werde und darum bitte, in Ruhe gelassen zu werden.
Die Fenster des Zimmers, in dem sie lag, gingen nach Westen hinaus. Sie lag auf dem Diwan mit dem Gesicht nach der Wand zu, fuhr mit den Fingern mechanisch über die Knöpfe des Lederkissens hin und her und sah weiter nichts als dieses Kissen. Ihre verworrenen Gedanken konzentrierten sich immer nur auf das eine: sie dachte an das unwiederbringliche Verlieren durch den Tod und an die Schlechtigkeit ihres eignen Herzens, deren sie sich bisher noch gar nicht bewußt gewesen, die aber während der Krankheit ihres Vaters zutage getreten war. Sie wollte gern beten, hatte aber nicht den Mut dazu, und wagte in dieser Seelenverfassung, in der sie sich befand, nicht, sich an Gott zu wenden. Lange lag sie in diesem Zustand da.
Die Sonne war um das Haus herumgekommen und warf ihre schrägen Abendstrahlen durch die offenen Fenster in das Zimmer und auf eine Ecke des Saffiankissens, auf das Prinzessin Marja ihre Blicke gerichtet hielt. Ihre Gedanken standen plötzlich still. Unbewußt richtete sie sich auf, strich das Haar glatt, erhob sich, trat ans Fenster und sog unwillkürlich die klare, frische Luft des windigen Abends in sich ein.
Ja, jetzt kannst du behaglich den schönen Abend genießen! Er ist nicht mehr, und keiner wird dich stören, sagte sie zu sich selber, ließ sich auf einen Stuhl sinken und legte den Kopf auf das Fensterbrett.
Da rief sie jemand mit leiser, zärtlicher Stimme vom Garten her an und küßte sie auf den Kopf. Sie blickte auf. Es war Mademoiselle Bourienne in einem schwarzen Kleid mit Trauerbesatz. Sie war leise an Prinzessin Marja herangetreten, hatte ihr seufzend einen Kuß aufs Haar gedrückt und fing nun ebenfalls an zu weinen. Prinzessin Marja sah sie an. All ihr früheres, häufiges Aneinandergeraten mit ihr und ihre Eifersucht auf sie fielen ihr jetzt wieder ein, sie dachte daran, wie anders er sich in letzter Zeit gegen Mademoiselle Bourienne gezeigt hatte, wie er sie nicht hatte sehen mögen, und wie ungerecht infolgedessen all die Vorwürfe gewesen waren, die Prinzessin Marja in ihrem Herzen gegen sie erhoben hatte. Und dürfte ich, ich, der ich seinen Tod wünschte, einen anderen Menschen verurteilen? dachte sie.
Prinzessin Marja versetzte sich lebhaft in Mademoiselle Bouriennes Lage, die sie in letzter Zeit aus ihrer Gesellschaft verbannt hatte, die aber dabei doch von ihr abhängig war und in fremdem Haus lebte. Und plötzlich tat ihr die Französin leid. Sanft fragend sah sie zu ihr auf und reichte ihr die Hand. Mademoiselle Bourienne fing sogleich an zu weinen, küßte der Prinzessin die Hand, sprach von dem Kummer, der die Prinzessin betroffen hatte, und von dem Anteil, den sie daran nehme. Sie sagte, ihr einziger Trost in diesem Leid wäre, wenn ihr die Prinzessin gestatten wollte, es mit ihr zu teilen, daß alle früheren Mißverständnisse vor diesem großen Kummer in ein Nichts zusammensinken müßten, daß sie sich allen gegenüber rein fühle, und daß er von oben herab ihre Liebe und Dankbarkeit sehe. Prinzessin Marja hörte ihr zu, ohne ihre Worte zu verstehen, blickte sie nur ab und zu an und lauschte auf den Klang ihrer Stimme.
»Ihre Lage ist jetzt doppelt schrecklich, liebe Prinzessin«, sagte Mademoiselle Bourienne, nachdem sie ein Weilchen geschwiegen hatte. »Ich verstehe, daß Sie nicht an sich selbst denken können und mögen, doch meine Liebe zu Ihnen verpflichtet mich, dies zu tun … War Alpatytsch bei Ihnen? Hat er mit Ihnen über die Reise gesprochen?« fragte sie.
Prinzessin Marja gab keine Antwort. Sie begriff gar nicht, wer abreisen sollte und wohin. Kann man denn jetzt etwas unternehmen, an irgend etwas anderes denken? Ist denn nicht alles gleichgültig? Sie antwortete nicht.
»Sie wissen wohl, ma chère Marie«, sagte Mademoiselle Bourienne, »Sie wissen wohl, daß wir in Gefahr sind, daß ringsum Franzosen stehen, und daß jetzt abzufahren gefährlich ist. Wenn wir jetzt abreisen, ist es fast ganz sicher, daß wir in Gefangenschaft geraten, und Gott weiß …«
Prinzessin Marja sah ihre Gesellschafterin an, ohne zu verstehen, was diese sagte.
»Ach, wenn ihr nur wüßtet, wie gleichgültig mir jetzt alles, alles ist!« sagte sie. »Es war doch selbstverständlich, daß ich nicht von ihm fortgehen wollte … Alpatytsch hat irgend etwas von Abreise zu mir gesagt … Sprechen Sie mit ihm … ich kann nichts … ich will nichts … nichts …«
»Ich habe schon mit ihm gesprochen. Er hofft, daß wir morgen abreisen können. Doch glaube ich, daß es jetzt besser wäre, wenn wir hierblieben«, sagte Mademoiselle Bourienne. »Denn das müssen Sie doch zugeben, chère Marie, wenn wir Soldaten oder aufständischen Bauern unterwegs in die Hände fielen, das wäre doch schrecklich!«
Mademoiselle Bourienne zog aus ihrem Ridikül den Aufruf des Generals Rameau hervor, der nicht auf gewöhnlichem russischem Papier gedruckt war, und reichte ihn der Prinzessin. Darin stand, die Einwohner möchten ihre Häuser nicht verlassen, es werde ihnen durch die französischen Machthaber der nötige Schutz zuteil werden.
»Ich glaube, das beste wäre, sich an diesen General zu wenden«, sagte Mademoiselle Bourienne, »und ich bin überzeugt, daß man Ihnen die schuldige Achtung erweisen wird.«
Prinzessin Marja las das Flugblatt, und ein tränenloses Aufschluchzen zuckte über ihr Gesicht.
»Durch wen haben Sie dies erhalten?« fragte sie.
»Wahrscheinlich hat man erfahren, daß ich Französin bin, aus meinem Namen«, gab Mademoiselle Bourienne errötend zur Antwort.
Prinzessin Marja stand mit dem Blatt in der Hand vom Fenster auf und ging mit bleichem Gesicht aus dem Zimmer in das frühere Arbeitskabinett des Fürsten Andrej.
»Dunjascha, rufe mir Alpatytsch, Dronuschka, irgend jemanden!« rief Prinzessin Marja. »Und sage Amalia Karlowna, daß sie nicht zu mir hereinkommt«, fügte sie hinzu, als sie draußen die Stimme Mademoiselle Bouriennes vernahm. Nur fort, so schnell wie möglich fort! sagte sich Prinzessin Marja, erschauernd bei dem Gedanken, daß sie in die Gewalt der Franzosen geraten könne.
Wenn Fürst Andrej erführe, daß sie in die Hände der Franzosen gefallen sei! Wenn sie, die Tochter des Fürsten Nikolaj Andrejewitsch Bolkonskij, diesen Herrn General Rameau bitten müßte, ihr Schutz zu gewähren, und seine Wohltaten anzunehmen genötigt wäre! Dieser Gedanke erregte in ihr solches Entsetzen, daß er sie zittern und erröten machte, und ein noch nie empfundenes Gefühl des Zornes und Stolzes kam über sie. All das Schwere und vor allem Beleidigende, was aus ihrer Lage hervorgehen konnte, trat ihr plötzlich klar vor Augen: Sie, die Franzosen, werden sich in diesem Haus niederlassen; der Herr General Rameau wird das Zimmer des Fürsten Andrej bewohnen und zum Zeitvertreib seine Briefe und Papiere lesen. Mademoiselle Bourienne lui fera les honneurs de Bogutscharowo. Mir wird man aus Gnade und Barmherzigkeit ein Zimmer lassen; die Soldaten werden das frische Grab meines Vaters aufreißen, um ihm seine Ordenskreuze und Sterne zu stehlen, und mir werden sie von ihren Siegen über die russischen Truppen erzählen und heuchlerisch ihr Mitleid mit meinem Kummer zum Ausdruck bringen …, dachte Prinzessin Marja. Es waren dies zwar nicht ihre eignen Gedanken, aber sie fühlte sich verpflichtet, im Sinn ihres Vaters und ihres Bruders zu denken. Ihr persönlich war alles gleichgültig, wo auch immer sie bleiben und was mit ihr geschehen mochte, dabei fühlte sie sich aber gleichzeitig als Vertreterin ihres verstorbenen Vaters und ihres Bruders. Und so dachte sie unwillkürlich deren Gedanken und empfand deren Gefühle. Was diese jetzt gesagt und getan hätten, das, fühlte sie, mußte unbedingt gesagt und getan werden. Sie ging in das Zimmer des Fürsten Andrej, bemüht, sich von seinem Geist durchdringen zu lassen, und überdachte ihre Lage.
Die Anforderungen des Lebens, die ihr seit dem Tode des Vaters unwesentlich erschienen waren, traten plötzlich mit neuer, noch nie gekannter Macht an sie heran und nahmen sie ganz in Anspruch.
Aufgeregt und mit rotem Kopf ging sie im Zimmer auf und ab und verlangte bald Alpatytsch, bald Michail Iwanowitsch, bald Tichon, bald Dron zu sprechen. Dunjascha, die Kinderfrau und alle Dienstmädchen konnten ihr nicht sagen, inwieweit das, was Mademoiselle Bourienne ihr eröffnet hatte, der Wahrheit entsprach. Alpatytsch war nicht zu Hause, er war zur Polizeibehörde gefahren. Der Baumeister Michail Iwanowitsch, der herbeigerufen worden war und mit verschlafenen Augen vor der Prinzessin erschien, konnte ihr nichts Neues berichten. Er antwortete auf ihre Fragen mit demselben Lächeln des Einverständnisses, mit dem er fünfzehn Jahre lang, ohne seine eigne Ansicht zum Ausdruck zu bringen, alle Einwendungen des alten Fürsten beantwortet hatte, so daß man seinen Worten nichts Bestimmtes entnehmen konnte. Der alte Kammerdiener Tichon mit seinem eingefallenen, abgemagerten Gesicht, das den Stempel untröstlichen Kummers trug, erwiderte auf alle Fragen der Prinzessin nur: »Zu Befehl« und konnte kaum das Schluchzen zurückhalten, wenn er sie ansah.
Endlich trat der Dorfschulze Dron ins Zimmer, verbeugte sich tief vor der Prinzessin und blieb an der Tür stehen.
Prinzessin Marja ging durchs Zimmer und trat auf ihn zu.
»Dronuschka«, fing sie an, überzeugt, in ihm einen unzweifelhaften Freund zu sehen, war es doch jener Dronuschka, der ihr jedes Jahr von seiner Fahrt auf den Jahrmarkt von Wjasma eine bestimmte Sorte Pfefferkuchen mitgebracht hatte, die er ihr dann mit einem Lächeln überreichte. »Dronuschka, jetzt nach unserem Unglück …«, fing sie an, brach aber gleich wieder ab und war nicht imstande, weiterzureden.
»Wir alle leben und sterben in Gottes Hand«, erwiderte Dron mit einem Seufzer.
»Dronuschka, Alpatytsch ist irgendwohin weggefahren. Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. Ist es wahr, daß ich, wie man mir gesagt hat, jetzt nicht mehr abfahren kann?«
»Warum solltest du nicht mehr wegfahren können, Durchlaucht? Fahren kann man schon …«, sagte Dron.
»Man hat mir gesagt, es sei gefährlich, des Feindes wegen. Mein guter Dronuschka, ich vermag nichts und verstehe nichts und habe nicht einen Menschen, der mir helfen könnte. Ich möchte unbedingt heute nacht oder morgen früh abfahren.«
Dron schwieg. Von unten her schielte er zur Prinzessin hinüber.
»Es sind keine Pferde da«, sagte er, »ich habe schon mit Jakow Alpatytsch gesprochen.«
»Warum denn nicht?« fragte die Prinzessin.
»Alles ist Gottes Strafgericht«, sagte Dron. »Was noch an Pferden da war, haben die Soldaten genommen, der Rest ist krepiert. Ein elendes Jahr heuer. Womit soll man die Pferde füttern, wenn man selber beinahe Hungers stirbt? Drei Tage sitzen nun die Leute schon da, ohne etwas zu essen zu haben. Rein nichts ist da, alle sind in Grund und Boden ruiniert.«
Prinzessin Marja hörte aufmerksam auf das, was er zu ihr sagte.
»Die Bauern sind ruiniert? Sie haben kein Brot?« fragte sie.
»Hungers sterben sie«, erwiderte Dron. »Nicht, daß sie die Fuhren …«
»Aber warum hast du denn das nicht gesagt, Dronuschka? Kann man denn da nicht helfen? Ich werde alles hingeben, was ich kann …«
Prinzessin Marja kam der Gedanke sonderbar vor, daß es jetzt in diesem Augenblick, da ein solcher Kummer ihre Seele erfüllte, Reiche und Arme geben konnte, und daß die Reichen nicht imstande sein sollten, den Armen zu helfen. Sie hatte einmal gehört und erinnerte sich jetzt dunkel daran, daß es Getreide gibt, das der Herrschaft gehört, von dem aber manchmal an die Bauern abgegeben wird. Sie wußte auch, daß sich weder ihr Bruder noch ihr Vater geweigert hätte, der Not der Bauern abzuhelfen, sie fürchtete nur, diese Getreideverteilung an die Bauern, die sie anordnen wollte, nicht in die richtigen Worte kleiden zu können. Sie freute sich, daß sich ihr ein Vorwand für eine solche Fürsorge bot, um derentwillen ihren Kummer zu vergessen sie sich nicht zu schämen brauchte. Sie befragte Dronuschka nach allen Einzelheiten der Not bei den Bauern, und ob in Bogutscharowo auch noch Getreide vorhanden sei, das der Herrschaft gehöre.
»Wir haben hier doch noch Getreide, das der Herrschaft, also meinem Bruder gehört?« fragte sie.
»Das Getreide der Herrschaft ist nicht angerührt«, sagte Dron stolz. »Der Fürst hat nicht befohlen, es zu verkaufen.«
»Gib es den Bauern, gib ihnen alles, was sie brauchen. Ich erlaube es dir im Namen meines Bruders«, sagte Prinzessin Marja.
Dron gab keine Antwort und seufzte schwer.
»Du verteilst dieses Getreide unter sie, wenn es genug für sie ist. Alles gib ihnen. Ich befehle es dir im Namen meines Bruders, und sage ihnen: Was unser ist, gehört auch ihnen. Für sie ist uns nichts leid. Das sage ihnen nur.«
Dron hatte die Prinzessin, während sie das sagte, die ganze Zeit über aufmerksam angesehen.
»Entlaß mich, Mütterchen, um Gottes willen und laß mir die Schlüssel abnehmen«, bat er. »Dreiundzwanzig Jahre lang habe ich mein Amt verwaltet und nichts Unrechtes getan. Entlaß mich, um Gottes willen!«
Prinzessin Marja verstand nicht, was er von ihr wollte, und warum er sie um seine Entlassung bat. Sie erwiderte ihm, sie habe an seiner Ergebenheit niemals gezweifelt und sei für ihn und für die Bauern zu allem bereit.
Eine Stunde später kam Dunjascha zu der Prinzessin mit der Nachricht, Dron und alle Bauern seien auf Befehl der Prinzessin gekommen, hätten sich vor der Scheune versammelt und wünschten eine Unterredung mit der Herrin.
»Aber ich habe sie doch gar nicht gerufen«, sagte Prinzessin Marja. »Ich habe doch nur Dron gesagt, er solle das Getreide an sie verteilen.«
»Lassen Sie um Gottes willen nur die Leute fortjagen, Prinzessin, und gehen Sie nicht zu ihnen hinaus. Das ist alles nur Schwindel«, sagte Dunjascha. »Wenn Jakow Alpatytsch wiederkommt, dann werden wir fahren … Aber Sie sollen doch nicht …«
»Wieso denn Schwindel?« fragte die Prinzessin erstaunt.
»Ja, ich weiß schon. Hören Sie nur auf mich, um Gottes willen. Und die Kinderfrau können Sie ebenfalls fragen. Es heißt, die Bauern sind mit dem Befehl, daß sie alle fortfahren sollen, nicht einverstanden.«
»Das ist aber nicht richtig, was du da sagst. Ich habe niemals befohlen, daß sie alle fortfahren sollen …« sagte Prinzessin Marja. »Rufe Dronuschka!«
Dron kam und bestätigte Dunjaschas Worte: die Bauern seien auf Befehl der Prinzessin erschienen.
»Aber ich habe sie doch gar nicht rufen lassen«, sagte die Prinzessin. »Du hast es ihnen sicherlich nicht richtig bestellt. Ich habe doch nur gesagt, daß du ihnen das Getreide geben sollst.«
»Wenn Sie befehlen, gehen die Leute wieder fort«, erwiderte er endlich.
»Nein, nein, dann gehe ich lieber zu ihnen«, sagte Prinzessin Marja.
Obgleich Dunjascha und die Kinderfrau abredeten, ging Prinzessin Marja doch auf die Freitreppe hinaus. Dronuschka, Dunjascha, die Kinderfrau und Michail Iwanowitsch folgten ihr.
Sicherlich denken sie, daß ich ihnen das Getreide nur anbiete, damit sie hier, in ihrem Ort, bleiben sollen, während ich selber abfahre und sie der Willkür der Franzosen preisgebe, dachte Prinzessin Marja. Ich werde ihnen Quartier und Monatsraten auf unserem Gut bei Moskau versprechen. Andrej würde an meiner Stelle sicherlich noch viel mehr für sie tun, davon bin ich überzeugt, dachte sie, während sie in der Dämmerung auf die Menge zuging, die auf dem Anger vor der Scheune stand.
Die Menge kam in Bewegung und drängte sich zusammen, eilig wurden die Mützen gezogen. Prinzessin Marja schlug die Augen nieder und trat dicht an sie heran, wobei sie sich mit den Füßen in ihrem Kleid verfing. Es waren so viele alte und junge Augen auf sie gerichtet, es waren so viele verschiedenartige Gesichter da, daß Prinzessin Marja kein einziges dieser Gesichter einzeln unterscheiden konnte, und da sie es für unumgänglich hielt, mit allen auf einmal zu reden, wußte sie nun nicht, was sie anfangen sollte. Doch das Bewußtsein, daß sie die Vertreterin des Vaters und des Bruders sei, verlieh ihr abermals Kraft, und unerschrocken fing sie ihre Rede an.
»Ich freue mich sehr, daß ihr gekommen seid«, begann sie, ohne die Augen aufzuheben, und fühlte, wie schnell und heftig ihr Herz schlug. »Dronuschka hat mir gesagt, der Krieg habe euch zugrunde gerichtet. Das ist ein Unglück, das über uns alle hereinbricht, und es soll mir nichts zu viel sein, euch zu helfen! Ich selber gehe fort, weil es hier gefährlich ist … weil der Feind in der Nähe ist … und weil … Ich gebe euch alles, meine Freunde, und bitte euch, alles hinzunehmen, unser ganzes Getreide, damit ihr keine Not leidet. Wenn man aber zu euch gesagt haben sollte, ich gebe euch das Getreide nur deshalb, damit ihr hier bleiben sollt, so ist das nicht wahr. Im Gegenteil, ich bitte euch, mit all eurer Habe fortzufahren auf unser Gut bei Moskau, und nehme es auf mich und verspreche euch, daß ihr dort keine Not leiden sollt. Ihr sollt dort Wohnung und Getreide erhalten.«
Die Prinzessin hielt inne. In der Menge hörte man nur seufzen.
»Das tue ich nicht von mir aus«, fuhr die Prinzessin fort, »sondern im Andenken meines verstorbenen Vaters, der euch immer ein guter Herr gewesen ist, und im Namen meines Bruders und dessen Sohnes.«
Wieder hielt sie inne. Niemand brach das Schweigen.
»Das Unglück trifft uns alle gleich, darum wollen wir auch alles andre teilen … Alles, was mein ist, ist auch euer«, schloß sie und blickte in die Gesichter der Männer, die vor ihr standen.
Alle Augen schauten sie mit demselben Ausdruck an, über dessen Bedeutung sie sich nicht klar zu werden vermochte. War es Neugier, Ergebenheit, Dankbarkeit oder Angst und Mißtrauen – jedenfalls war der Ausdruck auf allen Gesichtern derselbe.
»Wir danken auch schön für Ihre Güte, aber das Getreide der Herrschaft zu nehmen, das kommt uns nicht zu«, sagte eine Stimme im Hintergund.
»Aber warum denn nicht?« fragte die Prinzessin.
Niemand gab eine Antwort, und Prinzessin Marja bemerkte, während sie sich in der Menge umsah, daß jetzt alle Augen, denen sie begegnete, sogleich zu Boden sahen. Alle Bauern schwiegen verstockt.
»Aber warum wollt ihr es denn nicht nehmen?« fragte sie noch einmal.
Wieder gab keiner eine Antwort.
Prinzessin Marja fühlte sich durch dieses Schweigen bedrückt; sie bemühte sich, irgendeinen Blick aufzufangen.
»Warum redet ihr denn nicht?« wandte sich die Prinzessin an einen alten Bauern, der, auf einen Stock gestützt, vor ihr stand. »Sag es doch, wenn du denkst, daß euch noch etwas fehlt. Ich tue alles«, sagte sie.
Sie hatte seinen Blick erhascht, doch der Bauer, als sei er ärgerlich darüber, ließ nun den Kopf ganz sinken und murmelte nur: »Warum sollen wir das annehmen? Wir brauchen kein Getreide.«
»Warum sollen wir alles im Stich lassen? Da machen wir nicht mit! Damit sind wir nicht einverstanden. Du tust mir leid, aber einverstanden sind wir nicht. Fahre du fort, allein …«, tönte es von verschiedenen Seiten aus der Menge.
Und wieder zeigte sich auf allen Gesichtern ein und derselbe Ausdruck, doch diesmal war es ganz sicherlich nicht der Ausdruck von Neugier und Dankbarkeit, sondern der einer grimmigen Entschlossenheit.
»Aber ihr habt das nicht richtig verstanden«, sagte Prinzessin Marja mit wehem Lächeln. »Warum wollt ihr denn nicht wegfahren? Ich habe euch doch Wohnung und Kost versprochen. Und hier wird euch der Feind nur zugrunde richten …«
Doch ihre Worte wurden wieder von den Stimmen aus der Menge übertönt.
»Wir sind nicht damit einverstanden. Mögen sie uns zugrunde richten! Dein Getreide nehmen wir nicht, wir sind nicht einverstanden!«
Wieder bemühte sich Prinzessin Marja, irgendeinen Blick aus der Menge aufzufangen, aber kein einziger war auf sie gerichtet, alle Augen schienen sie zu meiden. Es war ihr sonderbar und peinlich zumute.
»Sieh mal, die fängt’s geschickt an! … Folg ihr nur noch in die Leibeigenschaft … Steck dein Haus an und kusch dich wieder unter die Knute! … Als ob wir darauf reinfielen … ›Getreide will ich euch geben‹, sagt sie! …« hörte man Stimmen aus der Menge.
Prinzessin Marja ließ den Kopf sinken, trat aus dem Kreis zurück und ging ins Haus. Nachdem sie Dron noch einmal den Befehl erteilt hatte, daß morgen Pferde zur Abreise da sein sollten, begab sie sich auf ihr Zimmer und blieb hier allein mit ihren Gedanken.
Diese Nacht saß Prinzessin Marja lange am offenen Fenster in ihrem Zimmer und lauschte auf die Stimmen der Bauern, die vom Dorf her zu ihr herüberdrangen. Aber ihre Gedanken waren nicht bei ihnen. Sie fühlte, daß sie sie nicht verstehen konnte, soviel sie auch über sie nachdenken mochte. Sie dachte immer nur an das eine: an ihr Leid, das jetzt nach der Unterbrechung, die es durch die Sorgen um die Gegenwart erfahren hatte, für sie schon zu etwas Vergangenem geworden war. Sie konnte sich jetzt wieder erinnern, konnte weinen, konnte lachen.
Mit Sonnenuntergang hatte sich auch der Wind gelegt. Die Nacht war still und kühl. Gegen zwölf Uhr verklangen die Stimmen allmählich. Ein Hahn krähte. Hinter den Linden trat der Vollmond hervor. Ein frischer weißer Nebeltau stieg auf, und über dem Dorf und über dem Haus lag tiefe Stille.
Eines nach dem anderen traten die Bilder dieser letzten Vergangenheit ihr wieder vor Augen: die Krankheit und die letzten Augenblicke ihres Vaters. Mit wehmütiger Freude verweilte sie jetzt bei diesen Bildern und verscheuchte nur mit Entsetzen das eine letzte, das Bild seines Todes, das sie nicht imstande war, das fühlte sie, in dieser stillen und geheimnisvollen Stunde der Nacht auch nur in der Erinnerung noch einmal zu schauen. Und diese Bilder traten ihr so klar und mit solchen Einzelheiten vor die Augen, daß sie ihr bald wie etwas Wirkliches, bald wie Vergangenes, bald wie Zukünftiges erschienen.
Einmal kam ihr besonders lebhaft der Augenblick in die Erinnerung zurück, als er den ersten Schlaganfall erlitten und man ihn unter die Arme gefaßt und aus dem Garten in Lysyja-Gory herausgeschleppt hatte. Damals hatte er mit ohnmächtiger Zunge etwas vor sich hingemurmelt, mit den grauen Augenbrauen gezuckt und sie unruhig und schüchtern angesehen.
Er hat mir das schon damals sagen wollen, was er mir an seinem Todestag gesagt hat, dachte sie. Er hat das, was er mir gesagt hat, schon immer gedacht.
Und mit allen Einzelheiten erinnerte sie sich jener Nacht in LysyjaGory, die dem Schlaganfall vorausgegangen war, wo sie, Schlimmes ahnend, gegen seinen Willen bei ihm geblieben war. Sie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können und war auf den Zehen hinübergeschlichen bis zur Tür des Blumenzimmers, in dem ihr Vater diese Nacht hatte schlafen wollen, und hatte seiner Stimme gelauscht. Er hatte in gequältem, müdem Ton mit Tichon gesprochen, hatte ihm von der Krim erzählt, von den heißen Nächten und von der Kaiserin.
Warum hat er mich nicht rufen lassen? Warum erlaubt er mir nicht, an Tichons Stelle bei ihm zu sein? hatte damals Prinzessin Marja gedacht und dachte es auch jetzt wieder. Nun wird er niemals mehr zu jemandem das aussprechen können, was er auf dem Herzen hatte. Nun wird für ihn und für mich niemals der Augenblick wiederkehren, wo er alles, was ihn bedrückte, hätte aussprechen, und wo ich und nicht Tichon ihm hätte zuhören können. Warum bin ich damals nicht ins Zimmer gegangen? dachte sie. Vielleicht hätte er mir schon damals gesagt, was er mir dann an seinem Todestag gesagt hat. Er fragte ja auch damals schon im Gespräch mit Tichon zweimal nach mir. Er wollte mich sehen, und ich stand da, hinter der Tür. Es war langweilig und bedrückend für ihn, sich mit Tichon unterhalten zu müssen, der ihn nicht verstand. Ich weiß noch, wie er mit ihm über Lisa sprach, als lebte sie noch, er hatte ganz vergessen, daß sie gestorben war, und da erinnerte ihn Tichon daran, daß sie doch nicht mehr sei, und er schrie ihn an: Schafskopf! Ihm war damals schwer ums Herz. Ich hörte hinter der Tür, wie er sich ächzend aufs Bett legte und ausrief: Mein Gott! Warum bin ich damals nicht hineingegangen? Was hätte er mir antun können? Was hätte ich zu verlieren gehabt? Vielleicht hätte er sich beruhigt und mir schon damals das Wort gesagt …
Und Prinzessin Marja sprach jenes Kosewort, das er an seinem Todestag zu ihr gesagt hatte, laut vor sich hin.
»Seelchen«, wiederholte sie und fing an zu schluchzen, aber die Tränen erleichterten ihr das Herz.
Und nun sah sie sein Gesicht wieder vor sich. Nicht jenes Gesicht, das sie kannte, solange sie denken konnte, und immer nur von weitem gesehen hatte, sondern jenes schüchterne, schwache Gesicht, das sie, als sie sich niederbeugte, um das, was er sagen wollte, zu vernehmen, zum erstenmal in ihrem Leben mit allen seinen Runzeln und einzelnen Zügen in der Nähe gesehen hatte.
»Seelchen«, wiederholte sie.
Was dachte er wohl, als er das zu mir sagte? Was mag er jetzt denken? kam es ihr plötzlich in den Sinn. Und zur Antwort darauf sah sie ihn vor sich mit jenem Ausdruck, den sein mit dem weißen Tuch umwundenes Gesicht im Sarge getragen hatte. Und jenes Grauen, das damals über sie gekommen war, als sie ihn berührt und sich überzeugt hatte, daß dies nicht er selber, sondern etwas Geheimnisvolles, Abstoßendes war, ergriff sie auch jetzt wieder. Sie wollte an etwas anderes denken, wollte beten, konnte aber nichts von alledem tun. Mit großen, weit geöffneten Augen betrachtete sie den Mond und seine Schatten. Sie wartete darauf, jeden Augenblick das tote Antlitz ihres Vaters vor sich zu sehen, und fühlte, wie die Stille, die in und über dem Hause lag, sie wie ein eiserner Ring umschmiedete.
»Dunjascha!« stieß sie hervor. »Dunjascha!« schrie sie dann mit wilder Stimme auf, riß sich aus der Stille los und lief nach dem Mädchenzimmer, den herbeieilenden Zofen und der Kinderfrau entgegen.
Am 17. August machten Rostow und Iljin, von dem soeben aus der Gefangenschaft zurückgekehrten Lawruschka und einer Husarenordonnanz begleitet, von ihrem Haltepunkt Jankowo, das fünfzehn Werst von Bogutscharowo entfernt lag, einen Spazierritt, um Iljins neugekauftes Pferd zu probieren und zu erkunden, ob es in den umliegenden Dörfern noch Heu gebe.
Bogutscharowo befand sich seit den letzten drei Tagen zwischen den beiden feindlichen Armeen, so daß sich ebenso leicht russische Nachhut wie französische Vorhut dort einfinden konnte, und deshalb wollte Rostow als vorsorglicher Eskadronchef den Franzosen zuvorkommen und sich allen Proviant zunutze machen, der in Bogutscharowo zurückgeblieben war.
Rostow und Iljin waren in vergnügtester Stimmung. Auf dem Weg nach Bogutscharowo, einem fürstlichen Gut mit einem Herrenhaus, wo sie eine Menge Gutsgesinde und darunter auch hübsche Mädchen zu finden hofften, fragten sie bald Lawruschka über Napoleon aus und lachten über seine Schilderungen, bald ritten sie um die Wette, um Iljins Pferd zu probieren.
Rostow wußte nicht und dachte auch nicht daran, daß jenes Gut, wohin er ritt, die Besitzung jenes selben Bolkonskij war, der mit seiner Schwester verlobt gewesen war.
Kurz vor dem Dorf ließen sie die Pferde den Berg hinunter zum letztenmal um die Wette laufen, und Rostow, der Iljin überholt hatte, ritt als erster in die Dorfstraße von Bogutscharowo ein.
»Du bist doch wieder vorgekommen«, sagte Iljin mit hochrotem Kopf.
»Ja, ich komme immer vor, schon vorhin auf der Wiese und nun hier auch wieder«, erwiderte Rostow und beklopfte lobend sein schaumbedecktes Donpferd mit der Hand.
»Aber ich auf meinem Franzosen, Euer Erlaucht«, rief Lawruschka von ganz hinten, indem er seinen Droschkengaul einen Franzosen nannte, »hätte Sie alle beide überholt, wollte Ihnen nur diese Blamage nicht antun.«
Im Schritt ritten sie an einer Scheune vorbei, vor der eine Menge Bauern standen.
Einige nahmen die Mützen ab, andere behielten sie auf und gafften die Vorüberreitenden an. Zwei alte, lange Kerle mit furchigen Gesichtern und spärlichen Bärten traten gerade lachend aus der Schenke und gingen schwankend und ein ungereimtes Lied singend auf die Offiziere zu.
»Na, Kinder«, sagte Rostow lachend, »habt ihr Heu?«
»Da sieht einer aus wie der andere …«, meinte Iljin.
»Nur immer lu-u-u … lu-u-ustig …«, sang der eine Bauer mit seligem Lächeln.
Einer aus der Menge trat auf Rostow zu.
»Was für welche seid ihr?« fragte er.
»Franzosen«, antwortete Iljin lachend. »Hier, das ist Napoleon selber«, sagte er und wies auf Lawruschka.
»Also seid ihr doch wohl Russen?« fragte der Bauer noch einmal.
»Seid ihr viele hier in der Gegend?« fragte ein anderer kleinerer Bauer und trat hinzu.
»Massenhaft«, entgegnete Rostow. »Aber warum habt ihr euch denn hier versammelt?« fuhr er fort. »Ihr habt wohl Feiertag heute?«
»Die Alten haben sich wegen Gemeindeangelegenheiten versammelt«, entgegnete der Bauer und trat wieder beiseite.
In diesem Augenblick tauchten auf dem Weg vom Herrenhause zwei Frauen und ein Mann in weißem Hut auf, die auf die Offiziere zukamen.
»Die im rosa Kleid gehört mir! Daß keiner mir die abspenstig macht!« sagte Iljin, als er Dunjascha erblickte, die ohne zu zögern auf ihn zulief.
»Ja, die gehört uns«, sagte Lawruschka und blinzelte Iljin zu.
»Was willst du, mein schönes Kind?« fragte Iljin.
»Die Prinzessin hat mir befohlen zu fragen, von welchem Regiment die Herren Offiziere sind, und wie sie heißen.«
»Dies ist Graf Rostow, der Eskadronchef, und ich bin Euer gehorsamster Diener.«
»Lu-u-u … lu-u-ustig! …«, sang der betrunkene Bauer, und sah mit glücklichem Lächeln Iljin zu, wie er sich mit dem Mädchen unterhielt.
Hinter Dunjascha trat Alpatytsch an Rostow heran. Er hatte schon von weitem den Hut abgenommen.
»Ich wage, Sie zu belästigen, Euer Erlaucht«, sagte er ehrerbietig, aber doch auch etwas geringschätzig im Hinblick auf die Jugend der beiden Offiziere, und schob seine Hand vorn auf der Brust in den Rock. »Meine Herrin, die Tochter des am 15. verschiedenen Generals en chef Fürsten Nikolaj Andrejewitsch Bolkonskij, befindet sich wegen der Roheit dieser Leute« – er zeigte auf die Bauern – »in einer schwierigen Lage und läßt Sie zu sich bitten … würden Sie nicht vielleicht«, fuhr Alpatytsch mit trübem Lächeln fort, »etwas zur Seite reiten, es ist ja nicht gerade angenehm bei diesen …« Alpatytsch wies auf die beiden betrunkenen Bauern, die sie von hinten umschwärmten wie Bremsen ein Pferd.
»Ah! … Alpatytsch … Ah, Jakow Alpatytsch … Großartig! Sei nur nicht böse, um Christi willen … Großartig! Nicht?« riefen die Bauern und lachten ihm vergnügt zu.
Rostow sah die Betrunkenen an und lächelte.
»Oder vielleicht ergötzt das Euer Erlaucht?« fragte Jakow Alpatytsch mit gemessener Miene und zeigte mit der andern Hand, die er nicht vorn in den Rock gesteckt hatte, auf die beiden Alten.
»Nein, nein, das ist wenig ergötzlich«, sagte Rostow und ritt weiter. »Worum handelt es sich also?« fragte er.
»Ich erlaube mir, Euer Erlaucht zu melden, daß das rohe Volk hier seine Herrin nicht von ihrem Gut fortlassen will und damit droht, ihr die Pferde auszuspannen. Seit heute morgen steht alles gepackt da, und Ihre Durchlaucht kann nicht abfahren.«
»Das ist doch nicht möglich!« rief Rostow aus.
»Ich habe die Ehre, Ihnen die reine Wahrheit zu melden«, beteuerte Alpatytsch.
Rostow stieg vom Pferd, übergab es der Ordonnanz und ging mit Alpatytsch ins Haus, wobei er sich die Sache mit allen Einzelheiten erzählen ließ.
Tatsächlich hatten der gestrige Vorschlag der Prinzessin, den Bauern Getreide zu geben, und ihre Auseinandersetzungen mit Dron und der Volksmenge die ganze Sache so verfahren, daß Dron endgültig die Schlüssel abgegeben und sich auf die Seite der Bauern geschlagen hatte und auf Alpatytschs Ruf nicht mehr erschienen war. Und als am nächsten Morgen die Prinzessin anzuspannen befohlen hatte, um abzufahren, waren die Bauern scharenweise vor die Scheune geströmt und hatten ihr sagen lassen, daß sie die Prinzessin nicht aus dem Dorf lassen würden: es sei ein Befehl ergangen, daß niemand fortfahren solle, und sie würden ihr, wenn sie führe, die Pferde ausspannen. Alpatytsch war mehrmals zu ihnen hinausgegangen, um sie zu ermahnen, aber man hatte ihm zur Antwort gegeben, wobei Karp das große Wort geführt, während sich Dron in der Menge versteckt hatte, daß man die Prinzessin unmöglich weglassen könne, da der Befehl da sei, und daß die Prinzessin nur dableiben möge, dann wolle man ihr auf die alte Weise dienen und in allem gehorsam sein.
In dem Augenblick, als Rostow und Iljin in die Dorfstraße eingeritten waren, hatte Prinzessin Marja, obgleich Alpatytsch, die Kinderfrau und die Mädchen ihr abgeraten hatten, anzuspannen befohlen und abfahren wollen, als aber die heransprengenden Kavalleristen in Sicht gekommen waren, hatte man sie für Franzosen gehalten: die Kutscher waren ausgerissen, und die Frauen hatten im Haus ein Jammergeschrei erhoben.
»Väterchen! Beschützer! Dich hat Gott gesandt!« riefen gerührte Stimmen, als Rostow durch das Vorzimmer schritt.
Prinzessin Marja saß mutlos und erschöpft im Saal, als man Rostow zu ihr führte. Sie verstand weder, wer er war und warum er kam, noch was aus ihr werden würde. Doch als sie sein russisches Gesicht erblickte und an seinem Eintreten und dem ersten von ihm gesprochenen Wort einen Menschen ihrer eignen Gesellschaftskreise in ihm erkannte, warf sie ihm einen tiefen, leuchtenden Blick zu und fing mit abgerissener, vor Erregung zitternder Stimme zu reden an.
Auch Rostow fand in dieser Begegnung etwas Romantisches. Ein schutzloses, vom Leid niedergebeugtes Mädchen allein, der Willkür roher, aufrührerischer Bauern ausgesetzt! Und was für ein sonderbares Schicksal führt mich in diesem Augenblick hierher! dachte Rostow, während er ihr zuhörte und sie ansah. Und wie sanft, wie edel ihre Züge und ihr Gesichtsausdruck sind! dachte er und lauschte ihrer schüchternen Erzählung.
Als sie davon anfing, daß sich dies alles einen Tag nach der Beerdigung ihres Vaters zugetragen habe, fing ihre Stimme an zu zittern. Sie wandte sich ab, richtete dann aber sogleich, aus Angst, Rostow könne ihre Worte für einen Versuch, ihn zu rühren, halten, einen fragenden, erschrockenen Blick auf ihn. Rostow standen Tränen in den Augen. Prinzessin Marja bemerkte dies und sah ihn dankbar und mit einem jener leuchtenden Blicke an, die die Häßlichkeit ihres Gesichtes vergessen machten.
»Ich kann gar nicht sagen, Prinzessin, wie glücklich ich bin, daß der Zufall mich hierhergeführt hat und ich nun imstande sein werde, Ihnen meine Dienstbereitschaft zu beweisen«, sagte Rostow und erhob sich. »Bitte, reisen Sie getrost ab, ich stehe Ihnen mit meiner Ehre dafür, daß kein Mensch es wagen wird, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, wenn Sie mir nur erlauben wollen, Sie zu geleiten.« Und er verbeugte sich so ehrerbietig vor ihr, wie man sich vor Damen kaiserlichen Blutes zu verneigen pflegt, und wandte sich zur Tür.
Durch diese Ehrerbietung im Ton schien Rostow zeigen zu wollen, daß, obgleich er es für ein Glück ansah, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, er doch ihr Unglück nicht ausnutzen wolle, um ihr näherzutreten.
Prinzessin Marja verstand ihn und wußte diesen Ton zu schätzen.
»Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar«, sagte sie auf französisch, »und hoffe, daß dies alles nur ein Mißverständnis ist, an dem niemand die Schuld trägt.« Sie fing plötzlich an zu weinen. »Verzeihen Sie«, sagte sie.
Rostow verbeugte sich noch einmal sehr ernst und tief vor ihr und verließ das Zimmer.
»Nun wie war’s? Ist sie hübsch? Nein, Bruder, meine Rosafarbene ist einfach entzückend. Dunjascha heißt sie …«
Aber Iljin verstummte, als er in Rostows Gesicht blickte. Er sah, daß sich sein Held und Kommandeur in einer ganz anderen Stimmung befand. Rostow sah Iljin zornig an und ging, ohne ihm Antwort zu geben, mit hastigen Schritten dem Dorf zu.
»Ich werde es ihnen schon zeigen, werde es ihnen schon stecken, diesem Gesindel!« brummte er vor sich hin.
Mit fliegenden Schritten, nur um nicht gerade im Sturmschritt zu laufen, eilte Alpatytsch hinter ihm her, konnte ihn aber auch in diesem Trab kaum einholen.
»Was für einen Entschluß haben Sie zu fassen geruht?« fragte er, als er ihn erreicht hatte.
Rostow blieb stehen und trat plötzlich mit geballten Fäusten drohend an Alpatytsch heran.
»Entschluß? Was für einen Entschluß? Alter Knacks!« schrie er ihn an. »Hast wohl ruhig zugesehen? Was? Die Bauern sind aufständisch, und du verstehst nicht, mit ihnen fertig zu werden? Bist wohl selber ein Verräter? Ich kenne euch, das Fell sollte man euch allen abziehen …« Und als fürchte er, seinen Vorrat an heißem Zorn umsonst zu verpuffen, ließ er Alpatytsch stehen und ging schnell weiter.
Alpatytsch unterdrückte das Gefühl der Kränkung, eilte hastigen Schrittes hinter Rostow her und fuhr fort, ihm seine Erwägungen mitzuteilen. Er sagte, die Bauern seien verstockt und es wäre im Augenblick unklug, gegen sie anzukämpfen, solange man kein Militärkommando hinter sich habe. Ob es nicht besser wäre, vorerst ein Militärkommando holen zu lassen?
»Ich werde es ihnen schon einbleuen, das Militärkommando … Ich werde schon mit ihnen fertig werden«, rief Nikolaj unbedacht, der an seinem unsinnigen, tierischen Zorn und an der Gier, diesen Zorn auszulassen, fast erstickte.
Ohne zu wissen, was er tun werde, näherte sich Rostow mit unbewußt schnellem, entschiedenem Schritt der Menge. Und je näher er ihr kam, um so sicherer fühlte Alpatytsch, daß sein unsinniges Vorgehen ein gutes Resultat zeitigen werde. Und dasselbe fühlten auch die Bauern, als sie Rostows schnellen festen Gang und sein entschlossenes, finsteres Gesicht sahen.
Nachdem die Husaren ins Dorf eingeritten waren und sich Rostow zur Prinzessin begeben hatte, war in der Menge Verwirrung und Zwiespalt entstanden. Ein paar Bauern meinten, die Ankömmlinge seien doch Russen, und wie sollten sie da nicht empört darüber sein, daß man die Herrin nicht fortlassen wolle. Dron war derselben Ansicht, sobald er sie aber nur auszusprechen versuchte, fielen Karp und andere Bauern sogleich über den ehemaligen Dorfschulzen her.
»Jahrelang hast du die Gemeinde ausgesogen!« schrie ihn Karp an. »Dir kann alles gleich sein. Du gräbst dir deinen Pott mit Gold aus der Erde und bringst ihn in Sicherheit; was kümmert’s dich, ob unsere Häuser zerstört werden oder nicht?«
»Es ist so befohlen worden, damit Ordnung bleiben soll. Keiner darf sein Haus verlassen. Nicht ein Pulverkörnchen soll fortgeschafft werden. Alles soll hier bleiben!« rief ein anderer.
»Dein Sohn wäre an der Reihe gewesen«, fiel plötzlich ein kleiner Alter ebenfalls über Dron her, »aber dir ist wahrscheinlich dein vollgefressener Junge für die Soldaten zu schade gewesen, und da hast du meinem Wanka den Kopf scheren lassen. Aber es gibt eine Vergeltung nach dem Tode!«
»Ja, ja, eine Vergeltung nach dem Tode!«
»Ich bin kein Verräter an der Gemeinde gewesen«, warf Dron ein.
»Ja, natürlich, kein Verräter, aber einen Bauch hast du dir dabei angefressen! …«
Und die beiden Langen, die Betrunkenen, gaben ebenfalls ihren Senf dazu.
Als Rostow, von Iljin, Lawruschka und Alpatytsch begleitet, bei der Menge anlangte, trat Karp, den Finger in den Gürtel gesteckt, mit leisem Lächeln vor. Dron dagegen verkroch sich in den hinteren Reihen. Die Menge rückte enger zusammen.
»He! Wer ist denn hier der Dorfschulze?« schrie Rostow und trat mit raschen Schritten auf die Menge zu.
»Der Dorfschulze? Was wollen Sie …?« fragte Karp zurück.
Aber er hatte noch nicht Zeit gehabt auszureden, als ihm die Mütze herunterflog, und sein Kopf infolge eines schweren Schlages zur Seite taumelte.
»Die Mützen herunter, ihr Verräter!« schrie Rostows rassige Stimme. »Wo ist der Dorfschulze?« brüllte er wütend noch einmal.
»Den Dorfschulzen, den Dorfschulzen verlangt er … Dron Sacharytsch, Sie …«, hörte man hier und dort hastig fügsame Stimmen flüstern, und die Mützen wurden abgenommen.
»Wir können uns gar nicht auflehnen, wir müssen auf Ordnung halten«, murmelte Karp, und ein paar andere Stimmen im Hintergrund fielen zu gleicher Zeit ein: »Wie die Alten beschlossen haben … Ihr könnt uns mit eurer Obrigkeit viel …«
»Aufrührerische Reden wollt ihr führen? … Euch auflehnen? … Ihr Räuber! Ihr Verräter!« schrie Rostow wie ein Unsinniger mit einer Stimme, die nicht seine eigne war, und packte Karp am Kragen. »Bindet ihn! Bindet ihn!« brüllte er, obgleich niemand da war, der ihn hätte binden können, außer Lawruschka und Alpatytsch.
Dennoch lief Lawruschka auf Karp zu und packte ihn von hinten an den Armen. »Soll ich unsere Leute hinterm Berg herbeirufen?« schrie er.
Alpatytsch wandte sich an die Bauern und rief zwei mit Namen auf, die Karp binden sollten. Die Bauern traten gehorsam aus der Menge heraus und nahmen ihre Leibgurte ab.
»Wo ist der Dorfschulze?« schrie Rostow.
Mit finsterem, bleichem Gesicht trat Dron aus der Menge.
»Bist du der Dorfschulze? Binden, Lawruschka!« schrie Rostow, als könne auch dieser Befehl auf keinen Widerstand stoßen.
Und wirklich fingen noch zwei andere Bauern an, Dron zu binden, der, wie um ihnen zu helfen, seinen Gurt abnahm und ihn den beiden reichte.
»Und ihr anderen alle paßt mal auf!« Rostow wandte sich an die Bauern: »Jetzt geht’s marsch nach Hause, daß ich nichts mehr von euch höre noch sehe!«
»Was denn, wir haben doch gar nichts Unrechtes getan … Das war doch nur aus Dummheit … Damit haben wir nur Blödsinn angerichtet … Ich habe doch gleich gesagt, daß das wider die Ordnung ist …«, hörte man Stimmen, wobei einer dem andern Vorwürfe machte.
»Das habe ich euch doch gleich gesagt«, rief Alpatytsch, der nun wieder in seine Rechte eintrat. »Das war nicht schön, Kinder!«
»Eine Dummheit war’s von uns, Jakow Alpatytsch«, erwiderten ein paar Stimmen, und die Menge ging sogleich auseinander und zerstreute sich im Dorf.
Die zwei gebundenen Bauern wurden auf den Gutshof geführt. Die beiden Betrunkenen torkelten hinterher.
»Ei, schau, schau, wie dir’s ergangen ist!« sagte der eine zu Karp.
»Darf man denn so mit der Herrschaft reden? Was denkst du dir denn! Ein Schafskopf bist du«, bestätigte der andere. »Wirklich, ein Schafskopf!«
Zwei Stunden später standen die Fuhren auf dem Hof vor dem Herrenhause von Bogutscharowo. Die Bauern trugen lebhaft die Sachen der Herrschaft heraus und luden sie auf den Wagen, und Dron, der auf Prinzessin Marjas Bitte aus dem dunklen Loch, in das man ihn eingesperrt hatte, wieder herausgelassen worden war, stand auf dem Hof und stellte die Bauern an.
»Lade sie nicht so schlecht auf«, sagte einer der Bauern, ein langer Mensch mit einem runden, lächelnden Gesicht, zu einem andern, der aus den Händen eines Stubenmädchens eine Schatulle entgegengenommen hatte. »Die hat doch auch Geld gekostet. Wenn du sie so hineinwirfst und unter den Strick schiebst, wird sie sich abschaben. So etwas mag ich nicht leiden. Es muß immer ehrlich und rechtmäßig zugehen. Siehst du, so unter die Matte und nun noch Heu drauf, so geht es fein.«
»So viele Bücher, so viele Bücher«, staunte ein anderer Bauer, der die Bibliotheksschränke des Fürsten Andrej mit herausschleppte. »Stoßt nicht an! Aber schwer sind die, Kinder! Das sind mal alte gesunde Bücher!«
»Ja, wer die geschrieben hat, wird keine Zeit gehabt haben, alle Tage in die Schenke zu laufen«, meinte der Lange mit dem runden Gesicht und zeigte, bedeutsam blinzelnd, auf die Wörterbücher, die obenauf lagen.
Rostow, der seine Bekanntschaft der Prinzessin nicht aufdrängen wollte, ging nicht wieder zu ihr, sondern blieb im Dorf, um dort ihre Abreise abzuwarten. Als dann die Wagen der Prinzessin Marja vom Herrenhaus abfuhren, bestieg Rostow sein Pferd und geleitete sie etwa zwölf Werst bis auf den Weg, den unsere Truppen besetzt hatten. In der Herberge von Jankowo verabschiedete er sich ehrerbietig von ihr und erlaubte sich zum erstenmal, ihr die Hand zu küssen.
»Aber nicht doch, wie können Sie nur …«, erwiderte er errötend der Prinzessin Marja, die ihm für ihre Rettung, wie sie seine Tat nannte, ihren wärmsten Dank aussprach. »Jeder Polizeisoldat hätte dasselbe getan. Wenn wir nur gegen Bauern zu kämpfen hätten, wäre der Feind nicht so weit ins Land eingedrungen«, sagte er wie beschämt und bemüht, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Ich bin nur glücklich, daß ich dadurch Gelegenheit hatte, Ihre Bekanntschaft zu machen. Leben Sie wohl, Prinzessin, ich wünsche Ihnen Glück und Trost und hoffe, unter glücklicheren Umständen einmal wieder mit Ihnen zusammenzutreffen. Wenn Sie mich nicht erröten machen wollen, so danken Sie mir bitte nicht.«
Doch wenn ihm Prinzessin Marja nun auch nicht mehr mit Worten dankte, so tat sie es doch mit dem ganzen Ausdruck ihres vor Dankbarkeit und Innigkeit strahlenden Gesichtes. Sie konnte das nicht glauben, daß sie ihm nichts zu danken habe. Im Gegenteil, es stand für sie ganz zweifellos fest, daß sie, wenn er nicht gewesen wäre, entweder die Beute der Aufrührer oder der Franzosen geworden wäre. Sie wußte, daß er, nur um sie zu retten, sich selber offenkundigen, schrecklichen Gefahren ausgesetzt hatte, und deshalb war sie überzeugt, daß er ein Mensch von hochherzigem edlem Charakter war, der für ihre Lage und ihren Kummer Verständnis hatte. Immer wieder mußte sie an seine guten, ehrlichen Augen denken, und wie ihm die Tränen gekommen waren, als sie ihm, selber weinend, von ihrem Verlust erzählt hatte.
Als sich Rostow von Prinzessin Marja verabschiedet hatte und sie allein geblieben war, fühlte sie plötzlich, wie ihr die Tränen in die Augen traten, und es drängte sich ihr – nicht zum erstenmal – die sonderbare Frage auf, ob sie ihn liebe.
Auf der Weiterfahrt nach Moskau bemerkte Dunjascha, die mit Prinzessin Marja in einem Wagen fuhr, daß die Prinzessin, obgleich ihre Lage alles andere als erfreulich war, mitunter den Kopf zum Fenster hinausbog und wehmütig freudig lächelte.
Nun, was wäre dabei, wenn ich ihn wirklich liebte? dachte Prinzessin Marja.
Wenn sie sich auch über das Eingeständnis schämte, daß sie einen Mann liebe, dem es vielleicht nie in den Sinn käme, ihre Gefühle zu erwidern, so tröstete sie sich doch mit dem Gedanken, daß niemand je etwas davon erfahren werde, und daß es doch keine Sünde sei, wenn sie bis an ihr Lebensende, ohne jemandem etwas davon zu sagen, den Mann lieben werde, der ihre erste und einzige Neigung gewesen war.
Manchmal dachte sie an seine Blicke, seine Teilnahme, seine Worte, und dann schien ihr das Glück beinahe möglich. In jenen Augenblicken bemerkte Dunjascha, daß sie lächelnd zum Wagenfenster hinaussah.
Und daß gerade er nach Bogutscharowo kommen mußte und gerade in diesem Augenblick! dachte Prinzessin Marja. Und daß seine Schwester ihr Verlöbnis mit dem Fürsten Andrej lösen mußte! In alledem erblickte sie den Willen der Vorsehung.
Auf Rostow hatte Prinzessin Marja einen sehr angenehmen Eindruck gemacht. Wenn er an sie dachte, wurde er ganz heiter, und als seine Kameraden, die von seinem Abenteuer in Bogutscharowo gehört hatten, ihn neckten und sagten, er sei zwar nach Heu ausgeritten, habe aber statt dessen die reichste Braut in ganz Rußland aufgegabelt, wurde er ernstlich böse. Er ärgerte sich besonders deshalb so darüber, weil ihm der Gedanke an eine Verheiratung mit der ihm so angenehmen, sanften Prinzessin Marja mit ihrem gewaltigen Vermögen ganz gegen seinen Willen mehr als einmal schon selber durch den Kopf gegangen war. Sich persönlich konnte Nikolaj keine bessere Frau wünschen als Prinzessin Marja, außerdem hätte er durch eine solche Heirat die Gräfin, seine Mutter, glücklich gemacht, die Finanzen seines Vaters aufgebessert und sogar – das fühlte er – Prinzessin Marjas Lebensglück begründet.
Aber Sonja! Und sein Wort, das er ihr gegeben hatte? – Deshalb wurde Rostow böse, wenn er mit der Prinzessin Bolkonskaja geneckt wurde.
Nachdem Kutusow den Oberbefehl über die Armeen übernommen hatte, erinnerte er sich an den Fürsten Andrej und schickte ihm einen Befehl, daß er sich im Hauptquartier einzufinden habe.
Fürst Andrej kam nach Zarewo-Saimischtsche gerade an dem Tag und gerade zu der Zeit, als Kutusow die erste Besichtigung über seine Truppen abhielt. Fürst Andrej hielt im Dorf beim Haus des Geistlichen an, vor dem die Equipage des Oberbefehlshabers stand, und setzte sich auf ein Bänkchen am Torweg, um auf den »Durchlauchtigsten«, wie Kutusow jetzt von allen genannt wurde, zu warten. Vom Feld hinter dem Dorf tönten bald die Klänge der Regimentsmusik, bald das Gebrüll unzähliger Stimmen herüber, die dem Oberkommandierenden Hurra zuriefen. An demselben Torweg, etwa zehn Schritte vom Fürsten Andrej entfernt, standen zwei Burschen, ein Kurier und ein Haushofmeister, die die Abwesenheit des Oberkommandierenden und das schöne Wetter genossen.
Ein kleiner, schwarzer Husarenoberstleutnant mit üppigem Schnurrbart und Backenbart kam auf den Torweg zugeritten, warf einen Blick auf den Fürsten Andrej und fragte, ob hier das Quartier des Durchlauchtigsten sei, und ob dieser bald zurückkomme.
Fürst Andrej erwiderte ihm, er gehöre nicht zum Stabe des Durchlauchtigsten und sei selber eben erst angekommen. Der Husarenoberstleutnant wandte sich an den Burschen des Oberkommandierenden, der in seiner tadellosen Uniform und mit jenem eigentümlich geringschätzigen Ton, den die Burschen der Oberkommandierenden gegen Offiziere anzuschlagen pflegen, zu ihm sagte: »Was? Der Durchlauchtigste? Wird voraussichtlich gleich kommen. Sie wünschen?«
Der Husarenoberstleutnant lächelte ob dieses Tones in seinen Schnurrbart hinein, stieg vom Pferd, übergab es einer Ordonnanz und trat auf Bolkonskij zu, indem er sich leicht vor ihm verbeugte. Bolkonskij rückte auf der Bank beiseite, um ihm Platz zu machen. Der Husarenoberstleutnant setzte sich neben ihn.
»Warten Sie auch auf den Oberkommandierenden?« fragte er. »Es heißt ja, daß jeder bei ihm vorgelassen wird, Gott sei Dank! War das ein Elend bei diesen Wurstfressern! Jermolow hat wirklich nicht umsonst darum gebeten, zum Deutschen befördert zu werden. Jetzt kann doch wenigstens auch ein Russe mal ein Wort sagen. Weiß der Teufel, was die gemacht haben! Immer wieder zurück und immer wieder zurück. Haben Sie den Feldzug mitgemacht?« fragte er.
»Ich hatte das Vergnügen«, erwiderte Fürst Andrej, »nicht nur an diesem Rückzug teilzunehmen, sondern durch ihn auch alles zu verlieren, was mir teuer war … von meinem Vaterhaus und meinen Gütern ganz zu schweigen! Mein Vater ist aus Kummer darüber gestorben. Ich bin aus dem Gouvernement Smolensk.«
»Ah? … Sie sind Fürst Bolkonskij? Freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen: Oberstleutnant Denissow, bekannter unter dem Namen Waska«, sagte Denissow, drückte dem Fürsten Andrej die Hand und betrachtete gutmütig und mit besonderer Aufmerksamkeit Bolkonskijs Gesicht. »Ja, ich hörte es schon«, sagte er teilnehmend und fuhr, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, dann fort: »Da haben wir nun den Skythenkrieg. Das ist ja alles ganz schön und gut, nur nicht für diejenigen, die es am eigenen Leibe spüren müssen. Sie sind also der Fürst Andrej Bolkonskij?« Er wiegte den Kopf hin und her. »Freue mich sehr, Fürst, freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte er noch einmal wie mit einem wehmütigen Lächeln und drückte ihm die Hand.
Fürst Andrej kannte Denissow: Natascha hatte ihm von ihrem ersten Verehrer erzählt. Diese süße und zugleich wehmütige Erinnerung trug ihn nun wieder zu jenen schmerzlichen Gefühlen zurück, an die er in letzter Zeit lange nicht mehr gedacht hatte, die aber trotzdem noch in seiner Seele schlummerten. Er hatte jetzt so viele andere und so ernste Eindrücke gehabt, wie die Preisgabe von Smolensk, seinen Besuch in Lysyja-Gory und die soeben erhaltene Nachricht vom Ableben seines Vaters, daß er schon lange nicht mehr an diese Erinnerung gedacht hatte, und darum wirkte sie auch, wie sie ihm jetzt kam, nicht mehr mit der früheren Kraft auf ihn ein.
Denissow aber fühlte sich durch die Kette der Erinnerungen, die der Name Bolkonskij in ihm wachrief, in eine ferne, längst vergangene poetische Zeit zurückversetzt, wo er einmal nach dem Abendessen und einem Lied Nataschas, ohne selber zu wissen wie, diesem fünfzehnjährigen Mädchen einen Antrag gemacht hatte. Er lächelte über die Erinnerung an jene Zeit und über seine Liebe zu Natascha und ging dann in Gedanken gleich wieder auf das über, was ihn jetzt so leidenschaftlich und ausschließlich beschäftigte.
Es war dies ein Feldzugsplan, den er sich während des Rückzuges, wo er der Vorhut zugeteilt worden war, ausgedacht hatte. Er hatte diesen Plan Barclay de Tolly bereits vorgelegt und beabsichtigte nun, ihn Kutusow zu zeigen. Der Plan gründete sich darauf, daß die Angriffslinie der Franzosen zu weit ausgedehnt sei, und daß wir, statt nur gegen ihre Front zu operieren und ihnen den Weg zu versperren, gleichzeitig auch Vorstöße gegen ihre Verbindungslinien unternehmen müßten. Denissow fing an, dem Fürsten Andrej seinen Plan auseinanderzusetzen.
»Sie können nicht die ganze Linie halten, das ist unmöglich. Ich stehe dafür, daß ich sie durchstoßen werde. Geben Sie mir fünfhundert Mann, dann durchbreche ich sie, das ist ganz sicher. Hier hilft nur ein System – durchschlagen.«
Denissow stand auf, gestikulierte lebhaft und legte Bolkonskij seinen Plan dar. Mitten in seinen Ausführungen erklang noch unharmonischer und ausgedehnter als vorhin vom Platz der Besichtigung herüber das Hurraschreien der Truppen, in das sich Militärmusik und Lieder mischten. Vom Dorf her hörte man Pferdegetrappel und Geschrei.
»Jetzt kommt er selber«, schrie ein Kosak, der am Torweg stand. »Er kommt!«
Bolkonskij und Denissow traten vor das Tor, wo ein Trupp Soldaten, die Ehrenwache, aufmarschiert war, und sahen Kutusow auf einem kleinen, braunen Pferd die Straße entlang geritten kommen. Ein großes Gefolge von Generälen folgte ihm. Barclay de Tolly ritt hinter ihm her und um ihn herum, und alle schrien hurra.
Ihm voran sprengten die Adjutanten in den Hof ein. Kutusow trieb ungeduldig sein Pferd an, einen Paßgänger, der sich leicht unter seiner Last wiegte, nickte in Erwiderung der begeisterten Grüße ununterbrochen, wobei er immer wieder die Hand an seine weiße schirmlose Gardereitermütze legte. Als er bis zur Ehrenwache, den großen, kräftigen Grenadieren, die fast alle mit Orden geschmückt waren und vor ihm salutierten, herangeritten war, sah er sie einen Augenblick schweigend und aufmerksam mit dem starren Blick eines Vorgesetzten an und wandte sich dann an die Schar der Generäle und Offiziere, die um ihn herumstanden. Sein Gesicht nahm plötzlich einen durchgeistigten Ausdruck an, und er zuckte mit einer Geste der Verwunderung die Achseln.
»Und mit solch tüchtigen Kerlen geht man nun immer rückwärts und rückwärts!« sagte er. »Nun, auf Wiedersehen, General«, fügte er hinzu und lenkte sein Pferd, an Fürst Andrej und Denissow vorüber, in den Torweg.
»Hurra! Hurra! Hurra!« rief man ihm nach. Kutusow war in der Zeit, da ihn Fürst Andrej nicht gesehen hatte, noch dicker und aufgedunsener geworden und hatte noch mehr Fett angesetzt. Aber das dem Fürsten Andrej so wohlbekannte weiße Auge, die Narbe und der Ausdruck von Müdigkeit in seiner ganzen Gestalt waren unverändert. Er trug Uniformrock und weiße Gardereitermütze, eine Peitsche an dünnem Riemen hing ihm über die Schulter. Schwer, breit und schwankend saß er auf seinem munteren Pferdchen. »Fju … fju … fju …« pfiff er kaum hörbar, als er in den Hof einritt. Auf seinem Gesicht prägte sich jene Freude auf Ruhe aus, die ein Mensch empfindet, wenn er seinen Repräsentationspflichten nachgekommen ist und nun die Absicht hat, sich auszuruhen. Er zog den linken Fuß aus dem Steigbügel, hob, den ganzen Körper zusammenkrümmend und vor Anstrengung die Stirn runzelnd, das linke Bein mühselig bis zum Sattel, stützte sich mit dem Knie auf und ließ sich ächzend in die Arme der Kosaken und Adjutanten, die ihn auffingen, niederfallen.
Dann richtete er sich auf, sah sich mit zusammengekniffenen Augen um, blickte den Fürsten Andrej an, offenbar ohne ihn zu erkennen, und schritt mit seinem schwankenden Gang der Freitreppe zu. »Fju … fju … fju …« pfiff er wieder vor sich hin und blickte den Fürsten Andrej noch einmal an. Doch wie das bei alten Leuten oft der Fall zu sein pflegt, verknüpfte sich erst nach einigen Augenblicken der Eindruck, den das Gesicht des Fürsten auf ihn machte, mit der Erinnerung an dessen Persönlichkeit.
»Ah, willkommen, Fürst! Willkommen, mein Lieber! Kommen Sie …«, sagte er müde, sah sich nach ihm um und ging mit seinem schweren Schritt die Treppe hinauf, die unter seiner Last ächzte.
Dann knöpfte er sich den Rock auf und setzte sich auf ein Bänkchen, das auf dem Treppenabsatz stand.
»Na, was macht der Vater?«
»Gestern habe ich die Nachricht von seinem Tod erhalten«, erwiderte Fürst Andrej kurz.
Kutusow sah Bolkonskij mit weitgeöffneten, erschrockenen Augen an, dann nahm er die Mütze ab und bekreuzigte sich: »Er ruhe in Frieden! Gottes Wille sei über uns allen!« Er seufzte schwer und aus tiefster Brust und schwieg dann still. »Ich habe ihn aufrichtig geliebt und geachtet und fühle von ganzer Seele mit dir.«
Er umarmte den Fürsten Andrej, drückte ihn an seine fette Brust und ließ ihn lang nicht von sich. Als er ihn dann wieder losließ, bemerkte Bolkonskij, daß seine wulstigen Lippen zitterten und Tränen in seinen Augen standen. Er seufzte und stemmte sich mit beiden Armen auf die Bank, um aufzustehen.
»Komm, komm mit zu mir herein, da können wir miteinander reden«, sagte er.
Indessen war Denissow, der Vorgesetzten gegenüber ebensoviel Mut zeigte wie vor dem Feind, obgleich ihn die Adjutanten mit ärgerlichem Flüstern an der Freitreppe aufzuhalten versucht hatten, kühn und mit den Sporen gegen die Stufen schlagend, die Treppe hinaufgestiegen. Kutusow, die Arme immer noch auf die Bank gestützt, sah ihn unzufrieden an. Denissow nannte seinen Namen und erklärte, er habe Seiner Durchlaucht eine Sache mitzuteilen, die für das Wohl des Vaterlandes von großer Wichtigkeit sei. Kutusow warf einen müden Blick auf Denissow, zog mit ärgerlicher Gebärde die Hände wieder zurück, faltete sie über dem Bauch und sagte: »Für das Wohl des Vaterlandes? Nun, was denn, sprich!«
Denissow wurde rot wie ein Mädchen – dieses Erröten war auf dem alten, bärtigen Trinkergesicht eigentümlich anzusehen – und fing kühn an, seinen Plan über einen Durchbruch der feindlichen Operationslinie zwischen Smolensk und Wjasma auseinanderzusetzen. Denissow hatte selber in dieser Gegend gelebt und kannte das Gelände sehr gut. Der Plan schien zweifellos gut, besonders durch die Kraft der Überzeugung, die in Denissows Worten lag.
Kutusow sah schweigend auf seine Füße nieder und warf nur ab und zu einen Blick auf den Hof des Nachbarhauses, als erwarte er von dorther irgend etwas Unangenehmes. Und wirklich trat aus jenem Haus, wohin er sah, während Denissow sprach, ein General mit einer Aktenmappe unter dem Arm.
»Was?« rief Kutusow mitten durch Denissows Darlegungen hindurch. »Schon fertig?«
»Gewiß, Durchlaucht!« erwiderte der General.
Kutusow schüttelte den Kopf, als wolle er sagen: Wie kann das nur ein einziger Mensch alles fertig bringen! und fuhr dann fort, Denissow zuzuhören.
»Ich gebe mein heiliges Ehrenwort als russischer Offizier«, sagte Denissow, »daß ich Napoleons Verbindungen durchbrechen werde.«
»Bist du mit dem Oberintendanten Kirill Andrejewitsch Denissow verwandt?« unterbrach ihn Kutusow.
»Das ist ein Onkel von mir, Durchlaucht.«
»Oh! Wir waren gute Freunde«, sagte Kutusow heiter. »Schön, schön, mein Lieber; bleibe hier beim Stab. Morgen sprechen wir noch einmal darüber.«
Er nickte Denissow zu, wandte sich dann ab und streckte die Hand nach den Papieren aus, die ihm Konownizyn brachte.
»Wollen Euer Durchlaucht nicht ins Zimmer eintreten«, sagte der General vom Dienst mit unzufriedener Stimme. »Es sind unbedingt ein paar Pläne anzusehen und einige Papiere zu unterschreiben.«
Ein Adjutant trat aus der Tür und meldete, daß im Quartier alles bereit sei. Aber Kutusow wollte sichtlich erst alles erledigt haben, ehe er sich ins Zimmer zurückzog, und runzelte die Stirn.
»Nein, laß ein Tischchen hierher bringen, mein Lieber, ich werde es hier durchsehen«, entgegnete er.
»Bleib du hier«, fügte er zum Fürsten Andrej gewandt hinzu.
Fürst Andrej blieb auf der Freitreppe und hörte zu, was der General vom Dienst meldete.
Während seines Berichtes hörte Fürst Andrej hinter der Haustür das Flüstern von Frauenstimmen und das Knistern seidener Kleider. Nachdem er ein paarmal nach dieser Richtung hingesehen hatte, bemerkte er hinter der Tür eine volle, hübsche Frau in rosafarbenem Kleid und mit einem lilaseidenen Tuch um den Kopf, die eine Schüssel in der Hand hielt und offenbar auf das Eintreten des Oberkommandierenden wartete. Ein Adjutant erklärte dem Fürsten Andrej flüsternd, dies sei die Frau des Hauses, die Gattin des Popen, die Seiner Durchlaucht Salz und Brot entgegenbringen wolle. Ihr Gatte habe Seine Durchlaucht in der Kirche mit dem Kreuz empfangen, und sie erweise ihm nun die Ehre im Hause.
»Eine hübsche Person«, fügte der Adjutant lächelnd hinzu.
Bei diesen Worten drehte sich Kutusow um. Er hörte dem Vortrag des diensttuenden Generals, dessen Hauptinhalt eine Kritik der Stellung bei Zarewo-Saimischtsche war, ebenso zu, wie er soeben Denissow oder vor sieben Jahren das Wortgefecht im Kriegsrat von Austerlitz angehört hatte, hörte offenbar nur aus dem Grund zu, weil er Ohren hatte, die, obwohl in dem einen ein halbes Schiffstau steckte, eben hören mußten. Aber es war klar, daß nichts von allem, was ihm der General vom Dienst auch sagen mochte, Verwunderung oder Interesse in ihm wachrief, ja, daß er im voraus schon ganz genau wußte, was man ihm sagen würde, und das alles nur deshalb anhörte, weil er eben zuhören mußte, so wie man in der Kirche den Betgesang anhören muß. Alles, was Denissow gesagt hatte, war sachlich und klug gewesen. Der Bericht des Generals vom Dienst war noch sachlicher und noch klüger, aber es trat klar zutage, daß Kutusow sowohl Kenntnisse wie auch Geist geringschätzte und etwas anderes für das Entscheidende in der ganzen Sache hielt, etwas anderes, das von Kenntnissen und Geist unabhängig war.
Fürst Andrej beobachtete aufmerksam den Gesichtsausdruck des Oberkommandierenden, und das einzige, was er in ihm feststellen konnte, war Langweile, Neugier, was das Flüstern der Frauenstimmen hinter der Tür wohl zu bedeuten habe, und der Wunsch, den Anstand zu wahren. Es trat klar zutage, daß Kutusow Geist, Kenntnisse und sogar das patriotische Gefühl, das Denissow gezeigt hatte, geringschätzte, aber nicht etwa infolge eignen Verstandes, eignen Gefühles und eigner Kenntnisse, da er sich ja nie bemühte, diese zu zeigen, sondern aus einem ganz anderen Grund. Diese seine Geringschätzung entsprang seinem Alter, seiner Lebenserfahrung. Die einzige Verfügung, die Kutusow während des Berichtes erließ, bezog sich auf das Marodieren der russischen Truppen. Am Schluß seines Vortrags unterbreitete der General vom Dienst Kutusow noch ein Papier zur Unterschrift, demzufolge auf die Klage eines Gutsbesitzers hin mehrere Kommandeure wegen Abmähens von Grünhafer zur Rechenschaft gezogen werden sollten.
Kutusow hörte sich die Sache an, schnalzte mit den Lippen und wiegte den Kopf hin und her.
»In den Ofen … ins Feuer damit! Und ein für allemal sage ich dir, mein Lieber«, fuhr er fort, »alle solche Sachen kommen ins Feuer. Laßt doch die Soldaten das Getreide schneiden und das Holz verbrennen, wenn’s ihnen nur gut geht. Ich habe das weder befohlen noch erlaubt, aber bestrafen kann ich keinen dafür. Ohne dies geht es nun einmal nicht. Wo man Holz hackt, da fallen Späne.« Er warf noch einen Blick auf das Papier. »Oh, diese verdammte deutsche Gewissenhaftigkeit!« brummte er und schüttelte den Kopf.
»So, das wäre alles«, sagte Kutusow, nachdem er das letzte Schriftstück unterzeichnet hatte, und stand schwerfällig auf. Er reckte die Falten seines weißen, dicken Halses glatt und schritt mit heiter werdendem Gesicht auf die Tür zu.
Die Popenfrau bekam einen roten Kopf und griff nach ihrer Schüssel, die sie, obgleich alles schon so lange vorbereitet war, nun beinahe doch nicht rechtzeitig übergeben hätte. Mit einer tiefen Verbeugung reichte sie sie Kutusow hin.
Der Oberkommandierende kniff die Augen zusammen, lächelte, faßte die Popenfrau unter das Kinn und sagte: »Was für ein schönes Kind! Ich danke dir, mein Täubchen!«
Er zog aus der Hosentasche ein paar Goldstücke und legte sie ihr auf die Schüssel.
»Nun, wie lebst du denn hier so?« fragte Kutusow, indem er sich in das für ihn hergerichtete Zimmer begab.
Die Popenfrau lachte, daß man die Grübchen in ihrem frischen Gesicht sah, und trat hinter ihm in die Stube.
Ein Adjutant kam zum Fürsten Andrej auf die Freitreppe hinaus und lud ihn zum Frühstück ein. Nach einer halben Stunde wurde Bolkonskij wieder zu Kutusow hineingerufen.
Kutusow lag in demselben aufgeknöpften Uniformrock auf einem Lehnstuhl. Er hielt ein französisches Buch in der Hand, legte aber beim Eintritt des Fürsten Andrej ein Falzbein hinein und klappte es zu. Es waren »Die Schwanenritter«[161] von Madame de Genlis, wie Fürst Andrej auf dem Umschlag las.
»Na, setz dich, setz dich hierher, wir wollen uns unterhalten«, sagte Kutusow. »Eine traurige Nachricht, sehr traurig. Aber vergiß nicht, mein Freund, daß ich dir ein Vater bin, ein zweiter Vater …«
Fürst Andrej erzählte Kutusow alles, was er vom Tod seines Vaters wußte, und erzählte auch von dem, was er in Lysyja-Gory gesehen hatte, als er dort vorbeigeritten war.
»So weit … so weit haben sie es nun gebracht!« brummte plötzlich Kutusow mit erregter Stimme vor sich hin, offenbar hatte ihm die Erzählung des Fürsten Andrej die Lage, in der sich ganz Rußland befand, klar vor Augen geführt.
»Aber wartet nur, wartet nur noch ein Weilchen!« fügte er mit grimmigem Gesichtsausdruck hinzu und sagte, da er offenbar dies aufregende Gespräch nicht fortsetzen wollte: »Ich habe dich hier hergerufen, um dich bei mir zu behalten.«
»Ich danke Euer Durchlaucht«, erwiderte Fürst Andrej, »aber ich fürchte, ich tauge nicht mehr für den Stab«, sagte er mit einem Lächeln, das Kutusow nicht entging. Kutusow sah ihn fragend an.
»Vor allem«, fuhr Fürst Andrej fort, »habe ich mich an das Regiment gewöhnt, die Offiziere liebgewonnen, und die Mannschaften haben mich, glaube ich, auch ganz gern. Es würde mir leid tun, von diesem Regiment fortzugehen. Wenn ich der Ehre, bei Ihnen zu bleiben, entsage, so können Sie versichert …«
Ein gutmütiger, kluger und zugleich leicht spöttischer Ausdruck leuchtete in Kutusows feistem Gesicht auf. Er unterbrach Bolkonskij.
»Das tut mir leid, du wirst mir fehlen. Aber du hast recht, hast ganz recht. Es ist nicht hier, wo wir Männer brauchen. Ratgeber haben wir genug, aber Männer keine. Wir hätten andre Regimenter, wenn alle, die hier ihren Senf dazu geben, in der Front dienten wie du. Ich sehe dich noch bei Austerlitz, sehe dich noch mit der Fahne in der Hand …« sagte Kutusow zum Fürsten Andrej, dessen Gesicht bei dieser Erinnerung eine freudige Röte überflog.
Kutusow zog ihn an der Hand zu sich heran, hielt ihm seine Wange zum Kuß hin, und wieder sah Fürst Andrej Tränen in den Augen des alten Mannes. Obgleich Fürst Andrej wußte, daß Kutusow überhaupt leicht zu Tränen neigte und, aus dem Wunsch heraus, ihm Teilnahme an seinem Verlust zu zeigen, heute besonders liebenswürdig und mitfühlend gegen ihn war, so freute er sich doch über diese anerkennende Erinnerung an Austerlitz und war stolz darauf.
»Geh du mit Gott deinen eignen Weg. Ich weiß, daß dein Weg ein Weg der Ehre sein wird.« Er schwieg. »Ich habe schon in Bukarest bedauert, daß du nicht dort warst, hätte nach dir schicken sollen.« Dann sprang Kutusow auf ein anderes Thema über und fing vom Türkischen Krieg und Friedensschluß zu reden an.
»Ja, da haben sie mir nicht wenig Vorwürfe gemacht«, fuhr Kutusow fort, »sowohl für den Krieg als auch für den Frieden. Aber es kam alles zur rechten Zeit. Tout vient à point à celui qui sait attendre. Und auch dort waren nicht weniger Ratgeber als hier …«, fügte er hinzu, wieder auf die Berater zurückkommend, die ihn offenbar beschäftigten. »Ach, diese Ratgeber, diese Ratgeber!« sagte er. »Hätte ich auf die alle gehört, so säßen wir jetzt noch in der Türkei, hätten noch keinen Frieden geschlossen und den Krieg noch nicht beendet. Alles soll immer sehr schnell gehen, aber schließlich kommt es doch so, daß das Schnelle immer am längsten dauert. Wenn Kamenskij nicht gestorben wäre, so wäre er verloren gewesen. Mit dreißigtausend Mann stürmte er Festungen. Eine Festung zu nehmen, ist nicht schwer, aber es ist schwer, einen Feldzug zu gewinnen. Zu diesem Zweck muß man weder stürmen noch attackieren, aber man braucht Geduld und Zeit. Kamenskij führte gegen Rustschuk Soldaten ins Treffen, ich dagegen nur diese beiden Kämpen: Geduld und Zeit, und habe damit mehr Festungen genommen als Kamenskij und die Türken gezwungen, Pferdefleisch zu essen.« Er wiegte den Kopf hin und her. »Und die Franzosen, traut meinem Wort«, fuhr er erregt fort und schlug sich vor die Brust, »werde ich auch noch so weit bringen, daß sie Pferdefleisch essen!« Und wieder traten ihm Tränen in die Augen.
»Aber wir werden doch wohl eine Schlacht annehmen müssen?« fragte Fürst Andrej.
»Man wird wohl müssen; wenn es alle wollen, wird nichts zu machen sein … Aber glaube mir, mein Lieber, es gibt keine stärkeren Kämpen als diese beiden: Geduld und Zeit; die schaffen alles. Die Ratgeber aber n’entendent pas de cette oreille, voilà le mal. Die einen wollen, die andern wollen wieder nicht. Was soll man also tun?« fragte er, sichtlich auf Antwort wartend. »Ja, was würdest du da befehlen?« wiederholte er, und aus seinem Auge leuchtete ein tiefer, kluger Blick.
»Ich werde dir sagen, was man tun muß«, fuhr er fort, da Fürst Andrej keine Antwort gab. »Ich werde dir sagen, was man tun muß und was ich tun werde. Dans le doute, mon cher« – er hielt inne – »abstiens-toi«, vollendete er dann nach dieser kleinen Pause. »Und nun lebe wohl, lieber Freund, denke daran, daß ich deinen Verlust von ganzem Herzen mit dir trage und für dich nicht der Durchlauchtigste, nicht Fürst und nicht Oberkommandierender bin, sondern ein Vater. Wenn du etwas brauchst, wende dich direkt an mich. Leb wohl, Lieber!«
Wieder umarmte und küßte er ihn. Fürst Andrej war noch nicht zur Tür hinaus, als Kutusow erleichtert aufatmete und sich wieder in seinen begonnenen Roman, »Die Schwanenritter« von Madame de Genlis, vertiefte.
Wie und woher das kam, das konnte sich Fürst Andrej nicht erklären, aber er kehrte nach diesem Zusammensein mit Kutusow beruhigt zu seinem Regiment zurück, beruhigt hinsichtlich des Standes der Dinge im allgemeinen wie auch hinsichtlich der Persönlichkeit, deren Händen das Ganze anvertraut war. Je mehr er einsah, daß alles Persönliche diesem Greis fehlte, dem an Stelle der Leidenschaften gewissermaßen nur deren gewohnter Ausdruck und an Stelle des Verstandes, der die Ereignisse gruppiert und Schlüsse daraus zieht, nur die Fähigkeit geblieben war, den Gang der Dinge ruhig zu überschauen – um so ruhiger war er darüber, daß alles so getan werde, wie es getan werden mußte.
Er wird nichts Eignes hervorbringen, wird nichts sich ausdenken, nichts unternehmen, dachte Fürst Andrej, aber er wird alles anhören, wird an alles denken, jedes Ding an seinen Platz stellen, nichts Nützliches hindern und nichts Schädliches erlauben. Er sieht ein, daß es etwas Stärkeres und Bedeutsameres gibt als seinen Willen: den unentrinnbaren Gang der Ereignisse. Und er versteht diese Ereignisse zu sehen, ihre Bedeutung zu erfassen und sich im Hinblick auf diese Bedeutung der Teilnahme an diesen Ereignissen und eines persönlichen, auf etwas anderes gerichteten Willens zu enthalten. Vor allem aber, dachte Fürst Andrej, glaube ich an ihn deshalb, weil er ein Russe ist – wenn er auch Romane von Madame de Genlis liest und französische Sprichwörter zitiert –, glaube an ihn deshalb, weil seine Stimme zitterte, als er sagte: So weit haben sie es gebracht! und er zu schluchzen anfing bei den Worten: Ich werde sie zwingen, Pferdefleisch zu essen.
Auf diesen selben Gefühlen, die auch alle anderen mehr oder weniger klar empfanden, war der einstimmige Beifall gegründet, den die Wahl Kutusows zum Oberkommandierenden, höfischen Anschauungen zuwiderlaufend, im Volke fand.
Nach des Kaisers Abreise aus Moskau ging dort das Leben wieder seinen früheren gewohnten Gang, und zwar war dieses Leben jetzt wieder so alltäglich, daß man sich nur mit Mühe an die kaum verflossenen Tage patriotischer Hingebung und Begeisterung erinnern und sich nur schwer vorstellen konnte, daß Rußland wirklich in Gefahr war und die Mitglieder des englischen Klubs gleichzeitig auch Söhne des Vaterlandes seien, die zu jedem Opfer bereit waren. Das einzige, was an die allgemeine begeistert-patriotische Stimmung während des Aufenthaltes Seiner Majestät in Moskau noch erinnerte, war das Einfordern der damals zum Opfer gebrachten Leute und Geldsummen, weil diese Spenden, sobald man sie einmal dargebracht hatte, in gesetzlich offizieller Form festgelegt worden waren, so daß man nun nicht mehr um sie herum konnte.
Daß der Feind der Stadt immer näher kam, ließ die Moskauer nicht nur nicht ernster über ihre Lage denken, sondern stimmte sie im Gegenteil fast noch leichtsinniger, wie das bei Leuten, die eine große Gefahr herannahen sehen, immer der Fall zu sein pflegt. Beim Nahen einer Gefahr erheben sich in der Seele des Menschen immer zwei Stimmen mit gleicher Stärke: die eine rät vernünftig, man solle in das innerste Wesen der Gefahr eindringen und auf Mittel sinnen, sie abzuwehren, die andere meint noch vernünftiger, es sei doch zu bedrückend und qualvoll, immer nur an die Gefahr zu denken, da es doch einmal nicht in des Menschen Macht stehe, alles vorauszusehen und dem allgemeinen Gang der Dinge zu entgehen, und deshalb sei es besser, sich von allem Schweren abzukehren, solange es noch nicht hereingebrochen sei, und lieber an etwas Angenehmes zu denken. Wenn der Mensch allein ist, hört er meistenteils auf die erste Stimme, befindet er sich in Gesellschaft, folgt er fast immer der zweiten. Ähnlich ging es auch jetzt den Einwohnern Moskaus. So lustig war man in der Stadt lange nicht gewesen wie in diesem Jahr.
Rastoptschins Flugblätter, auf denen oben eine Schenke abgebildet war mit dem Schankwirt und dem Moskauer Kleinbürger Karpuschka Tschigirin, »der, als Landwehrmann eingezogen, ein Gläschen zu viel hinter die Binde gießt, und, wie er hört, daß Bonaparte nach Moskau kommen will, schrecklich in die Wolle gerät und mit allen nur möglichen Schimpfworten über die Franzosen herfällt, vor die Tür der Schenke tritt und unter dem kaiserlichen Adler zu dem sich um ihn scharenden Volk spricht« – diese Flugblätter wurden genauso gelesen und besprochen wie die letzten Reime Wassilij Lwowitsch Puschkins[162].
Im Eckzimmer des Klubs kam man zusammen, um diese Flugblätter zu lesen, und manch einer hatte sein Wohlgefallen daran, wie sich Karpuschka über die Franzosen lustig machte, indem er sagte, das aufgeblasene Wesen komme bei ihnen vom Kohlfressen, sie drohten vor lauter Grütze fast zu bersten, aber die russische Kohlsuppe werde ihnen schon noch im Halse stecken bleiben, denn das seien ja alles nur Zwerge, und ein einziges russisches altes Weib werfe ihrer drei mit der Mistgabel um.
Andere hinwiederum waren mit diesem Ton nicht einverstanden und sagten, das sei dumm und gemein. Man erzählte sich, Rastoptschin habe die Franzosen und sogar auch alle andren Ausländer aus Moskau verwiesen, unter denen sich Spione und Agenten Napoleons befunden hätten. Aber das erzählte man sich vorzugsweise aus dem Grund, um bei dieser Gelegenheit einen geistreichen Ausspruch Rastoptschins anbringen zu können, den dieser bei jener Ausweisung getan haben sollte. Als die Ausländer zu Schiff nach Nishnij gebracht wurden, hatte Rastoptschin zu ihnen gesagt: »Rentrez en vous-même, entrez dans la barque, et n’en faites pas une barque de Charon[163].«
Ferner erzählte man sich, es seien bereits alle Behörden aus Moskau entfernt worden, und unterließ dabei nicht, Schinschins Ausspruch hinzuzufügen, daß Moskau schon dafür allein Napoleon zu Dank verpflichtet sein müsse. Man erzählte sich, daß jenen Mamonow das Regiment, das er zu stellen versprochen hatte, achthunderttausend Rubel koste, daß Besuchow für seine Landwehrleute noch mehr Geld ausgegeben habe, dies alles sei aber noch gar nichts verglichen damit, daß Besuchow selber eine Uniform anlegen und vor seinem Regiment herreiten wolle, ohne von den Zuschauern einen Pfennig dafür zu nehmen.
»Man hat aber auch mit keinem Menschen Erbarmen«, sagte Julie Drubezkaja, indem sie mit ihren feinen, mit Ringen geschmückten Händen ein Häufchen Scharpie zusammenschob und festdrückte.
Julie wollte am nächsten Tag von Moskau abreisen und gab nun ihren Abschiedsabend.
»Besuchow est ridicule«, fuhr sie fort, »aber er ist so gut, so nett. Was ist das nur für ein Vergnügen, so caustique zu sein.«
»Das kostet Strafe«, sagte ein junger Mann in Landwehruniform, den Julie »mon chevalier« nannte, weil er mit ihr nach Nishnij fahren sollte.
Bei Julie wie in vielen anderen Gesellschaften Moskaus war ausgemacht worden, nur russisch zu sprechen, und alle, die sich versahen und französische Worte gebrauchten, mußten zugunsten des Opferkomitees Strafe zahlen.
»Und kostet noch einmal Strafe für den Gallizismus«, warf ein russischer Schriftsteller ein, der sich ebenfalls im Salon befand. »›Ein Vergnügen, … zu sein‹ ist nicht russisch.«
»Man hat mit keinem Menschen Erbarmen«, fuhr Julie, zu dem Landwehroffizier gewandt, fort, ohne der Bemerkung des Schriftstellers Beachtung zu schenken. »Wegen caustique bekenne ich mich schuldig und werde die Strafe bezahlen; ja, ich bin für das Vergnügen, Ihnen die Wahrheit gesagt zu haben, sogar bereit, noch mehr zu geben. Für Gallizismen aber stehe ich nicht ein«, wandte sie sich an den Schriftsteller, »ich habe weder soviel Zeit noch Geld wie Fürst Golyzin, um mir einen Lehrer nehmen und Russisch lernen zu können. Aber da ist er ja selbst!« rief Julie. »Quand on … Nein, nein«, wandte sie sich zu dem Landwehroffizier, »Sie sollen mich nicht noch einmal dabei ertappen. Wenn man von der Sonne spricht, sieht man ihre Strahlen«, fuhr sie als Dame des Hauses fort und lächelte Pierre liebenswürdig zu. »Soeben haben wir von Ihnen gesprochen«, setzte sie mit der den Weltdamen eignen Gewandtheit das Lügen fort. »Wir sagten soeben, Ihr Regiment werde sicherlich besser sein als das von Mamonow.«
»Ach, sprechen Sie mir nicht von meinem Regiment«, erwiderte Pierre, küßte der Dame des Hauses die Hand und setzte sich neben sie. »Ich habe wirklich genug davon.«
»Werden Sie es wohl auch selber kommandieren?« fragte Julie und warf dabei dem Landwehroffizier einen schlauen und verschmitzten Blick zu.
Doch dieser war in Gegenwart Pierres lange nicht so caustique wie vorher, und sein Gesicht drückte Erstaunen darüber aus, was Julies Lächeln zu bedeuten habe. Trotz seiner Zerstreutheit und Gutmütigkeit unterband Pierres Persönlichkeit doch augenblicklich jeden Versuch, sich in seiner Gegenwart über ihn lustig zu machen.
»Nein«, antwortete Pierre lächelnd mit einem Blick auf. seinen großen, dicken Körper. »Mich würden die Franzosen doch zu leicht treffen, und dann fürchte ich auch, daß ich gar nicht aufs Pferd hinaufkäme.«
Zu den Persönlichkeiten, die nun an die Reihe kamen, Julies Gästen als Gesprächsstoff zu dienen, gehörten auch die Rostows.
»Sie sollen jetzt, wie es heißt, in recht schlechten Verhältnissen sein«, sagte Julie. »Und dabei ist der alte Graf noch so unvernünftig. Rasumowskijs wollten ihm das Moskauer Haus und den Landsitz vor der Stadt abkaufen, aber der Handel kommt zu keinem Abschluß. Er verlangt zu viel.«
»Es scheint doch, daß der Verkauf dieser Tage zustande kommen wird«, sagte jemand. »Obgleich es jetzt unsinnig ist, in Moskau irgend etwas zu kaufen.«
»Warum?« fragte Julie. »Glauben Sie wirklich, daß für Moskau eine Gefahr besteht?«
»Weshalb reisen Sie denn sonst ab?«
»Ich? Sonderbare Frage! Ich reise deshalb … nun, weil eben alle abreisen, und weil … ich weder eine Jeanne d’Arc[164] noch eine Amazone bin.«
»Freilich, freilich. Wollen Sie mir bitte noch etwas Leinwand zum Scharpiezupfen herüberreichen?«
»Wenn er verstünde, die Sache richtig zu deichseln, so könnte er alle seine Schulden bezahlen«, fuhr der Landwehroffizier über die Rostows fort.
»Ein guter alter Herr, aber un pauvre sire. Warum bleiben sie nur so ewig in Moskau? Sie könnten schon lange wieder aufs Land gezogen sein. Natalie ist doch wohl wieder gesund?« fragte Julie Pierre mit hinterlistigem Lächeln.
»Sie warten noch auf ihren jüngsten Sohn«, erwiderte Pierre. »Er ist bei den Oblonskijkosaken eingetreten und nach Bjelaja Zerkow gefahren. Dort wird das Regiment zusammengestellt. Jetzt haben sie ihn aber in mein Regiment überschreiben lassen und erwarten ihn jeden Tag. Der Graf wollte schon lange abfahren, aber die Gräfin war um alles in der Welt nicht dazu zu bewegen, von Moskau abzureisen, ehe der Junge da ist.«
»Ich habe sie vorgestern bei den Archarows getroffen. Natalie ist wieder sehr hübsch und munter geworden. Sie sang eine Romanze. Wie leicht doch bei manchen Menschen alles vorübergeht.«
»Was geht vorüber?« fragte Pierre unwillkürlich.
Julie lächelte.
»Wissen Sie, Graf, solche Ritter, wie Sie einer sind, kommen eigentlich nur in den Romanen von Madame Souza vor.«
»Was für Ritter? Wie meinen Sie das?« fragte Pierre errötend.
»Aber gehen Sie doch, Graf, c’est la fable de tout Moscou. Je vous admire, ma parole d’honneur.«
»Strafe! Strafe!« rief der Landwehroffizier.
»Na, schön, schön. Nicht zwei Worte kann man mehr ungestört reden, wie langweilig!«
»Qu’est-ce qui est la fable de tout Moscou?« fragte Pierre ärgerlich und stand auf.
»Aber so gehen Sie doch, Graf, das wissen Sie doch.«
»Nichts weiß ich«, erwiderte Pierre.
»Ich weiß, daß Sie Natalie immer freundschaftlich gegenübergestanden haben und deshalb … Ich, für meinen Teil, war immer mehr mit Wera befreundet. Cette chère Vera …«
»Non, madame«, fuhr Pierre in unwilligem Ton fort. »Ich habe durchaus nicht die Rolle eines Ritters der Komtesse Rostowa gegenüber auf mich genommen und bin jetzt fast vier Wochen lang nicht bei ihnen gewesen. Aber ich kann die Grausamkeit nicht verstehen …«
»Qui s’excuse, s’accuse«, sagte Julie lächelnd, drohte ihm mit der Hand, in der sie die Scharpie hielt, und sprang, um das letzte Wort zu behalten, sogleich auf ein anderes Thema über. »Wissen Sie, was ich heute erfahren habe? Die arme Marja Bolkonskaja ist gestern in Moskau angekommen. Haben Sie gehört, daß sie ihren Vater verloren hat?«
»Ist’s möglich? Wo ist sie? Ich würde sie gern einmal besuchen?« erwiderte Pierre.
»Ich war gestern abend bei ihr. Sie will heute oder morgen früh mit dem kleinen Neffen auf ihr Gut bei Moskau weiterfahren.«
»Nun, was macht sie? Wie geht es ihr?« fragte Pierre.
»Leidlich, sie ist sehr traurig. Aber wissen Sie, wer sie gerettet hat? Das ist ein ganzer Roman. Nicolas Rostow! Sie war von Feinden umzingelt, man wollte sie erschlagen, alle ihre Leute waren verwundet: da stürzt er vor und rettet sie …«
»Schon wieder ein Roman«, sagte der Landwehroffizier. »Entschieden hat man diesen ganzen Rückzug nur zu dem Zweck veranstaltet, damit alle alten Mädchen noch unter die Haube kommen. Die erste war Catiche, und nun die Prinzessin Bolkonskaja.«
»Wissen Sie, ich glaube tatsächlich, sie ist un tout petit amoureuse du jeune homme.«
»Strafe! Strafe! Strafe!«
»Ja, kann man denn so etwas auf russisch sagen?«
Als Pierre nach Hause zurückkehrte, überreichte man ihm zwei Flugblätter Rastoptschins, die an diesem Tag herausgekommen waren.
Im ersten hieß es, das Gerücht, Graf Rastoptschin habe die Ausreise aus Moskau verboten, sei nicht wahr; im Gegenteil, er sei froh, wenn die adligen Damen und die Kaufmannsfrauen Moskau verließen. »Um so weniger ängstliche Gesichter und um so weniger neueste Neuigkeiten wird es dann in der Stadt geben«, hieß es in dem Flugblatt, »aber ich stehe mit meinem Leben dafür ein, daß der Bösewicht nicht in Moskau einfallen wird.« Aus diesen Worten wurde Pierre zum erstenmal klar, daß die Franzosen in Moskau eindringen würden.
Im zweiten Flugblatte war die Rede davon, daß sich unser Hauptquartier jetzt in Wjasma befinde, daß Graf Wittgenstein die Franzosen besiegt habe, und daß, da viele Einwohner den Wunsch hätten, sich zu bewaffnen, im Arsenal Waffen für sie bereit gehalten würden, Säbel, Pistolen, Flinten, die sie zu niedrigem Preis erwerben könnten. Der Ton dieser Flugblätter war nicht mehr so scherzhaft wie die früheren Ansprachen Tschigirins.
Pierre versank über diese Flugblätter in Nachdenken. Die furchtbare Gewitterwolke, die er mit allen Kräften seiner Seele herbeigesehnt hatte, und die doch gleichzeitig in ihm ein unwillkürliches Entsetzen wachrief, schien jetzt offenbar heranzurücken.
Soll ich in den Militärdienst treten? Mich zur Armee begeben? Hier warten? Diese Fragen legte sich Pierre wohl zum hundertstenmal vor. Er griff nach einem Spiel Karten, das neben ihm auf dem Tisch lag, und fing an, eine Patience zu legen.
Wenn diese Patience aufgeht, sagte er zu sich, nachdem er die Karten gemischt hatte, sie nun in der Hand hielt und nach oben sah, wenn diese Patience aufgeht, so bedeutet das … ja, was bedeutet es denn?
Er hatte noch nicht Zeit gehabt zu bestimmen, was es bedeuten solle, als er vor der Tür seines Zimmers die Stimme der ältesten Prinzessin hörte, die anfragte, ob sie hereinkommen dürfe.
Dann bedeutet das, daß ich in die Armee eintreten soll, beschloß Pierre. »Treten Sie ein, treten Sie ein!« fügte er zur Prinzessin gewandt hinzu.
Die älteste der Prinzessinnen, die mit der langen Taille und dem steinernen Gesicht, war bei Pierre im Haus wohnen geblieben; die beiden jüngeren hatten sich verheiratet.
»Verzeihen Sie, mon cousin, daß ich zu Ihnen komme«, fing sie mit vorwurfsvoll erregter Stimme an. »Aber es muß doch nun endlich ein Entschluß gefaßt werden. Was soll denn aus uns werden? Alle reisen von Moskau ab, das Volk ist in Aufruhr. Und wir bleiben hier?«
»Im Gegenteil, es scheint jetzt alles vortrefflich zu stehen, ma cousine«, sagte Pierre in dem gewohnten scherzhaften Ton, den er sich im Verkehr mit der Prinzessin zu eigen gemacht hatte, da ihn die Rolle eines Wohltäters, die er ihr gegenüber spielen mußte, immer etwas in Verlegenheit setzte.
»Ja, vortrefflich! … Schön, vortrefflich! Heute erst hat mir Warwara Iwanowna erzählt, wie sich unsere Truppen auszeichnen. Auf die Ehre kann man sich wirklich etwas einbilden! Und das Volk ist in hellem Aufruhr, es gehorcht nicht mehr. Sogar mein Mädchen fängt schon an, grob zu werden. Bald werden wir noch Prügel bekommen. Kaum daß man noch über die Straße gehen kann. Aber die Hauptsache ist, von heute auf morgen können die Franzosen hier sein. Auf was warten wir also noch? Ich bitte Sie nur um eines, mon cousin«, sagte die Prinzessin, »ordnen Sie an, daß ich nach Petersburg gebracht werde. Wie immer ich auch sein mag, aber unter der Herrschaft Bonapartes leben – das kann ich nicht.«
»Aber hören Sie doch auf, ma cousine, woher schöpfen Sie denn Ihre Nachrichten? Ganz im Gegenteil …«
»Ich werde mich Ihrem Napoleon nicht unterordnen. Andere mögen tun, was sie wollen … Wenn Sie nicht den Befehl geben wollen …«
»Aber gewiß doch! Gleich werde ich es anordnen.«
Sichtlich tat es der Prinzessin nun wieder leid, daß sie sich über niemanden mehr zu ärgern hatte. Sie zischte etwas vor sich hin und setzte sich auf einen Stuhl.
»Man hat Ihnen ganz falsche Nachrichten zugetragen«, sagte Pierre. »In der Stadt ist alles ganz ruhig und von einer Gefahr gar keine Rede. Hier habe ich soeben gelesen …« Pierre zeigte der Prinzessin die Flugblätter. »Der Graf schreibt, er stehe mit seinem Leben dafür ein, daß der Feind nicht nach Moskau kommen werde.«
»Ach, Ihr Graf, Ihr Graf!« fing die Prinzessin feindselig an. »Dieser Heuchler, dieser Bösewicht, der das Volk selber zum Aufruhr verleitet hat! Hat er nicht auch in diesen läppischen Flugblättern geschrieben, man solle jeden, wer es auch sei, beim Schopf nach der Polizei schleppen? Wie albern das ist! ›Wer mir einen bringt‹, so schreibt er, ›dem wird Ruhm und Ehre zuteil werden.‹ Soweit hat er es nun mit seiner Liebenswürdigkeit gebracht. Warwara Iwanowna sagte, sie sei beinahe vom Volk gelyncht worden, nur deswegen, weil sie französisch gesprochen habe, sie sagte …«
»Aber es ist wirklich so … Sie nehmen sich alles zu sehr zu Herzen«, versetzte Pierre und fing an, seine Patience zu legen.
Obgleich die Patience aufging, trat Pierre doch nicht bei der Armee ein, sondern blieb ebenso aufgeregt und unentschieden und wartete voll Angst, dabei aber doch mit einer gewissen Freude auf irgend etwas Furchtbares in dem immer leerer werdenden Moskau.
Am nächsten Tag gegen Abend fuhr die Prinzessin ab. Pierres Oberverwalter ließ sich bei ihm melden und brachte ihm die Nachricht, daß das für die Equipierung seines Regimentes von ihm angeforderte Geld nicht zu beschaffen sei, wenn nicht ein Gut verkauft werde. Der Oberverwalter äußerte sich Pierre gegenüber dahin, daß der ganze Aufwand für dieses Regiment ihn notwendigerweise zugrunde richten müsse. Pierre konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken, als er diese Worte hörte.
»Na, so verkauf es doch«, sagte er. »Was soll ich denn machen, ich kann doch jetzt nicht mehr zurück.«
Je schlimmer alles und insbesondere seine eignen Angelegenheiten standen, um so angenehmer empfand es Pierre, denn um so augenscheinlicher war es, daß die Katastrophe, auf die er wartete, herannahte. Schon war von Pierres Freunden fast niemand mehr in der Stadt. Julie war abgereist, Prinzessin Marja ebenfalls. Von seinen näheren Bekannten waren nur noch die Rostows da, aber zu denen ging ja Pierre nicht hin.
Um sich etwas zu zerstreuen, fuhr er an diesem Tag nach dem Dorf Woronzowo, um dort den großen Luftballon zu sehen, den Leppich zum Verderben des Feindes gebaut hatte[165], sowie den Probeballon, der am folgenden Tag aufsteigen sollte. Der Ballon war noch nicht fertig, aber er wurde, wie Pierre erfuhr, auf Wunsch des Kaisers hergestellt. Der Kaiser hatte an den Grafen Rastoptschin folgendes über diesen Ballon geschrieben:
»Sobald Leppich fertig ist, stellen Sie ihm eine Mannschaft von sicheren und klugen Leuten für seine Gondel zusammen und schicken schleunigst einen Kurier an den General Kutusow, um ihn davon in Kenntnis zu setzen. Ich habe ihm schon von der Sache geschrieben. Schärfen Sie, bitte, Leppich ein, daß er den Ort, wo er zum erstenmal landet, mit größter Vorsicht wählt, damit er sich nicht täuscht und nicht in die Hände der Feinde fällt. Es ist unbedingt notwendig, daß er sich bei seinen Bewegungen mit dem General en chef verständigt.«
Als Pierre von Woronzowo nach Hause zurückkehrte, über den Bolotnajaplatz[166] fuhr und vor der Richtstätte[167] einen Haufen Menschen stehen sah, ließ er halten und stieg aus. Man hatte einen französischen Koch, der der Spionage beschuldigt war, ausgepeitscht. Die Strafe selber war soeben vollzogen worden, und der Exekutor band einen jammervoll stöhnenden dicken Mann mit rotem Backenbart, blauen Strümpfen und grünem Kamisol von der Bank los. Ein zweiter Verbrecher, ein magerer, bleicher Mensch, stand neben ihm. Nach ihren Gesichtern zu urteilen, waren beide Franzosen. Mit schmerzlich erschrockener Miene, ähnlich der, die der hagere Franzose zur Schau trug, drängte sich Pierre durch die Menge.
»Was ist los? Wer ist das? Warum?« fragte er.
Aber die Aufmerksamkeit der Menge – Beamte, Kleinbürger, Kaufleute, Bauern und Frauen in Saloppen und Pelzen – war mit solcher Gier auf das gespannt, was auf der Richtstätte vor sich ging, daß niemand ihm eine Antwort gab.
Der Dicke erhob sich, machte ein finsteres Gesicht, zog die Schultern hoch, stand in dem sichtlichen Bemühen, seine Standhaftigkeit zu beweisen, auf und zog, ohne sich umzusehen, sein Wams an. Plötzlich aber lief ein Zucken über seine Lippen und er fing zu weinen an, halb ärgerlich über sich selbst, wie erwachsene Sanguiniker zu weinen pflegen. Die Menge begann laut zu reden, um, wie es Pierre schien, in sich selber das Gefühl des Mitleids zu übertönen.
»Der Koch irgendeines Fürsten …«
»Na, Musjö, nun siehst du wohl, daß die russische Soße den Franzosen sauer aufstößt … Hast wohl nun genug daran geschleckt?« sagte ein runzliger Schreiber, gerade als der Franzose zu weinen anfing, und blickte sich rings um, sichtlich auf Beifall für seinen Scherz wartend. Einige lachten, andere fuhren fort, erschrocken dem Scharfrichter zuzusehen, der jetzt den zweiten Franzosen auszog.
Pierre schnaufte, machte ein finsteres Gesicht, wandte sich jäh um und eilte zu seinem Wagen zurück, wobei er, während er zurücklief und sich in den Wagen setzte, ununterbrochen etwas vor sich hinmurmelte. Unterwegs fuhr er ein paarmal zusammen und rief so laut etwas vor sich hin, daß der Kutscher ihn fragte: »Der Herr befehlen?«
»Wohin fährst du denn?« schrie ihn Pierre an, als dieser auf die Lubjanka hinausbog.
»Zum Oberkommandierenden, wie befohlen«, erwiderte der Kutscher.
»Du Esel! Du Rindvieh!« schrie ihn Pierre an, obgleich es bei ihm selten vorkam, daß er auf seinen Kutscher schimpfte. »Nach Hause zu fahren habe ich befohlen, aber schneller, du Querkopf!«
Heute noch muß ich fort, murmelte Pierre vor sich hin.
Beim Anblick der bestraften Franzosen und der die Richtstätte umlagernden Menge hatte Pierre so endgültig den Entschluß gefaßt, daß er nicht länger in Moskau bleiben könne und noch heute bei der Armee eintreten müsse, daß es ihm schien, als habe er es entweder dem Kutscher gesagt oder als müsse es dieser von selber wissen.
Nach Hause zurückgekehrt, befahl er seinem allwissenden, alles vermögenden und in ganz Moskau bekannten Oberkutscher Ewstafjewitsch, seine Reitpferde nach Moshaisk zu bringen, da er noch heute nacht dorthin zur Armee abreisen werde. Doch konnte dies alles nicht mehr am selben Tag erledigt werden, und so sah sich Pierre auf die Vorstellungen Ewstafjewitschs hin genötigt, seine Abreise bis auf den nächsten Tag zu verschieben, um Ersatzpferde vorausschicken zu können.
Am 24. August klärte sich das Wetter wieder auf, nachdem es lange trübe gewesen war, und an diesem Tag fuhr Pierre nach Tisch aus Moskau ab. Während er nachts in Perchuschkowo die Pferde wechselte, erfuhr er, daß am Abend eine große Schlacht stattgefunden hatte. Man erzählte ihm, hier, in Perchuschkowo, habe die Erde von Kanonenschüssen gezittert. Auf Pierres Frage, wer denn gesiegt habe, konnte ihm keiner antworten. Es war dies das Gefecht am 24. August bei Schewardino gewesen.
Als der Morgen dämmerte, kam Pierre in Moshaisk an. Alle Häuser der Stadt waren mit Truppen belegt, und in der Herberge, wo Pierre seinen Bereiter und seinen Kutscher traf, war kein Zimmer mehr zu haben, überall waren Offiziere einquartiert.
In Moshaisk und um die Stadt herum standen und bewegten sich überall Truppen. Kosaken, Infanterie, Reiterei, Train, Munitionswagen, Kanonen waren nach allen Seiten hin zu sehen. Pierre beeilte sich, so schnell wie möglich vorwärts zu kommen, und je weiter er sich von Moskau entfernte, je tiefer er sich in dieses Meer von Truppen versenkte, um so mehr bemächtigten sich seiner Aufregung und Unruhe und ein noch nie empfundenes, neues Gefühl der Freude.
Es war dies ein ähnliches Gefühl, wie er es im Slobodskijpalast bei der Ankunft des Kaisers empfunden hatte, das Gefühl, daß er nicht anders konnte, als irgend etwas unternehmen und irgend etwas zum Opfer bringen. Er hatte jetzt die wohlige Empfindung, erkannt zu haben, daß alles, was das Glück der Menschen ausmacht: Behaglichkeit, Reichtum, ja das Leben selber, wertloser Plunder ist, den man getrost wegwerfen kann, im Vergleich mit … Womit, darüber konnte sich Pierre keine Rechenschaft geben und vermochte auch gar nicht, sich darüber klar zu werden, für wen und wofür es ihm als ein so großes Glück erschien, alles zum Opfer zu bringen. Ihn kümmerte nicht, wofür er das Opfer bringen wollte, sondern schon das Opfern an sich weckte in ihm dieses neue, freudige Gefühl.
Am 24. August hatte das Gefecht an der Schanze von Schewardino stattgefunden, am 25. fiel weder von der einen, noch von der anderen Seite auch nur ein einziger Schuß, und am 26. kam es zur Schlacht bei Borodino.
Wie und aus welchen Gründen wurden die Schlachten bei Schewardino und Borodino angeboten und angenommen? Warum wurde die Schlacht bei Borodino geschlagen? Weder für die Franzosen noch für die Russen hatte sie irgendwelchen Sinn. Die nächste Folge war und mußte sein: für die Russen, daß sie der Preisgabe Moskaus einen Schritt näher kamen, was sie doch um alles in der Welt nicht wollten, für die Franzosen, daß sie den Untergang ihrer Armee beschleunigten, was sie ebenfalls mehr als alles auf der Welt fürchteten. Dieses Ergebnis war schon damals ganz augenscheinlich, und doch eröffnete Napoleon die Schlacht, und Kutusow nahm sie an.
Wenn sich die Feldherren von vernünftigen Gründen hätten leiten lassen, so hätte sich, sollte man meinen, Napoleon damals schon darüber klar sein müssen, daß er sich in sicheres Verderben stürzte, wenn er, nachdem er zweitausend Werst marschiert war, nun eine Schlacht annahm, in der er aller Wahrscheinlichkeit nach den vierten Teil seiner Armee verlieren mußte. Und andererseits hätte sich auch Kutusow darüber klar sein müssen, daß er durch die Annahme einer Schlacht ebenfalls ein Viertel seiner Armee aufs Spiel setzte und dadurch ganz sicher Moskau verlieren mußte. Für Kutusow war das mathematisch so gewiß, wie es beim Damespiel ganz sicher ist, daß derjenige, der einen Stein weniger hat als der Gegner und mit Tauschen beginnt, verlieren muß, und eben deshalb nicht tauschen darf. Wenn der eine sechzehn Steine hat und der andere vierzehn, so ist dieser zweite nur um ein Achtel schwächer, ertauscht sich der erste aber dreizehn Steine, so ist er dreimal so stark wie der andere.
Vor der Schlacht bei Borodino verhielten sich unsere Streitkräfte gegen die französischen annähernd wie fünf zu sechs, nach der Schlacht aber wie eins zu zwei, das heißt: vor der Schlacht kamen auf hunderttausend Mann hundertzwanzigtausend, nach der Schlacht auf fünfzigtausend hunderttausend. Trotzdem nahm der kluge und erfahrene Kutusow die Schlacht an. Und auch Napoleon, das sogenannte Feldherrngenie, eröffnete hiermit eine Schlacht, bei der er den vierten Teil seiner Armee verlor und seine Operationslinie noch mehr auseinanderzog. Wenn behauptet wird, Napoleon habe geglaubt, durch die Einnahme Moskaus den Feldzug zu Ende zu führen wie seinerzeit durch die Einnahme Wiens, so stellen sich dem viele Beweise entgegen. Die Geschichtsschreiber Napoleons berichten selber, daß er schon bei Smolensk habe haltmachen wollen, daß er die Gefahr seiner ausgedehnten Stellung erkannt und gewußt habe, daß durch die Einnahme Moskaus der Feldzug nicht beendet sein werde, denn er hatte schon in Smolensk gesehen, in welchem Zustand man ihm russische Städte überließ, und auf seinen mehrmals geäußerten Wunsch, in Unterhandlungen zu treten, keinerlei Antwort erhalten.
Kutusow und Napoleon, von denen der eine die Schlacht bei Borodino anbot und der andere sie annahm, handelten beide nicht aus eignem Antrieb, beide ohne Sinn und Verstand. Die Historiker aber schieben den vollendeten Tatsachen nachträglich schlau ersonnene Beweise für die Umsicht und Genialität ihrer Feldherren unter, die doch von all den mechanischen Handlangern geschichtlicher Ereignisse die sklavisch willenlosesten waren.
Die Alten haben uns klassische Heldengedichte hinterlassen, in denen die Helden das ganze weltgeschichtliche Interesse für sich allein beanspruchen, und wir alle können uns noch nicht daran gewöhnen, daß für unsere Zeit der Menschheitsgeschichte eine solche Auffassung keinen Sinn mehr hat.
Was nun die andere Frage betrifft, wie es zur Schlacht bei Borodino und dem ihr vorangehenden Gefecht bei Schewardino kam, so ist darüber eine ebenso bestimmte, allen bekannte, aber vollkommen falsche Vorstellung verbreitet. Alle Historiker beschreiben die Dinge in folgender Weise:
Die russische Armee habe bei ihrem Rückzug von Smolensk nach der vorteilhaftesten Position für eine Generalschlacht gesucht und eine solche Position bei Borodino gefunden.
Die Russen hätten diese Stellung zuvor befestigt, links des Weges von Moskau nach Smolensk, fast im rechten Winkel zu ihm, von Borodino bis Utiza, also an derselben Stelle, wo dann die Schlacht stattgefunden habe.
Vor dieser Stellung habe man zur Beobachtung des Feindes auf dem Hügel bei Schewardino eine befestigte Vorpostenstation angelegt. Diese habe Napoleon am 24. August angegriffen und genommen und am 26. die Offensive gegen die ganze russische Armee begonnen, die in ihrer Position auf dem Gelände von Borodino gestanden habe.
So heißt es in den geschichtlichen Darstellungen, doch all dies ist gänzlich unrichtig, wovon sich jeder leicht überzeugen kann, der nur der Sache auf den Grund gehen will.
Die Russen haben gar nicht nach einer guten Stellung gesucht, im Gegenteil, sie sind auf ihrem Rückzug an vielen Stellen vorbeigekommen, die besser gewesen wären als die bei Borodino. Sie haben auf keiner dieser Positionen haltgemacht, weil Kutusow keine Stellung einnehmen wollte, die er nicht selbst ausgesucht hatte, und weil das Verlangen nach einer Völkerschlacht noch nicht stark genug zutage trat, weil Miloradowitsch mit der Landwehr noch nicht eingetroffen war, und noch aus anderen Gründen, deren Zahl unendlich ist. Tatsache ist, daß die früheren Stellungen weit stärker waren, und daß die Position bei Borodino, in der dann die Schlacht wirklich geschlagen wurde, nicht nur durchaus nicht stark, sondern überhaupt nicht mehr und nicht weniger eine Position war als irgendein anderer Fleck im russischen Reich, den man zufällig mit der Stecknadel auf der Landkarte bezeichnet hätte.
Die Russen haben die Stellung auf dem Feld von Borodino im rechten Winkel links von der Heerstraße, das heißt also an der Stelle, wo die Schlacht dann wirklich geliefert wurde, nicht nur nicht befestigt, sondern sie haben bis zum 25. August 1812 überhaupt nie daran gedacht, daß auf diesem Gelände je eine Schlacht stattfinden könne. Als Beweis hierfür dient die Tatsache, daß am 25. August auf diesem Gelände keine Befestigungen vorhanden waren, und die, welche am 25. erst errichtet wurden, am 26. noch nicht fertiggestellt waren.
Einen zweiten Beweis liefert die Lage der Schanze bei Schewardino. Eine Verschanzung vor der Position, in der die Schlacht angenommen werden sollte, hätte keinen Sinn gehabt. Wozu hätte man diese Schanze stärker als alle anderen Punkte befestigt? Aus welchem Grund hätte man sie am 24. bis in die späte Nacht hinein verteidigt, alle seine Kräfte erschöpft und sechstausend Mann dabei verloren? Zur Beobachtung des Feindes hätte es nur einer Kosakenpatrouille bedurft.
Als dritter Beweis dafür, daß die Stellung, in der die Schlacht geschlagen wurde, nicht vorausgesehen und die Schanze bei Schewardino kein Vorpostenpunkt für sie war, dient der Umstand, daß sich Barclay de Tolly und Bagration bis zum 25. in der Überzeugung befanden, die Schanze von Schewardino sei der linke Flügel der Stellung, und daß Kutusow selber in seinem Bericht, den er in aller Hitze gleich nach der Schlacht abfaßte, eben diese Schanze als den linken Flügel der Stellung bezeichnete. Erst viel später, als die Berichte über die Schlacht bei Borodino frei zusammengestellt wurden, hat man – wahrscheinlich, um die Irrtümer des Oberkommandierenden zu rechtfertigen, der unfehlbar dastehen sollte – jene unrichtigen und sonderbaren Behauptungen aufgestellt, die Schanze von Schewardino habe als Vorpostenstellung gedient – während sie in Wirklichkeit nur ein befestigter Punkt des linken Flügels gewesen ist – , und man habe die Schlacht bei Borodino in einer befestigten, im voraus gewählten Position angenommen, während sie doch an einer völlig unerwarteten, fast unbefestigten Stelle geschlagen wurde.
Die Sache lag offenbar folgendermaßen: Man hatte eine Stellung am Kolotschafluß gewählt, der die große Heerstraße nicht im rechten, sondern im spitzen Winkel schneidet, so daß der linke Flügel bei Schewardino, der rechte bei Nowoje Sjelo und das Zentrum bei Borodino, am Zusammenfluß der Kolotscha und der Woina, stand. Eine solche durch den Kolotschafluß gedeckte Stellung für eine Armee, die das Ziel verfolgte, den auf der Heerstraße von Smolensk nach Moskau heranrückenden Feind aufzuhalten, muß jedem einleuchten, der das Gelände bei Borodino betrachtet und für einen Augenblick vergißt, wie sich die Schlacht dann wirklich abgespielt hat.
Napoleon, der am 24. nach Walujewo vorgedrungen war, erblickte nicht, wie es in den Geschichtsbüchern heißt, die Russen in einer Stellung von Utiza bis Borodino – er konnte eine solche Position nicht sehen, weil sie gar nicht vorhanden war –, sah auch nicht die Vorposten der russischen Armee, sondern stieß einfach bei der Verfolgung der russischen Nachhut auf den linken russischen Flügel, auf die Schanze von Schewardino, und ließ seine Truppen über die Kolotscha setzen, was die Russen durchaus nicht erwartet hatten. Und weil unsere Truppen somit nicht Zeit gefunden hatten, in eine Generalschlacht einzutreten, zogen sie ihren linken Flügel aus der beabsichtigten Stellung zurück und nahmen eine neue Position ein, die weder in Aussicht genommen, noch befestigt war.
Indem Napoleon links von der Heerstraße auf das linke Ufer der Kolotscha übersetzte, verschob er die ganze künftige Schlacht von rechts nach links, von russischer Seite aus gesehen, und trug sie somit in den Raum zwischen Utiza, Semjonowskoje und Borodino hinein, also in ein Gelände, das als Stellung keine anderen Vorteile in sich barg als jede andere Gegend in Rußland auch. Auf diesem Gelände wurde nun am 26. August die Schlacht geschlagen. Beifolgender Plan zeigt in groben Umrissen die Schlacht, wie sie zuerst beabsichtigt und dann geschlagen wurde:
Wäre Napoleon am 24. abends nicht an die Kolotscha geritten, und hätte er nicht am selben Abend sogleich noch den Befehl erteilt, die Schanze anzugreifen, sondern diesen Angriff erst am nächsten Morgen ausgeführt, so hätte niemand je bezweifelt, daß die Schanze von Schewardino der linke Flügel unserer Stellung war, und die Schlacht hätte sich so abgespielt, wie wir es erwartet hatten. In diesem Fall hätten wir wahrscheinlich die Schanze, unseren linken Flügel, noch hartnäckiger verteidigt, hätten Napoleon im Zentrum oder von rechts angegriffen, und die Generalschlacht wäre dann am 25. in jener Position geschlagen worden, die befestigt und in Aussicht genommen war. Da aber der Angriff auf unsern linken Flügel noch am Abend stattfand, gleich nach dem Rückzug unserer Nachhut, das heißt unmittelbar nach der Schlacht bei Gridnewa, und die russischen Heerführer am 24. abends eine Generalschlacht weder anfangen wollten noch konnten, so war die erste und hauptsächlichste Aktion schon am 24. abends verloren, was offenbar auch den Verlust der am 26. gelieferten Hauptschlacht herbeigeführt hat.
Nach dem Verlust der Schanze von Schewardino hatte unsere linke Flanke am 25. gegen Morgen ihre Stellung verloren, und wir sahen uns vor die Notwendigkeit gestellt, diesen linken Flügel zurückzubiegen und ihn in aller Eile dort zu befestigen, wo er zufällig zum Stehen kam.
Aber nicht genug damit, daß am 26. August die russischen Truppen nur unter dem Schutz schwacher, halbfertiger Befestigungen standen, das Unvorteilhafte ihrer Lage wurde auch noch dadurch vermehrt, daß die russischen Heerführer die vollendete Tatsache, den Verlust unserer Position am linken Flügel und die Verschiebung des ganzen künftigen Schlachtfeldes von rechts nach links, nicht anerkannten, in ihrer ausgedehnten Stellung von Nowoje Sjelo bis Utiza stehenblieben und infolgedessen während der Schlacht ihre Truppen von rechts nach links verschieben mußten. Auf diese Weise hatten die Russen während der ganzen Schlacht der gesamten französischen Armee, die auf unseren linken Flügel vorging, nur halb so starke Kräfte entgegenzusetzen. Das Vorgehen Poniatowskis gegen Utiza und der Angriff Uwarows auf den rechten Flügel der Franzosen waren Aktionen für sich, die mit dem allgemeinen Gang der Schlacht in keinem Zusammenhang standen.
So hat sich die Schlacht bei Borodino durchaus nicht so abgespielt, wie sie, in dem Bestreben, die Fehler unserer Heerführer zu vertuschen, immer beschrieben wird, was aber den Ruhm der russischen Truppen und des russischen Volkes schmälert. Die Schlacht bei Borodino ist nicht von einer selbstgewählten und befestigten Stellung mit russischerseits nur wenig schwächeren Kräften ausgefochten worden, sondern wurde infolge des Verlustes der Schanze von Schewardino von den Russen mit halb so starken Kräften, wie sie die Franzosen hatten, auf einem offenen fast unbefestigten Gelände angenommen, also unter Bedingungen, bei denen es nicht nur undenkbar scheinen mußte, sich zehn Stunden lang unentschieden zu schlagen, sondern sogar fast unmöglich, die Truppen langer als drei Stunden vor vollständiger Auflösung und Flucht zu bewahren.
Am 25. August in der Frühe fuhr Pierre von Moshaisk ab. Dort, wo der Weg aus der Stadt den steil abfallenden Berg hinunterführt, an der auf der rechten Seite stehenden Kirche vorbei, in der gerade Gottesdienst abgehalten und geläutet wurde, stieg Pierre aus seinem Wagen und ging zu Fuß.
Hinter ihm her ritt ein Kavallerieregiment, die Sänger voran, den Berg hinunter. Ihm entgegen bergauf bewegte sich ein Zug von Wagen mit Verwundeten aus dem gestrigen Kampf. Die Fuhrleute, meist Bauern, schlugen schreiend mit den Peitschen auf ihre Pferde ein und liefen von einer Seite auf die andere. Rasselnd schotterten die Wagen, auf denen die verwundeten Soldaten zu dritt oder viert lagen und saßen, über den frisch mit Steinen aufgeschütteten, steilen Weg dahin. Die Verwundeten, die notdürftig mit Lappen verbunden waren, wurden in den Fuhren in die Höhe geschleudert und gegeneinander geworfen und hielten sich mit bleichen Gesichtern, zusammengepreßten Lippen und finsteren Augenbrauen an den Wagenleitern fest. Fast alle betrachteten mit kindlich naiver Neugier Besuchows weißen Hut und grünen Frack.
Pierres Kutscher schrie dem Verwundetentransport ärgerlich zu, er solle sich auf einer Seite halten. Das Kavallerieregiment, das singend den Berg hinuntergeritten war, hatte Pierres Wagen nun eingeholt und den Weg versperrt. Pierre blieb stehen und drängte sich ganz an den Rand des Hohlweges, der aus dem Berg ausgestochen war. Die Sonne stieg hinter dem Abhang empor, und ihre Strahlen drangen noch nicht bis in die Tiefe des Hohlwegs hinein, wo es noch kalt und feucht war. Doch über Pierres Haupt strahlte ein wolkenloser Augustmorgen, und froh tönte das Glockengeläut durch die klare Luft.
Einer der Wagen mit Verwundeten hielt am Rande des Weges dicht neben Pierre an. Der Fuhrmann lief in seinen Bastschuhen keuchend nach hinten, schob einen Stein unter das nicht geschiente Hinterrad und brachte das Riemenzeug seines nun stillstehenden Pferdchens in Ordnung.
Ein verwundeter alter Soldat, der mit verbundener Hand hinter dem Fuhrwerk hergegangen war, stützte sich mit seinem gesunden Arm auf den Wagen und sah Pierre an.
»Nun, wie steht’s, Landsmann? Wird man uns wohl hier unterbringen können? Was? Oder müssen wir noch bis Moskau?« fragte er.
Pierre war so in Nachdenken versunken, daß er die Frage gar nicht hörte. Er sah bald auf das Kavallerieregiment, das jetzt an dem Verwundetentransport vorüberritt, bald auf jenen Wagen, der vor ihm stand, auf dem zwei Verwundete saßen und einer lag, und ihm schien, als fände er hier, in ihnen, die Lösung jener Frage, die ihn beschäftigte. Der eine der Soldaten, die im Wagen saßen, war anscheinend im Gesicht verwundet. Sein ganzer Kopf war in Lappen eingehüllt, und an der einen Backe hatte er eine Geschwulst, die so groß war wie ein Kinderkopf. Mund und Nase standen ganz schief. Er sah nach der Kirche hinüber und bekreuzigte sich. Der andere, ein junger blonder Rekrut, so bleich, als hätte er keinen Tropfen Blut in seinem feinen Gesicht, blickte Pierre mit gutmütigem Lächeln an. Der dritte Soldat lag auf dem Boden, sein Gesicht war nicht zu sehen.
Die singenden Kavalleristen zogen dicht neben dem Wagen vorbei.
»Ach, verloren, verloren …
Mit geschorenem Kopf …
Weil ich fern von der Heimat …«
sangen sie ein Soldatenlied.
Wie zur Begleitung mischten sich von oben her ebenso heiter, jedoch in anderer Art, die metallischen Töne des Glockengeläuts in ihren Gesang. Und wieder in einer anderen Art Fröhlichkeit beleuchteten die warmen Sonnenstrahlen den Gipfel des gegenüberliegenden Hügels. Aber hier am Abhang, bei dem Wagen mit den Verwundeten, neben dem keuchenden Pferdchen, wo Pierre stand, war es feucht, düster und trübselig.
Der Soldat mit der geschwollenen Backe blickte ärgerlich auf die singenden Kavalleristen.
»Ach, diese Laffen!« brummte er vorwurfsvoll.
»Heute habe ich nicht nur Soldaten, sondern auch Bauern ausrücken sehen. Nun müssen sogar schon die Bauern ran«, sagte der Soldat, der hinter dem Wagen stand, mit trübem Lächeln zu Pierre. »Jetzt wird nicht mehr viel Federlesens gemacht … Mit dem ganzen Volk fällt man über sie her. Und alles wegen des einen Wortes: Moskau. Man will nun ein Ende machen.«
Obgleich die Worte des Soldaten nicht ganz klar waren, verstand Pierre doch alles, was dieser sagen wollte, und nickte zustimmend.
Der Weg wurde nun wieder frei; Pierre stieg den Berg hinab und fuhr weiter.
Während er seine Fahrt fortsetzte, sah er sich zu beiden Seiten des Weges um und suchte bekannte Gesichter, erblickte aber überall nur fremde Soldaten und Offiziere der verschiedensten Truppengattungen, die alle mit derselben Verwunderung seinen weißen Hut und grünen Frack anstaunten.
Nachdem er so ungefähr vier Werst gefahren war, stieß er auf den ersten Bekannten und wandte sich erfreut ihm zu. Es war dies einer der Oberärzte aus der Armee. Er kam in seiner Britschka, in der neben ihm noch ein zweiter, jüngerer Kollege saß, Pierre entgegen, und als er diesen erkannte, befahl er dem Kosaken, der statt eines Kutschers auf dem Bock saß, anzuhalten.
»Graf! Euer Erlaucht! Was machen Sie denn hier?« fragte der Arzt.
»Ach, ich will mir das bloß mal ansehen …«
»Ja, ja, es gibt schon was zu sehen …«
Pierre ließ halten, stieg aus und unterhielt sich mit dem Doktor, der ebenfalls aus seinem Wagen gestiegen war. Pierre erzählte ihm, daß er die Absicht habe, an der Schlacht teilzunehmen.
Der Oberarzt riet Besuchow, sich direkt an den Durchlauchtigen zu wenden. »Warum wollen Sie sich während der Schlacht in Gott weiß was für einem Winkel herumdrücken?« sagte er, nachdem er mit seinem jungen Kollegen einen Blick gewechselt hatte. »Der Durchlauchtige kennt Sie doch immerhin und wird Sie schon in Gnaden aufnehmen. Machen Sie es nur so, lieber Freund«, sagte der Oberarzt. Er machte einen abgespannten Eindruck und schien es sehr eilig zu haben.
»So meinen Sie also … Aber eines wollte ich Sie doch noch fragen: wo ist eigentlich unsere Position?« fragte Pierre.
»Unsere Position?« wiederholte der Arzt. »Das ist nicht mein Ressort. Fahren Sie nach Tatarinowa, da wird tüchtig an irgend etwas gegraben. Dort steigen Sie auf die Anhöhe, da können Sie alles sehen«, riet ihm der Arzt.
»Von dort aus kann ich alles sehen? … Könnten Sie mich nicht …«
Der Arzt unterbrach ihn und wandte sich wieder zu seiner Britschka.
»Ich würde Sie gern hinbegleiten, aber bei Gott, ich stecke drin bis an den Hals.« Er zeigte auf seine Kehle. »Jetzt muß ich in aller Eile zum Korpskommandeur. Sie wissen gar nicht, wie es bei uns zugeht … Bedenken Sie, Graf, morgen ist die Schlacht; auf hunderttausend Mann muß man wenigstens zwanzigtausend Verwundete rechnen. Dabei haben wir nicht einmal für sechstausend Tragbahren, Betten, Feldscherer und Ärzte. Bauernwagen sind ja an die zehntausend da, aber man braucht doch noch anderes. Wenn man das alles noch beschaffen will, muß man sich tüchtig sputen.«
Pierre schauderte bei dem sonderbaren Gedanken, daß von jenen vielen alten und jungen Leuten, die eben noch frisch und gesund mit so munterer Verwunderung seinen Hut angestaunt hatten, Tausende der Verwundung und dem Tode geweiht sein sollten, und womöglich gerade die, die er soeben gesehen hatte.
Sie werden vielleicht morgen sterben, warum denken sie da noch an etwas anderes als an den Tod? Und durch irgendeine geheime Gedankenverbindung trat ihm plötzlich jener Abhang des Berges bei Moshaisk mit den Verwundeten in den Bauernwagen, dem Glockengeläut, den trägen Strahlen der Sonne und dem Gesang der Kavalleristen wieder lebhaft vor Augen.
Die Kavalleristen ziehen in die Schlacht, treffen Verwundete und denken nicht einen Augenblick daran, was ihrer harrt, sondern reiten vorbei und blinzeln den Verwundeten zu. Von ihnen allen sind zwanzigtausend dem Tod geweiht, sie aber staunen über meinen Hut. Seltsam! dachte Pierre und setzte seinen Weg in der Richtung nach Tatarinowa fort.
Vor dem Haus eines Gutsbesitzers, links der Straße, standen die Kutschen, Packwagen, eine Wache und ein Haufe Offiziersburschen. Hier lag der Durchlauchtige im Quartier. Aber er war nicht anwesend, als Pierre ankam, ebenso fast keiner der Stabsoffiziere. Sie wohnten alle einem Bittgottesdienst bei. So fuhr Pierre weiter nach Gorki.
Als er den Berg hinaufgefahren und in die kleine Dorfstraße eingebogen war, erblickte er zum erstenmal Bauernlandwehr mit Kreuzen an den Mützen und weißen Hemden, die unter lautem Schwatzen und Lachen rechts vom Weg auf einer großen, mit Gras bewachsenen Anhöhe munter und schwitzend irgendeine Arbeit ausführten.
Die einen stachen mit Grabscheiten Erde vom Hügel ab, andere fuhren diese Erde in Schubkarren auf Brettern fort, und wieder andere standen dabei, ohne etwas zu tun. Auf der Anhöhe hielten zwei Offiziere, die ihnen Befehle erteilten.
Als Pierre diese Bauern erblickte, denen der neue Soldatenstand offenbar noch sehr viel Spaß machte, mußte er wieder an die Verwundeten bei Moshaisk denken, und begriff jetzt, was der Soldat gemeint hatte, als er sagte, man wolle »mit dem ganzen Volk über sie herfallen«. Der Anblick dieser auf dem Schlachtfeld arbeitenden bärtigen Bauern mit ihren sonderbar plumpen Stiefeln, ihren schweißigen Hälsen, wo man bei einigen von ihnen aus dem aufgeknöpften schrägen Halskragen die braune Haut über den Schlüsselbeinen sah – dieser Anblick überzeugte Pierre wirksamer als alles, was er bisher gesehen und gehört hatte, von der feierlichen Bedeutung des gegenwärtigen Augenblicks.
Pierre stieg aus seinem Wagen und ging an den arbeitenden Landwehrmännern vorüber, jene Anhöhe hinan, von der aus, wie ihm der Oberarzt gesagt hatte, das ganze Schlachtfeld zu überblicken sein sollte.
Es war elf Uhr morgens. Die Sonne stand etwas links hinter Pierre und beleuchtete grell das gewaltige Panorama, das sich mit seinen ansteigenden Höhen in der reinen, dünnen Luft wie ein Amphitheater vor ihm aufbaute.
Bis in die Höhe dieses Amphitheaters schlängelte sich, es durchschneidend, links die große Smolensker Landstraße hinauf, die sich durch ein Dorf mit weißer Kirche wand, das etwa fünfhundert Schritt vor und unter dem Hügel lag. Dies war Borodino. Die Landstraße führte unterhalb des Dorfes über eine Brücke und schlängelte sich dann durch Berg und Tal immer höher und höher nach dem Dorf Walujewo, dem Standquartiere Napoleons, hinauf, das in einer Entfernung von etwa sechs Werst zu sehen war. Hinter Walujewo verlor sich der Weg am Horizont in dem gelb werdenden Wald. Aus diesem Birken- und Tannenwald glänzte in der Sonne etwas rechts vom Weg ganz fern das Kreuz und der Glockenturm des KolozkoiKlosters.
Überall in dieser blauen Ferne, rechts und links vom Wald und von der Straße, sah man hier und dort rauchende Wachtfeuer und verschwommene Truppenmassen auf unserer Seite und auf der feindlichen. Zur Rechten, dort, wo die Kolotscha und die Moskwa floß, war das Gelände von Schluchten und Bergen durchzogen. Zwischen diesen Schluchten hindurch sah man in der Ferne die Dörfer Bessubowo und Sacharjino. Zur Linken war das Gelände flacher, dort dehnten sich Getreidefelder aus, und man sah ein eingeäschertes, rauchendes Dorf – Semjonowskoje.
Alles, was Pierre zur Rechten und Linken sah, war so verschwommen, daß er sich weder von der einen noch von der anderen Seite ein klares Bild machen konnte. Nirgends war etwas von einem Schlachtfeld zu sehen, wie er erwartet hatte, sondern überall nur Getreidefelder, Wiesen, Truppenmassen, Wälder, Rauchwolken von Wachtfeuern, Dörfer, Hügel und Bäche, und so scharf er auch zu unterscheiden versuchte, nirgends konnte er in diesem belebten Gelände eine Stellung herausfinden, ja, er vermochte nicht einmal unsere Truppen von denen des Feindes zu unterscheiden.
Ich muß einen Kundigen fragen, dachte er und wandte sich an einen der Offiziere, der neugierig Pierres unmilitärische, massige Gestalt betrachtete.
»Darf ich mir die Frage erlauben«, wandte sich Pierre an den Offizier, »was für ein Dorf dort vor uns ist?«
»Burdino oder so ähnlich«, erwiderte der Offizier, indem er sich fragend an seinen Kameraden wandte.
»Borodino«, gab dieser verbessernd zur Antwort.
Der Offizier freute sich offenbar, eine Unterhaltung anknüpfen zu können, und trat auf Pierre zu.
»Sind das dort unsere Truppen?« fragte Pierre.
»Ja, aber dort in der Ferne sieht man auch die Franzosen«, entgegnete der Offizier.
»Dort sind sie, dort kann man sie sehen.«
»Wo? Wo?« fragte Pierre.
»Mit bloßem Auge kann man sie sehen. Dort.«
Der Offizier wies mit der Hand auf die Rauchwolken, die sich links hinter dem Fluß erhoben, und auf seinem Gesicht zeigte sich jener ernste und strenge Ausdruck, den Pierre schon auf vielen Gesichtern, die ihm begegnet waren, beobachtet hatte.
»Das also sind die Franzosen! Aber dort? …« Pierre zeigte auf einen Hügel zur Linken, der von Truppen umgeben war.
»Das sind die Unsrigen.«
»So, so, die Unsrigen. Und dort? …« Pierre wies auf einen anderen, ferner liegenden Hügel mit einem großen Baum hin neben dem in einer Talenge ein Dorf sichtbar war, wo ebenfalls Wachtfeuer rauchten und schwarze Punkte sich bewegten.
»Das ist wieder er«, sagte der Offizier. Es war die Schanze von Schewardino. »Gestern war diese Höhe noch unser, heute hat er sie besetzt.«
»Und wie ist nun eigentlich unsere Stellung?«
»Unsere Stellung?« wiederholte der Offizier mit einem Lächeln der Genugtuung. »Das kann ich Ihnen ganz genau erklären, da ich fast alle unsere Befestigungen selber angelegt habe. Also sehen Sie, unser Zentrum ist in Borodino, dort!« Er zeigte auf das Dorf mit der weißen Kirche, das vor ihnen lag. »Da ist der Übergang über die Kolotscha. Dort, sehen Sie, wo in den Niederungen das frisch gemähte Gras in Reihen liegt, dort ist die Brücke. Das ist also unser Zentrum. Unsere rechte Flanke steht da …« Er wies scharf nach rechts, fern nach einer Talenge. »Dort fließt die Moskwa, und da haben wir drei sehr starke Schanzen erbaut. Unsere linke Flanke …« Der Offizier hielt inne. »Sehen Sie, das kann ich Ihnen nur schwer erklären … Gestern stand unsere linke Flanke da, in Schewardino … sehen Sie dort, wo die Eiche steht … Nun aber haben wir den linken Flügel zurückgebogen … er ist jetzt dort … dort, sehen Sie den Rauch und das Dorf? Das ist Semjonowskoje. Ja, da, da …« Er zeigte auf den Rajewskijhügel. »Nur wird die Schlacht schwerlich dort stattfinden. Daß Bonaparte seine Truppen dorthin hat übersetzen lassen, ist nur eine Irreführung, sicherlich wird er mehr rechts der Moskwa vorgehen. Na, wo es nun auch sein möge … jedenfalls werden morgen viele von uns beim Appell fehlen«, sagte der Offizier.
Während dieser Auseinandersetzungen war ein alter Unteroffizier herangetreten und hatte schweigend gewartet, bis sein Vorgesetzter zu Ende gesprochen hatte. An dieser Stelle aber unterbrach er ihn, sichtlich unzufrieden mit diesen letzten Worten des Offiziers.
»Schanzkörbe müssen beschafft werden«, sagte er ernst und streng.
Der Offizier geriet etwas in Verlegenheit, als begriffe er, daß man wohl denken dürfe, daß morgen viele fehlen würden, daß es aber nicht passend sei, davon zu sprechen.
»Nun gut, so schicke doch wieder die dritte Kompanie«, erwiderte er hastig.
»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf, doch kein Arzt?«
»Nein, ich bin nur so hier hergekommen«, antwortete Pierre.
Darauf stieg er wieder den Hügel hinunter, abermals an den Landwehrleuten vorbei.
»Ach, diese verfluchten Kerle«, murmelte der Offizier, der Pierre folgte, vor sich hin und hielt sich, als er an den Landwehrleuten vorüberging, die Nase zu.
»Da sind sie! … sie bringen sie … sie kommen … da sind sie schon … gleich werden sie hier sein …« hörte man plötzlich Stimmen und Offiziere, Soldaten und Landwehrleute liefen eilig vor auf die Straße.
Den Berg herauf, von Borodino her, stieg eine kirchliche Prozession. Allen voran auf der staubigen Landstraße marschierte Infanterie mit abgenommenen Tschakos und gesenkten Gewehren. Hinter der Infanterie hörte man Kirchengesang.
Soldaten und Landwehrleute in bloßen Köpfen liefen, Pierre überholend, der Prozession entgegen.
»Unser Mütterchen bringen sie! Unsere Fürbitterin! Die Iberische Mutter Gottes!«
»Das Smolensker Mütterchen«, verbesserte ein anderer.
Alle Landwehrleute, sowohl die aus dem Dorf als auch diejenigen, die an der Batterie gearbeitet und nun ihre Grabscheite beiseitegeworfen hatten, liefen der Prozession entgegen.
Dem Bataillon, das die staubige Straße heraufmarschierte, folgten Priester in Meßgewändern, ein alter Mann in einer Mönchskutte, Küster und Sänger. Hinter ihnen her trugen Soldaten und Offiziere ein großes, in Silber und Gold gefaßtes Heiligenbild mit schwarzem Gesicht. Es war dies das Muttergottesbild, das man aus Smolensk mitgenommen hatte und seither bei der Armee mitführte. Vor und hinter dem Bild und auf allen Seiten ringsherum gingen, liefen und verbeugten sich mit entblößten Köpfen Scharen von Soldaten.
Als man mit dem Bild die Höhe erreicht hatte, machte man halt. Diejenigen, die es bis hierher auf Handtüchern getragen hatten, wurden abgelöst, die Kirchendiener zündeten die Weihrauchfässer an, der Bittgottesdienst nahm seinen Anfang.
Die heißen Strahlen der Sonne brannten fast senkrecht nieder. Ein leichter frischer Wind spielte mit den Haaren der entblößten Köpfe und mit den Bändern, die das Heiligenbild schmückten. Das Singen klang unter dem freien Himmel fast leise. Eine gewaltige Menge von Offizieren, Soldaten und Landwehrleuten, alle mit entblößten Köpfen, umgaben das heilige Bild. Hinter dem Geistlichen und dem Küster standen auf einem sauber gemachten Platz alle Persönlichkeiten höheren Rangs. Ein alter General mit einer Glatze und dem Georgskreuz am Hals stand dicht hinter dem Rücken des Priesters und wartete, ohne sich zu bekreuzigen – offenbar war er ein Deutscher –, geduldig das Ende des Gottesdienstes ab, dem beizuwohnen er für notwendig erachtet hatte, wahrscheinlich um den Patriotismus des russischen Volkes zu erhöhen. Ein andrer General stand in militärischer Haltung da, schlug sich mit der Hand vor die Brust und sah sich um.
Pierre, der zwischen dem Schwarm der Bauern stand, hatte in diesem Kreis der Hochgestellten ein paar Bekannte entdeckt, aber er sah sie nicht an: seine ganze Aufmerksamkeit wurde durch den ernsten Ausdruck gefesselt, den die Gesichter der ganzen Masse von Soldaten und Landwehrleuten zeigten, die alle mit der gleichen heißen Gier das Heiligenbild anschauten. Und sobald die schon müde gewordenen Küster – sie sangen bereits das zwanzigste Gebet – träge und gewohnheitsmäßig zu singen anfingen: »Errette deine Knechte aus ihrer Not, Gottesgebärerin!« und der Priester und der Diakonus einfielen: »Denn zu dir nehmen wir unsere Zuflucht, du unsere feste Burg und unsere Fürbitterin«, flammte auf allen Gesichtern wieder jenes Bewußtsein der Feierlichkeit des kommenden Augenblicks auf, ein Gesichtsausdruck, den Pierre schon am Berg von Moshaisk und dann immer wieder auf den vielen, vielen Gesichtern gesehen hatte, die ihm an jenem Morgen begegnet waren. Und immer tiefer senkten sich die Köpfe, das Haar wurde zurückgeworfen und immer häufiger hörte man, wie die sich Bekreuzigenden seufzten und sich vor die Brust schlugen.
Plötzlich teilte sich die Menge, die das Heiligenbild umgab, und drängte Pierre beiseite. Irgendeine wahrscheinlich sehr hohe Persönlichkeit – nach der Eilfertigkeit zu urteilen, mit der alle Platz machten – trat auf das Bild zu.
Es war Kutusow, der die Stellung abgeritten hatte. Auf dem Rückweg nach Tatarinowa war er an dem Bittgottesdienst vorübergekommen. Pierre erkannte ihn sogleich an seiner eigentümlichen Gestalt, die ihn von allen unterschied.
Einen langen Überrock auf seinem gewaltig dicken Körper, mit krummem Rücken und bloßem weißem Kopf, mit dem ausgelaufenen, weißen Auge in dem aufgeschwemmten Gesicht trat Kutusow mit seinem schwimmenden, schwankenden Gang in den Kreis und blieb hinter dem Priester stehen. Mit gewohnter Gebärde bekreuzigte er sich, führte die Hand bis zur Erde und senkte, tief seufzend, den grauen Kopf. Hinter Kutusow stand Bennigsen und das Gefolge. Trotz der Anwesenheit des Oberkommandierenden, der die Aufmerksamkeit aller Persönlichkeiten höheren Rangs auf sich lenkte, beteten Soldaten und Landwehrleute, ohne ihn anzusehen, ruhig weiter.
Als der Gottesdienst zu Ende war, trat Kutusow auf das heilige Bild zu, ließ sich schwer auf die Knie nieder, verbeugte sich bis zur Erde und konnte dann aus Schwerfälligkeit und Schwäche lange nicht wieder aufstehen, obgleich er es immer wieder versuchte. Sein grauer Kopf zuckte vor Anstrengung. Endlich richtete er sich auf, streckte kindlich naiv die Lippen vor, um das heilige Bild zu küssen, und verbeugte sich abermals, indem er mit der Hand die Erde berührte. Die Generäle folgten seinem Beispiel, dann auch die übrigen Offiziere, und nach ihnen traten, sich drängend und stoßend, keuchend und mit erregten Gesichtern die Soldaten und Landwehrleute heran.
Pierre schwankte in dem Gedränge, das ihn erfaßt hatte, hin und her und sah sich um.
»Graf, Pjotr Kirillytsch! Was machen Sie denn hier?« rief ihm plötzlich eine Stimme zu.
Pierre sah sich um. Boris Drubezkoj trat lächelnd auf ihn zu, indem er sich den Staub vom Knie klopfte, wahrscheinlich war er ebenfalls vor dem heiligen Bild niedergekniet. Boris war sehr elegant gekleidet, mit einem Stich ins Feldzugsmäßige: er trug einen langen Überrock und über der Schulter – ganz ebenso wie Kutusow – eine Peitsche.
Inzwischen hatte sich Kutusow nach dem Dorf begeben und im Schatten des nächsten Hauses auf eine Bank gesetzt, die ein Kosak im Laufschritt herbeigebracht und ein anderer schnell mit einem Teppich bedeckt hatte. Ein zahlreiches, glänzendes Gefolge umgab den Oberbefehlshaber.
Das heilige Bild wurde weitergetragen; die Menge begleitete es. Pierre blieb etwa dreißig Schritte von Kutusow entfernt stehen und unterhielt sich mit Boris. Er setzte ihm seine Absicht auseinander, an der Schlacht teilzunehmen und die Stellung zu besichtigen.
»Machen Sie es so«, sagte Boris. »Je vous ferai les honneurs du camp. Am besten werden Sie alles von dort aus sehen, wo Bennigsen stehen wird. Ich gehöre nämlich zu seinem Gefolge und werde es ihm melden. Wenn Sie aber die Stellung abreiten wollen, so kommen Sie mit uns, wir werden sogleich nach der linken Flanke hinüberreiten. Und wenn wir dann zurückkommen, bitte ich Sie, mir das Vergnügen zu machen, bei mir zu übernachten, abends machen wir dann ein Spielchen. Sie kennen doch Dmitrij Sergejewitsch? Er steht dort.« Boris zeigte auf das dritte Haus in Gorki.
»Aber ich wollte eigentlich auch die rechte Flanke sehen; man sagt, sie soll sehr stark sein«, entgegnete Pierre. »Ich möchte von der Moskwa aus die ganze Stellung abreiten.«
»Nun, das können Sie ja dann noch; die Hauptsache ist doch die linke Flanke …«
»Ja, gewiß. Wo aber steht das Regiment des Fürsten Bolkonskij? Können Sie mir das nicht zeigen?« fragte Pierre.
»Das Regiment Andrej Nikolajewitsch? Da reiten wir vorbei; ich werde Sie zu ihm führen.«
»Wie sieht’s denn auf der linken Flanke aus?« fragte Pierre.
»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, entre nous, unsere linke Flanke ist in Gott weiß was für einem Zustand«, erwiderte Boris mit vertraulich gedämpfter Stimme. »Graf Bennigsen hatte das durchaus nicht so vorgesehen. Er hatte beabsichtigt, jenen Hügel dort zu befestigen, aber nicht so … jedoch …« Boris zuckte mit den Achseln. »Der Durchlauchtige wollte es nicht, oder man hatte ihm etwas vorgeredet. Nämlich …« Aber Boris sprach nicht zu Ende, da in diesem Augenblick Kaisarow, der Adjutant Kutusows, auf Pierre zutrat.
»Ah! Paisij Sergeitsch«, rief Boris mit ungezwungenem Lächeln aus und wandte sich an Kaisarow. »Soeben bemühe ich mich, dem Grafen unsere Stellung zu erklären. Erstaunlich, wie richtig der Durchlauchtige die Pläne der Franzosen erraten hat.«
»Sie sprechen von der linken Flanke?« fragte Kaisarow.
»Ja, gerade davon. Unsere linke Flanke ist jetzt sehr, sehr stark.«
Obgleich Kutusow alle überflüssigen Offiziere aus dem Stab verjagt hatte, hatte es Boris doch verstanden, sich nach dem Umschwung, der durch Kutusow verursacht worden war, im Hauptquartier zu halten. Er hatte sich an den Grafen Bennigsen herangemacht. Dieser hielt, wie alle Persönlichkeiten, bei denen sich Boris befunden hatte, den jungen Fürsten Drubezkoj für einen unschätzbaren jungen Mann.
In der Oberleitung der Armee gab es zwei scharf getrennte Parteien: die Partei Kutusows und die Partei des Chefs des Generalstabs Bennigsen. Boris gehörte zur zweiten, und niemand verstand es so gut wie er, Kutusow eine knechtische Ehrerbietung zu erweisen und dabei doch durchfühlen zu lassen, daß es mit dem alten Herrn vorbei sei und Bennigsen die ganze Sache leite. Jetzt war die Schlacht und somit der entscheidende Augenblick gekommen: entweder mußte Kutusow vernichtet und die Macht Bennigsen übertragen werden oder – wenn Kutusow wirklich die Schlacht gewann – man mußte allen zu verstehen geben, daß nur Bennigsen dies zustande gebracht habe. Auf jeden Fall sollten am morgigen Tag viele Auszeichnungen verteilt und neue Persönlichkeiten ans Licht gezogen werden, und deshalb befand sich Boris schon den ganzen Tag in fieberhafter Aufregung.
Nach Kaisarow traten noch andere Bekannte auf Pierre zu, und er konnte kaum auf alle die Fragen nach Moskau antworten, mit denen man ihn überschüttete, konnte kaum auf alles hören, was man ihm berichtete. Auf allen Gesichtern lag derselbe Ausdruck von Erregung und Unruhe. Aber es kam Pierre vor, als sei der Grund jener Erregung, die sich auf diesen Gesichtern ausprägte, nur in der Frage des persönlichen Erfolges zu suchen, und immer wieder mußte er an jenen anderen Ausdruck innerer Erregung denken, den er heute auf anderen Gesichtern gesehen hatte und der nicht von persönlichen, sondern von allgemeinen Interessen, vom Leben und vom Tod, sprach. – Kutusow hatte Pierre und die Gruppe, die sich um ihn gebildet hatte, bemerkt.
»Rufen Sie ihn her zu mir«, sagte er.
Ein Adjutant übermittelte Pierre den Wunsch des Durchlauchtigen, und Pierre ging auf die Bank zu. Doch noch vor ihm trat ein Landwehrsoldat an Kutusow heran. Es war Dolochow.
»Wie kommt denn der hierher?« fragte Pierre.
»Das ist so’n Sapperlotskerl … der schlägt sich überall durch!« gab man Pierre zur Antwort. »Er ist nämlich degradiert worden. Jetzt möchte er gern wieder hochkommen. Er hat irgendwelche Pläne eingereicht und sich in der Nacht in die feindliche Vorpostenkette geschlichen … Einen Schneid hat der Kerl! …«
Pierre zog den Hut und verbeugte sich ehrerbietig vor Kutusow.
»Ich bin mir darüber klar, daß, wenn ich diese Meldung mache, Durchlaucht mich fortjagen oder sagen können, daß alles, was ich berichte, bereits bekannt sei, aber das würde meinen eignen und den Wert dessen, was ich zu sagen habe, nicht vermindern …« sagte Dolochow.
»So, so.«
»Habe ich aber recht, so wird das meinem Vaterland, für das ich zu sterben bereit bin, von großem Nutzen sein.«
»So … so …«
»Und wenn Durchlaucht einen Mann brauchen, dem es um sein Fell nicht leid ist, so bitte ich, an mich zu denken … Vielleicht kann ich Euer Durchlaucht noch einmal nützlich sein.«
»So … so …« wiederholte Kutusow lächelnd und blickte Pierre mit zusammengekniffenem Auge an.
Unterdessen hatte sich auch Boris mit der ihm eigenen höfischen Gewandtheit in die Nähe des Oberkommandierenden bis dicht neben Pierre herangeschlängelt und sagte in gedämpftem Ton mit der natürlichsten Miene der Welt, als ob er ein begonnenes Gespräch fortsetze, zu Pierre: »Die Landwehr hat heute eigens reine, weiße Hemden angezogen, um sich für den Tod vorzubereiten. Welch ein Heldenmut, Graf!«
Offenbar sagte Boris dies nur zu Pierre, damit der Durchlauchtige es hören solle. Er wußte, daß er mit diesen Worten die Aufmerksamkeit Kutusows auf sich ziehen werde, und wirklich wandte sich der Durchlauchtige auch ihm zu.
»Was sagst du da von der Landwehr?« fragte er Boris.
»Sie haben weiße Hemden angezogen, um sich für den morgigen Tag, für den Tod, vorzubereiten, Durchlaucht.«
»Ah! … Ein wunderbares, unvergleichliches Volk!« sagte Kutusow, schloß die Augen und nickte. »Ein unvergleichliches Volk!« wiederholte er mit einem Seufzer.
»Sie wollen wohl Pulver riechen?« sagte er dann zu Pierre. »Ja, ja, das ist ein angenehmer Duft. Ich habe die Ehre, ein Anbeter Ihrer Frau Gemahlin zu sein. Geht es ihr gut? Mein Quartier steht Ihnen zu Diensten.«
Und wie es alten Leuten oft geht, fing Kutusow an, sich zerstreut umzusehen, als hätte er alles vergessen, was er sagen und tun wollte.
Da fiel ihm offenbar ein, nach was er gesucht hatte, und er winkte Andrej Sergejewitsch Kaisarow, den Bruder seines Adjutanten, zu sich heran.
»Wie … wie sind doch gleich die Verse Marins[168]? Die Verse, wissen Sie, die er auf Gerakow[169] gemacht hat: ›Du wirst vom Korps der Lehrer werden.‹ Sagen Sie sie doch mal her«, rief Kutusow, der offenbar gern einmal lachen wollte.
Kaisarow sagte die Verse auf, und Kutusow nickte lächelnd im Takt.
Als Pierre wieder von Kutusow wegging, trat Dolochow auf ihn zu und nahm seine Hand.
»Freue mich sehr, Sie hier zu treffen, Graf«, sagte er laut und mit besonders fester und feierlicher Stimme zu ihm, ohne sich durch die Anwesenheit Fremder stören zu lassen.
»Gott weiß, wem von uns es beschieden sein wird, den morgigen Tag zu überleben, und da freue ich mich doppelt über die Gelegenheit, Ihnen noch sagen zu können, daß ich jene Mißverständnisse, die zwischen uns lagen, sehr bedaure und wünschen würde, daß auch Sie nichts mehr gegen mich haben. Ich bitte Sie, mir zu verzeihen.«
Pierre sah Dolochow lächelnd an und wußte nicht, was er ihm sagen sollte. Dolochow traten die Tränen in die Augen; er umarmte und küßte Pierre.
Boris sagte etwas zu seinem General, und Graf Bennigsen wandte sich an Pierre und schlug ihm vor, mit ihm zusammen die Front abzureiten.
»Das wird Sie interessieren«, sagte er.
»Ja, das ist sehr interessant«, erwiderte Pierre.
Nach einer halben Stunde begab sich Kutusow nach Tatarinowa, und Bennigsen ritt mit seinem Gefolge, unter dem sich auch Pierre befand, die Stellungslinie ab.
Bennigsen ritt von Gorki aus die Landstraße nach jener Brücke hinunter, neben der das frischgemähte, duftende Gras in Reihen lag und die der Offizier Pierre vom Hügel aus als den Mittelpunkt der Stellung bezeichnet hatte. Sie ritten über die Brücke hinweg in das Dorf Borodino hinein, wandten sich hier nach links und begaben sich an einer Unmenge von Truppen und Kanonen vorüber einen hohen Hügel hinan, wo Landwehrleute Erdarbeiten ausführten. Das war eine Schanze, die damals noch keinen Namen hatte, später aber die Bezeichnung Rajewskijschanze oder Hügelbatterie erhielt.
Pierre wandte dieser Schanze keine besondere Aufmerksamkeit zu. Er ahnte nicht, daß dieser Punkt für ihn der denkwürdigste des ganzen Schlachtfeldes von Borodino werden sollte. Dann ritten sie durch eine Talenge nach Semjonowskoje, wo Soldaten die letzten Balken von Hütten und Scheunen fortschleppten, und von hier aus weiter bergauf und bergab durch das niedergetretene, wie vom Hagel zerstörte Korn, den Weg entlang, den sich die Artillerie neu über den Acker gebahnt hatte, und gelangten so zu den Pfeilschanzen, an denen damals ebenfalls noch gegraben wurde.
Bei diesen Pfeilschanzen machte Bennigsen halt und fing an, den gegenüberliegenden Hügel von Schewardino, der gestern noch uns gehört hatte, zu beobachten, auf dem einige Reiter sichtbar wurden. Die Offiziere behaupteten, das müsse Napoleon oder Murat sein. Mit wahrer Gier blickten alle zu diesem Reitertrupp hinüber. Pierre sah auch hin und bemühte sich, herauszubekommen, welcher von diesen kaum sichtbaren Menschen wohl Napoleon sei. Endlich sprengten die Reiter wieder den Hügel hinunter und verschwanden.
Bennigsen wandte sich an einen General, der zu ihm herangeritten war, und fing an, ihm die ganze Aufstellung unserer Truppen zu erklären. Pierre hörte seinen Worten zu und strengte alle seine Geisteskräfte an, um das Wesentliche der bevorstehenden Schlacht zu begreifen, fühlte aber zu seinem Leidwesen, daß seine Fähigkeiten dazu nicht ausreichten. Er verstand nichts. Bennigsen brach seine Ausführungen ab und wandte sich, als er sah, daß Pierre zuhörte, plötzlich an diesen: »Sie wird das wohl nicht allzu sehr interessieren, denke ich?«
»Im Gegenteil, das interessiert mich sehr«, versicherte Pierre nicht ganz wahrheitsgemäß.
Von den Pfeilschanzen aus ritten sie noch weiter links auf einem Weg, der sich durch ein dichtes, niedriges Birkenwäldchen schlängelte. Mitten in diesem Hölzchen sprang plötzlich gerade vor ihnen ein brauner Hase mit weißen Läufen auf den Weg und geriet vor Schrecken über das Getrappel so vieler Pferdehufe dermaßen in Verwirrung, daß er zum allgemeinen Ergötzen und Gelächter lange auf dem Weg vor ihnen herlief, und erst dann, als ein paar Stimmen ihn anschrien, sich zur Seite warf und im Dickicht verschwand.
Nachdem sie etwa zwei Werst durch den Wald geritten waren, kamen sie auf eine Blöße, wo die Truppen des Tutschkowschen Korps standen, das die linke Flanke decken sollte.
Hier auf dem äußersten linken Flügel redete Bennigsen viel und heftig und erteilte einen Befehl, der, wie es Pierre schien, taktisch von großer Wichtigkeit war. Vor der Stellung der Tutschkowschen Truppen befand sich eine Anhöhe, die noch nicht von Soldaten besetzt war. Bennigsen übte an diesem Fehler laute Kritik und sagte, es sei unsinnig, eine das Gelände beherrschende Höhe unbesetzt zu lassen und die Truppen dahinter am Fuß aufzustellen. Einige Generäle vertraten dieselbe Ansicht, wobei sich besonders einer mit kriegerischer Heftigkeit sogar dahin äußerte, die Aufstellung der Truppen hinter dem Berg sei mit einer Schlachtbank zu vergleichen. Bennigsen ordnete auf eigne Faust an, die Truppen bis auf die Höhe vorzuschieben.
Diese auf der linken Flanke getroffenen Anordnungen ließen Pierre noch mehr an seiner Befähigung zweifeln, das Kriegshandwerk zu verstehen. Während er Bennigsen und den Generälen zuhörte, wie sie an der Aufstellung der Truppen hinter dem Berg Kritik übten, verstand er sie vollkommen und teilte ihre Ansichten, aber gerade darum konnte er nicht begreifen, wie derjenige, der diese Regimenter hinter dem Berg aufgestellt hatte, einen so offensichtlichen und schweren Fehler hatte machen können.
Pierre ahnte nicht, daß diese Regimenter nicht zum Schutz der Position, wie Bennigsen dachte, aufgestellt waren, sondern an dieser verborgenen Stelle im Hinterhalt liegen sollten, also zu dem Zweck, unbemerkt zu bleiben, um plötzlich auf den herannahenden Feind loszustürzen. Bennigsen wußte das nicht und ließ die Truppen nach seinem persönlichen Dafürhalten vorrücken, ohne dem Oberkommandierenden etwas davon zu sagen.
Fürst Andrej lag an diesem klaren Abend des 25. August, auf den Ellenbogen gestützt, in einem halbzerfallenen Schuppen an der äußersten Grenze des Dorfes Knjaskowo, wo sein Regiment stand. Durch ein Loch der schadhaften Wand blickte er auf eine Reihe dreißigjähriger Birken, die am Zaun entlang standen und deren untere Äste abgehauen waren, blickte auf das Feld mit den zerstörten Hafergarben und auf die Büsche, aus denen der Rauch der Lagerfeuer und Feldküchen aufstieg.
Wie drückend, unnütz und schwer dem Fürsten Andrej auch das Leben schien, so fühlte er sich doch jetzt ebenso unruhig und erregt wie vor sieben Jahren am Vorabend der Schlacht bei Austerlitz.
Die Befehle für die morgige Schlacht hatte er erhalten und weitergegeben. Zu tun war nichts mehr. Aber die Gedanken, höchst einfache, klare und daher schreckliche Gedanken, ließen ihm keine Ruhe. Er wußte, daß die morgige Schlacht die furchtbarste aller werden mußte, an denen er je teilgenommen hatte, und zum erstenmal in seinem Leben trat ihm die Möglichkeit seines Todes mit aller Lebendigkeit, ja fast mit Gewißheit, einfach und furchtbar vor Augen, ohne jeden Zusammenhang mit allem Irdischen, ohne den Gedanken daran, wie sein Tod auf andere wirken werde, sondern nur in Beziehung zu ihm selbst, zu seiner Seele. Und von der Höhe dieser Vorstellung aus wurde plötzlich alles, was ihn früher gequält und beschäftigt hatte, wie mit einem kalten, weißen Licht überflutet, das weder Schatten noch Perspektive kannte und alle Umrisse verschwimmen ließ. Sein ganzes Leben kam ihm wie ein Guckkasten vor, in den er lange durch ein Glas und bei künstlicher Beleuchtung hineingesehen hatte. Jetzt erblickte er auf einmal diese traurig hingeklecksten Bilder ohne Glas und bei grellem Tageslicht.
Ja, ja, da sind sie, jene Trugbilder, die mich erregt, entzückt und gequält haben, sagte er zu sich selbst, während er die Hauptbilder seines Lebensguckkastens an seiner Seele vorüberziehen ließ und sie nun in diesem kalten, weißen Licht, in dem klaren Gedanken an seinen Tod, betrachtete. Da sind sie, diese grobgemalten Gestalten, die sich als etwas so Wunderbares, Geheimnisvolles darstellten. Ruhm, soziale Fürsorge, Frauenliebe, Vaterland – wie groß erschienen mir diese Bilder, und wie tief der Sinn, der sie erfüllte! Und dies alles ist so armselig, blaß und grob bei dem kalten, weißen Licht jener Dämmerung, die jetzt, ich fühle es, für mich anbricht.
Drei schmerzliche Ereignisse seines Lebens fesselten seine Aufmerksamkeit ganz besonders: seine Liebe, der Tod seines Vaters und das Eindringen der Franzosen, die schon von halb Rußland Besitz ergriffen hatten.
Liebe! … Jenes Mädchen, das mir so viele geheimnisvolle Kräfte zu haben schien! Wie kam es nur? Ich liebte sie und umrankte ihre Liebe, das Glück an ihrer Seite, mit poetischen Plänen. Braver Knabe, der ich war, murmelte er laut und grimmig vor sich hin. Wie kam es nur? Ich glaubte an eine ideale Liebe, die mir ihre Treue während des ganzen Jahres meiner Abwesenheit bewahren helfen sollte. Wie das zärtliche Täubchen in der Fabel sollte sie, von mir getrennt, schmachten. Und dabei ist das alles bei weitem nüchterner … furchtbar nüchtern ist dies alles und ekelhaft.
Und so auch mein Vater: er hat sich Lysyja-Gory erbaut und gedacht, das sei seine Heimat, sein Land, seine Luft, seine Bauern – und da kommt Napoleon, stößt ihn, ohne von der Existenz meines Vaters zu wissen, aus dem Weg wie ein Stück Holz und richtet sein ganzes Leben und sein Lysyja-Gory zugrunde. Prinzessin Marja aber sagt, das sei eine Prüfung, von oben gesandt. Wozu aber eine Prüfung, wenn er nicht mehr ist und nie mehr sein wird? Er ist nicht mehr. Wem also sollte diese Prüfung gelten?
Das Vaterland … der Untergang Moskaus! Mich aber wird man morgen totschießen, und vielleicht nicht einmal ein Franzose, sondern einer der Unsrigen, wie schon gestern ein Soldat seine Flinte dicht an meinem Ohr abschoß. Und dann werden die Franzosen kommen, werden mich an den Beinen und am Kopf nehmen und in eine Grube werfen, damit ich ihnen nicht die Luft verpeste. Und dann werden neue Lebensbedingungen entstehen, an die sich andere Menschen wieder ebenso gewöhnen werden, wie wir uns an die bisherigen, ich aber werde nichts mehr davon erfahren, denn ich werde nicht mehr sein.
Er blickte auf die Birkenreihe mit ihrem regungslosen, gelblichgrünen Laub; die weiße Rinde der Stämme glänzte in der Sonne.
Sterben … mag man mich töten … morgen … daß ich nicht mehr bin … Mag dies alles weiterbestehen … und nur ich nicht mehr sein …
Deutlich stellte er sich das Leben vor, an dem er nicht mehr teilhatte. Und plötzlich wandelten sich die Birken mit ihrem Licht und Schatten, die krausen Wolken und der Rauch des Lagerfeuers, und alles um ihn herum erschien ihm furchtbar und drohend. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Schnell stand er auf, lief aus dem Schuppen und fing an, auf und ab zu gehen.
Hinter dem Schuppen hörte man plötzlich Stimmen.
»Wer da?« rief Fürst Andrej.
Der rotnasige Hauptmann Timochin, der früher Dolochows Kompaniechef gewesen, jetzt aber, bei dem Verlust an Offizieren, zum Battaillonskommandeur ernannt worden war, trat schüchtern in den Schuppen. Ihm folgte ein Adjutant und der Zahlmeister.
Fürst Andrej schritt hastig auf sie zu, hörte an, was die Offiziere ihm dienstlich zu melden hatten, erteilte noch ein paar Befehle und schickte sich eben an, sie wieder zu entlassen, als er vor dem Schuppen eine bekannte, lispelnde Stimme hörte.
»Que diable!« rief dort jemand, der sich anscheinend an etwas gestoßen hatte.
Fürst Andrej blickte aus dem Schuppen und sah Pierre auf sich zukommen, der über eine dort liegende Schanze gestolpert war und beinahe gefallen wäre.
Es war dem Fürsten Andrej immer unangenehm, mit Menschen aus seinen Kreisen zusammenzutreffen, und nun gar noch mit Pierre, der ihn an jene schweren Augenblicke erinnerte, die er bei seinem letzten Aufenthalt in Moskau durchlebt hatte.
»Ah, du bist es!« sagte er. »Welch ein Zusammentreffen! Das hätte ich nicht erwartet.«
Während er dies sagte, zeigte sich in seinen Augen und auf seinem ganzen Gesicht ein mehr als trockener Ausdruck, beinahe etwas wie Feindseligkeit, was Pierre auch sogleich bemerkte. Dieser trat in der angeregtesten Stimmung in den Schuppen, als er aber den Ausdruck auf Fürst Andrejs Gesicht bemerkte, fühlte er sich geniert und unbehaglich.
»Ich bin gekommen … nur so … wissen Sie … ich bin gekommen, weil es mir interessant ist«, sagte Pierre, wobei er das Wort »interessant« zum soundsovieltenmal an diesem Tag wiederholte. »Ich wollte gern eine Schlacht sehen.«
»So, so. Was sagen aber die Freimaurerbrüder über den Krieg? Wie ist er zu vermeiden?« fragte Fürst Andrej spöttisch. »Nun, wie steht’s in Moskau? Was machen die Meinen? Sind sie endlich in Moskau angekommen?« fragte er dann ernsthaft weiter.
»Jawohl. Julie Drubezkaja hat es mir erzählt. Ich fuhr zu ihnen, traf sie aber nicht mehr an. Sie waren schon in das Landhaus bei Moskau übersiedelt.«
Die Offiziere wollten sich verabschieden, aber Fürst Andrej forderte sie auf, Platz zu nehmen und mit ihm Tee zu trinken, als wünsche er nicht, mit seinem Freund unter vier Augen zu bleiben. Man brachte Tee und Bänke. Nicht ohne Verwunderung betrachteten die Offiziere Pierres gewaltige, dicke Gestalt und hörten seinen Erzählungen von Moskau und von den Stellungen unserer Truppen zu, die er hatte abreiten dürfen. Fürst Andrej schwieg, und sein Gesicht zeigte einen so unangenehmen Ausdruck, daß sich Pierre mehr an den gutmütigen Bataillonskommandeur Timochin wandte als an Bolkonskij.
»So hast du also die ganze Aufstellung unserer Truppen verstanden?« unterbrach ihn Fürst Andrej.
»Ja, das heißt, wie meinst du das?« fragte Pierre. »Als Zivilist kann ich natürlich nicht sagen, daß ich es wirklich ganz verstanden hätte, aber doch immerhin so im allgemeinen.«
»Eh bien, vous êtes plus avancé que qui que cela soit«, erwiderte Fürst Andrej.
»Oh!« rief Pierre erstaunt und sah Bolkonskij durch seine Brille an. »Aber was sagen Sie zu Kutusows Ernennung?« fuhr er dann fort.
»Ich habe mich über diese Ernennung sehr gefreut«, erwiderte Fürst Andrej. »Das ist alles, was ich darüber zu sagen wüßte.«
»Ja, aber sagen Sie bitte, wie denken Sie über Barclay de Tolly? In Moskau wird Gott weiß was alles von ihm erzählt. Wie urteilen Sie über ihn?«
»Frage nur die«, sagte Fürst Andrej und zeigte auf die Offiziere.
Pierre sah Timochin fragend und mit jenem herablassenden Lächeln an, mit dem sich immer alle an diesen wandten.
»Die Sonne ging für uns auf, Euer Durchlaucht, als der Durchlauchtige antrat«, erwiderte schüchtern Timochin, ohne einen Blick von seinem Regimentskommandeur zu verwenden.
»Wieso denn?« fragte Pierre.
»Ja, allein schon wegen Holz und Futter, erlaube ich mir, ihnen anzuführen. Als wir von Swenziany zurückgingen, hieß es: ›Daß ihr euch nicht untersteht, ein Reisigbündel oder Heu oder sonst was anzurühren!‹ Aber wir gingen doch weg, folglich blieb das alles ihm, nicht wahr, Durchlaucht?« wandte er sich an den Fürsten. »Trotzdem aber hieß es: ›Daß ihr euch nicht untersteht!‹ In unserem Regiment sind zwei Offiziere wegen solcher Sachen vor Gericht gestellt worden. Na, als aber nun der Durchlauchtige antrat, da wurde in dieser Beziehung alles viel einfacher. Die Sonne ging für uns auf …«
»Ja, aber warum war denn das verboten worden?«
Timochin blickte sich verlegen um, da er nicht wußte, wie und was er darauf antworten sollte. Pierre wandte sich mit derselben Frage noch einmal an den Fürsten Andrej.
»Um das Land, das wir dem Feind überließen, nicht vorher zu verwüsten«, erwiderte Fürst Andrej mit bitterem Spott. »Der Grund ist doch sehr triftig: man darf den Truppen nicht erlauben, im Lande zu plündern, damit sie sich nicht an das Marodieren gewöhnen. Na, und in Smolensk hatte er auch ganz richtig erwogen, daß die Franzosen uns hätten umzingeln können, und daß sie viel stärkere Streitkräfte besaßen. Aber das eine hat er nicht begreifen können!« rief Fürst Andrej in plötzlich hervorbrechendem Zorn mit scharfer Stimme aus. »Das eine hat er nicht begreifen können, daß wir dort zum erstenmal um russische Erde kämpften, daß in den Truppen ein Geist herrschte, wie ich ihn noch nie gesehen habe, daß wir zwei Tage hintereinander die Franzosen zurückgeschlagen hatten, und daß dieser Erfolg unsere Kräfte verzehnfachte. Da befahl er den Rückzug, und alle unsere Anstrengungen und Verluste waren umsonst. Er dachte nicht an Verrat, gab sich Mühe, alles so gut wie nur möglich zu machen, erwog alles, aber eben deshalb taugte er nicht dazu. Er ist untauglich für den jetzigen Augenblick, gerade weil er alles sehr gründlich und gewissenhaft überlegt, wie das nun mal jedem Deutschen eigen ist. Wie könnte ich dir das nur auseinandersetzen … Stelle dir vor, dein Vater habe einen deutschen Diener, einen trefflichen Diener, der alle Ansprüche deines Vaters besser befriedigt, als du es könntest: du wirst ihn ruhig in seinem Amt lassen; wenn aber dein Vater einmal todkrank ist, wirst du diesen Diener fortjagen und mit deinen eignen wenig geübten, ungeschickten Händen deinen Vater pflegen und ihn besser beruhigen können als ein wenn auch geschickter, aber doch fremder Mensch. So haben sie es auch mit Barclay gemacht. Solang Rußland gesund war, konnte ein Fremder dem Lande dienen – und er ist ein vorzüglicher Minister gewesen; jetzt aber, wo das Vaterland in Gefahr ist, braucht es einen eignen Sohn, der Fleisch ist von seinem Fleisch. Ihr aber in eurem Klub habt euch ausgedacht, er sei ein Verräter. Doch dadurch, daß man ihn verleumdet und zum Verräter stempelt, bewirkt man nur, daß man sich später dieses ungerechten Vorwurfs schämen und aus dem Verräter auf einmal wieder einen Helden oder ein Genie machen wird, was noch unzutreffender wäre. Er ist ein ehrlicher und sehr gewissenhafter Deutscher …«
»Aber man behauptet doch, daß er ein tüchtiger Feldherr sei«, warf Pierre ein.
»Ich verstehe nicht, was das heißen soll: ein tüchtiger Feldherr«, erwiderte Fürst Andrej spöttisch.
»Ein tüchtiger Feldherr«, sagte Pierre, »nun das ist eben einer, der alle Zufälle voraussieht … die Gedanken des Gegners errät …«
»Das ist unmöglich«, unterbrach ihn Fürst Andrej, als sei dies eine längst entschiedene Sache.
Pierre sah ihn erstaunt an.
»Man sagt doch aber«, meinte er dann, »daß der Krieg Ähnlichkeit mit dem Schachspiel habe.«
»Gewiß«, erwiderte Fürst Andrej, »nur mit dem kleinen Unterschied, daß du beim Schachspiel über jeden Zug so lange nachdenken kannst, wie du Lust hast, und nicht den Bedingungen unterworfen bist, die die Zeit mit sich bringt. Und dann noch ein zweiter Unterschied: beim Schachspiel ist der Springer immer stärker als der Bauer und zwei Bauern immer stärker als einer, im Krieg dagegen ist ein Bataillon manchmal stärker als eine ganze Division, bisweilen aber auch wieder schwächer als eine Kompanie. Die jeweilige Kraft einer Truppe kann niemand im voraus kennen. Glaube mir«, fuhr er fort, »wenn nur das Geringste von den Dispositionen des Stabes abhinge, wäre ich der erste, der dort wäre und diese Dispositionen träfe, so aber habe ich die Ehre vorgezogen, hier im Regiment zu dienen, mit diesen Herren zusammen, und glaube, daß in Wirklichkeit von uns der morgige Tag abhängen wird und nicht von ihnen … Ein Erfolg hat noch nie von der Stellung abgehangen, auch nicht von der Bewaffnung, ja nicht einmal von der Zahl, am allerwenigsten aber von der Stellung. Und das wird auch nie der Fall sein.«
»Aber wovon soll er denn sonst abhängen?«
»Von dem Geist, der in mir ist und in ihm«, er zeigte auf Timochin, »und in jedem Soldaten.«
Fürst Andrej blickte Timochin an, der erschrocken und erstaunt seinen Kommandeur ansah. Im Gegensatz zu seiner Schweigsamkeit und Zurückhaltung von vorhin schien Fürst Andrej jetzt sehr erregt zu sein. Offenbar konnte er sich nicht enthalten, die Gedanken auszusprechen, die plötzlich über ihn gekommen waren.
»Eine Schlacht gewinnt immer derjenige, der fest dazu entschlossen ist, sie zu gewinnen. Warum haben wir die Schlacht bei Austerlitz verloren? Wir hatten fast dieselben Verluste wie die Franzosen, aber wir sagten uns zu früh, daß wir die Schlacht verloren hätten, und hatten sie somit verloren. Und das sagten wir uns deshalb, weil wir dort eigentlich gar keinen Grund hatten, uns zu schlagen; wir wollten nur so bald wie möglich vom Schlachtfeld fortkommen. ›Die Schlacht ist verloren, also auf zur Flucht!‹ Und so flohen wir. Wenn wir uns das bis zum Abend nicht gesagt hätten, Gott weiß, was dann geworden wäre! Morgen aber werden wir das nicht sagen. Da sprichst du von unserer Stellung: die linke Flanke sei schwach, die rechte zu weit ausgedehnt«, fuhr er fort, »das ist alles Unsinn, nichts von alledem ist von Belang. Denn was steht uns morgen bevor? Millionen und aber Millionen der verschiedenartigsten Zufälligkeiten, die in einem einzigen Augenblick entscheiden werden, ob sie oder wir siegen oder davonlaufen, ob diese oder jene fallen müssen. Das, was jetzt getan wird, ist alles nur zum Zeitvertreib. Die Sache liegt so, daß die, mit denen du die Stellung abgeritten hast, den allgemeinen Gang der Dinge nicht nur nicht fördern, sondern sogar hindern. Sie sind nur mit ihren kleinlichen persönlichen Interessen beschäftigt.«
»In einem solchen Augenblick?« fragte Pierre vorwurfsvoll.
»In einem solchen Augenblick«, wiederholte Fürst Andrej. »Für sie ist das nur ein Augenblick, in dem man das Ansehen eines Feindes untergraben und für sich selber ein Kreuz oder Bändchen mehr herausschlagen kann. Ich denke über morgen so: hunderttausend Russen und hunderttausend Franzosen prallen aufeinander, um sich zu schlagen, und es wird zur Tatsache werden, daß diese zweimalhunderttausend Mann miteinander kämpfen. Wer nun am grimmigsten dreinschlägt und sich am wenigsten schont, der wird siegen. Und wenn du willst, werde ich dir sagen, daß wir, komme, was wolle, morgen die Schlacht gewinnen werden, mögen die da oben noch so viel Wirrsal anrichten. Komme, was wolle, morgen werden wir die Schlacht gewinnen!«
»Da haben Euer Durchlaucht wahr gesprochen, das ist die reine Wahrheit«, murmelte Timochin. »Wer wird sich jetzt noch schonen? Die Soldaten von meinem Bataillon, glauben Sie mir, trinken heute keinen Branntwein. ›Es ist nicht der Tag danach‹, sagen sie.«
Alle schwiegen. Die Offiziere erhoben sich. Fürst Andrej trat mit ihnen vor den Schuppen und erteilte seinem Adjutanten die letzten Befehle.
Als die Offiziere fort waren, trat Pierre auf den Fürsten Andrej zu und wollte soeben das Gespräch wieder anfangen, als auf dem Weg unweit des Schuppens der Hufschlag dreier Pferde hörbar wurde. Als Fürst Andrej nach dieser Richtung hinaussah, erkannte er Wolzogen und Clausewitz[170], die von einem Kosaken begleitet waren. Sie ritten im Gespräch ganz dicht vorbei, und Pierre und Fürst Andrej hörten unwillkürlich folgende Worte:
»Der Krieg muß räumlich ausgedehnt werden. Der Ansicht kann ich nicht genug Wert beimessen«, sagte der eine auf deutsch.
»Ja«, erwiderte die andere Stimme, »da der Zweck nur der ist, den Feind zu schwächen, kann auf Verluste, die einzelne dabei erleiden, nicht Rücksicht genommen werden.«
»Ganz recht«, bestätigte die erste Stimme.
»Ja, räumlich ausgedehnt«, wiederholte Fürst Andrej grimmig schnaubend, als sie vorbeigeritten waren. »Das haben mein Vater, mein Sohn und meine Schwester in Lysyja-Gory am eignen Leib erfahren müssen. Denen aber ist das einerlei. Das ist es, was ich dir soeben gesagt habe. Diese Herren Deutschen werden morgen die Schlacht nicht gewinnen, sondern der Sache nur schaden, soviel in ihren Kräften steht, denn in ihren deutschen Köpfen spuken nur immer Theorien, die kein ausgepicktes Ei wert sind, und in ihren Herzen fehlt das, was allein uns morgen von Nutzen sein kann: das, was in Timochin lebt. Ganz Europa haben sie Napoleon hingegeben und kommen nun zu uns, um uns zu lehren. Schöne Lehre das!« Wieder klang seine Stimme schrill.
»Sie glauben also, daß wir die Schlacht morgen gewinnen werden?« fragte Pierre.
»Ja, ja«, antwortete Fürst Andrej zerstreut. »Das einzige, was ich täte, wenn ich die Macht hätte«, fing er wieder an, »ich würde keine Gefangenen machen. Wozu Gefangene? Das ist Ritterlichkeit. Die Franzosen haben mein Haus zerstört und rücken vor, um Moskau zugrunde zu richten. Sie haben mir Schaden zugefügt und tun es jeden Augenblick aufs neue. Sie sind meine Feinde und meinem Dafürhalten nach alle Verbrecher. Und so denkt auch Timochin und die ganze Armee. Man muß sie bestrafen. Wenn sie aber meine Feinde sind, können sie nicht meine Freunde sein, was immer sie in Tilsit auch gesagt haben mögen.«
»Gewiß, gewiß«, bestätigte Pierre und blickte den Fürsten Andrej mit leuchtenden Augen an, »ich bin ganz, ganz mit Ihnen einverstanden.«
Jene Frage, die ihn schon am Abhang von Moshaisk und den ganzen Tag so beunruhigt hatte, schien ihm nun ganz klar und vollständig gelöst zu sein. Er verstand jetzt den ganzen Sinn und die ganze Bedeutung dieses Krieges und der bevorstehenden Schlacht. Alles, was er an diesem Tag gesehen hatte, der bedeutsame, ernste Ausdruck aller Gesichter, die für einen Augenblick vor ihm aufgetaucht waren – dies alles sah er jetzt in einem neuen Licht. Er verstand jene, wie es in der Physik heißt, latente Wärme der Vaterlandsliebe, die alle die Leute, die er gesehen hatte, erfüllte und durch die ihm jetzt klar wurde, warum sich alle diese Menschen so ruhig und gleichsam leichtsinnig zum Tode vorbereiteten.
»Keine Gefangenen machen!« fuhr Fürst Andrej fort. »Das allein würde den ganzen Krieg ändern und ihn minder grausam gestalten. So aber treiben wir den Krieg immer wie ein Spiel, und das ist ekelhaft. Wir spielen die Großmütigen und so weiter, und so weiter. Das ist dasselbe hochherzige Getue und dieselbe Empfindsamkeit wie bei einer Dame, der übel wird, wenn sie ein Kalb schlachten sieht – sie ist so gut und edel, daß sie kein Blut sehen kann –, ist aber dasselbe Kalb mit einer schönen Sauce zubereitet, so verspeist sie es mit größtem Appetit. Da redet und redet man von einem Recht des Krieges, von Ritterlichkeit, vom Parlamentieren, vom Schonen der Unglücklichen und so weiter … Alles Unsinn! Im Jahre 1805 habe ich diese Ritterlichkeit, dieses Parlamentieren mit eigenen Augen gesehen: man hat uns geprellt, und wir haben es ebenso gemacht. Man plündert fremde Häuser, setzt falsche Banknoten in Umlauf, und was das Schlimmste ist: man bringt meine Kinder und meinen Vater um und redet dabei von Rechten im Krieg und von Großmut gegen den Feind. Keine Gefangenen machen, sondern totschlagen und selber in den Tod gehen! Wer zu einem solchen Resultate gekommen ist wie ich, durch so viele Leiden …«
Fürst Andrej, der gemeint hatte, daß es ihm einerlei wäre, ob der Feind Moskau einnähme oder nicht, wie er auch Smolensk genommen hatte, mußte plötzlich in seiner Rede innehalten, weil ein Krampf ihm unerwartet die Kehle zuschnürte. Er ging ein paar Schritte schweigend auf und ab, aber seine Augen glänzten fieberhaft und seine Lippen zitterten, als er dann weitersprach:
»Wenn es dieses großmütige Getue im Krieg nicht gäbe, zögen wir nur in eine Schlacht, wenn es der Mühe wert wäre, in den sicheren Tod zu gehen, wie eben jetzt. Dann käme es auch nicht gleich zu einem Krieg, bloß weil Pawel Iwanowitsch den Michail Iwanowitsch beleidigt hat. Wenn aber Krieg wäre, wie eben jetzt, so wäre das dann auch ein richtiger Krieg. Und auch die innere Kraft der Truppen wäre eine andere als jetzt. Dann wären alle diese Westfalen und Hessen, die Napoleon anführt, ihm nicht nach Rußland gefolgt, und wir selber wären nicht ausgezogen, um in Österreich oder Preußen zu kämpfen, ohne zu wissen warum. Der Krieg ist keine liebenswürdige Plänkelei, sondern das Scheußlichste, was es im Leben gibt. Das muß man einsehen und darf nicht mit dem Krieg spielen. Ernst und streng müssen wir diese furchtbare Notwendigkeit hinnehmen. Und die Hauptsache ist: der Lüge muß man den Garaus machen und den Krieg wie einen Krieg betreiben, aber nicht wie ein Spiel. Jetzt aber ist er nur ein Lieblingszeitvertreib leichtsinniger Müßiggänger. Kein Stand steht so hoch im Ansehen wie der Militärstand.
Doch was ist der Krieg? Was braucht es zum Erfolg bei militärischen Aktionen? Wie sind im Militärstand die Sitten? Das Ziel des Krieges ist der Mord, das Handwerkszeug des Krieges: Spionage, Verrat und Anstiftung dazu, Ruin der Einwohner, ihre Beraubung oder Diebstahl, um die Armee zu versorgen, und Lüge und Betrug, was man Kriegslist nennt. Die Sitten des Militärstandes aber sind: völliger Mangel an Freiheit, was man als Disziplin bezeichnet, Müßiggang, Roheit, Grausamkeit, Unzucht und Unmäßigkeit. Und trotz alledem ist dies der höchste Stand, der von allen geachtet wird. Alle Kaiser, außer dem von China tragen Militäruniformen, und dem, der die meisten Menschen totgeschlagen hat, werden die größten Auszeichnungen zuteil.
Völker stoßen zusammen, wie es morgen der Fall sein wird, um einander zu morden. Sie schlagen sich tot, machen Tausende von Menschen zu Krüppeln, und dann werden Dankgottesdienste abgehalten dafür, daß so viele Menschen erschlagen worden sind, deren Zahl man dabei gern noch übertreibt, und der Sieg wird ausposaunt, und man denkt, je mehr Leute man totgeschlagen habe, um so größer sei das Verdienst. Wie kann nur Gott von dort oben dies alles mit ansehen und mit anhören?« rief Fürst Andrej mit scharfer, schriller Stimme. »Ach, mein Freund, mir ist in letzter Zeit das Leben recht schwer geworden. Ich sehe, daß ich anfange, zu viel zu verstehen. Aber es taugt nicht für den Menschen, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen … Nun, es wird ja nicht mehr lange sein«, fügte er hinzu.
»Aber du bist müde, und auch für mich ist es Zeit. Reite nach Gorki«, sagte Fürst Andrej plötzlich.
»O nein!« antwortete Pierre und sah den Fürsten Andrej mit mitleidigen und erschrockenen Augen an.
»Reite nur, reite nur; vor einer Schlacht muß man ausschlafen«, wiederholte Fürst Andrej.
Schnell trat er auf Pierre zu und umarmte und küßte ihn.
»Leb wohl! Geh!« rief er. »Werden wir uns wiedersehen? Nein …«, und hastig wandte er sich ab und ging aus dem Schuppen.
Es war schon dunkel, und Pierre hatte nicht genau unterscheiden können, ob der Ausdruck, der auf Fürst Andrejs Gesicht gelegen hatte, ein feindseliger oder zärtlicher gewesen war.
Pierre blieb einen Augenblick schweigend stehen und überlegte, ob er ihm nachgehen oder nach Hause reiten sollte.
Nein, er braucht mich nicht, entschloß sich Pierre. Aber ich weiß, daß dies unser letztes Beisammensein gewesen ist.
Er seufzte schwer auf und ritt nach Gorki weiter.
Fürst Andrej kehrte in den Schuppen zurück, legte sich auf seine Decke, konnte aber nicht einschlafen. Er schloß die Augen. In schneller Folge wechselten die Bilder vor seiner Seele. Nur bei dem einen verweilte er lang und freudig. Deutlich stieg ein Abend in Petersburg in seinem Gedächtnis auf: Natascha mit lebhaftem, aufgeregtem Gesicht erzählte ihm, wie sie sich vor einem Jahr im Sommer beim Pilzesuchen in einem großen Wald verirrt habe. Unzusammenhängend schilderte sie ihm bald die unwegsame Stille des Waldes, bald ihre Gefühle, bald ihr Gespräch mit einem Bienenzüchter, den sie dort getroffen hatte, und unterbrach ihre Erzählung jeden Augenblick, indem sie sagte: »Nein, ich kann das nicht so erzählen, Sie werden das nicht verstehen«, obgleich Fürst Andrej sie beruhigte und sagte, er verstehe sie, und tatsächlich auch verstand, was sie ihm sagen wollte. Aber Natascha war mit ihren Worten unzufrieden, sie fühlte, daß jene leidenschaftlich poetische Empfindung, die sie an jenem Tag erfüllt hatte und der sie jetzt Ausdruck verleihen wollte, nicht so herauskam. »Das war so wunderbar, dieser alte Mann … und so dunkel war es im Wald … und er hatte so gute … Nein, ich verstehe das nicht zu schildern!« brach sie erregt ab und wurde rot. Und Fürst Andrej lächelte wieder mit demselben glücklichen Lächeln, wie er es damals getan hatte, als er ihr in die Augen sah. Ich verstand sie, dachte Fürst Andrej. Verstand sie nicht nur, sondern liebte diese Kraft, diese Lauterkeit, diese Offenheit ihrer Seele, denn gerade diese Seele, die gleichsam ihren ganzen Körper zusammenhielt, war es, die ich in ihr liebte … mit einer so starken, so glücklichen Liebe … Und plötzlich dachte er daran, wie diese Liebe ein Ende genommen hatte. Er fragte nicht nach alledem. Er sah dies nicht und verstand es nicht. Er sah in ihr nur ein hübsches, frisches Mädchen, das ihm aber doch nicht wert schien, sein Schicksal zu binden …
Ich aber? Und er lebt noch bis auf den heutigen Tag und freut sich seines Lebens.
Fürst Andrej sprang auf, als habe ihn jemand mit einem glühenden Eisen berührt, und fing wieder an, vor dem Schuppen auf und ab zu gehen.
Am 25. August, also am Tag vor der Schlacht bei Borodino, trafen der Haushofmeister des französischen Kaisers, Herr de Beausset, und der Oberst Fabvier in Walujewo, dem Standquartier Kaiser Napoleons, ein. Beausset kam aus Paris, Fabvier aus Madrid.
Nachdem sich Herr de Beausset umgekleidet und seine Hofuniform angelegt hatte, ließ er die Kiste, die er für den Kaiser mitgebracht hatte, vor sich hertragen und begab sich in die erste Abteilung von Napoleons Zelt, wo er von den Adjutanten des Kaisers umringt wurde und in lebhaftem Gespräch mit ihnen anfing die Kiste auszupacken.
Fabvier trat nicht in das Zelt ein, sondern blieb, sich mit einigen ihm bekannten Generälen unterhaltend, am Eingang stehen.
Kaiser Napoleon hatte seine Morgentoilette noch nicht beendet und war noch nicht aus seinem Schlafzimmer herausgekommen. Schnaufend und prustend wand er sich bald mit dem dicken Rücken, bald mit der behaarten, feisten Brust unter der Bürste, mit der ein Kammerdiener ihm den Körper bearbeitete. Ein zweiter Kammerdiener bespritzte den wohlgepflegten Leib des Kaisers mit Eau de Cologne, wobei er das Fläschchen mit dem Finger zuhielt und durch seinen Gesichtsausdruck deutlich zu verstehen gab, daß nur er wisse, wieviel und wohin Eau de Cologne verspritzt werden müsse. Das kurze Haar des Kaisers war naß und hing wirr in die Stirn. Sein Gesicht sah zwar gelb und gedunsen aus, drückte aber physisches Wohlbehagen aus.
»Allez ferme, allez toujours …«, befahl er dem bürstenden Kammerdiener, indem er sich krümmte und stöhnte.
Ein Adjutant trat ins Schlafzimmer, um dem Kaiser zu berichten, wieviel Gefangene bei dem gestrigen Gefecht gemacht worden seien, blieb, nachdem er alles, was nötig war, gemeldet hatte, an der Tür stehen und wartete auf die Erlaubnis hinauszugehen. Napoleon sah den Adjutanten mit gerunzelter Stirn von unten her an.
»Point de prisonniers«, wiederholte er die Worte des Adjutanten. »Ils se font démolir. Tant pis pour l’armée russe«, sagte er. »Allez, toujours, allez ferme«, rief er dann wieder den Kammerdienern zu, indem er sich zusammenbog und seine fetten Schultern hinhielt.
»C’est bien! Faites entrer Monsieur de Beausset, ainsi que Fabvier«, wandte er sich an den Adjutanten und nickte ihm zu.
»Oui, Sire«, und der Adjutant verschwand durch die Tür des Zeltes.
Die beiden Kammerdiener kleideten Seine Majestät eilig an, und Napoleon trat in blauer Gardeuniform mit festen, hastigen Schritten in das Empfangszimmer.
In diesem Augenblick war Beausset gerade dabei, ein Geschenk der Kaiserin, das er mitgebracht hatte, mit geschäftigen Händen noch vor dem Eintreten des Kaisers auf zwei Stühlen aufzustellen. Aber Napoleon war so unerwartet schnell fertig geworden und eingetreten, daß er mit den Vorbereitungen seiner Überraschung noch nicht ganz zu Ende war.
Der Kaiser merkte sogleich, was sie da machten, und erriet, daß sie noch nicht ganz fertig waren. Doch wollte er sie nicht um das Vergnügen, ihm eine Überraschung zu bereiten, bringen. Er stellte sich, als sähe er Herrn von Beausset nicht, und rief Fabvier zu sich heran. Finster, ernst und schweigend hörte er zu, was dieser ihm von der Tapferkeit und Ergebenheit seiner Truppen berichtete, die sich am anderen Ende Europas bei Salamanka geschlagen hatten, nur von dem einen Gedanken beseelt: sich ihres Kaisers würdig zu zeigen, und nur die eine Furcht im Herzen: daß er mit ihnen nicht zufrieden sein könnte. Der Ausgang der Schlacht war ungünstig gewesen. Während des ganzen Berichtes machte Napoleon ununterbrochen ironische Bemerkungen, als habe er gar nicht erwartet, daß die Sache anders verlaufen werde, wenn er nicht dabei war.
»Das muß ich durch Moskau wieder gutmachen«, sagte Napoleon. »A tantôt«, fügte er dann hinzu und rief Herrn de Beausset herbei, der inzwischen mit den Vorbereitungen der Überraschung fertig geworden war: er hatte etwas auf zwei Stühle gestellt und mit einem Vorhang verhüllt.
De Beausset neigte sich tief in jener am französischen Hof üblichen Verbeugung, mit der sich nur die alten Diener der Bourbonen zu verneigen verstanden, trat auf den Kaiser zu und überreichte ihm einen Brief.
Napoleon wandte sich wohlgelaunt ihm zu und zupfte ihn am Ohr. »Sie haben schnell gemacht, das freut mich. Na, was sagt Paris?« fragte er, indem er seinen eben noch strengen Ausdruck in einen höchst liebenswürdigen verwandelte.
»Sire, tout Paris regrette votre absence«, erwiderte de Beausset pflichtschuldig.
Doch obgleich Napoleon wußte, daß Beausset dies oder etwas Ähnliches sagen mußte, obgleich er sich in klaren Augenblicken bewußt wurde, daß es nicht wahr sein konnte, war es ihm doch angenehm, solche Worte von Beausset zu hören. Wieder würdigte er ihn eines Zupfens am Ohr.
»Je suis fâché de vous avoir fait faire tant de chemin«, sagte er.
»Sire, je ne m’attendais pas à moins qu’à vous trouver aux portes de Moscou«, erwiderte Beausset.
Napoleon lächelte, hob zerstreut den Kopf und sah nach rechts. Ein Adjutant glitt lautlos mit der goldenen Tabaksdose heran und reichte sie ihm.
»Ja, da haben Sie wieder mal Glück gehabt«, sagte Napoleon, indem er die offene Tabaksdose an die Nase hielt. »Sie reisen doch so gern. In drei Tagen werden Sie Moskau zu sehen bekommen. Das haben Sie sicher nicht erwartet, die asiatische Hauptstadt kennenzulernen. Sie machen da eine nette Reise …«
Beausset verbeugte sich aus Dankbarkeit, daß der Kaiser seiner ihm selber zwar bis auf den heutigen Tag unbekannten Neigung zum Reisen Beachtung geschenkt hatte.
»Aber was ist das?« fragte Napoleon, als er bemerkte, daß alle seine Hofleute nach jenem mit dem Vorhang umhüllten Gegenstand blickten.
Mit höfischer Gewandtheit trat Beausset mit einer halben Wendung, ohne dem Kaiser den Rücken zu zeigen, zwei Schritte beiseite, zog den Vorhang zurück und sagte gleichzeitig: »Ein Geschenk der Kaiserin für Euer Majestät.«
Es war das von Gerard[171] in grellen Farben gemalte Bildnis des Knaben, den die Tochter des Kaisers von Österreich Napoleon geboren hatte und den alle aus nicht recht ersichtlichen Gründen den König von Rom nannten.
Ein allerliebster, lockiger Knabe mit einem Blick wie der des Christuskindes auf dem Bild der Sixtinischen Madonna war dargestellt, wie er Fangball spielt. Der Ball in seiner Hand war die Erde, das Stäbchen in seiner anderen – das Zepter.
Obgleich nicht ganz klar war, was der Künstler eigentlich dadurch hatte zum Ausdruck bringen wollen, indem er den sogenannten König von Rom darstellte, wie er den Erdball mit einem Stäbchen durchbohrt, so schien doch diese Allegorie Napoleon, ebenso wie allen, die das Bild in Paris gesehen hatten, klar zu sein und sehr zu gefallen.
»Roi de Rome«, sagte er und wies mit einer anmutigen Gebärde auf das Bild. »Admirable!«
Mit der allen Italienern[172] eignen Fähigkeit, den Gesichtsausdruck rasch nach Belieben zu verändern, setzte er, während er an das Bild herantrat, eine Miene nachdenklicher Zärtlichkeit auf. Er fühlte, daß das, was er jetzt sagte und tat, ein Stück Geschichte werden würde. Und da deuchte es ihn, das Beste, was er jetzt tun könne, sei, trotz all seiner Größe eine schlichte väterliche Zärtlichkeit zu zeigen, gerade im Gegensatz zu dieser Größe, deren Folge es war, daß sein Sohn mit der Erdkugel Fangball spielte. Seine Augen umflorten sich, er trat näher heran, sah sich nach einem Stuhl um – im Nu war ein solcher zur Stelle – und nahm dem Bild gegenüber Platz. Ein Zeichen – und alle schlichen auf Zehen hinaus und überließen den großen Mann sich selbst und seinen Gefühlen.
Nachdem Napoleon so eine Weile gesessen und, ohne zu wissen warum, die rauhen Flächen des Porträts betastet hatte, stand er auf und rief Beausset und den Offizier vom Dienst wieder herein. Er gab Befehl, das Porträt vor das Zelt zu schaffen, damit seine alte Garde, die um das Zelt herum Wache stand, nicht des Glückes beraubt werde, den König von Rom zu sehen, den Sohn und Nachfolger ihres vergötterten Kaisers.
Und es kam, wie er erwartet hatte: während er mit Herrn de Beausset beim Frühstück saß – er hatte ihn dieser Ehre gewürdigt –, hörte man vor dem Zelt die begeisterten Ausrufe der Offiziere und Soldaten seiner Garde, die zu dem Bild herbeiströmten.
»Vive l’empereur! Vive le roi de Rome! Vive l’empereur!« schrien begeisterte Stimmen.
Nach dem Frühstück diktierte Napoleon im Beisein Beaussets seinen Armeebefehl.
»Courte et énergique!« murmelte Napoleon, nachdem er die ohne Verbesserungen und wie aus einem Guß diktierte Proklamation noch einmal durchgelesen hatte. Der Befehl lautete:
»Soldaten! Die Schlacht, nach der ihr so lange verlangt habt, steht bevor. Von euch hängt der Sieg ab. Er ist nötig, um uns zu verschaffen, was wir brauchen: bequeme Quartiere und baldige Rückkehr in die Heimat. Haltet euch so, wie ihr euch bei Austerlitz, Friedland, Witebsk und Smolensk gehalten habt. Möge noch die fernste Nachwelt mit Stolz eurer Heldentaten von diesem Tag gedenken. Möge man von jedem von euch sagen: ›Er war bei dem großen Kampf vor Moskau dabei!‹«
»Vor Moskau!« wiederholte Napoleon. Dann lud er Herrn de Beausset, der so gern reiste, zu einem Spazierritt ein und trat vor das Zelt zu den gesattelten Pferden.
»Votre Majesté a trop de bonté«, entgegnete Beausset auf die Einladung des Kaisers, ihn zu begleiten. Viel lieber hätte er geschlafen, auch konnte er nicht gut reiten und hatte Angst davor. Doch Napoleon nickte dem »Reisewütigen« zu, und Beausset mußte mitreiten. Als der Kaiser aus dem Zelt trat, wurde das begeisterte Rufen der Garde vor dem Bild seines Sohnes noch stärker. Er runzelte finster die Stirn.
»Nehmt ihn weg!« sagte er und wies mit anmutig erhabener Gebärde auf das Bildnis. »Es ist noch zu früh für ihn, ein Schlachtfeld zu sehen.«
Beausset schloß die Augen, senkte den Kopf und seufzte tief, um dadurch zu zeigen, welch großes Verständnis er für diese Worte des Kaisers hatte und wie hoch er sie schätzte.
Den ganzen 25. August verbrachte Napoleon, wie seine Geschichtsschreiber erzählen, zu Pferd: er nahm das Gelände in Augenschein, begutachtete die Pläne, die ihm seine Marschälle vorlegten, und erteilte seinen Generälen die Befehle persönlich.
Die ursprüngliche Aufstellungslinie der russischen Armee an der Kolotscha entlang war gebrochen, und ein Teil dieser Linie, eben die linke russische Flanke, infolge der Einnahme der Schanze von Schewardino am 24. August zurückgezogen worden. Dieser Teil der russischen Front war nun nicht befestigt und auch nicht mehr durch den Fluß geschützt, vor ihm lag offenes, ebenes Gelände. Es war nicht nur für jeden militärisch geschulten, sondern auch für jeden Laien klar, daß die Franzosen diesen Teil der Front angreifen würden. Man sollte meinen, daß es dazu nicht vieler Überlegungen bedurft hätte, daß dazu eine solche Sorgfalt und Geschäftigkeit des Kaisers und seiner Marschälle gar nicht nötig gewesen wäre und noch viel weniger jene besondere, erhabene Eigenschaft, die man Genialität nennt, und die so gern Napoleon zugeschrieben wird. Doch die Geschichtsschreiber, die in der Folgezeit dieses Ereignis beschrieben haben, und die Menschen, die damals Napoleon umgaben, und auch Napoleon selber dachten anders darüber.
Napoleon ritt über das Feld, nahm tiefsinnig das Gelände in Augenschein, machte für sich bald eine zustimmende, bald eine zweifelnde Kopfbewegung, teilte aber den ihn umgebenden Generälen jene tiefsinnigen Gedankengänge, die ihn zu seinen Entschlüssen führten, nicht mit, sondern nur immer das Ergebnis in Form eines Befehls. Davoust, Fürst von Eckmühl, schlug vor, die linke Flanke der Russen zu umgehen; Napoleon hörte ihm zu und sagte, es sei nicht nötig, ließ sich aber nicht weiter darüber aus, warum er dieser Ansicht war. Dem Vorschlag des Generals Compan, der die Pfeilschanzen angreifen sollte: seine Division durch den Wald vorrücken zu lassen, stimmte er bei, obgleich der Herzog von Elchingen, das heißt Ney, sich die Bemerkung erlaubte, daß ein Vorrücken durch den Wald gefährlich sei und die Division auseinanderbringen könne.
Nachdem Napoleon das Gelände vor der Schanze von Schewardino besichtigt hatte, dachte er eine Weile schweigend nach und zeigte auf einen Punkt, wo für morgen zwei Batterien errichtet werden sollten, um die feindlichen Befestigungen anzugreifen. Dann bezeichnete er noch eine andere Stelle, wo neben diesen Batterien die Feldartillerie aufgestellt werden sollte.
Nachdem er diese und noch andere Befehle erteilt hatte, kehrte er in sein Quartier zurück und diktierte hier die Disposition der Schlacht.
Diese Disposition, von der französische Geschichtsschreiber mit Begeisterung und die anderen Historiker mit Hochachtung reden, lautete wie folgt:
»Bei Tagesanbruch eröffnen die beiden neuen, in der Nacht errichteten Batterien auf der vom Fürsten von Eckmühl besetzten Ebene das Feuer auf die beiden gegenüberliegenden Batterien des Feindes.
Zur selben Zeit rückt der Chef der Artillerie des ersten Korps, General Pernetti, mit dreißig Kanonen der Division Compan und allen Haubitzen der Division Dessaix und Friant vor, eröffnet das Feuer und überschüttet die feindliche Batterie mit Granaten. Gegen diese Batterie sind somit in Aktion:
24 Geschütze der Gardeartillerie,
30 Geschütze der Division Compan und
8 Geschütze der Division Friant und Dessaix
Summa 62 Geschütze.
Der Chef der Artillerie des dritten Korps, General Foucher, postiert alle Haubitzen des dritten und achten Korps, zusammen sechzehn, auf die Flanken der Batterie, die dazu bestimmt ist, die linken Befestigungen zu beschießen, so daß gegen diese im ganzen vierzig Geschütze operieren werden.
General Sorbier hat bereit zu sein, auf den ersten Befehl mit allen Haubitzen der Gardeartillerie gegen die eine oder die andere Befestigung vorzugehen.
Während der Kanonade wird Fürst Poniatowski durch den Wald die Richtung nach dem Dorf zu nehmen und die feindliche Position umgehen.
General Compan schiebt sich durch den Wald vor, um sich der ersten Befestigung zu bemächtigen.
Nachdem die Schlacht auf diese Weise in die Wege geleitet ist, werden weitere Befehle den Aktionen des Feindes entsprechend gegeben werden.
Auf der linken Flanke setzt die Kanonade ein, sobald vom rechten Flügel die Kanonade gehört wird. Die Schützen der Division Morand und der Division des Vizekönigs eröffnen ein starkes Feuer, wenn sie sehen, daß auf dem rechten Flügel die Attacke begonnen hat.
Der Vizekönig bemächtigt sich des Dorfes (Borodino), rückt über dessen drei Brücken vor und marschiert in gleicher Höhe mit den Divisionen Marand und Gerard, die unter seiner Führung die Richtung gegen die Schanze nehmen und in die Front der übrigen Truppen einrücken.
Dies alles ist ordnungsgemäß und genau auszuführen (Le tout se fera avec ordre et méthode), wobei die Reservetruppen nach Möglichkeit zu schonen sind.
Kaiserliches Lager bei Moshaisk, am 6. September 1812.«
Diese ziemlich unklare und verworrene Disposition – wenn man sich unterstehen darf, ohne heilige Scheu vor Napoleons Genialität seine Anordnungen zu kritisieren – enthielt vier Punkte, vier Anordnungen. Keine davon war auszuführen, keine ist ausgeführt worden.
In der Disposition war erstens gesagt, daß die an dem von Napoleon selbst ausgewählten Punkt errichteten Batterien nebst den bis zu ihnen vorgerückten Kanonen Pernettis und Fouchers – also im ganzen hundertundzwei Geschütze – das Feuer eröffnen und die russischen Pfeilschanzen und Befestigungen mit Geschossen überschütten sollten. Das konnte deshalb nicht ausgeführt werden, weil von jenem von Napoleon bezeichneten Punkt die Geschosse nicht bis an die russischen Befestigungen heranreichten, so daß die hundertundzwei Geschütze so lange ins Leere schossen, bis ein in der Nähe befindlicher Kommandeur sie gegen den Befehl Napoleons vorrücken ließ.
Die zweite Anordnung bestand darin, daß Poniatowski durch den Wald die Richtung auf das Dorf zu nehmen und den linken russischen Flügel umgehen sollte. Das konnte nicht so kommen und wurde deshalb nicht getan, weil Poniatowski, als er sich durch den Wald nach dem Dorf begeben wollte, dort auf Tutschkow stieß, der ihm den Weg versperrte, so daß er die russische Stellung nicht umging und nicht umgehen konnte.
Die dritte Anordnung lautete: General Compan rückt durch den Wald vor, um sich der ersten Befestigungen zu bemächtigen. Die Division Compan nahm die ersten Befestigungen nicht, sondern wurde zurückgeschlagen, weil sie sich, als sie aus dem Wald heraustrat, unter Kartätschenfeuer sammeln mußte, was Napoleon nicht vorausgesehen hatte.
Viertens: Der Vizekönig nimmt das Dorf (Borodino), marschiert über dessen drei Brücken und rückt in gleicher Höhe mit den Divisionen Morand und Gerard vor, von denen nicht gesagt war, wann und wohin sie vorzugehen hatten, die unter seiner Führung die Richtung auf die Schanze einschlagen und in die Front der übrigen Truppen einrücken.
Soviel sich ersehen läßt – wenn schon nicht aus diesem sinnlosen Satz, so doch aus den Versuchen des Vizekönigs, die ihm erteilten Befehle auszuführen –, sollte er durch Borodino hindurch von links her auf die Schanze zumarschieren, während die Divisionen Morand und Gerard gleichzeitig von der Front her vorrücken sollten.
Dies alles, wie auch noch andere Punkte der Disposition, wurde nicht ausgeführt und konnte es auch gar nicht werden. Nachdem der Vizekönig durch Borodino marschiert war, wurde er an der Kolotscha zurückgeschlagen, so daß er nicht weiter vordringen konnte, und die Divisionen Morand und Gerard nahmen die Schanze ebenfalls nicht, auch sie wurden zurückgeschlagen, die Schanze aber wurde erst am Ende der Schlacht von der Kavallerie erobert, was Napoleon sicher nicht vorausgesehen hatte, da es etwas ganz Außergewöhnliches war.
So wurde auch nicht eine einzige Anordnung der Disposition ausgeführt und konnte auch keine ausgeführt werden. Ferner war in der Disposition noch gesagt, daß, nachdem die Schlacht auf diese Weise in die Wege geleitet sei, weitere Befehle den Aktionen des Feindes entsprechend gegeben würden, und es könnte demnach den Anschein haben, als ob Napoleon während der Schlacht alle nötigen Anordnungen getroffen habe. Aber das war nicht der Fall und auch ganz unmöglich, weil sich Napoleon während der ganzen Schlacht so weit von ihr befand, daß der Gang der Dinge, wie sich das auch später herausgestellt hat, ihm gar nicht bekannt sein konnte und von seinen Befehlen während der Schlacht kein einziger zur Ausführung gelangte.
Viele Historiker behaupten, die Franzosen hätten die Schlacht bei Borodino aus dem Grund nicht gewonnen, weil Napoleon den Schnupfen gehabt habe; hätte er den Schnupfen nicht gehabt, so wären seine Dispositionen vor und während der Schlacht genialer gewesen, Rußland wäre untergegangen, et la face du monde eut été changée. Für Geschichtsschreiber, welche die Ansicht vertreten, Rußland sei durch den Willen eines einzigen Mannes, Peters des Großen[173], gestaltet und herangebildet worden und Frankreich habe sich, ebenfalls durch den Willen eines einzigen Menschen, aus einer Republik in ein Kaiserreich verwandelt und seine Armee in Rußland eindringen lassen – für solche Geschichtsschreiber ist der Schluß, daß Rußland eine Großmacht geblieben ist, weil Napoleon am 26. August den Schnupfen hatte, von einer Folgerichtigkeit, um die keiner herum kann.
Denn wenn es von Napoleons Willen abgehangen hätte, die Schlacht von Borodino zu schlagen oder nicht, wenn es von seinem Willen abgehangen hätte, diese oder jene Anordnung zu treffen, so wäre es offensichtlich, daß ein Schnupfen, der auf die Entwicklung seines Willens von Einfluß war, der Grund zu Rußlands Rettung hätte sein können, und jener Kammerdiener, der vergessen hatte, Napoleon am 24. August die wasserdichten Stiefel zu reichen, wäre folglich der Retter Rußlands gewesen. Bei einem solchen Gedankengang ist dieser Schluß zweifellos richtig, ebenso richtig wie die Folgerung Voltaires, der im Scherz – obgleich er selber nicht wußte, worüber er sich lustig machte – die Behauptung aufstellte, es sei nur infolge einer Magenverstimmung Karls IX. zur Bartholomäusnacht[174] gekommen.
Doch für Menschen, die nicht zugeben, daß Rußland durch den Willen eines einzigen Menschen, Peters I. gestaltet und herangebildet und Frankreich durch den Willen eines einzigen Mensehen zum Kaiserreich geworden sei und den Krieg mit Rußland begonnen habe, – für diese Menschen ist eine solche Schlußfolgerung nicht nur falsch und unvernünftig, sondern läuft auch dem Wesen alles Menschlichen zuwider. Auf die Frage aber, was die Ursache historischer Ereignisse sei, bietet sich eine andre Antwort dar: der Gang der Weltbegebenheiten ist von oben her bestimmt und hängt von einem Zusammentreffen all jener willkürlichen Handlungen der Leute ab, die an den Ereignissen teilnehmen, so daß der Einfluß, den ein Napoleon auf den Gang dieser Ereignisse haben könnte, nur äußerlich und fiktiv sein kann.
Wie sonderbar auch auf den ersten Blick die Annahme erscheinen mag, daß die Bartholomäusnacht, zu der Karl IX. den Befehl erteilte, nicht aus seinem Willen geboren wurde, sondern es für ihn nur den Anschein hatte, als habe er sie befohlen, und daß das blutige Hinschlachten von achtzigtausend Mann bei Borodino nicht durch den Willen Napoleons geschah, obgleich er zum Anfang und zum weiteren Gang der Schlacht die Befehle erteilte – wie sonderbar auch diese Annahme erscheinen mag, so gebietet doch die Menschenwürde, die mir sagt, daß jeder von uns, wenn nicht mehr, so doch keinesfalls weniger ein Mensch ist als Napoleon, für eine solche Lösung der Frage einzutreten, und auch die Geschichtsforschung hat diese Annahme reichlich bestätigt.
In der Schlacht bei Borodino hat Napoleon auf keinen geschossen und keinen getötet. Das alles haben die Soldaten getan. Folglich war er es nicht, der die Menschen getötet hat.
Die Soldaten der französischen Armee zogen in die Schlacht bei Borodino, um ihresgleichen totzuschlagen, nicht infolge des Befehles Napoleons, sondern aus eignem Verlangen. Die ganze Armee, Franzosen, Italiener, Deutsche und Polacken, die durch den langen Feldzug ausgehungert, zerlumpt und erschöpft war, fühlte angesichts des Heeres, das ihnen den Weg nach Moskau versperrte, que le vin est tiré et qu’il faut le boire. Wenn Napoleon sie jetzt daran gehindert hätte, sich mit den Russen zu schlagen, so hätten sie ihn umgebracht und auf eigne Faust mit den Russen gekämpft, weil dies für sie eine unumgängliche Notwendigkeit war.
Als sie den Befehl Napoleons hörten, der ihnen zum Trost für Verstümmelung und Tod die Anerkennung der Nachwelt versprach, daß auch sie bei dem Kampf vor Moskau dabeigewesen seien, schrien sie: »Vive l’empereur!«, ebenso wie sie beim Anblick des Bildnisses jenes Knaben, der den Erdball mit einem Fangstäbchen durchbohrte: »Vive l’empereur!« geschrien hatten, und ebenso, wie sie es bei jedem sinnlosen Wort getan hätten, das er zu ihnen gesagt hätte. Ihnen blieb gar nichts anderes übrig, als »Vive l’empereur« zu rufen und in die Schlacht zu ziehen, um als Sieger in Moskau Lebensmittel und Ruhe finden zu können. Demnach haben sie ihresgleichen nicht infolge eines Befehles von Napoleon totgeschlagen.
Und Napoleon hat auch nicht den Gang der Schlacht geleitet, da von seiner Disposition nicht ein Befehl ausgeführt wurde und er während der Schlacht gar nicht wußte, was vorn vor sich ging. Folglich hatte auch Napoleons Wille auf die Art und Weise, wie die Menschen einander töteten, keinen Einfluß, und alles vollzog sich ganz unabhängig von ihm auf Grund des Willens von Hunderttausenden von Menschen, die an dem allgemeinen Kampf beteiligt waren. Napoleon schien es nur, als ob sich alles nach seinem Willen vollzöge. Und deshalb ist die Frage, ob Napoleon damals den Schnupfen gehabt habe oder nicht, für die Geschichte von keiner größeren Bedeutung als die Frage nach dem Schnupfen des letzten Trainsoldaten.
Napoleons Schnupfen am 26. August ist um so weniger von Bedeutung, als die Behauptung jener Geschichtsschreiber, dieser Schnupfen sei die Ursache gewesen, daß Napoleons Disposition und weitere Anordnungen während der Schlacht nicht so gut wie die früheren ausgearbeitet gewesen seien, durchaus nicht den Tatsachen entspricht.
Die hier wörtlich angeführte Disposition war keineswegs schlechter, sondern sogar besser als alle früheren, auf Grund deren er Schlachten gewonnen hatte. Die angeblichen Befehle während der Schlacht waren ebenfalls nicht schlechter als früher, sondern genauso wie immer. Aber die Disposition und die Anordnungen erscheinen nur deshalb schlechter als die früheren, weil die Schlacht bei Borodino die erste war, die Napoleon verlor. Die prächtigsten und tiefsinnigsten Dispositionen scheinen schlecht und jeder erfahrene Soldat kritisiert sie mit bedeutsamer Miene, wenn die Schlacht durch sie verloren wurde; die schlechtesten Dispositionen und Anordnungen aber erscheinen ausgezeichnet, und ernst zu nehmende Leute beweisen später ihren Wert in ganzen Bänden, sobald eine Schlacht durch sie gewonnen wurde.
Die Disposition, die Weyrother für die Schlacht bei Austerlitz aufgestellt hatte, war ein Muster der Vollkommenheit unter allen Schöpfungen dieser Art, und dennoch wurde sie abfällig beurteilt, und zwar gerade wegen ihrer Vollkommenheit, weil sie alle Einzelheiten zu sehr berücksichtigte.
Napoleon füllte seine Rolle als Machthaber in der Schlacht bei Borodino ebenso gut, ja noch besser aus als in anderen Schlachten. Er tat nichts, was dem Gang der Schlacht hätte schaden können, schloß sich den Ansichten der Vernünftigsten an, brachte nichts in Verwirrung, widersprach sich selber nicht, erschrak nicht und lief nicht vom Schlachtfeld davon, sondern führte mit dem ihm eignen großen Feingefühl und mit aller seiner Kriegserfahrung ruhig und würdig seine Rolle als scheinbarer Führer und Leiter durch.
Als Napoleon die Front zum zweitenmal sorgsam abgeritten hatte, sagte er: »Die Schachfiguren sind aufgestellt, morgen kann das Spiel beginnen.«
Er ließ sich Punsch bringen und Beausset herbeirufen und fing an, sich mit ihm über Paris zu unterhalten, über ein paar Veränderungen, die er im Haus der Kaiserin vorzunehmen gedachte, und setzte den Haushofmeister durch sein gutes Gedächtnis für die geringfügigsten Einzelheiten der Hofhaltung in Erstaunen.
Er interessierte sich für die nichtigsten Dinge, scherzte über Beaussets Reiselust und plauderte mit derselben Nachlässigkeit wie ein berühmter, selbstbewußter Operateur, der sein Handwerk versteht, während er sich die Ärmel aufstreift, sich die Schürze umbinden und den Kranken auf seinem Lager festschnallen läßt und denkt: Alles liegt jetzt in meiner Hand, klar und bestimmt habe ich es im Kopf. Wenn es nötig ist, ans Werk zu gehen, werde ich meinen Mann stellen wie kein zweiter, jetzt aber kann ich plaudern und scherzen; und je mehr ich jetzt scherze und ruhig bin, um so sicherer und ruhiger werdet auch ihr sein und um so mehr werdet ihr über mein Genie staunen.
Nachdem Napoleon das zweite Glas Punsch geleert hatte, zog er sich zurück, um sich vor der ernsten Arbeit, die ihm seiner Ansicht nach morgen bevorstand, die nötige Ruhe zu gönnen.
Diese ihm bevorstehende Arbeit beschäftigte ihn so sehr, daß er nicht schlafen konnte und trotz seines Schnupfens, der durch die Feuchtigkeit am Abend noch stärker geworden war, um drei Uhr nachts, sich laut schneuzend, wieder in die große Abteilung seines Zeltes hinüberging. Er erkundigte sich, ob die Russen nicht abgerückt seien. Man meldete ihm, daß sich die feindlichen Feuer immer noch an denselben Stellen befänden. Er nickte befriedigt.
Der Adjutant vom Dienst trat in das Zelt.
»Nun, Rapp, glauben Sie, daß wir heute gute Geschäfte machen werden?« wandte sich Napoleon an ihn.
»Ohne Zweifel, Sire«, erwiderte Rapp.
Napoleon sah ihn an.
»Erinnern Sie sich noch, Sire, was Sie vor Smolensk zu mir zu sagen geruhten?« fragte Rapp. »Le vin est tiré, il faut le boire.«
Napoleon zog die Stirn finster zusammen und saß lange schweigend da, den Kopf auf die Hand gestützt.
»Meine arme Armee«, sagte er plötzlich, »sie ist seit Smolensk sehr zusammengeschmolzen. Das Glück ist eine feile Dirne, Rapp, das habe ich schon immer gesagt, jetzt kommt die Reihe an mich, es zu erfahren. Aber die Garde, Rapp, die Garde ist doch unversehrt?« wandte er sich fragend an ihn.
»Ja, Sire«, erwiderte Rapp.
Napoleon nahm eine Pastille, steckte sie in den Mund und sah nach der Uhr. Er hatte keine Lust zu schlafen, aber bis zum Morgen war es noch lang, und Befehle geben, um die Zeit totzuschlagen, konnte er nicht mehr, da schon alles angeordnet war und eben jetzt ausgeführt wurde.
»Ist an die Garderegimenter Zwieback und Reis zur Verteilung gekommen?« fragte er streng.
»Ja, Sire.«
»Aber auch Reis?«
Rapp erwiderte, er habe den Befehl des Kaisers, Reis zu verteilen, weitergegeben, aber Napoleon schüttelte unzufrieden den Kopf, als glaube er nicht, daß sein Befehl ausgeführt worden sei.
Ein Diener trat ein und brachte Punsch. Napoleon ließ sich noch ein zweites Glas für Rapp bringen und trank schweigend ab und zu einen Schluck aus dem seinigen.
»Ich schmecke nichts und rieche nichts«, sagte er und roch in das Glas. »Diesen elenden Schnupfen habe ich wirklich gründlich satt. Da redet und redet man nun von einer Heilkunst! Was ist das für eine Wissenschaft, die nicht einmal mit einem Schnupfen fertig wird? Cervisard hat mir diese Pastillen gegeben, aber sie helfen auch nichts. Und was können sie denn heilen? Heilen ist überhaupt unmöglich. Unser Körper ist eine zum Leben bestimmte Maschine. Zu diesem Zweck ist er organisiert. Das ist seine Natur. Man überlasse das Leben in ihm sich selbst, es wird sich zu verteidigen wissen und mehr fertig bringen als wir, die wir unsern Körper durch Vollstopfen mit Medikamenten nur lähmen. Unser Körper ist wie eine tadellose Uhr, die eine bestimmte Zeit zu gehen hat; der Uhrmacher kann sie nicht öffnen, sondern nur mit verbundenen Augen tastend befühlen … Unser Körper ist eine zum Leben bestimmte Maschine, das ist alles.«
Und als hätte er bei diesen Definitionen, denen Napoleon sich gern hingab, plötzlich unvermittelt eine neue gefunden, sagte er: »Und wissen Sie, Rapp, was Kriegskunst ist? Die Kunst, im gegebenen Augenblick stärker zu sein als der Feind. Voilà tout.«
Rapp gab keine Antwort.
»Morgen werden wir mit Kutusow zu tun haben«, fuhr Napoleon fort. »Wir wollen sehen. Wissen Sie noch, er kommandierte damals die Armee bei Braunau und ist binnen drei Wochen nicht ein einziges Mal aufs Pferd gestiegen, um die Befestigungen zu besichtigen. Nun, wir werden ja sehen!«
Er sah nach der Uhr. Es war erst vier. Schlafen wollte er nicht, der Punsch war ausgetrunken, und zu tun hatte er nichts. Er stand auf, ging eine Weile auf und ab, dann zog er einen warmen Rock an, setzte den Hut auf und trat vor das Zelt.
Die Nacht war dunkel und feucht. Ein kaum merklicher nasser Nebel senkte sich herab. Matt brannten in der Nähe die Lagerfeuer bei der französischen Garde, und in der Ferne schimmerten sie durch den Dunst die russische Front entlang. Ringsum war alles still, nur das Rattern und Getrappel französischer Truppen war hörbar, die sich in Bewegung gesetzt hatten, um ihre Stellungen einzunehmen.
Napoleon ging vor dem Zelt auf und ab, blickte nach den Feuern hin, horchte auf das Getrappel und blieb beim Vorübergehen vor einem langen Gardisten mit zottiger Mütze stehen, der vor seinem Zelt Wache stand und sich, als der Kaiser herankam, wie ein schwarzer Pfahl vor ihm aufreckte.
»Seit welchem Jahr stehst du im Dienst?« fragte er ihn in jenem rauhen, wohlwollend freundlichen Kriegerton, den er den Soldaten gegenüber anzuschlagen pflegte.
Der Soldat sagte es ihm.
»Ah! un des vieux! Habt ihr bei eurem Regiment Reis bekommen?«
»Zu Befehl, Euer Majestät.«
Napoleon nickte und ging weiter.
Um halb sechs Uhr begab sich Napoleon zu Pferd nach dem Dorf Schewardino.
Es fing an, hell zu werden, der Himmel klärte sich auf, nur im Osten lagerte eine einzige Wolke. Die verlassenen Wachtfeuer erloschen im schwachen Morgenlicht.
Zur Rechten ertönte ein vereinzelter, dumpfer Kanonenschuß, hallte weithin und verklang in der allgemeinen Stille. Ein paar Augenblicke vergingen, dann ertönte ein zweiter, ein dritter Schuß. Ein Zittern machte sich in der Luft bemerkbar. Feierlich donnerte von irgendwoher rechts ein vierter, ein fünfter Schuß.
Noch waren die ersten Schüsse nicht verklungen, als bereits andere ertönten, und immer wieder andere, deren Donnern zusammenfloß und sich zu übertönen suchte.
Napoleon ritt mit seinem Gefolge nach der Schanze von Schewardino und stieg dort vom Pferd. Das Spiel hatte begonnen.
Nachdem Pierre vom Fürsten Andrej nach Gorki zurückgekehrt war und seinem Reitknecht befohlen hatte, die Pferde bereit zu halten und ihn frühzeitig zu wecken, schlief er in dem Eckchen hinter der Halbwand, das Boris ihm abgetreten hatte, sogleich ein.
Als Pierre am andern Morgen aufwachte, war bereits niemand mehr in der Hütte. Die Scheiben der kleinen Fensterchen zitterten. Der Reitknecht stand vor ihm und rüttelte ihn.
»Euer Erlaucht, Euer Erlaucht, Euer Erlaucht …« wiederholte der Reitknecht hartnäckig immer wieder und rüttelte Pierre, ohne ihn anzusehen, an der Schulter, offenbar hatte er schon jede Hoffnung, ihn wach zu bekommen, aufgegeben.
»Was ist? Hat’s angefangen? Ist es schon Zeit?« fragte Pierre erwachend.
»Hören Sie doch bitte das Schießen!« sagte der Reitknecht, ein früherer Soldat. »Alle Herren sind schon fort, sogar der Durchlauchtige ist schon längst vorübergeritten.«
Pierre kleidete sich hastig an und lief vor die Tür. Draußen war es frisch und klar, tauig und heiter. Die Sonne, die soeben erst hinter der Wolke, die sie bis jetzt verdeckt hatte, hervorkam, überflutete mit ihren noch halb vom Nebel gebrochenen Strahlen die Dächer auf der andern Seite der Straße, den betauten Staub auf dem Weg, die Mauern der Häuser, die Fenster, die Zäune und die Pferde Pierres, die vor der Hütte standen. Hier hörte man das Donnern der Kanonen deutlicher. Ein Adjutant, von einem Kosaken begleitet, sprengte die Straße entlang.
»Es ist Zeit, Graf, es ist Zeit!« rief ihm der Adjutant zu.
Pierre ging die Straße entlang den Hügel hinauf, von wo aus er gestern das Schlachtfeld überblickt hatte, und ließ die Pferde nachführen. Der Hügel war ganz von Militärpersonen besetzt, man hörte die französische Unterhaltung der Stabsoffiziere und sah schon von weitem Kutusows graues Haupt mit der weißen, rot paspelierten Mütze und dem grauhaarigen, zwischen den Schultern steckenden Nacken. Kutusow betrachtete durch ein Fernrohr die vor ihm liegende große Heerstraße.
Als Pierre die Stufen, die auf den Hügel führten, hinaufgestiegen war, blieb er stehen, starr vor Entzücken über die Schönheit des Schauspiels, das er vor sich sah. Es war dasselbe Panorama, an dem er sich schon gestern von diesem Hügel aus ergötzt hatte, jetzt aber war das ganze Gelände von Truppen und dem Rauch der Geschütze überzogen, und die schrägen Strahlen der hellen Sonne, die links hinter Pierre emporstieg, warfen in der klaren Morgenluft ein scharfes, goldenes, rötlich getöntes Licht und lange dunkle Schatten über das weite Land. Die fernen Wälder, die das Panorama abschlossen, hoben sich mit der gewundenen Linie ihrer Wipfel wie aus kostbarem, gelblichgrünem Stein geschnitten vom Horizont ab und wurden hinter Walujewo von der großen Smolensker Landstraße, die ganz mit Truppen bedeckt war, durchschnitten. Im Vordergrund schimmerten goldene Felder und grünes Buschwerk. Überall: vorn, rechts und links sah man Truppen. Alles war belebt und machte einen großartigen, überraschenden Eindruck, was aber Pierre am meisten fesselte, das war der Anblick des Schlachtfeldes selbst: des Dorfes Borodino und der engen Täler zu beiden Seiten der Kolotscha.
Über die Kolotscha, über Borodino und zu beiden Seiten des Dorfes, besonders aber links, da wo zwischen sumpfigen Ufern die Woina in die Kolotscha einmündet, lag jener Nebel, der sich beim Höhersteigen der hellen Sonne verflüchtigt, auseinanderfließt, durchsichtig wird und alles, was er zudeckt, in zauberhaften Farben und Umrissen erscheinen läßt. Zu diesem Nebel gesellte sich noch der Rauch der Schüsse, und durch beide hindurch blinkte und glitzerte es überall in den grellen Strahlen der Morgensonne: bald auf dem Wasser, bald auf dem Tau und bald auf den Bajonetten der Truppen, die an den Ufern und bei Borodino zusammenströmten. Mitten aus dem Nebel ragte eine weiße Kirche, hie und da das Dach eines Häuschens von Borodino oder eine dichte Masse von Soldaten, grüne Munitionskasten, Kanonen. Und das alles bewegte sich oder schien wenigstens in Bewegung zu sein, weil Nebel und Rauch leicht über die weite Fläche hinstrichen.
Ebenso wie in diesen vom Nebel eingehüllten Niederungen rund um Borodino, so entstanden auch anderswo, weiter oben und namentlich auf der linken Seite in Wäldern, Feldern, Bergen und Tälern auf der ganzen Linie fortwährend wie von selbst und durch nichts erzeugt Rauchwölkchen, die bald vereinzelt, bald gruppenweise, bald seltener, bald schnell hintereinander aufstiegen, größer wurden, sich ausdehnten und zusammenballten, ineinanderflossen und über die ganze weite Fläche hin sichtbar waren.
Diese Rauchwölkchen und der Schall der Schüsse machten – so sonderbar es auch klingen mag – die Hauptschönheit dieses Schauspiels aus.
Puff! Plötzlich tauchte eine runde, dichte, bald lila, bald grau, bald milchigweiß schimmernde Rauchwolke auf, und bum! erklang ein Sekunde später der zu dieser Rauchwolke gehörende Schuß.
Puff! Puff! Zwei Rauchwolken stiegen auf, stießen sich an und flossen zusammen, und bum, bum! bestätigte der Schall das, was das Auge sah.
Pierre sah sich nach der ersten Rauchwolke um, die ein rundes, volles Bällchen gewesen war, aber schon erblickte er an ihrer Stelle einen großen Rauchballen, der zur Seite zog, und puff … und nach einer Pause: puff, puff entstanden noch drei, vier andere Rauchwölkchen, und auf jedes antwortete mit den gleichen Pausen bum … bum, bum! ein schöner, voller, sicherer Schall. Bald schien es, als ob die Rauchwolken dahinglitten, bald, als ob sie still stünden und die Wälder, die Felder und die funkelnden Bajonette an ihnen vorüberzögen.
Auf der linken Seite schossen aus Feldern und Gehölzen ununterbrochen diese großen Rauchwolken auf und fanden ihren feierlichen Widerhall, während weiter vorn in den Niederungen und Wäldern die kleinen Rauchwölkchen der Flintenschüsse aufstiegen, die nicht dazu kamen, sich rund zusammenzuballen, aber ebenso ihren, wenn auch schwächeren Widerhall fanden. Trach-ta-ta-tach knatterten die Gewehre, zwar viele auf einmal, aber unregelmäßig und ärmlich im Vergleich mit dem Donner der Geschütze.
Pierre wäre am liebsten dort gewesen, zwischen den Rauchwolken, den blitzenden Bajonetten, mitten in dieser Bewegung, diesem Getöse. Er sah sich nach Kutusow und dessen Gefolge um, um den Eindruck, den er hatte, mit dem anderer zu vergleichen. Alle schauten so wie er vor sich auf das Schlachtfeld, und ihm schien, als hätten sie dabei auch dieselben Empfindungen wie er. Auf allen Gesichtern leuchtete jetzt jene »latente Wärme« der Vaterlandsliebe auf, die Pierre schon gestern bemerkt und nach seinem Gespräch mit dem Fürsten Andrej ganz und gar begriffen hatte.
»Reite hin, mein Sohn, reite hin, Christus sei mit dir!« sagte Kutusow zu einem General, der neben ihm stand, ohne die Augen vom Schlachtfeld abzuwenden.
Nachdem der General den Befehl vernommen hatte, ging er an Pierre vorüber dem Abhang des Hügels zu.
»Zur Übergangsstelle!« erwiderte der General kalt und streng auf die Frage einer der Herren vom Stab, wohin er reiten wolle.
Da muß ich auch hin, dachte Pierre und ging dem General nach.
Der General bestieg sein Pferd, das ein Kosak ihm vorführte. Pierre trat auf seinen Reitknecht zu, der die Pferde hielt. Nachdem er sich bei ihm erkundigt hatte, welches von beiden das frömmste sei, stieg er auf, hielt sich an der Mähne fest, stemmte die Hacken der auswärts gedrehten Füße gegen den Leib des Tieres und sprengte so, obgleich er fühlte, daß ihm die Brille von der Nase rutschte und er nicht imstande war, eine Hand von den Zügeln freizumachen, hinter dem General her, was bei den Herren vom Stabe, die ihm vom Hügel aus nachschauten, ein Lächeln hervorrief.
Der General, dem Pierre nachsetzte, ritt den Berg hinunter und wandte sich dann scharf nach links. Pierre aber, der ihn aus den Augen verloren hatte, geriet in eine Infanteriekolonne hinein, die vor ihm her marschierte. Er versuchte bald vorn, bald links, bald rechts herauszukommen, aber überall waren Soldaten, die alle die gleichen ernsten Gesichter hatten und denen man es ansah, daß sie alle mit einer unsichtbaren, aber ernsten Sache beschäftigt waren. Sie alle schauten mit demselben mißbilligend fragenden Blick den dicken Herrn mit dem weißen Hut an, der sie aus unbekannten Gründen mit seinem Pferd beiseitedrängte.
»Was reiten Sie da quer durch unser Bataillon!« schrie ihn einer an.
Ein anderer versetzte dem Pferd mit seinem Kolben einen Schlag, und Pierre, der sich an den Sattelbogen drückte und das sich bäumende Tier kaum bändigen konnte, sprengte vor, aus den Reihen heraus, wo ein freier Raum war.
Vor ihm lag eine Brücke; an dieser Brücke aber standen andere Soldaten und schossen. Pierre ritt auf sie zu. Ohne es zu wissen, gelangte Pierre so zu der Brücke, die zwischen Gorki und Borodino über die Kolotscha führte und im ersten Teil der Schlacht, nachdem die Franzosen Borodino eingenommen hatten, von diesen angegriffen wurde. Pierre sah zwar, daß vor ihm eine Brücke lag und zu beiden Seiten der Brücke auf jener Wiese, wo das Heu in Reihen lag, das er gestern vor lauter Dunst nicht gesehen hatte, Soldaten mit irgend etwas beschäftigt waren, aber er kam trotz des ununterbrochenen Schießens, das von dorther zu ihm drang, gar nicht auf den Gedanken, daß hier das eigentliche Schlachtfeld sei. Er hörte nicht das Sausen der Flintenkugeln, die von allen Seiten vorüberpfiffen, und der Geschosse, die über ihn hinwegflogen, erblickte nicht den Feind, der auf der anderen Seite des Flusses stand, und sah auch lange die Toten und Verwundeten nicht, obgleich manch einer ganz in seiner Nähe fiel. Mit einem Lächeln, das nicht von seinem Gesicht wich, blickte er um sich.
»Was hat denn der da vor der Front herumzureiten?« schrie ihm wieder einer zu.
»Nach links … rechts halten!« rief man ihm nach.
Pierre wandte sich nach rechts und stieß unvermutet mit einem Adjutanten des Generals Rajewskij zusammen, den er kannte. Dieser Adjutant schleuderte Pierre einen wütenden Blick zu und schickte sich offenbar an, ihm ebenfalls etwas zuzuschreien, erkannte ihn aber im letzten Augenblick und nickte ihm zu.
»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte er und ritt weiter.
Pierre, der sich nicht recht an seinem Platz und etwas unnütz vorkam, hatte Angst, wieder jemandem im Weg zu sein, und sprengte dem Adjutanten nach.
»Was geht hier vor? Darf ich mit Ihnen reiten?« fragte er.
»Einen Augenblick«, erwiderte der Adjutant, sprengte auf einen dicken Oberst zu, der auf der Wiese stand, meldete ihm irgend etwas und kehrte dann erst zu Pierre zurück.
»Warum haben sie sich denn hierher gewagt, Graf?« fragte er ihn lächelnd. »Aus lauter Neugierde?«
»Ja, ja«, sagte Pierre.
Der Adjutant wendete sein Pferd und ritt weiter.
»Hier geht es noch, Gott sei Dank«, sagte er, »aber auf der linken Flanke bei Bagration soll es fürchterlich heiß zugehen.«
»Wirklich?« fragte Pierre. »Wo ist das?«
»Reiten Sie mit mir auf jenen Hügel hinauf. Von dort aus werden wir es sehen können. Bei unserer Batterie ist es noch erträglich«, fuhr der Adjutant fort. »Nun, wie denken Sie darüber, kommen Sie mit?«
»Ja, ich reite mit Ihnen«, antwortete Pierre, sah sich um und suchte seinen Reitknecht mit den Augen.
Jetzt sah Pierre zum erstenmal Verwundete, die sich teils zu Fuß mühsam zurückschleppten, teils auf Bahren getragen wurden. Auf derselben kleinen Wiese mit den duftenden Heureihen, über die er gestern geritten war, lag quer über dem Heu starr ein Soldat mit unnatürlich verdrehtem Kopf, von dem der Tschako herabgefallen war.
Warum wird denn der nicht aufgehoben? wollte Pierre fragen, aber er sah das ernste Gesicht des Adjutanten, der ebenfalls nach der Seite hingesehen hatte, und schwieg.
Pierre fand seinen Reitknecht nicht und ritt mit dem Adjutanten unten durch die Talenge und dann den Rajewskij-Hügel hinauf. Sein Pferd blieb hinter dem des Adjutanten zurück und rüttelte ihn im Takt hin und her.
»Sie sind anscheinend nicht ans Reiten gewöhnt, Graf?« fragte der Adjutant.
»Nein, gar nicht. Aber ich weiß nicht, was das Pferd hat, es springt so merkwürdig …« sagte Pierre bedenklich.
»Aber, aber! … Es ist ja verwundet!« rief der Adjutant. »Am rechten Vorderbein … da, über dem Knie … Hat wahrscheinlich eine Kugel abgekriegt. Gratuliere, Graf: le baptême du feu!«
Nachdem sie im Rauch durch das sechste Korps hindurch hinter der Artillerie weitergeritten waren, die sich vorschob und aus ihren Geschützen ein ohrenbetäubendes Feuer eröffnete, gelangten sie zu einem kleinen Gehölz. Hier war es still und kühl; man roch den Herbst. Pierre und der Adjutant stiegen von ihren Pferden und gingen den Berg zu Fuß hinauf.
»Ist der General hier?« fragte der Adjutant, als er bei der Höhe angelangt war.
»Soeben war er hier, er ist dorthin geritten«, gab ihm jemand zur Antwort und zeigte nach rechts.
Der Adjutant sah Pierre an, als wisse er nicht, was er nun mit ihm anfangen solle.
»Kümmern Sie sich nicht um mich«, sagte Pierre. »Ich steige dort auf die Höhe. Darf ich das?«
»Ja, gehen Sie nur. Von dort aus werden Sie alles sehen können, und es ist nicht weiter gefährlich. Ich komme Ihnen dann nach.«
Piere stieg zu der Batterie hinauf, und der Adjutant ritt weiter. Sie sahen sich nicht wieder, und erst viel später erfuhr Pierre, daß dem Adjutanten an diesem Tag der Arm abgerissen worden sei.
Der Hügel, auf den Pierre stieg, war jene berühmte Anhöhe, die später bei den Russen unter dem Namen »Hügelbatterie« oder »Rajewskij-Batterie«, bei den Franzosen »la grande redoute, la fatale redoute« oder »la redoute du centre« bekannt wurde, die von vielen Tausenden von Feinden umstellt war, weil sie die Franzosen für den wichtigsten Punkt der ganzen Stellung hielten.
Diese Schanze bestand aus einer Anhöhe, auf der nach drei Seiten hin Gräben ausgehoben waren. Innerhalb dieser Gräben standen zehn feuernde Geschütze, die bis an die Öffnungen der Wälle herangezogen waren.
In einer Linie mit der Anhöhe standen zu beiden Seiten noch andere Kanonen, die ebenfalls ununterbrochen feuerten. Etwas hinter den Kanonen war Infanterie aufgestellt.
Als Pierre den Hügel hinaufstieg, kam er keineswegs auf den Gedanken, daß dieser von kleinen Gräben begrenzte Raum, auf dem ein paar Kanonen standen und schossen, der wichtigste Punkt des ganzen Schlachtfeldes sein könne. Im Gegenteil, ihm schien, als sei diese Stelle – und vielleicht gerade deshalb, weil er sich dort befand – einer der unbedeutendsten Punkte des ganzen Schlachtfeldes.
Auf der Höhe angelangt, setzte sich Pierre auf das Ende des einen Grabens, der die Batterie einschloß, und schaute mit unbewußt fröhlichem Lächeln zu, was rund um ihn herum vor sich ging. Ab und zu stand er – immer mit demselben Lächeln – auf und wanderte auf der Batterie umher, bemüht, den Soldaten nicht im Wege zu sein, die die Kanonen luden und zurückschoben und fortwährend mit Munitionsbeuteln und Geschossen an ihm vorbei in der Batterie hin und her liefen.
Eine nach der anderen schossen die Kanonen dieser Batterie, ohne eine Pause zu machen, mit ohrenbetäubendem Getöse und hüllten die ganze Gegend in dichten Pulverdampf.
Im Gegensatz zu jenem beklemmenden Gefühl, das bei der zur Deckung dienenden Infanterie zu spüren war, herrschte hier auf der Batterie, wo nur eine kleine Anzahl Leute ganz in ihre Arbeit vertieft abgegrenzt und von den andern durch einen Graben getrennt war, eine allen gemeinsame, gleichmäßige, belebte Stimmung wie in einer Familie.
Das Erscheinen von Pierres unmilitärischer Gestalt mit dem weißen Hut machte anfänglich auf diese Menschen einen unangenehmen Eindruck. Die Soldaten, die bei ihm vorbeigingen, schielten ihn erstaunt und fast erschrocken an. Ein älterer großer, pockennarbiger Artillerieoffizier mit langen Beinen trat, als wolle er die Tätigkeit des äußersten Geschützes prüfen, auf Pierre zu und sah ihn neugierig an.
Ein noch sehr junger Offizier mit rundem Gesicht, noch fast ein Kind, der offenbar eben erst aus dem Kadettenkorps gekommen war und mit dem größten Eifer die beiden ihm anvertrauten Kanonen beaufsichtigte, wandte sich an Pierre mit strenger Miene.
»Mein Herr, darf ich Sie bitten, etwas aus dem Weg zu gehen«, sagte er zu ihm. »Hier dürfen Sie nicht stehen bleiben.«
Die Soldaten sahen Pierre an und schüttelten mißbilligend die Köpfe. Doch als sich alle überzeugt hatten, daß dieser Mann mit dem weißen Hut nicht nur nichts Böses tat, sondern entweder friedlich auf dem Rand des Walles saß oder mit schüchternem Lächeln, den Soldaten höflich Platz machend, auf der Batterie im feindlichen Feuer ebenso ruhig auf und ab spazierte wie auf einem Boulevard, ging das Gefühl ärgerlichen Staunens, das sie gegen ihn empfunden hatten, nach und nach in eine freundliche, launige Teilnahme über, ähnlich der, welche alle Soldaten für ihre Tiere empfinden, für die Hunde, Hühner, Ziegen und überhaupt alle Lebewesen, die sich bei den Truppen aufhalten. So nahmen sie Pierre in Gedanken sogleich in ihre Familie auf, zählten ihn zu den Ihrigen und gaben ihm einen Spitznamen. »Unser gnädiger Herr« nannten sie ihn und machten sich untereinander gutmütig über ihn lustig.
Zwei Schritte von Pierre entfernt wühlte eine Kanonenkugel den Boden auf. Pierre klopfte sich die Erde, die sie auf ihn geworfen hatte, vom Anzug ab und sah sich lächelnd um.
»Fürchten Sie sich denn gar nicht, gnädiger Herr, wirklich nicht?« fragte ein dicker Soldat mit rotem Gesicht Pierre und fletschte seine starken, weißen Zähne.
»Fürchtest du dich denn?« fragte Pierre zurück.
»Wie sollte ich nicht?« erwiderte der Soldat. »Die hat nämlich kein Mitleid. Wem die in den Bauch fährt, dem hängen auch schon die Gedärme heraus. Und da soll man sich nicht fürchten?« sagte er und lachte.
Noch andere Soldaten mit heiteren, freundlichen Gesichtern blieben vor Pierre stehen. Als hätten sie bereits erwartet, daß er nicht so reden werde wie andere, machte ihnen diese Entdeckung nun großen Spaß.
»Wir sind ja auch Soldaten. Aber Sie sind doch ein gnädiger Herr, da muß man sich doch wundern. So einen gnädigen Herrn lasse ich mir gefallen!«
»Auf die Plätze!« schrie der junge Offizier den Soldaten zu, die sich um Pierre versammelt hatten.
Offenbar war es das erste- oder zweitemal, daß er seinen Dienst tat, und deshalb zeigte er sich den Soldaten sowie seinen Vorgesetzten gegenüber besonders gewissenhaft und förmlich.
Das rollende Donnern der Geschütze und das Gewehrfeuer verstärkten sich auf der ganzen Ebene, besonders aber zur Linken, dort wo Bagrations Pfeilschanzen waren. Doch an der Stelle, wo Pierre stand, war vor dem Rauch der Geschütze fast nichts zu sehen. Außerdem nahm die Beobachtung dieser wie ein Familienkreis von allen anderen abgetrennten Menschen Pierres ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Die unbewußt freudige Erregung, die der Anblick und das Getöse der Schlacht zuerst in ihm wachgerufen hatten, machte jetzt, besonders bei der Erinnerung an den, einsam auf der Wiese liegenden Soldaten, noch anderen Gefühlen Platz. In diese Gedanken versunken saß Pierre auf dem Rande des Grabens und beobachtete die Menschen, die ihn umgaben.
Gegen zehn Uhr hatte man bereits zwanzig Mann aus der Batterie weggetragen, zwei Kanonen waren zerschossen, häufiger und häufiger schlugen in der Batterie Geschosse ein, und summend und pfeifend schwirrten von fernher die Kugeln herbei. Aber die Soldaten auf der Batterie schienen das gar nicht zu bemerken: von allen Seiten hörte man ihr lustiges Schwatzen und Scherzen.
»Da kommt eine gefüllte!« rief ein Soldat, als wieder eine Granate pfeifend herbeiflog.
»Die will nicht zu uns! Die will zur Infanterie«, fügte ein anderer lachend hinzu, als er sah, daß die Granate über die Batterie wegflog und in die Reihen der Bedeckung einschlug.
»Das war wohl ’ne Bekannte von dir?« fragte lachend ein anderer einen Bauern, der vor einer vorbeifliegenden Kugel einen tiefen Diener machte.
Ein paar Soldaten hatten sich am Wall versammelt und beobachteten das, was vorn vor sich ging.
»Auch die Vorposten haben sie eingezogen … siehst du … sie sind zurückgegangen …«, sagten sie und zeigten über den Wall.
»Kümmert ihr euch um eure Angelegenheiten!« rief ihnen ein alter Unteroffizier zu. »Wenn sie zurückgegangen sind, so heißt das so viel, daß es hinten zum Gefecht kommen wird.«
Und der Unteroffizier packte den einen Soldaten an der Schulter und stieß ihn mit dem Knie. Die andern lachten.
»An das fünfte Geschütz! Wegfahren!« hörte man von der einen Seite rufen.
»Alle auf einmal, wie die Schiffer!« riefen heiter die Soldaten, die die Kanone auf eine andere Stelle fuhren.
»Alle Wetter, die hätte jetzt unserm gnädigen Herrn beinahe den Hut vom Kopf gerissen!« machte sich der Spaßvogel mit dem roten Gesicht über Pierre lustig und zeigte grinsend seine Zähne. »Trampel, infamer!« rief er vorwurfsvoll der Kugel zu, die in das Rad seines Geschützes und das Bein seines Nebenmannes fuhr.
»Na, ihr Füchse!« lachte ein anderer die Landwehrleute aus, die sich vorsichtig und in gebückter Haltung auf die Batterie heraufschlichen, um die Verwundeten zu holen.
»Euch schmeckt wohl die Grütze nicht? Was steht ihr wie die Ölgötzen da, ihr Aasgeier!« riefen sie den Leuten zu, die unschlüssig vor dem Soldaten mit dem abgerissenen Bein stehenblieben.
»Da staunt ihr, ihr Bürschchen«, neckte man die Bauern. »So viel Feuer habt ihr nicht gern.«
Pierre bemerkte, wie nach jeder einschlagenden Kugel, nach jedem Verlust, die Stimmung immer lebhafter und lustiger wurde.
Wie in einer herannahenden Gewitterwolke, so blitzte in allen diesen Gesichtern immer häufiger und häufiger und immer heller und heller wie zum Trotz gegen das, was geschah, ein heimliches, brennendes Feuer auf.
Pierre sah nicht vor sich auf das Schlachtfeld und strebte nicht mehr danach, zu erfahren, was dort geschah: er war ganz in die Beobachtung des immer heller und heller entbrennenden Feuers vertieft, das in derselben Weise – das fühlte er – auch in seiner Seele aufloderte.
Gegen zehn Uhr zog sich die Infanterie, die vor der Batterie im Gebüsch und am Kamenkaflüßchen entlang gestanden hatte, zurück. Von oben aus konnte man sehen, wie sie am Fuß der Batterie vorbei zurückliefen und die Verwundeten auf ihren Flinten forttrugen. Ein General mit Gefolge kam auf den Hügel herauf, sprach ein paar Worte mit dem Obersten, warf einen ärgerlichen Blick auf Pierre, stieg dann wieder hinunter und befahl der Infanterie, die als Deckung hinter der Batterie stand, sich hinzulegen, um dem feindlichen Feuer weniger ausgesetzt zu sein.
Bald darauf hörte man aus den Reihen der Infanterie, die rechts von der Batterie stand, Trommeln und Kommandorufe, und man konnte von oben aus sehen, wie die Infanteriekolonnen sich vorschoben.
Pierre blickte über den Wall. Eine Gestalt fiel ihm besonders in die Augen. Es war dies ein junger Offizier mit bleichem Gesicht, der mit gesenktem Degen an der Spitze seiner Mannschaft zurückging und sich dabei unruhig umsah.
Die Infanteriekolonnen wurden vom Rauch verhüllt, man hörte nur noch langgezogene Kommandorufe und heftiges Gewehrfeuer. Nach ein paar Augenblicken kamen Scharen von Verwundeten zu Fuß und auf Tragbahren zurück.
Auf der Batterie schlugen jetzt immer häufiger die Geschosse ein. Ein paar Verwundete lagen da, ohne daß sie jemand fortschaffte. Immer geschäftiger und lebhafter wurden die Kanonen bedient. Keiner schenkte Pierre noch Aufmerksamkeit. Ein paarmal schrie man ihn wütend an, weil er im Weg war. Der Oberst ging mit finsterem Gesicht und großen, hastigen Schritten von einem Geschütz zum anderen. Der ganz junge Offizier hatte einen noch röteren Kopf bekommen und kommandierte seine Soldaten noch eifriger. Die Mannschaft lief geschäftig hin und her, reichte sich die Geschosse, lud und erfüllte ihre Aufgabe mit angestrengtem Stolz. Sie standen an ihren Posten wie auf Sprungfedern.
Die Gewitterwolke kam näher und näher, und hell brannte auf allen Gesichtern jenes Feuer, dessen Auflodern Pierre beobachtet hatte. Er stand neben dem Obersten. Da kam der ganz junge Offizier herbeigelaufen, die Hand am Tschako.
»Ich habe die Ehre zu melden, Herr Oberst, daß nur noch acht Geschosse da sind. Befehlen Sie, das Feuer fortzusetzen?« fragte er.
»Kartätschen!« schrie der Oberst, ohne ihm eine Antwort zu geben, und blickte über den Wall.
Plötzlich ereignete sich etwas: der junge Offizier schrie auf und fiel zusammengekrümmt zu Boden wie ein im Flug geschossener Vogel. Vor Pierres Augen erschien auf einmal alles merkwürdig unklar und trübe.
Eine nach der anderen kamen die Kanonenkugeln pfeifend herangeflogen und schlugen in die Brustwehr, in die Mannschaft, in die Geschütze ein. Pierre, der erst gar nicht auf ihr Sausen geachtet hatte, hörte jetzt weiter nichts mehr. Ihm schien, als liefe die Infanterie auf der rechten Seite der Batterie mit Hurrarufen nicht vor, sondern zurück.
Eine Kugel prallte auf den äußersten Rand des Walles, gerade dort, wo Pierre stand, warf Erde hinunter, flog wie ein schwarzer Ball vor seinen Augen vorbei und schlug klatschend irgendwo ein. Die Landwehrleute, die zur Batterie heraufkommen wollten, rannten wieder zurück.
»Alle mit Kartätschen!« schrie der Oberst.
Ein Unteroffizier lief auf den Obersten zu und meldete ihm mit ängstlichem Flüstern, wie der Haushofmeister bei Tisch dem Hausherrn meldet, daß der verlangte Wein nicht mehr da ist, es seien keine Geschosse mehr vorhanden.
»Diese Malefizkerle, was machen die mir für Geschichten!« schrie der Oberst und wandte sich nach Pierre um. Sein Gesicht war rot und mit Schweiß bedeckt, seine finsteren Augen blitzten.
»Lauf zur Reserve und hole Munitionskästen!« schrie er dem Soldaten zu, wobei er ärgerlich an Pierre vorbeisah.
»Ich werde gehen«, sagte Pierre.
Der Offizier gab ihm keine Antwort und ging mit großen Schritten nach der andern Seite hinüber.
»Nicht schießen … Warten!« rief er.
Der Soldat, dem befohlen war, Munition herbeizuschaffen, stieß mit Pierre zusammen.
»Ach, gnädiger Herr, hier ist kein guter Platz für dich«, sagte er und lief hinunter.
Pierre lief hinter dem Soldaten her, machte aber um die Stelle, wo der junge Offizier lag, einen Bogen.
Eine, zwei, drei Kugeln flogen über ihn hin, schlugen vorn, zur Seite und hinter ihm ein. Pierre lief den Berg hinunter. Wo will ich hin? fiel ihm plötzlich ein, als er schon bis an die grünen Munitionswagen herangekommen war. Unschlüssig blieb er stehen und wußte nicht, ob er vorwärts- oder zurückgehen sollte.
Plötzlich stieß ihn ein furchtbarer Schlag zurück und zu Boden. Im selben Augenblick beleuchtete ihn ein gewaltiger Feuerschein, und gleichzeitig hörte man ein betäubendes, in den Ohren dröhnendes Donnern, Krachen und Pfeifen.
Als Pierre wieder zu sich kam, saß er, die Arme auf den Boden gestützt, auf der Erde. Der Munitionswagen, der vor ihm gestanden hatte, war nicht mehr da. Nur angekohlte grüne Bretter und Fetzen lagen auf dem verbrannten Gras. Das eine Pferd raste, die zerbrochene Deichsel hinter sich herschleifend, auf und davon, während das andere, wie Pierre selber, am Boden lag und durchdringend und stöhnend schrie.
Pierre, der vor Schrecken noch nicht ganz zu sich gekommen war, sprang auf und lief auf die Batterie zurück, als wäre sie, bei all dem Entsetzlichen, das ihn umgab, der einzige Zufluchtsort.
Als Pierre die Verschanzung erreicht hatte, bemerkte er, daß man die Batterie nicht mehr schießen hörte, sondern daß irgendwelche Soldaten dort irgend etwas taten. Pierre kam gar nicht dazu zu begreifen, was für Soldaten das wohl waren. Er sah den Obersten, der ihm den Rücken kehrte und über den Wall gelehnt lag, als beobachtete er unten etwas, sah, wie ein Soldat, den er von vorhin kannte, sich von diesen Leuten loszureißen suchte, die ihn am Arm festhielten, und dabei schrie: »Kameraden!« … und was der seltsamen Dinge mehr waren.
Doch er war sich noch nicht darüber klar geworden, daß der Oberst gefallen, der »Kameraden« rufende Soldat gefangengenommen und ein anderer vor seinen Augen von hinten erstochen worden war, als gleich bei seinem Eintritt in die Verschanzung ein hagerer Mensch mit gelbem, verschwitztem Gesicht in blauer Uniform mit dem Degen in der Hand auf ihn zugelaufen kam und ihm etwas zuschrie. Instinktiv streckte Pierre, um den Stoß abzuwehren, da beide, ohne einander zu sehen, zusammenrannten, die Arme vor und packte diesen Menschen – es war ein französischer Offizier – mit der einen Hand an der Schulter, mit der anderen an der Kehle. Der Offizier ließ den Degen fallen und faßte Pierre beim Kragen.
Ein paar Sekunden lang starrten sich beide mit erschrockenen Augen in die fremden Gesichter und wußten nicht recht, was sie getan hatten und nun tun sollten.
Habe ich ihn gefangengenommen oder er mich? dachte jeder. Doch schien offenbar der französische Offizier stärker zu der Ansicht zu neigen, daß er gefangengenommen worden war, weil Pierres starke Hand, die durch die Furcht unwillkürlich noch stärker wurde, ihm fester und fester die Kehle zudrückte. Der Franzose wollte etwas sagen, als plötzlich dicht über ihren Köpfen ganz niedrig und furchtbar eine Kanonenkugel vorübersauste. Pierre schien es, als habe sie dem Franzosen den Kopf abgerissen: so schnell bog er ihn zur Seite.
Pierre hatte ebenfalls den Kopf geduckt und die Hände sinken lassen. Keiner dachte mehr daran, wer den anderen gefangengenommen habe: der Franzose lief auf die Batterie zurück und Pierre den Berg hinunter, wobei er über Gefallene und Verwundete stolperte, die, wie ihm schien, nach seinen Beinen haschten. Aber er war noch nicht wieder unten angelangt, als ihm ein dichter Haufe russischer Soldaten im Sturmschritt entgegenlief und stolpernd, fallend und schreiend, lustig und wie der Wind zur Batterie hinauf stürmte. Es war jener Angriff, den Jermolow später auf sein Konto schrieb, indem er behauptete, daß es nur seiner Kühnheit und seinem Glück möglich gewesen sei, diese Heldentat zu vollbringen, jener Angriff, bei dem er die in der Tasche mitgeführten Georgskreuze auf den Hügel geworfen haben soll.
Die Franzosen, die die Batterie eingenommen hatten, liefen wieder davon. Mit Hurrageschrei jagten unsere Truppen die Feinde so weit von der Batterie weg, daß es schwer hielt, sie wieder zum Stehen zu bringen.
Eine Anzahl Gefangener wurde von der Batterie abgeführt, unter denen sich auch ein französischer General befand, der von unseren Offizieren umringt wurde. Scharen russischer und französischer Verwundeter mit leidverzerrten Gesichtern, die Pierre teils bekannt, teils unbekannt waren, gingen oder krochen weg oder wurden auf Bahren hinuntergetragen. Pierre stieg noch einmal auf die Höhe hinauf, wo er über eine Stunde geweilt hatte, aber von dem ganzen Familienkreis, der ihn aufgenommen hatte, fand er niemanden mehr vor. Es lagen dort viele Tote, die ihm fremd waren. Aber einige von ihnen erkannte er doch wieder.
Der ganz junge Offizier lag, immer noch ebenso zusammengekrümmt, am Rande des Walls in einer Blutlache. Der Soldat mit dem roten Gesicht zuckte noch, aber niemand trug ihn fort. Pierre lief hinunter.
Nein, jetzt werden sie aufhören, jetzt werden sie erschrecken über das, was sie getan haben! dachte er und folgte planlos den Tragbahren, die vom Schlachtfeld fortgeschafft wurden.
Doch die vom Rauch verschleierte Sonne stand noch hoch am Himmel, und vorn, besonders auf der linken Seite bei Semjonowskoje, wallte und siedete es noch immer im Dampf, und das Donnern der Geschütze, das Knattern des Gewehrfeuers wurde nicht nur nicht schwächer, sondern schwoll bis zur Verzweiflung an, wie das Geschrei eines Menschen in höchster Not, der seine letzten Kräfte aufbietet.
Die Hauptgefechte der Schlacht bei Borodino spielten sich auf einer Fläche von einigen Tausend Metern zwischen Borodino und Bagrations Pfeilschanzen ab. Außerhalb dieser Fläche wurde auf der einen Seite gegen Mittag von Uwarows Kavallerie eine Demonstration unternommen, während auf der anderen Seite hinter Utiza ein Zusammenstoß zwischen Poniatowski und Tutschkow stattfand, aber das waren zwei gesonderte, im Vergleich mit dem, was in der Mitte des Schlachtfelds vor sich ging, unbedeutende Gefechte. Auf einem Feld zwischen Borodino und den Pfeilschanzen, in der Nähe des Waldes, auf einem offenen, von allen Seiten sichtbaren Gelände, fand der Hauptkampf der Schlacht in der allereinfachsten Weise statt, ohne daß irgendeine List zur Anwendung gekommen wäre.
Die Schlacht wurde eröffnet durch eine Kanonade von beiden Seiten aus mehreren hundert Geschützen.
Dann, als der Rauch das ganze Gelände einhüllte, rückten unter dem Schutz dieses Rauches von französischer Seite her rechts die beiden Divisionen Dessaix und Compan gegen die Pfeilschanzen und links die Regimenter des Vizekönigs auf Borodino vor.
Von der Schanze bei Schewardino, auf der Napoleon stand, waren die Pfeilschanzen in gerader Linie etwa eine Werst, Borodino dagegen über zwei Werst entfernt, und deshalb konnte Napoleon nicht sehen, was dort vor sich ging, um so weniger, als der Rauch, der mit dem Nebel zusammenfloß, das ganze Gelände verhüllte.
Die Soldaten der Division Dessaix, die auf die Pfeilschanzen zu marschierten, waren nur so lange zu sehen, bis sie in die Schlucht hinabstiegen, die sie von den Schanzen trennte. Sobald sie sich in die Schlucht hinabbegeben hatten, wurde der Rauch der Geschütze und des Gewehrfeuers auf den Pfeilschanzen so dicht, daß er den ganzen Anstieg auf der andern Seite der Schlucht verhüllte. Zwischen dem Rauch hindurch schimmerte nur etwas Schwarzes, wahrscheinlich Menschen, und ab und zu blitzte ein Bajonett auf. Ob sie aber vorgingen oder stillstanden, ob es Franzosen oder Russen waren – das konnte man von der Schanze von Schewardino nicht sehen.
Die Sonne stieg klar empor und warf ihre schrägen Strahlen gerade Napoleon ins Gesicht, der die Hand vor die Augen hielt und nach den Pfeilschanzen hinübersah. Der Pulverqualm hatte sich vor die Schanzen hingelagert, so daß es schien, als bewege sich bald der Rauch, bald die Truppen. Ab und zu hörte man durch das Schießen hindurch das Geschrei der Soldaten, aber es war unmöglich zu erkennen, was sie dort taten.
Napoleon stand auf dem Hügel und blickte durch das Fernrohr. In dem kleinen Kreis dieses Fernrohrs sah er Rauch und Menschen, manchmal Franzosen, manchmal Russen, wenn er aber dann wieder mit bloßem Auge hinsah, wußte er nicht mehr, wo das, was er soeben gesehen hatte, gewesen war.
Dann stieg er vom Hügel hinunter und fing an, an dessen Fuß auf und ab zu gehen. Ab und zu blieb er stehen, horchte auf das Schießen und warf einen Blick auf das Schlachtfeld.
Weder von der Stelle am Fuß des Hügels, wo er stand, noch von dem Hügel selber, auf dem sich noch einige seiner Generäle aufhielten, ja, nicht einmal von den Pfeilschanzen selbst, wo sich jetzt gleichzeitig oder abwechselnd bald Russen, bald Franzosen, tote, verwundete, lebende, erschrockene oder halb wahnsinnige Soldaten befanden – ja, nicht einmal dort konnte man übersehen, was eigentlich vor sich ging. Im Verlauf mehrerer Stunden erschienen an dieser Stelle mitten in dem nie verstummenden Kanonen- und Gewehrfeuer bald Russen, bald Franzosen, bald Infanterie, bald Kavallerie; erschienen, prallten aufeinander, schossen, fielen, ohne zu wissen, was sie miteinander anfangen sollten, schrien und liefen wieder zurück.
Unaufhörlich sprengten vom Schlachtfeld her Napoleons abgesandte Adjutanten und die Ordonnanzen seiner Marschälle und überbrachten dem Kaiser Meldungen über den Gang der Schlacht. Aber alle diese Meldungen waren falsch: einmal, weil es in der Hitze der Schlacht unmöglich ist zu sagen, was im gegenwärtigen Augenblick vor sich geht, zweitens, weil viele Adjutanten gar nicht bis zum eigentlichen Kampfplatz hinkamen, sondern nur das überbrachten, was sie von anderen gehört hatten, und endlich, weil sich in der Zeit, in der ein Adjutant die zwei, drei Werst bis zu Napoleon zurücklegte, die Umstände meist bereits geändert hatten, so daß die Nachricht, die er überbrachte, schon aus diesem Grund nicht mehr stimmte.
So sprengte zum Beispiel vom Vizekönig ein Adjutant herbei mit der Nachricht, Borodino sei genommen und die Brücke über die Kolotscha in französischen Händen. Der Adjutant fragte Napoleon, ob er befehle, daß die Truppen hinüberrückten. Der Kaiser ordnete an, die Regimenter sollten sich am jenseitigen Ufer formieren und dort warten. Aber nicht nur als Napoleon diesen Befehl erteilte, sondern bereits als der Adjutant kaum von Borodino weggeritten war, war die Brücke schon wieder von den Russen zurückerobert und verbrannt worden, eben in jenem Treffen, an dem Pierre gleich zu Anfang der Schlacht teilgenommen hatte.
Von den Pfeilschanzen her sprengte ein Adjutant mit bleichem, erschrockenem Gesicht und meldete Napoleon, der Angriff sei abgeschlagen, Compan verwundet und Davoust gefallen. Inzwischen waren aber die Pfeilschanzen von einem andern Truppenteil genommen worden, gerade zu der Zeit, als man dem Adjutanten gesagt hatte, die Franzosen seien geschlagen, und auch Davoust war noch am Leben und hatte sich nur eine Quetschung zugezogen.
Auf Grund solch unvermeidlich falscher Meldungen traf nun Napoleon seine Anordnungen, die entweder bereits früher, als er sie gegeben hatte, ausgeführt worden waren, oder nicht ausgeführt werden konnten und daher auch nicht ausgeführt wurden.
Marschälle und Generäle, die sich in geringer Entfernung vom Schlachtfeld befanden, aber ebenso wie Napoleon an der Schlacht nicht teilnahmen und nur selten bis an die Feuerlinie vorritten, trafen, ohne Napoleon zu befragen, ihre Anordnungen und erteilten Befehle, wohin und von wo aus geschossen werden sollte, nach welcher Richtung die Kavallerie zu reiten und die Infanterie zu marschieren hatte. Aber auch ihre Befehle kamen, ganz wie Napoleons Anordnungen, nur in geringem Umfang und nur selten zur Ausführung. Meist geschah das Gegenteil dessen, was sie angeordnet hatten.
Soldaten, denen befohlen war, vorzugehen, liefen zurück, wenn sie in Kartätschenfeuer gerieten; Soldaten, die den Befehl erhalten hatten, auf ihrem Platz stehen zu bleiben, stürmten plötzlich, wenn sie unvermutet vor sich den Feind auftauchen sahen, manchmal vor, manchmal zurück, und die Kavallerie jagte ohne Befehl den fliehenden Russen nach. So sprengten zwei Kavallerieregimenter durch die Schlucht bei Semjonowskoje und galoppierten, als sie kaum auf der Höhe angelangt waren, sogleich wieder zurück, was die Pferde nur laufen konnten. So rückten auch Infanterieregimenter vor, die manchmal durchaus nicht dorthin marschierten, wohin sie marschieren sollten. Alle Anordnungen, wann und wohin die Kanonen vorgezogen, die Infanterie zum Schießen vorgeschickt werden und die Artillerie das russische Fußvolk zerstampfen sollte, erteilten die in nächster Nähe befindlichen Kommandeure der einzelnen Truppenteile, die selber an der Front waren, ohne Ney, Davoust und Murat oder gar Napoleon selber zu fragen. Sie fürchteten sich vor keiner Strafe, wenn sie die Befehle nicht ausführten oder eigenmächtig Anordnungen trafen, da es in einer Schlacht um das teuerste Gut des Menschen, um das eigne Leben geht. Einmal scheint es, daß nur eine Flucht Rettung bringen kann, ein andermal nur ein Sturmangriff, und so handelten alle diese Menschen, die sich im Feuer der Schlacht selber befanden, nur nach der Eingebung des Augenblicks.
Im Grund aber änderten alle diese Vor- und Rückwärtsbewegungen der Truppen nichts an ihrer Lage, sie wurde dadurch weder leichter noch schwieriger. Durch alle die Sturmangriffe und Kavallerieattacken fügten sie einander kaum Schaden zu, sondern alles Unheil, Tod und Verstümmelung, richteten nur die Artilleriegeschosse und Flintenkugeln an, die über das ganze Gelände dahinflogen, auf dem sich die Truppen hin und her bewegten. Kamen diese Menschen einmal aus dem Raum, wo es Geschosse und Flintenkugeln regnete, heraus, so wurden sie sogleich von den hinten stehenden Kommandeuren wieder geordnet, der Disziplin unterworfen und kraft der Disziplin wieder in den Feuerbereich zurückgeführt, wo dann unter dem Einfluß der Todesfurcht diese Disziplin wieder verlorenging und die Menge von zufälligen Stimmungen hin und her geworfen wurde.
Napoleons Generäle, Davoust, Ney und Murat, die sich in der Nähe des Feuerbereichs aufhielten und sogar manchmal in diesen hineinritten, führten zu wiederholten Malen starke, wohlgeordnete Truppenmassen in diese Zone hinein. Doch im Gegensatz zu dem, was sich in früheren Schlachten unfehlbar ereignet hatte, kehrten statt der erwarteten Nachricht von der Flucht des Feindes die wohlgeordneten Truppenmassen von dorther immer in aufgelösten, entsetzten Haufen zurück. Man formierte sie neu, aber es wurden ihrer immer weniger. Gegen Mittag schickte Murat seinen Adjutanten zu Napoleon mit der Bitte um Verstärkung.
Napoleon saß am Fuß des Hügels und trank Punsch, als Murats Adjutant angesprengt kam und versicherte, die Russen würden geschlagen, wenn Seine Majestät noch eine Division bewillige.
»Verstärkung?« fragte Napoleon verwundert, als verstünde er das Wort nicht und sah den hübschen jungen Adjutanten streng an, der sein langes, schönes, lockiges Haar ebenso wie Murat trug.
Verstärkung? dachte Napoleon. Wie können sie um Verstärkung bitten, wo sie doch die Hälfte meiner Armee in Händen haben, und noch dazu einem schwachen, unbefestigten russischen Flügel gegenüber?
»Dites au roi de Naples«, erwiderte Napoleon streng, »qu’il n’est pas mich et que je ne vois pas encore clair sur mon échiquier. Allez …«
Der junge hübsche Adjutant mit dem langen Haar seufzte schwer auf, ohne die Hand vom Tschako zu nehmen, und sprengte dorthin zurück, wo die Menschen totgeschlagen wurden.
Napoleon erhob sich, ließ Caulaincourt und Berthier rufen und unterhielt sich mit ihnen über Angelegenheiten, die die Schlacht nicht betrafen.
Mitten in ihrem Gespräch, das anfing, Napoleon zu fesseln, fiel Berthiers Auge auf einen General mit Gefolge, der auf schweißbedecktem Pferd auf den Hügel zusprengte. Es war Belliard. Er sprang vom Pferd, eilte mit raschen Schritten auf den Kaiser zu, und begann, ihm kühn und mit lauter Stimme die Notwendigkeit einer Verstärkung auseinanderzusetzen. Er versicherte hoch und heilig, daß die Russen vernichtet werden würden, wenn der Kaiser ihm noch eine Division gebe.
Napoleon zuckte die Achseln, gab keine Antwort und fuhr fort, auf und ab zu gehen. Belliard sprach laut und aufgeregt mit den Generälen des Gefolges, die ihn umringten.
»Sie sind zu hitzig, Belliard«, sagte Napoleon, als er wieder an dem soeben eingetroffenen General vorbeikam. »Im Feuer der Schlacht kann man sich leicht irren. Reiten Sie zurück und sehen Sie sich die Sache noch einmal an, und dann kommen Sie wieder zu mir.«
Belliard war noch nicht aus dem Gesichtskreis verschwunden, als von einer anderen Seite wieder ein Abgesandter vom Schlachtfeld angesprengt kam.
»Eh bien, qu’est-ce qu’il y a?« fragte Napoleon im Ton eines Menschen, der durch fortwährende Unterbrechungen gereizt wird.
»Sire, le Prince …« fing der Adjutant an.
»Bittet wohl um Verstärkung?« fiel Napoleon mit zorniger Gebärde ein.
Der Adjutant nickte bestätigend und stattete seinen Bericht ab, aber der Kaiser wandte sich von ihm ab, ging zwei Schritte weiter, blieb wieder stehen, kehrte dann um und rief Berthier.
»Wir müssen die Reserven herausgeben«, sagte er und breitete resigniert die Arme aus. »Wen wollen wir hinschicken? Was denken Sie?« wandte er sich an Berthier, an diesen »oison que j’ai fait aigle«, wie er später einmal von ihm gesagt haben soll.
»Euer Majestät kann ja die Division Claparède hinschicken«, erwiderte Berthier, der alle Divisionen, Regimenter und Bataillone im Kopf hatte.
Napoleon nickte zustimmend.
Der Adjutant galoppierte weiter zur Division Claparède, und kurze Zeit darauf setzte sich die ganze Garde, die hinter dem Hügel gestanden hatte, in Bewegung. Napoleon sah schweigend zu ihnen hinüber.
»Nein«, wandte er sich plötzlich an Berthier, »ich mag Claparède nicht schicken. Nehmen wir die Division Friant.«
Obwohl durchaus kein Vorteil damit verknüpft war, wenn man statt Claparède die Division Friant schickte, sondern es zweifellos nur Unannehmlichkeiten und Verzögerung verursachte, Claparède jetzt wieder aufzuhalten und Friant zu schicken, so wurde doch dieser Befehl aufs pünktlichste ausgeführt. Napoleon aber sah nicht ein, daß er selber seinen Truppen gegenüber die Rolle jenes Arztes spielte, der mit seinen Medikamenten den Körper des Kranken nur stört, jene Rolle, die er am Arzt so richtig erkannt und verurteilt hatte.
Die Division Friant verschwand, wie alle die anderen auch, im Pulverdampf der Schlacht. Ununterbrochen sprengten von den verschiedensten Seiten Adjutanten herbei, und alle sagten ein und dasselbe, als hätten sie sich verabredet. Alle baten um Verstärkung, alle behaupteten, die Russen säßen fest in ihren Stellungen und unterhielten un feu d’enfer, unter dem das französische Heer zusammenschmelze.
In tiefe Gedanken versunken saß Napoleon auf einem Feldstuhl.
Der reiselustige Herr de Beausset, der seit dem Morgen noch nichts gegessen hatte, trat auf den Kaiser zu und erlaubte sich, Seiner Majestät ehrerbietigst den Vorschlag zu machen, das Frühstück einzunehmen.
»Ich hoffe, daß ich schon jetzt Euer Majestät zum Sieg gratulieren darf«, sagte er.
Napoleon schüttelte stumm verneinend den Kopf. In der Annahme, diese Verneinung beziehe sich auf den Sieg und nicht auf das Frühstück, erlaubte sich Herr de Beausset ehrerbietig scherzend die Bemerkung, daß es auf der ganzen Welt keinen Grund gebe, der einen am Frühstücken hindern könne, wenn sich dazu Gelegenheit biete.
»Allez-vous …« antwortete Napoleon finster und drehte ihm den Rücken.
Ein süßes Lächeln des Bedauerns, der Reue und zugleich der Begeisterung erstrahlte auf Beaussets Gesicht, und schwimmenden Schrittes begab er sich zu den anderen Generälen.
Napoleon empfand ein bedrückendes Gefühl wie ein immer vom Glück begünstigter Spieler, der, wie unsinnig er auch mit seinem Geld um sich warf, doch stets gewonnen hat, und nun auf einmal, gerade in dem Augenblick, in dem er alle Chancen des Spieles erwogen zu haben glaubt, sich des Gefühls nicht erwehren kann, daß er um so sicherer verliert, je bedächtiger er seine Schritte berechnet.
Die Truppen waren dieselben, die Generäle dieselben, die Vorbereitungen dieselben, und sogar die Disposition war wie immer: courte et énergique. Und auch er selber war noch der alte, davon war er überzeugt, ja er fühlte, daß er jetzt bei weitem erfahrener und geschickter war als früher, und auch die Feinde waren noch die gleichen wie einst bei Austerlitz und bei Friedland, und doch fiel sein zu furchtbarem Schlag erhobener Arm wie durch einen Zauber gelähmt herab.
All die früheren Kunstgriffe, die sonst unweigerlich zum Erfolg geführt hatten: das Zusammenziehen der Batterien auf einen Punkt, der Angriff der Reserven, um die Front zu durchbrechen, die Attacken der Artillerie, des hommes de fer – alle diese Kunstgriffe waren bereits ins Treffen geführt und hatten nicht nur keinen Sieg errungen, sondern es liefen sogar von allen Seiten ein und dieselben Nachrichten ein von verwundeten und gefallenen Generälen, von notwendiger Verstärkung, von der Unmöglichkeit, die Russen zurückzuschlagen, und von der Auflösung der französischen Truppen.
Früher waren nach zwei, drei Befehlen, zwei, drei Sätzen Marschälle und Adjutanten mit fröhlichen Gesichtern glückwünschend angesprengt, hatten Siegestrophäen gemeldet: Züge von Gefangenen, des faisceaux de drapeaux et d’aigles ennemis, Kanonen und Fuhrwerk, und Murat hatte nur um die Erlaubnis gebeten, die Kavallerie vorzuschicken, um den Fuhrpark des Feindes heranzuholen. So war es bei Lodi[175], bei Marengo[176], bei Arcole[177], bei Jena[178], bei Austerlitz, bei Wagram[179] und so weiter, und so weiter gewesen. Jetzt aber ging etwas Merkwürdiges mit seinen Truppen vor.
Trotz der Nachricht von der Einnahme der Pfeilschanzen sah Napoleon ein, daß dies alles nicht so, ganz und gar nicht so war wie bei seinen früheren Schlachten. Und er bemerkte, daß dasselbe Gefühl, das er empfand, all jene im Kriegswesen erfahrenen Leute, die ihn umgaben, ebenso bedrückte. Sie alle zeigten besorgte Gesichter und wichen einander mit den Blicken aus. Nur Beausset vermochte die Bedeutung dessen, was sich vollzog, nicht zu erfassen. Napoleon selber aber wußte aus seiner langjährigen Kriegserfahrung genau, was es zu bedeuten hat, wenn eine Schlacht nach achtstündigen Anstrengungen von der angreifenden Macht noch nicht gewonnen ist. Er wußte, daß das Spiel fast verloren war, und daß auf jenem scharfen Punkt des Schwankens, auf dem die Schlacht jetzt stand, der geringste Zufall ihn und sein Heer vernichten konnte.
Als er diesen ganzen merkwürdigen russischen Feldzug in Gedanken an sich vorüberziehen ließ, in dem er keine einzige Schlacht gewonnen und in den ganzen zwei Monaten nicht eine Fahne, nicht eine Kanone erbeutet und nicht einen Trupp Gefangene gemacht hatte, als er die heimlich besorgten Gesichter seiner Umgebung sah und die Meldungen hörte, daß die Russen immer noch nicht wankten und wichen – da beschlich ihn ein furchtbares Gefühl, wie man es manchmal im Traum empfindet, und alle nur möglichen unglücklichen Zufälle, die seinen Untergang herbeiführen konnten, kamen ihm in den Sinn. Die Russen konnten über seinen linken Flügel herfallen, konnten sein Zentrum sprengen, eine verirrte Kugel konnte ihn selber töten. Dies alles war möglich. In seinen früheren Schlachten hatte er nur die glücklichen Zufälle erwogen, jetzt drängte sich ihm eine zahllose Menge unglücklicher Vorkommnisse auf, auf die er alle gefaßt war. Ja, es war wie in einem Traum, wo man einen Verbrecher auf sich zukommen sieht und diesem einen furchtbaren Schlag versetzen will, von dem man überzeugt ist, daß er ihn niederstrecken muß – auf einmal aber fühlt man, daß die Hand kraftlos und schlapp wie ein Lappen niedersinkt, und das ganze Grauen des unabwendbaren Unheils faßt den Träumenden in seiner Hilflosigkeit.
Die Meldung, daß die Russen die linke Flanke der französischen Armee angegriffen hätten, löste in Napoleon solches Entsetzen aus. Schweigend saß er auf seinem Feldstuhl am Fuß des Hügels, ließ den Kopf sinken und stützte die Ellbogen auf die Knie. Berthier trat auf ihn zu und schlug ihm vor, an die Front zu reiten, um sich persönlich vom Stand der Dinge zu überzeugen.
»Wie? Was sagen Sie da?« fuhr Napoleon auf. »Ja, lassen Sie mir mein Pferd bringen.«
Er saß auf und ritt nach Semjonowskoje.
Überall in dem ganzen Gelände, das Napoleon durchritt, lagen in dem nur langsam sich verziehenden Pulverrauch Menschen und Pferde einzeln und haufenweise in Blutlachen da. Ein so entsetzliches Schauspiel, eine solche Unmenge Gefallener auf einem so kleinen Raum hatte weder Napoleon noch einer seiner Generäle je gesehen. Das Donnern der Geschütze, das seit zehn Stunden ununterbrochen währte und dem Ohr weh tat, verlieh diesem Schauspiel noch eine besondere Wirkung, wie die Musik bei lebenden Bildern.
Napoleon ritt auf die Höhe von Semjonowskoje und sah durch den Pulverdampf Soldatenkolonnen in Uniformen, deren Farbe seinem Auge nicht vertraut war. Es waren Russen.
Die Russen standen in dichten Reihen hinter Semjonowskoje und dem Hügel, und ihre Geschütze dröhnten und dampften die ganze Linie entlang, ohne aufzuhören. Eine Schlacht war nicht mehr im Gang. Es war nur ein fortgesetztes Morden, das weder für die Russen noch für die Franzosen zu einem Ergebnis führen konnte.
Napoleon hielt sein Pferd an und versank wieder in jenes Nachdenken, aus dem Berthier ihn schon vorhin aufgeschreckt hatte. Er konnte dieses Spiel, das sich da vor ihm und um ihn herum abrollte, und das man von ihm geleitet und von ihm abhängig glaubte, nicht mehr aufhalten, und zum erstenmal erschien ihm infolge seines Mißgeschickes dies alles nutzlos und entsetzlich.
Einer seiner Generäle ritt an Napoleon heran und erlaubte sich, ihm vorzuschlagen, seine alte Garde ins Gefecht zu schicken. Ney und Berthier, die neben Napoleon standen, blickten einander an und lächelten geringschätzig über den unsinnigen Vorschlag dieses Generals.
Napoleon senkte den Kopf und schwieg lange.
»A huit cent lieux de France je ne ferai pas démolir ma garde«, sagte er endlich, wendete sein Pferd und ritt nach Schewardino zurück.
Kutusow saß, den grauen Kopf tief über den zusammengesunkenen schweren Körper geneigt, auf der mit einem Teppich belegten Bank noch auf derselben Stelle, wo ihn Pierre am Morgen gesehen hatte. Er traf keinerlei Anordnungen, sondern stimmte nur dem, was ihm vorgeschlagen wurde, zu oder wies es ab.
»Ja, ja, macht das nur so«, erwiderte er auf verschiedene Vorschläge. »Ja, ja, reite mal hin, mein Lieber, und sieh zu«, wandte er sich bald an diesen, bald an jenen seiner Umgebung. Oder er antwortete: »Nein, das ist nicht nötig, damit wollen wir lieber noch warten.« Er hörte die ihm zugetragenen Meldungen an und erteilte Befehle, wenn seine Untergebenen dies verlangten, aber er schien sich beim Anhören dieser Meldungen nicht für den Sinn dessen, was man ihm berichtete, zu interessieren, sondern für etwas anderes, das im Gesichtsausdruck, im Ton des Meldenden lag.
Aus seiner langjährigen Kriegserfahrung wußte er und hatte es mit seinem greisen Verstand vollkommen begriffen, daß ein einzelner Mensch nicht Hunderttausende, die auf Tod und Leben kämpfen, zu leiten vermag. Er wußte, daß für das Endergebnis einer Schlacht nicht die Anordnungen eines Oberkommandierenden ausschlaggebend sind noch das Gelände, auf dem die Truppen stehen, noch die Zahl der Kanonen oder der Gefallenen, sondern allein jene schwer faßbare Kraft, die man den Geist der Truppen nennt, und deshalb verfolgte er diese Kraft und leitete sie, soweit dies in seiner Macht stand.
Der Gesamtausdruck von Kutusows Gesicht zeigte innere Sammlung, ruhige Aufmerksamkeit und eine Anspannung, die kaum die Müdigkeit des alten sdrwachen Körpers zu überwinden vermochte.
Gegen elf Uhr morgens überbrachte man ihm die Nachricht, daß die von den Franzosen genommenen Pfeilschanzen wieder zurückerobert seien, Fürst Bagration aber verwundet sei. Kutusow seufzte und schüttelte den Kopf.
»Reite hin zum Fürsten Peter Iwanowitsch und erkundige dich genau, was geschehen ist und wie«, sagte er zu einem seiner Adjutanten und wandte sich darauf zum Prinzen von Württemberg, der hinter ihm stand.
»Bitte übernehmen Sie das Kommando über die zweite Armee, Königliche Hoheit«, sagte er.
Kurz nachdem der Prinz weggeritten war, so bald, daß er kaum bis Semjonowskoje gekommen sein konnte, kehrte der Adjutant des Prinzen zurück und meldete dem Durchlauchtigen, der Prinz bitte um Truppen.
Kutusow zog die Stirn kraus und schickte Dochturow, das Kommando der zweiten Armee zu übernehmen, den Prinzen aber ließ er bitten, zu ihm zurückzukehren, da er ihn, wie er sagte, in diesen wichtigen Augenblicken nicht missen könne.
Als Kutusow die Nachricht von der Gefangenname Murats überbracht wurde und die Herren vom Stab ihm gratulierten, lächelte er.
»Warten Sie, meine Herren«, sagte er. »Die Schlacht ist noch nicht gewonnen, und die Gefangenname Murats ist nichts Besonderes. Lieber mit der Freude noch etwas warten.«
Dennoch schickte er einen Adjutanten aus, um allen Truppen diese Nachricht mitzuteilen.
Als von der linken Flanke Schtscherbinin mit der Meldung angaloppiert kam, die Franzosen hätten die Pfeilschanzen und Semjonowskoje eingenommen, erriet Kutusow aus dem vom Schlachtfeld herüberdringenden Getöse und aus Schtscherbinins Miene, daß es eine schlechte Nachricht war, stand auf, wie um sich die Füße zu vertreten, nahm Schtscherbinins Arm und führte ihn beiseite.
»Reite mal hin, mein Lieber«, sagte er zu Jermolow, »und sieh mal zu, ob wir da nichts machen können.«
Kutusow hielt sich in Gorki auf, im Zentrum der russischen Stellung. Der Angriff, den Napoleon auf unsere linke Flanke unternommen hatte, war mehrmals zurückgeschlagen worden.
Im Zentrum drangen die Franzosen nicht weiter als bis Borodino vor. Auf unserer rechten Flanke hatte Uwarows Kavallerie die Franzosen in die Flucht geschlagen.
Gegen drei Uhr hörten die Angriffe der Franzosen auf. Auf allen Gesichtern seiner Umgebung und derer, die vom Schlachtfeld zurückkamen, las Kutusow den Ausdruck einer Spannung bis zum höchsten Grad. Kutusow aber war mit diesem über seine Erwartungen hinausgehenden Erfolg sehr zufrieden. Aber die Körperkräfte ließen den alten Mann im Stich. Ein paarmal sank sein Kopf tief herab, als wollte er herunterfallen, und er schlummerte ein. Man brachte ihm das Mittagessen.
Der Flügeladjutant Wolzogen, derselbe, der beim Fürsten Andrej vorbeigeritten war und gesagt hatte, der Krieg müsse räumlich ausgedehnt werden und der Bagration so sehr haßte, kam während des Essens zu Kutusow herangeritten. Wolzogen kam von Barclay mit einer Meldung über den Gang der Schlacht auf der linken Flanke. Der überlangsame Barclay de Tolly hatte die fliehenden Verwundeten und die aufgelösten Truppenteile hinter der Schlachtlinie gesehen, hatte alle Umstände wohl erwogen und war zu dem Schluß gekommen, daß die Schlacht verloren sei, und seinen Liebling Wolzogen mit dieser Kunde zum Oberkommandierenden geschickt.
Kutusow kaute mühsam sein gebratenes Huhn und sah Wolzogen mit zusammengekniffenen, verschmitzten Augen an. Dieser trat in lässiger Haltung, ein halb geringschätziges Lächeln um die Lippen, auf Kutusow zu und berührte leicht mit der Hand den Mützenschirm.
Er verkehrte mit dem Durchlauchtigen in einer gewissen affektierten Nachlässigkeit, die zeigen sollte, daß er als hochgebildeter Strategiker es zwar den Russen überlasse, aus diesem alten, unnützen Mann einen Abgott zu machen, selber aber recht wohl wisse, mit wem er es zu tun habe. Der alte Herr, wie die Deutschen Kutusow unter sich nannten, macht es sich recht bequem, dachte Wolzogen, warf einen strengen Blick auf den Teller, der vor Kutusow stand, und fing an, über den Stand der Dinge auf der linken Flanke zu berichten, so wie es Barclay ihm aufgetragen und er es selber gesehen und beurteilt hatte.
»Alle Punkte unserer Stellung sind in den Händen der Feinde; sie zurückzuerobern ist undenkbar, weil wir keine Truppen haben. Die Leute fliehen, und es ist keine Möglichkeit, sie aufzuhalten«, berichtete er.
Kutusow hörte auf zu kauen und starrte Wolzogen höchst erstaunt an, als verstünde er nicht, was man ihm da sagte. Als Wolzogen die Befremdung des alten Herrn bemerkte, setzte er lächelnd hinzu: »Ich halte mich nicht für berechtigt, Euer Durchlaucht das zu verschleiern, was ich gesehen habe … Die Truppen befinden sich in völliger Auflösung …«
»Das haben Sie gesehen? Das haben Sie gesehen?« rief Kutusow, plötzlich finster werdend, stand hastig auf und trat auf Wolzogen zu. »Wie können Sie … wie können Sie das wagen!« rief er mit fast versagender Stimme und machte mit zitternden Händen eine drohende Gebärde. »Wie können Sie es wagen, mein Herr, mir das zu sagen! Nichts wissen Sie. Melden Sie dem General Barclay von mir, daß seine Nachrichten falsch sind, und daß mir, dem Oberkommandierenden, der wahre Gang der Schlacht besser bekannt ist als ihm.«
Wolzogen wollte etwas erwidern, aber Kutusow unterbrach ihn.
»Der Feind ist auf der linken Flanke zurückgeschlagen und auf der rechten stark erschüttert. Wenn Sie schlecht beobachtet haben, mein Herr, so erlauben Sie sich nicht, über etwas zu reden, was Sie nicht verstehen. Reiten Sie gefälligst zu General Barclay zurück und melden Sie ihm, daß ich die Absicht habe, morgen unwiderruflich den Feind anzugreifen«, sagte Kutusow streng.
Alle schwiegen. Man hörte nur das schwere Atmen des alten Feldherrn, dem fast die Luft ausgegangen war.
»Überall zurückgeschlagen, und dafür bin ich Gott und unseren tapferen Truppen dankbar. Der Feind ist besiegt, und morgen jagen wir ihn hinaus aus dem heiligen russischen Land«, sagte Kutusow, bekreuzigte sich, schluchzte plötzlich auf, und Tränen traten ihm in die Augen.
Wolzogen zuckte die Achseln, verzog den Mund und trat beiseite, erstaunt über diesen Dünkel und diese Einbildung des alten Herrn.
»Ah, da ist er ja, mein Held«, sagte Kutusow zu einem hübschen, vollen, schwarzhaarigen General, der in diesem Augenblick den Hügel heraufkam.
Es war Rajewskij, der den ganzen Tag auf dem wichtigsten Punkt des Schlachtfeldes von Borodino verbracht hatte.
Rajewskij meldete, daß die Truppen fest in ihren Stellungen stünden, und daß die Franzosen nicht mehr anzugreifen wagten.
Kutusow hörte ihn an und fragte dann auf französisch: »Sie sind also nicht wie andere der Ansicht, daß wir genötigt sein werden, uns zurückzuziehen?«
»Im Gegenteil, Durchlaucht, bei unentschiedenen Kämpfen ist es immer der Hartnäckigste, der Sieger bleibt«, erwiderte Rajewskij.
»Meiner Ansicht nach …«
»Kaisarow!« rief Kutusow seinen Adjutanten. »Komm, setze dich und schreibe den Befehl für morgen. Du aber«, wandte er sich an einen andern, »reite die Front ab und melde, daß wir morgen angreifen.«
Während sich Kutusow mit Rajewskij unterhalten und den Tagesbefehl diktiert hatte, war Wolzogen von Barclay wieder zurückgekehrt und meldete, Barclay de Tolly bitte um eine schriftliche Bestätigung jenes Befehls, den der Feldmarschall erteilt hatte.
Ohne Wolzogen anzusehen, ließ ihm Kutusow den Befehl schriftlich ausfertigen, was der ehemalige Oberkommandierende nicht ohne Grund begehrte, um aller persönlichen Verantwortung enthoben zu sein.
Und mittels jener unerklärbaren, heimlich verknüpfenden Fäden, die ein ganzes Heer in ein und derselben Stimmung zu erhalten vermögen, die wir den Geist der Truppen nennen und die den Hauptnerv des Krieges bildet, wurden Kutusows Worte und sein Befehl zur Schlacht für den folgenden Tag gleichzeitig an allen Ecken und Enden des Heeres bekannt.
Es waren bei weitem nicht die Worte selbst, bei weitem nicht der Befehl selbst, die bis zu den äußersten Enden dieser verknüpfenden Fäden drangen. Alle die Geschichten, die einer dem andern aus den verschiedensten Endpolen des Heeres weitererzählte, hatten sogar nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem, was Kutusow gesagt hatte, aber der Sinn seiner Worte wurde überall gleichmäßig weitergegeben, weil das, was Kutusow gesagt hatte, nicht klugen Berechnungen entsprang, sondern jenem Gefühl, von dem der Oberkommandierende ebenso wie jeder russische Soldat beseelt war.
Und als die ermatteten, wankenden Leute hörten, daß morgen der Feind angegriffen werden sollte, und aus den höchsten Sphären der Armee die Bestätigung dessen, was sie so gern glaubten, erfuhren, da fühlten sie sich getröstet und schöpften neuen Mut.
Das Regiment des Fürsten Andrej gehörte zur Reserve, die bis gegen zwei Uhr unter starkem Artilleriefeuer untätig hinter dem Dorf Semjonowskoje stand. Gegen zwei Uhr wurde das Regiment, das schon über 200 Mann verloren hatte, auf ein zerstampftes Haferfeld zwischen Semjonowskoje und der Hügelbatterie vorgezogen, wo an diesem Tag Tausende von Menschen fielen, und auf das gegen zwei Uhr mehrere hundert feindliche Geschütze ein stark konzentriertes Feuer unterhielten.
Ohne sich von der Stelle zu rühren und ohne einen einzigen Schuß abzufeuern, verlor das Regiment hier noch den dritten Teil seiner Leute. Von vorn und besonders von der rechten Seite dröhnten aus dem undurchdringlichen Rauch die Kanonen, und aus diesem geheimnisvollen Rauch, der das ganze Gelände vor ihnen einhüllte, flogen ohne Unterlaß mit schnellem Zischen die Kanonenkugeln und langsam und pfeifend die Granaten herüber. Mitunter flogen, wie um ihnen eine Erholung zu gönnen, alle Kugeln und Granaten wohl eine Viertelstunde lang über ihre Köpfe hinweg, manchmal wurden aber auch innerhalb einiger Minuten mehrere Mann dem Regiment entrissen, und unaufhörlich schleppte man Gefallene fort und hob Verwundete auf.
Bei jedem neuen Einschlagen eines Geschosses wurde für die, die noch nicht gefallen waren, die Wahrscheinlichkeit, am Leben zu bleiben, geringer. Das Regiment war in Bataillonskolonnen, je dreihundert Schritt voneinander entfernt, aufgestellt, aber trotz dieser Entfernung befanden sich doch alle Leute in ein und derselben Stimmung. Die ganze Mannschaft des Regiments war gleichmäßig schweigsam und finster. Selten hörte man in den Reihen ein Gespräch, und auch dieses verstummte jedesmal, wenn man das Einschlagen eines Geschosses oder den Ruf: »Tragbahren!« vernahm.
Auf Befehl ihrer Vorgesetzten saßen die Soldaten des Regimentes meistenteils auf der Erde. Der eine hatte seinen Tschako abgenommen, zog behutsam die Falten des Futters auseinander und legte sie dann ebenso behutsam wieder zusammen, ein anderer zerbröckelte trockene Lehmklumpen zu Pulver und putzte damit sein Bajonett, ein anderer knetete sein Riemenzeug und zog die Schnalle des Bandeliers fester, und wieder ein anderer schob sorgsam die Fußlappen zurecht, legte sie neu um und zog die Stiefel wieder an. Einige bauten Häuschen aus den Erdklumpen des Ackers und flochten aus Strohhalmen Zäune darum. Sie alle schienen in ihre Beschäftigung ganz vertieft zu sein. Wenn Kameraden verwundet oder getötet wurden, wenn Tragbahren vorüberzogen, wenn unsere Truppen sich zurückziehen mußten und man durch den Rauch hindurch große Massen feindlicher Truppen sah, schenkte keiner diesen Vorfällen Beachtung. Wenn aber unsere Artillerie oder Kavallerie vorging oder bei der Infanterie eine Bewegung zu sehen war, dann hörte man von allen Seiten Äußerungen des Beifalls.
Doch die größte Aufmerksamkeit zogen immer ganz nebensächliche Vorfälle auf sich, die mit der Schlacht selbst gar nichts zu tun hatten. Es war, als ob sich diese Menschen bei solchen gewöhnlichen Alltagsereignissen von ihren seelischen Qualen erholten. So fuhr eine Batterie vor der Front des Regimentes vorüber. Bei einem der Munitionswagen war das Seitenpferd über den Strang getreten. »Heda! Euer Seitenpferd! … Bringt doch den Strang in Ordnung … es fällt ja sonst noch hin!… Ach, die sehen das nicht!…« hörte man aus allen Reihen des Regimentes gleichzeitig rufen. Ein andermal zog ein kleiner brauner Hund mit forsch erhobenem Schwänze die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, der Gott weiß woher gekommen war und eifrig an den Reihen vorbeitrabte, plötzlich aber, als eine Kanonenkugel ganz in der Nähe einschlug, laut aufwinselte, den Schwanz einklemmte und seitwärts abging. Das ganze Regiment brüllte und johlte vor Lachen. Doch solche Ablenkungen währten immer nur einen kurzen Augenblick, und die Leute standen schon über acht Stunden untätig, und ohne etwas gegessen zu haben, dauernd unter dem Schrecken des Todes da, und die blassen, finsteren Gesichter wurden immer bleicher und trüber.
Auch Fürst Andrej sah wie alle Soldaten seines Regimentes bleich und finster aus. Mit gesenktem Kopf, die Hände auf den Rücken gelegt, ging er auf einer Wiese neben dem Haferfeld auf und ab, von einem Rain zum andern. Zu tun und zu befehlen hatte er nichts mehr. Alles geschah wie von selbst. Die Gefallenen wurden hinter die Front geschafft, die Verwundeten fortgetragen, und die Reihen schlossen sich wieder. Wenn ein paar Soldaten einmal aus den Reihen traten, kehrten sie sogleich eilig wieder zurück. Anfänglich hatte es Fürst Andrej für seine Pflicht gehalten, um seinen Soldaten Mut zu machen und ihnen ein gutes Beispiel zu geben, zwischen ihren Reihen auf und ab zu gehen, aber er hatte sich bald davon überzeugt, daß er sie in keiner Weise und durch nichts zu belehren brauchte.
Wie bei jedem seiner Soldaten waren alle seine Geisteskräfte jetzt unbewußt nur darauf gerichtet, sich aller Betrachtungen über die schreckliche Lage, in der sie sich befanden, zu enthalten. So ging er auf der Wiese auf und ab, schleifte bald mit den Füßen den Boden, bald trat er das Gras breit und betrachtete den Staub, der auf seinen Stiefeln lag, bald machte er große Schritte, bemüht, in die Spuren zu treten, die die Mäher auf der Wiese hinterlassen hatten. Dann wieder zählte er seine Schritte und stellte Berechnungen an, wie oft er von einem Rain zum andern gehen müsse, um eine Werst zurückzulegen. Oder er streifte die am Rand wachsenden Wermutblüten ab, zerrieb sie zwischen den Handflächen und sog ihren starken, bitter duftenden Geruch ein. Von seiner ganzen gestrigen Gedankenarbeit war nichts zurückgeblieben. Er dachte an nichts …
Ein Pfeifen, ein Schlag! Fünf Schritte vor ihm wühlte sich eine Kanonenkugel in die trockene Erde und verschwand. Unwillkürlich rieselte ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Wahrscheinlich hatte es viele getroffen: um das zweite Bataillon drängte sich ein dichter Schwarm.
»Herr Adjutant«, rief er, »geben Sie Befehl, daß sich die Leute nicht so drängen.«
Der Adjutant führte den Befehl aus und trat dann auf den Fürsten Andrej zu. Von der anderen Seite kam der Bataillonskommandeur herangeritten.
»Vorsicht!« hörte man das entsetzte Schreien eines Soldaten, und pfeifend wie ein Vögelchen im raschen Flug, das sich dann dabei auf die Erde niederläßt, klatschte zwei Schritte vom Fürsten Andrej entfernt, dicht neben dem Pferd des Bataillonskommandeurs, eine Granate mäßig laut auf die Erde. Das Pferd sprang zuerst beiseite, ohne danach zu fragen, ob es schön oder häßlich sei, seine Furcht zu zeigen, es schnaubte und bäumte sich, so daß es beinahe den Major abgeworfen hätte.
»Niederlegen!« schrie der Adjutant und warf sich auf die Erde.
Fürst Andrej blieb unschlüssig stehen. Die Granate drehte sich wie ein Kreisel dampfend zwischen ihm und dem am Boden liegenden Adjutanten am Rand des Stoppelfeldes und der Wiese neben einem Wermutstrauch.
Ist das der Tod? dachte Fürst Andrej und betrachtete mit einem ganz neuen Gefühl der Mißgunst das Gras, den Wermutstrauch und das Rauchwölkchen, das aus dem sich drehenden schwarzen Ball aufstieg. Ich kann, ich will nicht sterben, ich liebe das Leben, ich liebe dieses Gras, diese Erde, diese Luft … dachte er, gleichzeitig aber war er sich bewußt, daß man nach ihm hinsah.
»Schämen Sie sich, Herr Adjutant!« sagte er zu dem Offizier. »Was für ein …«
Aber er sprach nicht zu Ende. Im selben Augenblick hörte man einen Knall und das Krachen von Splittern wie beim Zerbrechen eines Fensterrahmens. Ein erstickender Pulverdampf breitete sich aus. – Fürst Andrej wurde zur Seite geworfen und fiel mit erhobenem Arm auf die Brust.
Ein paar Offiziere liefen auf ihn zu. Aus der rechten Seite seines Leibes floß Blut und bildete auf dem Gras eine große Blutlache.
Die herbeigerufenen Landwehrleute mit den Tragbahren machten hinter den Offizieren halt. Fürst Andrej lag auf der Brust, das Gesicht ins Gras gedrückt, und atmete und röchelte schwer.
»Nun, was beibt ihr stehen? Kommt doch her!«
Die Bauern traten heran und ergriffen ihn an den Schultern und Beinen, aber er stöhnte so kläglich, daß sie einander ansahen und ihn wieder losließen.
»Faßt ihn an und legt ihn auf die Bahre; das geht nicht anders!« rief eine Stimme.
Sie ergriffen ihn zum zweitenmal an den Schultern und legten ihn auf die Bahre.
»Ach, mein Gott, mein Gott! … Was ist mit ihm? … Sein Leib … Das übersteht er nicht … Ach Gott, ach Gott! …« hörte man die Stimmen der Offiziere.
»Mir ist sie um ein Haar breit am Ohr vorbeigesummt«, sagte der Adjutant.
Die Bauern luden die Bahre auf die Schultern und machten sich eilig auf den Weg, den von ihnen ausgetretenen Pfad entlang dem Verbandplatz zu.
»Geht doch in gleichem Tritt … He! … Ihr Bauern!« rief ein Offizier und hielt die in falschem Schritt gehenden Bauern, die dadurch die Bahre hin und her rüttelten, an den Schultern fest.
»So halte doch nur Schritt, Fjodor, hörst du, Fjodor!« sagte der Vordermann.
»Ja so, so geht’s«, versetzte vergnügt der Hintermann, nachdem er in den richtigen Schritt gekommen war.
»Euer Durchlaucht, Fürst?« sagte Timochin mit zitternder Stimme, der herbeigelaufen war und sich über die Tragbahre beugte.
Fürst Andrej schlug die Augen auf und blickte aus der Bahre heraus, in die sein Kopf tief hineingesunken war, den an, der mit ihm sprach, und schloß dann wieder die Lider.
Die Landwehrleute trugen den Fürsten Andrej nach dem Wald, wo die Wagen standen und der Verbandplatz aufgeschlagen war.
Dieser Verbandplatz am Rande des Birkenwäldchens bestand aus drei Zelten mit aufgeschlagenen Vorderwänden. Im Wald selber standen Wagen und Pferde. Die Pferde fraßen ihren Hafer aus den Futterbeuteln, und Sperlinge umflogen sie und suchten die verschütteten Körner auf. Krähen, die das Blut rochen, umkreisten unstet krächzend die Birken. In einem Umkreis von mehr als zwei Deßjatinen lagen, saßen und standen mit Blut befleckte Menschen in den verschiedensten Bekleidungen rund um die Zelte herum. Neben den Verwundeten standen mit wehleidigen, neugierigen Gesichtern Scharen von Trägern und Landwehrleuten, die zu verjagen Offiziere, die an diesem Platz die Aufsicht führten, immer wieder vergeblich versuchten. Ohne auf die Offiziere zu hören, standen die Landwehrleute, auf ihre Bahren gestützt, da und betrachteten aufmerksam alles, was sich vor ihren Augen abspielte, als wären sie bemüht, sich über die Bedeutung dieses Schauspiels klar zu werden. Aus den Zelten drang bald lautes, wildes Schreien, bald klägliches Stöhnen. Den Fürsten Andrej, als Regimentskommandeur, trugen die Landwehrleute durch die Reihen der Unverbundenen hindurch bis dicht an das eine Zelt heran und blieben dort stehen, um weitere Befehle abzuwarten.
Fürst Andrej schlug die Augen auf und konnte lange nicht verstehen, was um ihn herum vor sich ging. Da fiel ihm die Wiese, der Wermutstrauch, das Stoppelfeld, der schwarze, kreisende Ball und der leidenschaftliche Ausbruch seiner Liebe zum Leben wieder ein. Zwei Schritte von ihm entfernt stand laut redend und die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkend ein hübscher, großer, schwarzhaariger Unteroffizier mit verbundenem Kopf, der sich auf einen Ast stützte. Er war am Kopf und Bein durch Kugelschüsse verwundet. Um ihn herum hatte sich eine Menge Verwundeter und Träger geschart, die gierig seinen Reden lauschten.
Einer der Ärzte mit blutbefleckter Schürze und blutbespritzten kleinen Händen, in denen er zwischen kleinem Finger und Daumen – um sie nicht schmutzig zu machen – eine Zigarre hielt, trat vor das Zelt. Er hob den Kopf hoch und fing an, sich nach allen Seiten umzusehen, jedoch über die Verwundeten hinweg. Offenbar wollte er ein wenig verschnaufen. Nachdem er ein paarmal den Kopf nach rechts und links gedreht hatte, seufzte er schwer auf und schlug die Augen nieder.
»Ja, ja, gleich«, erwiderte er auf die Worte des Feldschers, der ihm den Fürsten Andrej zeigte, und gab den Befehl, ihn ins Zelt zu schaffen.
In der Menge der wartenden Verwundeten erhob sich ein Murren. »Wahrscheinlich werden auch in jene Welt nur die Herren allein eingelassen«, sagte einer.
Fürst Andrej wurde ins Zelt getragen und auf einen soeben erst geräumten Tisch gelegt, von dem der Feldscher noch irgend etwas abspülte. Was sich im Zelt befand, konnte Fürst Andrej nicht in allen Einzelheiten unterscheiden. Ein klägliches Stöhnen von verschiedenen Seiten und der qualvolle Schmerz in seiner Hüfte, seinem Leib und Rücken lenkten seine Aufmerksamkeit ab. Alles, was er um sich herum sah, floß für ihn zusammen in den Gesamteindruck nackter, blutiger Menschenleiber, die das ganze niedere Zelt auszufüllen schienen, ebenso wie vor ein paar Wochen an jenem heißen Augusttag dieselben Menschenleiber den schmutzigen Teich an der Smolensker Landstraße ausgefüllt hatten. Ja, das waren dieselben Leiber, dasselbe chair à canon, dessen Anblick schon damals, wie eine Vorahnung des heutigen Ereignisses, ein Grauen in ihm erweckt hatte.
Im Zelt befanden sich drei Tische. Zwei davon waren besetzt, und auf den dritten legte man nun den Fürsten Andrej. Man überließ ihn ein paar Augenblicke sich selbst, und unwillkürlich sah er zu, was auf den beiden anderen Tischen vorging. Auf dem am nächsten stehenden saß ein Tatar, wahrscheinlich ein Kosak, nach der Uniform zu urteilen, die man neben ihm hingeworfen hatte. Vier Soldaten hielten ihn fest. Ein Arzt mit einer Brille schnitt etwas an seinem braunen, muskulösen Rücken.
»Uch! Uch! Uch!« grunzte der Tatar, plötzlich aber hob er das breitknochige, schwarze Gesicht mit der Stulpnase empor, fletschte die weißen Zähne, fing an zu zucken und suchte sich loszureißen und schrie in langgezogenem, durchdringendem Wimmern auf.
Auf dem andern Tisch, der von vielen umdrängt wurde, lag ein großer, kräftiger Mann auf dem Rücken, den Kopf zurückgeworfen, dessen lockiges Haar und dessen Form dem Fürsten Andrej merkwürdig bekannt vorkamen. Ein paar Feldscherer beugten sich über die Brust dieses Mannes und hielten ihn. Sein eines großes, volles, weißes Bein bewegte sich unaufhörlich rasch und schnell in fieberhaften Zuckungen. Der Mann schluckte und und schluchzte krampfhaft. Zwei Ärzte, von denen der eine sehr bleich aussah und zitterte, nahmen schweigend irgend etwas an seinem anderen geröteten Bein vor.
Nachdem der Arzt mit der Brille den Tataren, dem man schnell einen Mantel überwarf, fertig behandelt hatte, wischte er sich die Hände ab und trat auf den Fürsten Andrej zu.
Er sah ihm ins Gesicht und wandte sich dann eilig um.
»Zieht ihn aus! Was steht ihr da?« rief er ärgerlich den Feldscherern zu.
Eine Erinnerung an seine erste, fernste Kindheit trat dem Fürsten Andrej vor die Seele, als ihm der Feldscherer mit eilig aufgestreiften Ärmeln den Rock aufknöpfte und die Uniform auszog. Der Arzt beugte sich tief über die Wunde, sondierte sie und seufzte schwer. Dann machte er jemandem ein Zeichen. Ein quälender Schmerz im Leib raubte dem Fürsten Andrej das Bewußtsein.
Als er wieder zu sich kam, waren die zersplitterten Knochen aus der Hüfte herausgenommen, die Fleischfetzen abgeschnitten und die Wunde verbunden. Man spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Kaum hatte er die Augen aufgeschlagen, so beugte sich der Arzt zu ihm herab, küßte ihn schweigend auf die Lippen und entfernte sich eilig.
Nach all den überstandenen Leiden durchströmte den Fürsten Andrej jetzt ein Gefühl der Seligkeit, wie er es lange nicht empfunden hatte. Die schönsten, glücklichsten Augenblicke seines Lebens, besonders seine allerfernste Kindheit, wo die Kindermuhme ihn ausgezogen und ins Bettchen gelegt, eingewiegt und eingesungen hatte, und er den Kopf in das Kissen gedrückt und sich nur durch das Bewußtsein, zu leben, glücklich gefühlt hatte – diese Augenblicke traten ihm jetzt wieder vor die Seele, und zwar nicht wie etwas Vergangenes, sondern als augenblickliches Erleben.
Um jenen Verwundeten, dessen Kopfform dem Fürsten Andrej so bekannt vorgekommen war, bemühten sich die Ärzte immer noch eifrig; sie hoben ihn auf und beruhigten ihn.
»Zeigen Sie mir … Oooooh! Oh! Oooooh!« hörte man sein vom Schluchzen unterbrochenes, entsetztes und qualdurchdrungenes Stöhnen.
Als Fürst Andrej dieses Stöhnen hörte, hätte er am liebsten geweint. War es, weil er so ruhmlos den Tod fand? Oder weil es ihm schmerzlich war, sich vom Leben zu trennen? Waren es die Erinnerungen an eine Kindheit, die nie wiederkehrte? War es, weil er litt, weil andere um ihn herum litten, weil dieser Mensch neben ihm so kläglich stöhnte? Er wußte es nicht, aber die Tränen kamen ihm, kindlich gute, fast freudige Tränen.
Man zeigte dem Verwundeten sein abgenommenes Bein, das noch im Stiefel steckte und mit geronnenem Blut bedeckt war.
»Oh! Ooooh!« schluchzte er wie ein Weib.
Der Arzt, der vor dem Verwundeten gestanden und dem Fürsten Andrej dessen Gesicht verdeckt hatte, entfernte sich.
Mein Gott! Was ist das? Warum ist der hier? fragte sich Fürst Andrej.
Er hatte in dem unglücklichen, schluchzenden, kraftlosen Mann, dem soeben das Bein abgenommen worden war, Anatol Kuragin erkannt.
Man stützte Anatol unter den Armen und bot ihm ein Glas Wasser an, dessen Rand er mit seinen zitternden, geschwollenen Lippen nicht fassen konnte. Anatol schluchzte krampfhaft.
Ja, das ist er; und dieser Mensch ist durch irgend etwas nah und schmerzlich mit mir verbunden, dachte Fürst Andrej, der sich noch keine klare Vorstellung davon machen konnte, was sich vor seinen Augen abspielte. Aber was war es nur, das diesen Menschen mit meiner Kindheit, mit meinem Leben verknüpfte? fragte er sich, ohne eine Antwort darauf zu finden. Da trat plötzlich eine neue, unerwartete Erinnerung aus einer reinen, lieben, kindlichen Welt vor seine Seele: Er sah Natascha so, wie er sie zum erstenmal auf jenem Ball im Jahre 1810 gesehen hatte, mit ihrem mageren Hals und den dünnen Armen und ihrem immer zur Begeisterung bereiten, erschrockenen, glücklichen Gesichtchen, und eine Liebe und Zärtlichkeit für sie, noch lebhafter und stärker, als er sie je empfunden hatte, wachte in seinem Herzen auf. Und da fiel ihm auch das wieder ein, was ihn mit diesem Menschen verknüpfte, der durch die Tränen, die seine geschwollenen Augen füllten, trübe zu ihm herübersah. Fürst Andrej erinnerte sich an alles, und ein hochgestimmtes Mitleiden und eine schmerzliche Liebe zu diesem Menschen erfüllten sein glückliches Herz.
Fürst Andrej konnte sich nicht länger beherrschen und weinte sanfte, liebevolle Tränen über die Menschen und über sich selbst und über ihre und seine Verirrungen.
Mitleid, Liebe zu unsern Brüdern, zu denen, so uns lieben, wie zu denen, so uns hassen, Liebe zu unsern Feinden … ja, jene Liebe, die Gott auf Erden gepredigt hat, die Prinzessin Marja mich lehren wollte und die ich niemals begriff … das ist es, warum es mir leid tut, aus dem Leben zu scheiden … das ist es, was ich noch vor mir gehabt hätte, wenn ich am Leben geblieben wäre … Aber jetzt ist es zu spät … das weiß ich.
Der entsetzliche Anblick des mit Leichen und Verwundeten bedeckten Schlachtfeldes und dazu die Kopfschmerzen und die Nachricht, daß zwanzig berühmte Generäle gefallen oder verwundet waren, und das Bewußtsein der Kraftlosigkeit seines früher so starken Armes – dies alles übte eine unerwartete Wirkung auf Napoleon aus, der sonst so gern die Verwundeten und Gefallenen zu betrachten pflegte, weil er bei ihrem Anblick, wie er meinte, seine seelischen Kräfte erprobte.
An diesem Tag aber unterlagen seine seelischen Kräfte, die er für sein eignes Verdienst und seine Größe hielt, dem furchtbaren Anblick des Schlachtfeldes. Eilig hatte er es wieder verlassen und war nach dem Hügel von Schewardino zurückgekehrt. Gelb, aufgedunsen, schwerfällig, mit trüben Augen, roter Nase und heiserer Stimme saß er auf seinem Feldstuhl und lauschte, ohne die Augen aufzuheben, unwillkürlich dem Donnern der Geschütze.
Ein persönliches menschliches Gefühl gewann in ihm für einen kurzen Augenblick die Oberhand über jenes künstliche Trugbild des Lebens, dem er so lange gehuldigt hatte. Er fühlte die Leiden und den Tod, die ihm auf dem Schlachtfeld so nahegetreten waren, nun am eignen Leib. Seine Schmerzen im Kopf und in der Brust legten ihm die Möglichkeit nahe, daß es auch für ihn Leid und Tod geben könne. In diesem Augenblick strebte er weder nach Moskau noch nach Sieg oder Ruhm. Welchen Ruhm hätte er noch begehren sollen? Das einzige, was er sich jetzt wünschte, war Erholung, Ruhe und Freiheit.
Als er auf der Höhe von Semjonowskoje gewesen war, hatte ihm der Chef der Artillerie daselbst vorgeschlagen, noch ein paar Batterien dort aufzustellen, um das Feuer auf die sich vor Kujaskowo stauenden russischen Truppenmassen zu verstärken. Napoleon hatte eingewilligt und befohlen, ihm Nachricht zu geben, was für eine Wirkung diese Batterien erzielen würden.
Nun kam der Adjutant und meldete, daß dem Befehl des Kaisers zufolge jetzt zweihundert Geschütze auf den Feind gerichtet seien, daß die Russen aber trotzdem standhielten.
»Unser Feuer mäht sie reihenweise nieder, aber trotzdem wanken und weichen sie nicht«, sagte der Adjutant.
»Ils en veulent encore!…« erwiderte Napoleon mit heiserer Stimme.
»Sire?« fragte der Adjutant zurück, der ihn nicht verstanden hatte.
»Ils en veulent encore«, wiederholte Napoleon finster und mit krächzender Stimme. »Donnez-leur en.«
Auch ohne seinen Befehl wäre dies getan worden, weil es gar nicht seinem Willen unterlag, und er ordnete es nur deshalb an, weil er dachte, man erwarte einen solchen Befehl von ihm. Und wieder versetzte er sich in seine frühere Welt jenes künstlichen Trugbildes von vermeintlicher Größe, und wieder begann er gehorsam die grausame, traurige, schwere und unmenschliche Rolle zu spielen, für die er im voraus bestimmt war.
Und nicht nur zu dieser Stunde und an diesem Tag waren Geist und Gewissen dieses Mannes in Finsternis gehüllt, der schwerer als alle anderen Teilnehmer an der ganzen Bürde dessen, was geschah, zu tragen hatte. Er hat während seines ganzen Lebens weder das Gute, Schöne und Wahre, noch die Bedeutung seiner Handlungen zu begreifen vermocht, die dem Guten und Wahren entgegengesetzt und von allem Menschlichen zu weit entfernt waren, als daß er ihren Sinn hätte erfassen können.
Nicht nur an diesem Tag berechnete er bei seinem Ritt über das Schlachtfeld, das – wie er glaubte, seinem Willen zufolge – mit Gefallenen und Verstümmelten bedeckt war, beim Anblick dieser Menschen, wie viele tote Russen auf einen gefallenen Franzosen kamen, und fand, sich selbst betrügend, einen Grund zur Freude darin, daß auf einen Franzosen fünf Russen kamen. Nicht nur an diesem Tag schrieb er in einem Brief nach Paris: »Le champ de bataille à été superbe …«, weil über fünfzigtausend Leichen dort lagen, sondern sogar noch auf der Insel St. Helena, in der Stille der Einsamkeit, wo er, wie er selbst geäußert hat, seine Muße der Erörterung der großen, von ihm vollbrachten Taten weihen wollte, schrieb er:
»Der Krieg gegen Rußland hätte der volkstümlichste Krieg der Neuzeit sein müssen: er war ein Krieg der gesunden Vernunft und der wahren Interessen, ein Krieg für die Ruhe und Sicherheit aller, aus rein friedlichen und konservativen Beweggründen.
Es ging um ein großes Ziel: das Ende aller Zufälligkeiten und den Anfang der Sicherheit. Ein neuer Horizont, neue Arbeiten waren daran, sich zu entrollen, die das Glück und die Wohlfahrt aller in sich trugen. Das europäische System war gegründet, es handelte sich nur noch darum, es zu organisieren.
Wäre ich hinsichtlich dieser großen Punkte befriedigt und der Ruhe sicher gewesen, so hätte ich meinen Kongreß und meine Heilige Allianz[180] gehabt. Das sind Ideen, die man mir gestohlen hat. In einem solchen Bündnis großer Herrscher hätten wir unsere Interessen wie in der Familie behandelt und mit unseren Völkern dann abgerechnet wie ein Verwalter mit seinem Herrn.
So wäre Europa bald in Wirklichkeit nur ein einziges Volk geworden, und jeder hätte sich, wohin er auch reisen mochte, immer im gemeinsamen Vaterland befunden. Ich hätte alle schiffbaren Flüsse für jedermann freigegeben, den Gemeinbesitz der Meere gesichert, und die großen ständigen Armeen wären von nun an zu bloßen Leibwachen der Herrscher reduziert worden.
Nach Frankreich, ins Herz unseres großen, starken, herrlichen, friedlichen und glorreichen Vaterlandes, zurückgekehrt, hätte ich seine Grenzen unverrückbar festgesetzt, jeder fernere Krieg wäre ein reiner Verteidigungskrieg und jede weitere Ausdehnung antinational gewesen. Ich hätte meinen Sohn an der Herrschaft teilnehmen lassen, meine Diktatur wäre zu Ende gewesen, und eine konstitutionelle Regierung hätte begonnen …
Paris wäre die Hauptstadt der Welt und die Franzosen der Neid aller Nationen geworden!
Meine Mußestunden und meine alten Tage hätte ich dann während der königlichen Lehrjahre meines Sohnes in Gesellschaft der Kaiserin verbracht, hätte mit ihr zusammen wie ein echtes Ehepaar vom Lande mit unseren eignen Pferden nach und nach alle Ecken und Enden meines Reiches besucht, hätte Klagen entgegengenommen, Unrecht wieder gutgemacht und allüberall Zeichen zum Andenken und Wohltaten ausgestreut.«
Er, den die Vorsehung zu der traurigen, unfreiwilligen Rolle eines Henkers der Völker auserwählt hatte, redete sich die Überzeugung ein, das Ziel seiner Taten sei das Wohl der Völker gewesen, er habe das Schicksal von Millionen leiten und ihnen auf dem Wege der Macht Wohltaten erweisen können.
»Von den viermalhunderttausend Mann, die die Weichsel überschritten«, schrieb er weiter über den russischen Feldzug, »waren die Hälfte Österreicher, Preußen, Sachsen, Polen, Bayern, Württemberger, Mecklenburger, Spanier, Italiener und Neapolitaner. Die eigentliche kaiserliche Armee bestand zu einem Drittel aus Holländern, Belgiern, Rheinländern, Piemontesen, Schweizern, Genfern, Toskanern, Römern, Bewohnern der zweiunddreißigsten Militärdivision (Bremen, Hamburg) und so weiter. Sie zählte kaum hundertvierzigtausend Mann, die Französisch sprachen. Der russische Feldzug hat das eigentliche Frankreich kaum fünfzigtausend Mann gekostet. Die russische Armee hat auf ihrem Rückzug von Wilna nach Moskau in den verschiedenen Gefechten viermal soviel Verluste gehabt wie das französische Heer. Der Brand von Moskau hat über hunderttausend Russen das Leben gekostet, die in den Wäldern vor Kälte und Elend gestorben sind. Und schließlich hat die russische Armee auf ihrem Marsch von Moskau bis zur Oder ebenfalls durch die Rauheit der Jahreszeit zu leiden gehabt: bei ihrer Ankunft in Wilna zählte sie nur noch fünfzigtausend und in Kaiisch kaum noch achtzehntausend Mann.«
Napoleon bildete sich ein, der Krieg mit Rußland habe nach seinem Willen stattgefunden, aber ein Grauen über das, was dort geschehen war, erfüllte seine Seele nicht. Kühn nahm er die ganze Verantwortung des Ereignisses auf sich, und sein getrübter Geist erblickte eine Rechtfertigung darin, daß unter der Zahl von hunderttausend umgekommener Menschen sich weniger Franzosen befanden als Hessen und Bayern.
Zehntausende von Menschen lagen in den verschiedensten Stellungen und Uniformen tot auf den Feldern und Wiesen, die der Familie Dawydow und Kronbauern[181] gehörten, auf jenen Feldern und Wiesen, wo die Bauern der Dörfer Borodino, Gorki, Schewardino und Semjonowskoje jahrhundertelang ihr Getreide eingesammelt und ihr Vieh geweidet hatten. An den Verbandplätzen waren Gras und Erde im Umkreis einer Deßjatine mit Blut getränkt. Scharen von Verwundeten und Unverwundeten verschiedener Truppenteile strömten mit entsetzten Gesichtern auf der einen Seite nach Moshaisk, auf der anderen nach Walujewo zurück. Andere erschöpfte und hungrige Massen rückten, von ihren Vorgesetzten geführt, vor. Und wieder andere standen fest in ihren Stellungen und schossen und schossen.
Über dem ganzen Gelände, das zuerst in der Morgensonne mit seinen blitzenden Bajonetten und Rauchwölkchen so heiter und schön gewesen war, lagerte jetzt feuchter Nebel und Rauch, und es roch eigentümlich säuerlich nach Salpeter und Blut. Ein paar Wölkchen zogen sich zusammen, und ein leichter Regen fiel auf die Toten, die Verwundeten, die Verstörten, die Erschöpften und Verzweifelten nieder, wie um ihnen zu sagen: Genug, genug, ihr Menschen! Hört auf! Kommt zur Besinnung! Was tut ihr?
Hüben wie drüben stiegen bei den erschöpften Leuten, die, ohne zu essen und auszuruhen, ununterbrochen kämpften, gleichzeitig Zweifel darüber auf, ob sie einander noch länger vernichten sollten. Auf allen Gesichtern bemerkte man ein Schwanken, und in jeder Seele erhob sich in gleicher Weise die Frage: Warum und für wen töte ich und werde getötet? Mordet, wenn es euch gefällt, macht, was ihr wollt, ich aber tue nicht mehr mit! Dieser Gedanke reifte gegen Abend gleichzeitig und in gleicher Weise in der Seele eines jeden. Jeden Augenblick konnten alle diese Leute sich vor dem, was sie taten, entsetzen, alles hinwerfen und aufs Geratewohl davonlaufen.
Doch obgleich zu Ende der Schlacht die Menschen all das Furchtbare ihres Tuns empfanden, obgleich sie froh gewesen wären, aufzuhören, so spornte sie dennoch eine unfaßbare, geheimnisvolle Kraft immer weiter an, und die in Pulverdampf und Blutgeruch schwitzenden, bis auf ein Drittel zusammengeschmolzenen Artilleristen schleppten, vor Erschöpfung stolpernd und keuchend, immer mehr Geschosse herbei, luden, zielten, legten die Lunte an, und die Kanonenkugeln flogen ebenso oft und unerbittlich von einer Seite zur andern und schlugen immer mehr Menschenleiber zu Boden.
Hätte jemand die aufgelösten Truppenteile hinter der russischen Front gesehen, so hätte er gesagt, es hätte die Franzosen nur noch eine geringe Anstrengung gekostet, und die russische Armee wäre vernichtet gewesen. Hätte jemand das, was hinter der französischen Front vor sich ging, gesehen, so wäre er in gleicher Weise der Ansicht gewesen, daß es nur noch eines letzten Anlaufes von Seiten der Russen bedurft hätte, um die Franzosen zugrunde zu richten. Aber weder die Franzosen noch die Russen nahmen diesen letzten Anlauf, und so brannte die Flamme der Schlacht langsam zu Ende.
Die Russen machten diesen Anlauf nicht, weil nicht sie es gewesen waren, die angegriffen hatten. Sie hatten zu Beginn der Schlacht nur auf dem Weg vor Moskau gestanden, hatten diesen Weg versperrt und standen nun zu Ende der Schlacht noch ebenso da wie zu Anfang. Aber auch wenn das Ziel der Russen darin bestanden hätte, die Franzosen zu schlagen, so hätten sie diesen letzten Anlauf doch nicht unternehmen können, weil alle ihre Regimenter zersplittert waren und sie nicht einen einzigen Truppenteil besaßen, der nicht in der Schlacht gelitten hätte, denn wenn sie auch nur in ihren Stellungen geblieben waren, so hatten sie doch die Hälfte ihrer Armee verloren.
Die Franzosen dagegen – in Erinnerung an alle ihre früheren Siege in den letzten fünfzehn Jahren, in dem festen Glauben an die Unbesiegbarkeit Napoleons und in dem Bewußtsein, daß sie einen Teil des Schlachtfeldes beherrschten, nur den vierten Teil ihrer Leute verloren und noch eine zwanzigtausend Mann starke Garde unberührt hinter sich hatten –, die Franzosen hätten sich leicht zu diesem letzten Anlauf aufraffen können. Die Franzosen, die die russische Armee zu dem Zweck angegriffen hatten, sie aus ihrer Stellung zu vertreiben, hätten diesen Anlauf nehmen müssen, schon aus dem Grund, weil, solange die Russen noch ebenso wie vor der Schlacht den Weg nach Moskau versperrten, sie ihr Ziel nicht erreicht hatten und alle ihre Anstrengungen und Verluste umsonst gewesen waren. Aber die Franzosen nahmen diesen Anlauf nicht.
Einige Geschichtsschreiber sagen, es hätte Napoleon nur das eine gekostet: seine unberührte alte Garde hinzugeben, und dann wäre die Schlacht gewonnen gewesen. Davon zu reden, was geworden wäre, wenn Napoleon seine Garde hingegeben hätte, heißt ebensoviel wie behaupten, was werden würde, wenn es im Herbst plötzlich Frühling würde. Das konnte gar nicht geschehen. Nicht daß Napoleon seine Garde nicht hingegeben hätte, weil er es nicht wollte, nein, er konnte es einfach nicht tun. Alle Generäle, Offiziere und Soldaten in der französischen Armee wußten, daß dies nicht geschehen konnte, weil der gesunkene Geist der Truppen dies nicht zuließ.
Und nicht nur Napoleon allein hatte jenes Gefühl, wie wenn im Traum die zu furchtbarem Schlag ausholende Hand kraftlos herabsinkt, auch alle Generäle, alle Soldaten der französischen Armee, die an der Schlacht teilnahmen und nicht teilnahmen, sie alle hatten nach ihren Erfahrungen aus früheren Schlachten, wo sie den Feind mit zehnfach geringerer Mühe in die Flucht geschlagen hatten, das gleiche Gefühl des Grauens vor einem Gegner, der, wenngleich er die Hälfte seiner Truppen verloren hatte, am Ende der Schlacht noch ebenso drohend dastand wie zu Beginn.
Die innere Kraft der angreifenden französischen Truppen war erschöpft. Nicht einen Sieg, der nach erbeuteten, an Stangen hängenden Fetzen, Fahnen genannt, oder nach der Größe der Fläche, auf der die Truppen standen und nun stehen, bestimmt wird, sondern einen inneren Sieg, einen Sieg, der den Gegner von der inneren Überlegenheit seines Feindes und von seiner eignen Kraftlosigkeit überzeugt, einen solchen Sieg hatten die Russen bei Borodino errungen.
Das eindringende französische Heer fühlte wie ein wütendes Tier, das bei seinem Ansatz zum Sprung eine tödliche Wunde empfangen hat, seinen Untergang herannahen, aber es konnte nicht innehalten, ebenso wie die nur halb so starke russische Armee gar nichts anderes tun konnte, als nur abwehren. Nach diesem Rippenstoß konnte sich das französische Heer noch bis Moskau hinschleppen, dort aber mußte es ohne neue Anstrengungen von seiten der Russen zugrunde gehen, mußte an der bei Borodino empfangenen tödlichen Wunde verbluten.
Die unmittelbaren Folgen der Schlacht bei Borodino waren die grundlose Flucht Napoleons aus Moskau, sein Rückzug auf der alten Smolensker Straße, die Vernichtung des eingedrungenen Heeres von fünfmalhunderttausend Mann, und der Untergang des Napoleonischen Frankreich, auf das bei Borodino zum erstenmal die Faust eines an Geist überlegenen Gegners herabgesunken war.