Dritter Teil

1

Fürst Wassilij pflegte nicht groß über seine Pläne nachzudenken. Noch weniger lag es in seiner Art, irgend jemandem etwas Böses zuzufügen, nur um für sich einen Vorteil herauszuschlagen. Er war eben nur Weltmann, ein Mann, der es verstanden hatte, in der großen Welt vorwärtszukommen, und dem nun diese Art vorwärtszukommen zur Gewohnheit geworden war. Ununterbrochen entwarf er Pläne und Berechnungen, je nach den Umständen und je nach den Menschen, mit denen er zusammentraf, und obwohl er sich darüber nie genaue Rechenschaft ablegte, bildeten diese Kombinationen doch das Hauptinteresse seines Lebens. Und zwar waren immer nicht nur ein oder zwei solcher Pläne und Berechnungen bei ihm im Gang, sondern mindestens ein Dutzend, von denen die einen gerade erst in ihm aufgekeimt, andere schon in Erfüllung gegangen und wieder andere bereits zunichte geworden waren. Er überlegte sich zum Beispiel nicht im voraus: Dieser Mensch hat jetzt die Macht, ich muß mir sein Vertrauen und seine Freundschaft erwerben, um durch ihn die Auszahlung einer einmaligen Unterstützung zu erlangen, oder etwa: Pierre ist jetzt reich, ich muß ihn dazu bringen, meine Tochter zu heiraten und mir vierzigtausend Rubel zu leihen, sondern sein Instinkt sagte ihm ganz einfach in dem Augenblick, wo er mit solch einem einflußreichen Menschen zusammentraf, daß dieser ihm nützlich sein könne, und so näherte er sich ihm bei der ersten besten Gelegenheit ganz instinktmäßig und ohne jede Vorbereitung, schmeichelte ihm, schlich sich in sein Vertrauen ein und sprach dann von dem, was er gerade brauchte.

Pierre war ihm in Moskau unter die Hände geraten. Fürst Wassilij hatte sogleich Pierres Ernennung zum Kammerjunker erwirkt, was damals dem Rang eines Staatsrates gleichkam, und darauf bestanden, daß der junge Mann mit ihm zusammen nach Petersburg fuhr und in seinem Haus abstieg. Gewissermaßen absichtslos, dabei aber mit einer zweifellosen Zuversicht, daß dies alles eben so geschehen müsse, tat Fürst Wassilij einfach alles, um Pierre mit seiner Tochter zu verheiraten. Hätte er seine Pläne vorher immer sorgsam überlegt, so wäre er nicht imstande gewesen, so harmlos, einfach und natürlich mit allen Leuten zu verkehren, mochten sie nun über oder unter ihm stehen. Ein unwiderstehliches Etwas zog ihn beständig zu Leuten hin, die reicher und mächtiger waren als er, und er besaß die seltene Gabe, gerade immer den richtigen und möglichen Augenblick zu erhaschen, sich dieser Leute dann auch zu bedienen.

Als Pierre, der soeben noch unbekannt und einsam gelebt hatte, nun so plötzlich und unerwarteterweise ein reicher Mann und Graf Besuchow geworden war, fühlte er sich dermaßen belagert und in Anspruch genommen, daß er nur noch im Bett allein und für sich sein konnte. Ständig mußte er Papiere unterzeichnen, mit den verschiedensten Behörden verhandeln, von deren Bedeutung er noch nicht einmal eine klare Vorstellung hatte, mußte den Oberverwalter befragen, auf das bei Moskau gelegene Gut fahren und eine Unmenge von Leuten empfangen, die vorher nicht einmal von seiner Existenz etwas hatten wissen wollen, jetzt aber gekränkt und beleidigt gewesen wären, wenn er sie nicht empfangen hätte. Alle diese verschiedenartigen Persönlichkeiten: Geschäftsleute, Verwandte, Bekannte waren sämtlich dem jungen Erben gut und freundlich gesinnt. Sie alle schienen von den hohen Eigenschaften Pierres zweifellos überzeugt zu sein. Ständig hörte er die Worte: »Bei Ihrer ungewöhnlichen Herzensgüte« oder: »Bei Ihrem ausgezeichneten Herzen« oder: »Da Sie ja selber so herzensrein sind, Graf …« oder: »Wenn der so klug wäre wie Sie« und so weiter, und so weiter, so daß er innerlich schon selber an seine außergewöhnliche Herzensgüte und an seinen außergewöhnlichen Verstand zu glauben anfing, um so mehr, da es ihm schon immer im Grunde seiner Seele so vorgekommen war, als ob er tatsächlich ein sehr guter und sehr kluger Mensch wäre. Sogar Leute, die ihm früher gehässig und offenkundig feindselig begegnet waren, behandelten ihn jetzt sanft und liebenswürdig. Die älteste der Prinzessinnen, die mit der langen Taille und den, wie bei einer Puppe, glatt angeklebten Haaren, die früher immer gehässig gegen Pierre gewesen war, kam nach der Beerdigung auf sein Zimmer. Sie schlug die Augen nieder, wurde einmal über das andere Mal rot und sagte zu ihm, sie bedauere außerordentlich die früher zwischen ihnen vorgefallenen Mißverständnisse, und wenn sie sich auch nicht mehr berechtigt fühle, irgend etwas zu verlangen, so bitte sie doch noch um die Erlaubnis, nach dem schweren Schlag, der sie betroffen habe, noch einige Wochen in diesem Hause bleiben zu dürfen, das sie so sehr geliebt, und dem sie so viele Opfer gebracht habe. Sie konnte nicht mehr an sich halten und brach bei diesen Worten in Tränen aus. Pierre ergriff, ganz gerührt darüber, daß sich diese bildsäulenhafte Prinzessin so hatte verändern können, ihre Hand und bat sie um Verzeihung, obgleich er selber nicht wußte, wofür. Von diesem Tag an stickte die Prinzessin eine gestreifte Schärpe für Pierre und benahm sich gegen ihn wie umgewandelt.

»Tu es meinetwegen, mon cher, immerhin hat sie von dem Verstorbenen viel auszustehen gehabt«, sagte Fürst Wassilij zu Pierre und legte ihm ein Schriftstück zugunsten der Prinzessin zum Unterzeichnen vor.

Fürst Wassilij hatte sich entschlossen, der armen Prinzessin doch diesen Knochen, einen Wechsel von dreißigtausend Rubel, hinzuwerfen, damit es ihr nicht etwa in den Sinn käme, über seine Beteiligung an der Sache mit dem Mosaikportefeuille etwas auszuschwatzen. Pierre unterschrieb den Wechsel, und von diesem Augenblick an wurde die Prinzessin noch liebreicher. Auch die jüngeren Schwestern waren sehr freundlich gegen ihn, und besonders die jüngste, die hübsche mit dem Leberfleck, brachte Pierre durch ihr Lächeln und ihre Verlegenheit, wenn sie ihn sah, oft in Verwirrung.

Pierre kam das so natürlich vor, daß alle ihn liebhatten, wie es ihm unnatürlich erschienen wäre, wenn jemand ihn gehaßt hätte, so daß ihm gar kein Zweifel an der Aufrichtigkeit der Leute, die ihn umgaben, kommen konnte. Zudem hätte er auch gar nicht die Zeit dazu gehabt, sich zu fragen, ob diese Leute nun aufrichtig waren oder nicht. Er war dauernd in Anspruch genommen und befand sich ständig im Zustand eines milden, heiteren Rausches. Er fühlte sich immer als Mittelpunkt einer allgemeinen, wichtigen Bewegung, fühlte, daß man ständig irgend etwas von ihm erwartete, und daß, wenn er dies nicht täte, er viele kränken und einer Hoffnung berauben würde, täte er es hingegen, dann würde alles gut und schön sein – und so tat er denn alles, was man von ihm verlangte, aber das Gute und das Schöne blieb dennoch der Zukunft vorbehalten.

Der erste, der sich nicht nur aller Angelegenheiten Pierres, sondern auch seiner Person selber bemächtigt hatte, war Fürst Wassilij gewesen. Seit dem Tode des alten Grafen Besuchow hatte er Pierre nicht aus den Händen gelassen. Er gab sich den Anschein eines von Geschäften überhäuften, müden und gequälten Mannes, der es aber aus lauter Mitgefühl doch nicht übers Herz bringe, diesen hilflosen jungen Mann, der apres tout doch der Sohn seines Freundes war, mit einem solch gewaltigen Vermögen den Launen des Schicksals und Ausbeutereien von Spitzbuben zu überlassen. Während der wenigen Tage, die er nach dem Tode des Grafen Besuchow noch in Moskau zubrachte, ließ er Pierre häufig zu sich rufen oder ging auch selber zu ihm hinein und schrieb ihm alles vor, was er tun mußte, und zwar in einem so müden und überzeugten Ton, als wolle er jedesmal sagen: Du weißt, ich bin mit Geschäften überhäuft, und es geschieht nur aus Mitleid, daß ich mich mit dir abgebe, und du siehst wohl auch ein, daß diese Sache nur so, wie ich sie dir eben vorschlage, zu machen ist.

»Na, mein Freund, morgen reisen wir endlich ab«, sagte er eines Tages zu ihm, kniff die Augen zusammen und faßte ihn am Ellenbogen, und zwar sagte er das in einem Ton, als wäre das schon lange eine abgemachte Sache zwischen ihnen gewesen, die gar nicht anders hätte entschieden werden können. »Morgen reisen wir, und ich gebe dir einen Platz in meinem Reisewagen. Ich bin sehr froh. Alles Wichtige ist nun hier für uns erledigt. Und für mich wäre es schon lange Zeit gewesen. Dies hier habe ich soeben vom Kanzler bekommen. Ich hatte ihn deinetwegen gebeten … du bist nun in das diplomatische Korps eingereiht und zum Kammerjunker ernannt worden. Die Diplomatenlaufbahn steht dir nun offen.«

Trotz des durch seine Müdigkeit und Bestimmtheit überzeugenden Tones, in dem diese Worte gesprochen worden waren, wollte Pierre, der so lange über seine künftige Laufbahn nachgegrübelt hatte, doch etwas darauf erwidern. Aber Fürst Wassilij unterbrach ihn mit jenem tiefen, brummenden Ton, der jede Möglichkeit einer Unterbrechung seiner Rede einfach ausschloß, und dessen er sich nur in den Fällen bediente, wo er unbedingt jemanden überzeugen wollte.

»Mais, mon cher, das habe ich ja nur meinetwegen getan, um mein Gewissen zu beruhigen, du brauchst mir deshalb nicht zu danken. Noch nie hat sich jemand darüber beschwert, daß nun ihm zu viel Liebe entgegengebracht hätte, und dann bist du ja ganz frei; wenn du willst, kannst du morgen das alles schon wieder aufgeben. Aber das wirst du in Petersburg ja schon« selber sehen. Es ist die höchste Zeit für dich, daß du dich von diesen traurigen Erinnerungen losmachst.« Fürst Wassilij seufzte. »Ja, ja, so ist es, mein Guter. Mein Kammerdiener kann ja in deinem Wagen fahren. Ach ja, das habe ich ganz vergessen«, fügte er noch hinzu, »du weißt, mon cher, daß ich mit dem Verstorbenen Geldgeschäfte hatte; da ist mir nun jetzt aus dem Rjasaner Gut etwas ausgezahlt worden, und das möchte ich behalten: du brauchst es ja nicht. Wir rechnen dann später einmal miteinander ab.«

Dieses »Etwas aus dem Rjasaner Gut«, das Fürst Wassilij für sich behalten wollte, war das Pachtgeld von mehreren tausend Rubeln.

Wie in Moskau, so sah sich Pierre auch in Petersburg augenblicklich von einem Kreis zärtlicher und liebevoller Menschen umringt. Er hatte gar nicht Zeit, auf das Amt, das ihm Fürst Wassilij verschafft hatte, oder richtiger gesagt auf den Titel – denn er hatte ja dabei gar nichts zu tun – zu verzichten, denn die Bekanntschaften, Einladungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen häuften sich so sehr, daß Pierre hier mehr noch als in Moskau das Gefühl eines Rausches, einer Unstetheit und eines Glückes empfand, das ihm immer vor Augen schwebte, aber niemals zur Wirklichkeit wurde.

Aus seinem früheren Junggesellenkreis waren jetzt viele nicht mehr in Petersburg. Die Garde war ins Feld gerückt, Dolochow degradiert, Anatol in der Provinz bei der Armee, Fürst Andrej im Ausland, und so konnte Pierre weder seine Nächte so verleben, wie er sie früher gern verlebt hatte, noch ab und zu in freundschaftlichem Gespräch einem alten, vertrauten Freund das Herz ausschütten. Er verbrachte seine ganze Zeit mit Diners und Bällen, vorzugsweise beim Fürsten Wassilij, in Gesellschaft der dicken Fürstin, der Frau des Fürsten Wassilij, und der schönen Helene.

Selbst Anna Pawlowna Scherer tat, wie alle übrigen auch, durch ihr Benehmen Pierre gegenüber kund, mit welch anderen Augen er jetzt in der Gesellschaft angesehen wurde.

Früher hatte Pierre in Anwesenheit Anna Pawlownas immer das Gefühl gehabt, daß das, was er sagte, ungehörig, taktlos und überflüssig war, und daß alle seine Worte, die ihm doch, solange er sie im Geiste vorbereitete, ganz vernünftig erschienen waren, sogleich dumm wurden, sobald er sie nur laut aussprach, während die stumpfsinnigsten Reden Hippolyts immer klug und liebenswürdig erschienen. Jetzt aber erwies sich alles, was er nur sagte, als charmant. Und wenn auch Anna Pawlowna das nicht aussprach, so merkte er doch, daß sie die größte Lust hatte, es zu sagen, und nur aus Achtung vor seiner Bescheidenheit davon Abstand nahm.

Zu Anfang des Winters von 1805 auf 1806 erhielt Pierre von Anna Pawlowna die obligate rosa Einladungskarte, auf der sie noch hinzugefügt hatte: »Sie werden bei mir die schöne Helene treffen, die man ja nie müde wird, anzuschauen.«

Als Pierre diese Stelle las, fühlte er zum erstenmal, daß zwischen ihm und Helene eine gewisse Verbindung bestand, die bereits von anderen Leuten anerkannt wurde, und dieser Gedanke erschreckte ihn einerseits, als lege er ihm eine Verpflichtung auf, der er nicht nachkommen könne, andrerseits fand er aber auch wieder Gefallen daran wie an einer Vorahnung von etwas recht Ergötzlichem.

Die Abendgesellschaft bei Anna Pawlowna verlief genauso wie die erste, nur war diesmal das neue Gericht, das sie ihren Gästen vorsetzte, nicht mehr Mortemart, sondern ein Diplomat, der soeben erst aus Berlin gekommen war und die allerneuesten Einzelheiten über den Aufenthalt Kaiser Alexanders in Potsdam mitbrachte. Er erzählte, wie diese zwei allerhöchsten Freunde sich dort geschworen hatten, in unzertrennlichem Bund für die gerechte Sache gegen den Feind der Menschheit einzustehen. Anna Pawlowna empfing Pierre mit einem leisen Anflug von Wehmut, die sich offenbar auf den frischen Verlust, den der junge Mann durch den Tod des Grafen Besuchow erlitten hatte, beziehen sollte – es hielten nämlich alle dauernd für ihre Pflicht, Pierre davon zu überzeugen, daß er über den Tod seines Vaters, den er doch fast nicht gekannt hatte, trostlos war –, und diese Wehmut Anna Pawlownas war eben die selbe wie jene allerhöchste Wehmut, die sich immer auf ihren Zügen ausprägte, sobald nur die erhabene Kaiserin Maria Fjodorowna erwähnt wurde. Pierre fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt. Mit ihrer gewohnten Kunstfertigkeit brachte Anna Pawlowna in ihrem Salon die richtigen Kreise zusammen. Der größte Kreis, in dem sich Fürst Wassilij und die Generäle befanden, scharte sich um den Diplomaten. Ein zweiter Kreis hatte sich um den Teetisch gebildet. Pierre wollte sich dem ersten zugesellen, aber Anna Pawlowna, die sich in der Aufregung eines Feldherrn befand, dem auf dem Schlachtfeld tausend neue glänzende Gedanken kommen, die er kaum alle zur Ausführung bringen kann, faßte Pierre, als sie ihn nur gesehen hatte, sogleich am Arm.

»Attendez, ich habe heute bestimmte Absichten mit Ihnen.«

Sie warf einen Blick auf Helene und lächelte ihr zu. »Ma bonne Hélène, haben Sie Mitleid mit meiner armen Tante, die so sehr für Sie schwärmt. Gehen Sie zu ihr und leisten Sie ihr zehn Minuten Gesellschaft. Und damit es Ihnen nicht zu langweilig wird, nehmen Sie hier unseren lieben Grafen mit, der Ihnen seine Begleitung gewiß nicht versagen wird.«

Die schöne Helene begab sich zu der Tante, aber Anna Pawlowna hielt Pierre noch einen Augenblick zurück und gab sich den Anschein, als müsse sie noch einige letzte, unumgängliche Anordnungen treffen.

»Ist sie nicht wirklich bezaubernd?« sagte sie zu Pierre und deutete auf die leicht dahingleitende, majestätisch schöne Gestalt. »Et quelle tenue! Dieses Taktgefühl bei einem solch jungen Mädchen, und wie meisterhaft sie sich zu benehmen versteht! Aber das kommt nur von ihrem ausgezeichneten Herzen. Glücklich der Mann, der sie einmal sein eigen nennen darf! An ihrer Seite wird auch der gesellschaftlich unbedeutendste Mann die glänzendste Rolle in der großen Welt spielen. Habe ich nicht recht? Ich wollte nur Ihre Meinung darüber hören«, und Anna Pawlowna gab Pierre frei.

Dieser beantwortete Anna Pawlownas Frage über Helenes vollendete Haltung in seiner Aufrichtigkeit nur zustimmend. Wenn sich seine Gedanken manchmal mit Helene beschäftigten, so dachte er vor allem an ihre Schönheit und ihr ungewöhnliches Verständnis, in Gesellschaft eine ruhige, schweigendwürdige Haltung anzunehmen.

Die Tante empfing die beiden jungen Leute in ihrer Ecke, bemühte sich aber anscheinend, ihre Vergötterung für Helene zu verbergen und dafür mehr ihre Furcht vor Anna Pawlowna zum Ausdruck zu bringen. Sie warf ihrer Nichte einen Blick zu, als wolle sie sie fragen, was sie mit diesen jungen Leuten anfangen solle. Als Anna Pawlowna von ihnen fortging, berührte sie Pierre noch einmal mit dem Finger und flüsterte ihm zu: »Ich hoffe, Sie werden nicht mehr sagen, daß man sich bei mir langweilt.« Dabei warf sie einen Blick auf Helene.

Helene lächelte mit einem Ausdruck, als wolle sie sagen: sie ließe überhaupt die Möglichkeit gar nicht zu, daß jemand sie sähe und nicht von ihr entzückt wäre. Die Tante hustete, schluckte den Speichel hinunter und sagte auf französisch, daß sie sich außerordentlich freue, Helene zu sehen. Dann wandte sie sich an Pierre mit eben den selben Begrüßungsworten und eben der selben Miene. Mitten in der langweiligen, träge dahinfließenden Unterhaltung sah Helene Pierre an und lächelte ihm mit jenem klaren, schönen Lächeln zu, mit dem sie alle anzulächeln pflegte. Pierre war an dieses Lächeln so sehr gewöhnt, es drückte so wenig Persönliches für ihn aus, daß er ihm überhaupt keine Beachtung mehr schenkte. In diesem Augenblick erzählte die Tante von einer Tabaksdosensammlung, die Pierres verstorbener Vater, der Graf Besuchow, gehabt habe, und zeigte dabei ihre eigne Tabaksdose. Prinzessin Helene bat, das Porträt ihres Mannes, das auf dem Deckel der Dose gemalt war, betrachten zu dürfen.

»Das ist sicher von Vien gemalt«, bemerkte Pierre. »Von Vien gemalt.« Er beugte sich hinüber, um die Dose in die Hand zu nehmen, horchte dabei aber auf das Gespräch am anderen Tisch. Er erhob sich und wollte zur Tante hingehen, diese aber reichte ihm die Tabaksdose gerade über Helene, die vor ihr stand, hinweg. Helene neigte sich ein wenig nach vorn, um Platz zu machen, lächelte und sah sich um. Sie trug, wie immer zu solchen Abendgesellschaften, ein Kleid, das nach der damaligen Mode vorn und hinten tief ausgeschnitten war. Ihre Brust, die auf Pierre immer den Eindruck einer Marmorbüste gemacht hatte, befand sich jetzt in so geringer Entfernung von ihm, daß er mit seinen kurzsichtigen Augen unwillkürlich den lebendigen Reiz ihrer Schultern und ihres Nackens erkennen mußte, und zwar so nahe an seinen Lippen, daß er sich nur ein wenig hätte herabzuneigen brauchen, um sie zu berühren. Er empfand die Wärme ihres Körpers, den Duft ihres Parfüms und hörte das Knirschen des Korsetts bei ihren Bewegungen. Er sah nicht mehr ihre marmorne Schönheit, die mit ihrem Gewande zu einem vollendeten Ganzen zusammenfloß, sondern sah und fühlte nur noch den ganzen Reiz ihres von dem Gewand verhüllten Körpers. Und nachdem er dies einmal empfunden hatte, konnte er sie gar nicht mehr anders sehen, so wie man nicht mehr an eine Täuschung glauben kann, die einem einmal offenbar geworden ist. Es war, als ob Helene zu ihm sage: Hast du denn bis zu diesem Augenblick gar nicht gesehen, wie schön ich bin? Hast du gar nicht bemerkt, daß ich ein Weib bin? Ja, ich bin ein Weib, das jedem angehören kann, auch dir! sprachen ihre Blicke. Und in diesem Augenblick fühlte Pierre, daß Helene nicht nur seine Frau werden könne, sondern es werden müsse, daß es gar nicht mehr anders kommen könne.

Das war für ihn in diesem Augenblick so sicher, als stünde er schon mit ihr vor dem Traualtar. Wie es geschehen werde und wann, das wußte er freilich nicht, nicht einmal, ob es zu seinem Besten wäre, er hatte sogar das Gefühl, daß es nicht gut ablaufen würde, aber er war sicher, daß es so kommen mußte.

Pierre schlug die Augen nieder, hob sie wieder auf und wollte in ihr wieder die ferne, ihm fremde Schönheit sehen, die er bisher alle Tage erblickt hatte, aber dazu war er nicht mehr imstande. Er konnte das ebenso wenig, wie ein Mensch, der im Nebel einen Grashalm für einen Baum gehalten und dann seinen Irrtum erkannt hat, nun in diesem Grashalm wieder einen Baum sehen kann. Sie war ihm entsetzlich nah und hatte bereits Gewalt über ihn erlangt. Und zwischen ihnen gab es sonst keine anderen Schranken mehr als die, die sein eigner Wille ihm setzte.

»Bon, je vous laisse dans votre petit coin. Je vois, que vous y êtes très bien«, hörte er plötzlich Anna Pawlownas Stimme.

Pierre besann sich ängstlich, ob er nicht vielleicht etwas Unpassendes getan hatte, wurde rot und sah sich um. Ihm war, als müßten alle anderen, ebenso wie er selber, jetzt wissen, was mit ihm geschehen war.

Als er nach einiger Zeit an den großen Kreis herantrat, sagte Anna Pawlowna zu ihm: »On dit que vous embellissez votre maison de Pétersbourg?« Und das war wahr: ein Architekt hatte zu Pierre gesagt, daß dies nötig sei, und so ließ er denn, ohne selber zu wissen warum, sein riesiges Haus in Petersburg neu herrichten.

»C’est bien, aber ziehen Sie nicht vom Fürsten Wassilij weg. Es ist angenehm, einen solchen Freund zu haben wie ihn«, fügte sie hinzu und sah den Fürsten Wassilij lächelnd an. »J’en sais quelque chose. N’est-ce pas? Und Sie sind noch so jung. Sie brauchen einen Ratgeber. Nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich von den Rechten alter Frauen Ihnen gegenüber Gebrauch mache!« Sie schwieg, wie Frauen immer schweigen und auf irgend etwas warten, wenn sie über ihr Alter gesprochen haben. »Wenn Sie sich einmal verheiraten, dann ist das etwas anderes.« Sie umfaßte beide mit einem Blick. Pierre sah Helene nicht an, und sie ihn ebenfalls nicht. Immer noch war sie ihm beängstigend nah. Er murmelte etwas vor sich hin und wurde rot.

Nach Hause zurückgekehrt, konnte er lange nicht einschlafen und mußte immer nur daran denken, was mit ihm geschehen war. Aber was war eigentlich geschehen? Nichts. Er war sich nur bewußt geworden, daß ein Weib, das er als Kind gekannt und von dem er, wenn jemand ihm die Schönheit Helenes anpries, zerstreut gesagt hatte: »Ja, sie ist schön« – er war sich nur bewußt geworden, daß dieses Weib ihm angehören könne.

Aber sie ist dumm, und ich habe selber gesagt, daß sie dumm ist, dachte er. Es liegt etwas Garstiges in dem Gefühl, das sie in mir erweckt, etwas Verbotenes. Man hat mir erzählt, daß ihr Bruder Anatol in sie verliebt gewesen sei und sie in ihn, das ist eine ganze Geschichte gewesen, und deshalb hat man Anatol dann fortgeschickt. Hippolyt ist ihr Bruder … Und ihr Vater – der Fürst Wassilij … Das ist nicht schön, dachte er, aber im selben Augenblick, als er sich das überlegte – und er war mit diesen Überlegungen noch nicht einmal bis zu Ende gekommen –, ertappte er sich bei einem Lächeln und merkte, daß eine andere Reihe von Erwägungen sich durch die erste hindurchdrängte, und daß er im selben Augenblick, wo er an ihre Minderwertigkeit gedacht hatte, doch auch bereits davon träumte, wie sie seine Frau sein und ihn lieben werde, vielleicht dann eine ganz andere würde, und daß das alles, was er über sie gedacht und gehört habe, doch noch lange nicht wahr zu sein brauchte. Und er sah sie wieder vor sich, nicht als die Tochter des Fürsten Wassilij, sondern nur ihren Körper, von einem grauen Kleide verhüllt.

Aber nein, warum ist mir früher nie ein solcher Gedanke durch den Kopf gegangen? Und wieder sagte er sich, daß es unmöglich wäre und diese Ehe etwas Garstiges, Unnatürliches und, wie ihm schien, Unreines sein würde. Er erinnerte sich an alle früheren Worte und Blicke und an die Augen und Aussprüche derer, die ihn und Helene zusammen gesehen hatten. Er dachte an Anna Pawlownas Reden und Augen, als sie ihm von seinem neuen Hause gesprochen hatte, erinnerte sich an tausend ähnliche Anspielungen von seiten des Fürsten Wassilij und anderer, und ein Schrecken überkam ihn: hatte er sich nicht etwa bereits durch irgend etwas gebunden, ein Werk zu vollenden, das anscheinend nicht gut war und das er nicht tun durfte? Aber im selben Augenblick, da er dies in Erwägung zog, tauchte wieder ihr Bild in seiner Seele auf, mit allen Reizen ihrer weiblichen Schönheit.

2

Im November des Jahres 1805 mußte Fürst Wassilij in vier Gouvernements Revisionen vornehmen. Er hatte sich diesen Auftrag erwirkt, um erstens einmal bei dieser Gelegenheit seine ziemlich heruntergewirtschafteten Güter besuchen zu können! und zweitens, um seinen Sohn Anatol aus der Garnison abzuholen und mit ihm zusammen zum Fürsten Nikolaj Andrejewitsch Bolkonskij zu fahren, weil er seinen Sohn mit der Tochter dieses reichen alten Herrn verheiraten wollte. Doch bevor Fürst Wassilij abreisen und sich mit diesen neuen Plänen beschäftigen konnte, mußte er unbedingt noch die Sache mit Pierre ins reine bringen, der allerdings in letzter Zeit ganze Tage zu Hause, das heißt beim Fürsten Wassilij, bei dem er wohnte, zubrachte, sich in Anwesenheit Helenes lächerlich, verlegen und dumm – wie es sich eben für einen Verliebten gehört – benahm, aber immer noch keinen Antrag gemacht hatte.

»Tout ça est bel et bon, mais il faut, que ça finisse«, sagte Fürst Wassilij eines Morgens mit einem schwermütigen Seufzer zu sich selbst in der Erkenntnis, daß Pierre, der ihm so viel Dank schuldig war, in dieser Sache doch nicht ganz korrekt vorgehe. Die Jugend … der Leichtsinn … na, Gott mit ihm! dachte Fürst Wassilij, indem er dabei ein gewisses Vergnügen über seine eigne Herzensgüte empfand, mais il faut, que ça finisse. Übermorgen ist Helenes Namenstag, da werde ich ein paar Gäste einladen, und wenn er dann noch nicht weiß, was er zu tun hat, werde ich die Sache ins reine bringen. Ja, ich selbst. Ich bin doch der Vater. Pierre war in der schlaflosen, erregten Nacht, die der Abendgesellschaft bei Anna Pawlowna folgte, zu der Ansicht gekommen, daß eine Heirat mit Helene ihm kein Glück bringen werde, und hatte daher den Entschluß gefaßt, sie zu meiden und wegzureisen. Dennoch waren seit jener Nacht anderthalb Monate vergangen und immer noch war er nicht vom Fürsten Wassilij weggezogen. Mit Schrecken fühlte er, daß er sich vor aller Leute Augen von Tag zu Tag fester und fester an Helene binde, daß es ihm unmöglich war, sie wieder mit den früheren Augen anzusehen, unmöglich, sich von ihr loszureißen, und daß, wie furchtbar es ihm auch sein mochte, er dennoch sein Schicksal mit dem ihrigen verknüpfen müsse. Vielleicht hätte er noch entrinnen können, aber es verging kein Tag, ohne daß beim Fürsten Wassilij, der sonst nur selten Gäste empfangen hatte, nicht eine Abendgesellschaft stattgefunden hätte, zu der Pierre unbedingt kommen mußte, wenn er nicht das allgemeine Vergnügen stören und die Erwartungen aller enttäuschen wollte. Während der wenigen Augenblicke, wo Fürst Wassilij zu Hause war, ging er wohl zufällig bei Pierre vorüber, faßte ihn an der Hand, hielt ihm zerstreut seine glattrasierte, faltige Wange zum Kusse hin und sagte zu ihm: »Also auf morgen«, oder: »Komm zu Tisch, sonst sehe ich dich heute gar nicht«, oder: »Ich werde deinetwegen zu Hause bleiben« und so weiter. Und obgleich Fürst Wassilij, wenn er auch, wie er sagte, nur Pierres wegen zu Hause blieb, dann kaum zwei Worte mit ihm sprach, so brachte es Pierre doch nicht übers Herz, seine Erwartungen zu täuschen. Jeden Tag sagte er sich immer wieder dasselbe: Ich müßte Helene doch nun endlich kennen und mir darüber Rechenschaft ablegen können, wie sie eigentlich ist. Habe ich mich früher in ihr geirrt, oder irre ich mich jetzt in ihr? Nein, sie ist nicht dumm, sie ist ein prächtiges Mädchen! sagte er manchmal zu sich selber. Niemals täuscht sie sich in etwas, niemals sagt sie etwas Dummes. Sie spricht wenig, aber das, was sie sagt, ist immer einfach und klar. Folglich ist sie nicht dumm. Sie ist noch niemals verlegen geworden und wird auch niemals verlegen. Folglich ist sie nicht schlecht. Oft geschah es, daß er sich mit ihr in ein ernstes Gespräch einlassen wollte, sozusagen laut dachte, doch jedesmal antwortete sie ihm entweder mit einer kurzen, aber passenden Bemerkung, indem sie darauf hinwies, daß sie das nicht interessiere, oder mit einem stummen Lächeln und einem Blick, der Pierre noch fühlbarer ihre Überlegenheit zeigte. Und sie hatte recht, wenn sie alle Erörterungen für Unsinn hielt im Vergleich zu diesem Lächeln.

Sie wandte sich an ihn immer mit einem freudigen, zutraulichen, ihm allein geltenden Lächeln, in dem etwas Bedeutsameres lag als in dem allgemeinen Lächeln, das immer ihr Gesicht verschönte. Pierre wußte, alle erwarteten von ihm, daß er endlich das eine Wort ausspreche, endlich den Rubikon überschreite, wußte, daß er ihn früher oder später doch überschreiten müsse, aber eine unerklärliche Furcht überfiel ihn bei dem bloßen Gedanken an diesen schrecklichen Schritt. Hunderte von Malen im Verlauf dieser anderthalb Monate, während welcher Zeit er sich immer mehr und mehr zu diesem für ihn verhängnisvollen Abgrund hingezogen fühlte, hatte sich Pierre gesagt: Aber was ist das nur? Hier ist Entschlossenheit vonnöten. Geht mir diese denn gänzlich ab?

Er wollte einen Entschluß fassen, fühlte aber mit Schrecken, daß ihm jene Entschlossenheit, die er an sich sonst kannte und die ihm tatsächlich zu eigen war, in diesem Fall vollständig abging. Pierre gehörte zu jenen Menschen, die nur dann stark sind, wenn sie sich vollkommen rein fühlen. Aber von jenem Tag an, als sich ein Gefühl des Begehrens seiner bemächtigt hatte, das zuerst beim Betrachten der Tabaksdose bei Anna Pawlowna in ihm aufgestiegen war, hatte dieser im Unterbewußtsein liegende, ihm sündhaft erscheinende Trieb seine Entschlossenheit gelähmt.

Fürst Wassilij hatte zu Helenes Namenstag eine kleine Gesellschaft von Freunden und Verwandten – nur die allerallernächsten, wie sich die Fürstin ausdrückte – zum Abendessen eingeladen. Allen diesen Freunden und Verwandten hatte man zu verstehen gegeben, daß sich an diesem Tag das Schicksal Helenes entscheiden werde. Die Gäste saßen bei Tisch. Die Fürstin Kuragina, eine ziemlich beleibte, früher einmal schön gewesene, stattliche Dame, nahm den Platz der Hausfrau ein. Rechts und links von ihr saßen die vornehmsten Gäste: ein alter General mit seiner Gattin und Anna Pawlowna Scherer, unten am Tisch kamen dann die jüngeren und weniger vornehmen Gäste, dann die Familienangehörigen, zuletzt Pierre und Helene nebeneinander. Fürst Wassilij nahm nicht am Abendessen teil, er wanderte um den Tisch herum und setzte sich in der heitersten Stimmung bald zum einen, bald zum anderen Gast hin, zu jedem sagte er ein paar liebenswürdige Worte, nur nicht zu Pierre und Helene, deren Anwesenheit er gar nicht zu bemerken schien. Fürst Wassilij war für alle das belebende Element. Hell leuchteten die Wachskerzen, das Silber und Kristall auf der Tafel blitzte, ebenso der Schmuck der Damen und das Gold und Silber der Epauletten. Um den Tisch herum kreisten die Diener in roten Kaftanen, man hörte das Geklapper der Messer, das Klirren der Gläser und Teller und das Stimmengewirr einer lebhaften Unterhaltung. An einem Ende des Tisches suchte ein alter Kammerherr eine alte Baronin von seiner glühenden Liebe zu ihr zu überzeugen, was diese mit lustigem Gelächter beantwortete, am anderen Ende wurde von den Mißerfolgen irgendeiner Marja Viktorowna erzählt. In der Mitte der Tafel hatte Fürst Wassilij die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich gezogen. Er erzählte den Damen mit schalkhaftem Lächeln auf den Lippen von der letzten Reichsratssitzung am Mittwoch, in der der neue Petersburger Kriegsgeneralgouverneur, Sergej Kusmitsch Wjasmitinow, das damals berühmte Reskript Kaiser Alexander Pawlowitschs aus dem Felde erhalten und verlesen hatte. In diesem Reskript wandte sich Kaiser Alexander an Sergej Kusmitsch und teilte ihm mit, er habe von allen Seiten Ergebenheitsadressen seines Volkes erhalten und sich ganz besonders über die Adresse der Stadt Petersburg gefreut. Er sei stolz, das Haupt einer solchen Nation zu sein, und werde danach streben, sich dieser Ehre würdig zu erweisen. Dieses Reskript fing mit den Worten an »Sergej Kusmitsch! Von allen Seiten gehen mir Mitteilungen zu …« und so weiter.

»So kam er also nicht weiter als bis zu ›Sergej Kusmitsch‹?« fragte eine Dame.

»Ja, ja, nicht um ein Haar«, erwiderte lachend Fürst Wassilij »›Sergej Kusmitsch … von allen Seiten … von allen Seiten … Sergej Kusmitsch …‹ Der arme Wjasmitinow kam einfach nicht weiter. Ein paarmal fing er den Brief immer wieder von vorne an, aber kaum hatte er ›Sergej‹ gesagt, da schluchzte er schon ›Kusmitsch‹, da kamen ihm die Tränen, und ›von allen Seiten‹ wurde schon ganz von Schluchzen erstickt, und weiter kam er einfach nicht. Dann zog er das Taschentuch, fing noch einmal an: ›Sergej Kusmitsch, von allen Seiten‹, und wieder brach er in Tränen aus, so daß endlich ein anderer das Reskript vorlesen mußte.«

»Kusmitsch … von allen Seiten … und dann wieder Tränen …« wiederholte einer der Gäste lachend.

»Seien Sie nicht so boshaft!« rief Anna Pawlowna vom anderen Ende der Tafel und drohte ihm mit dem Finger. »C’est un si brave et excellent homme, notre bon Viasmitinoff …«

Alle lachten. Auch oben, auf den Ehrenplätzen, waren alle heiter und schienen unter dem Einfluß der verschiedenartigsten belebenden Eindrücke zu stehen. Nur Pierre und Helene, fast am unteren Ende des Tisches, saßen schweigend nebeneinander, aber auf den Gesichtern beider lag ein verhaltenes, strahlendes Lächeln, das nichts mit Sergej Kusmitsch zu tun hatte, ein scheues, verschämtes Lächeln über ihre eignen Gefühle. Und was die anderen auch sprechen, wie sie auch lachen und scherzen mochten, mit welch großem Appetit sie auch den Rheinwein schlürfen und das Sauté und das Gefrorene verspeisen mochten, und wenn sie auch das Paar mit ihren Blicken mieden und ihm gegenüber gleichgültig schienen, so fühlte man doch aus irgendeinem Grund und aus den Blicken, die ab und zu die beiden streiften, daß sowohl die Anekdote von Sergej Kusmitsch als auch das Lachen und das Schmausen alles nur Verstellung war, und daß die Aufmerksamkeit aller mit ihrer ganzen Kraft nur diesem Paar, nur Pierre und Helene, galt. Und während Fürst Wassilij mimisch darstellte, wie Sergej Kusmitsch geschluchzt hatte, streifte er mit einem Blick seine Tochter, und hinter seinem Lachen war auf seinem Gesicht zu lesen: Schön, schön; alles geht gut; heute wird es sich entscheiden. Anna Pawlowna drohte ihm mit dem Finger wegen notre bon Viasmitinoff, doch Fürst Wassilij las in ihren Augen, die blitzschnell über Pierre hingehuscht waren, einen Glückwunsch zu dem künftigen Schwiegersohn und zum Glück seiner Tochter. Und während die alte Fürstin ihrer Nachbarin seufzend Wein anbot und dabei ihrer Tochter einen ärgerlichen Blick zuwarf, schien sie mit diesem Seufzer sagen zu wollen: Ja, ja, meine Liebe, uns bleibt nun nichts anderes mehr übrig, als süßen Wein zu trinken, jetzt ist für die Jugend da die Zeit gekommen, so dreist herausfordernd glücklich zu sein. Und ein Diplomat dachte, als er auf die glücklichen Gesichter der Liebenden sah: Wie dumm ist doch das alles, was ich hier erzähle, und dabei muß ich tun, als ob es mich lebhaft interessierte. Das allein ist das Glück!

Mitten zwischen den nichtigen, kleinlichen, künstlichen Interessen, die diese Gesellschaft zusammenhielten, war plötzlich das schlichte Gefühl des Begehrens von Mann und Weib bei zwei schönen, gesunden Menschen aufgetaucht. Und dieses natürlichste aller Gefühle erdrückte alles andere und schwebte siegreich über dem künstlichen Geplapper der übrigen. Die Scherze erschienen fade, die Neuigkeiten uninteressant, die lebhafte Unterhaltung sichtlich erkünstelt. Aber nicht nur die Gäste, auch die Lakaien, die bei Tische bedienten, schienen das zu fühlen und machten ab und zu einen Fehler beim Servieren, wenn sie das strahlende Gesicht der schönen Helene oder den dicken, glücklichverwirrten Pierre ansahen. Selbst das Licht der Kerzen schien sich nur auf diese beiden glücklichen Gesichter zu konzentrieren.

Pierre fühlte, daß er Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft war, und diese Empfindung freute und peinigte ihn zugleich. Er befand sich im Zustand eines Menschen, der in irgend etwas ganz vertieft ist. Nichts hörte, sah und verstand er deutlich. Nur ab und zu tauchten plötzlich abgerissene Gedanken und Eindrücke aus der Wirklichkeit vor seiner Seele auf.

So ist also nun alles im reinen! dachte er. Wie hat das alles nur so kommen können? So schnell! Jetzt weiß ich, daß weder ihretwegen noch meinetwegen, sondern um aller willen dies unwiderruflich so geschehen muß. Sie warten alle dermaßen darauf, sind alle so davon überzeugt, daß es so kommen wird, daß ich sie unmöglich, unmöglich enttäuschen kann. Aber wie wird es geschehen? Ich weiß es nicht, doch geschehen wird es unbedingt, unbedingt! dachte Pierre und warf einen Blick auf ihre Schultern, die dicht vor seinen Augen glänzten.

Plötzlich fing er an, sich aus irgendeinem Grund zu schämen. Es war ihm peinlich, daß er allein die Aufmerksamkeit aller erregte, in ihren Augen ein Glückspilz und mit seinem wenig hübschen Gesicht eine Art Paris war, der eine Helena errang[73].

Aber gewiß pflegt das immer so zu sein und muß vielleicht auch so sein, tröstete er sich. Und übrigens, was habe ich denn dazu getan? Wann hat das angefangen? Ich bin mit dem Fürsten Wassilij zusammen aus Moskau hierhergefahren. Damals war noch nichts los. Und dann, warum sollte ich nicht bei ihm wohnen bleiben? Später habe ich mit ihr Karten gespielt und ihr das Ridikül aufgehoben, bin auch mit ihr ausgeritten. Wann hat das nur angefangen, wann hat das alles nur geschehen können? Nun saß er als Bräutigam neben ihr, hörte, sah und fühlte ihre Nähe, ihren Atem, ihre Bewegungen, ihre Schönheit. Plötzlich schien es ihm, daß nicht sie, sondern er so außerordentlich schön sei, und daß ihn deshalb alle ansähen, und glücklich über die allgemeine Bewunderung, warf er sich in die Brust, reckte den Kopf hoch und freute sich über sein Gluck. Da ertönte eine Stimme, eine ihm bekannte Stimme, und sagte ihm etwas schon zum zweitenmal. Doch Pierre war so beschäftigt, daß er gar nicht verstand, was man zu ihm sagte.

»Ich frage dich, wann du den Brief von Bolkonskij erhalten hast«, wiederholte Fürst Wassilij nun zum drittenmal. »Wie zerstreut du bist, mein Lieber!«

Fürst Wassilij lächelte, und Pierre sah, daß alle, alle ihm und Helene zulächelten. Nun, was ist dabei, wenn ihr es alle schon wißt? sagte Pierre zu sich selber. Was ist dabei, es ist ja doch wahr, und er lächelte selber mit seinem sanften Kinderlächeln, und auch Helene lächelte.

»Wann hast du ihn erhalten? Aus Olmütz?« wiederholte Fürst Wassilij, der das wissen wollte, um eine Streitfrage zu entscheiden.

Wie kann man nur an solche Nichtigkeiten denken und davon reden! dachte Pierre. »Ja, aus Olmütz«, erwiderte er dann mit einem Seufzer.

Nach dem Abendessen führte Pierre seine Tischdame hinter den anderen Paaren her in den Salon. Die Gäste fingen an aufzubrechen, manche fuhren ab, ohne sich von Helene zu verabschieden. Andere wiederum traten, als wünschten sie nicht, sie in ihrer ernsthaften Unterhaltung zu stören, nur auf einen Augenblick zu ihr heran, entfernten sich sogleich wieder und baten Helene, sie nicht etwa hinauszubegleiten. Der Diplomat schwieg melancholisch und ging aus dem Salon. Die ganze Eitelkeit seiner diplomatischen Laufbahn trat ihm plötzlich klar vor die Seele im Vergleich zu Pierres Glück. Der alte General brummte grimmig seine Frau an, als sie sich nach dem Befinden seiner Beine erkundigte. Ach, die alte Schachtel! dachte er. Wenn man diese Helene dagegen sieht, die wird noch mit fünfzig Jahren eine Schönheit sein!

»Ich glaube, man kann Ihnen gratulieren«, flüsterte Anna Pawlowna der Fürstin zu und küßte sie herzlich. »Wenn ich nicht diese Migräne hätte, würde ich noch hier bleiben.«

Die Fürstin gab keine Antwort; sie quälte der Neid auf das Glück ihrer Tochter.

Während man die Gäste hinausbegleitete, blieb Pierre lange mit Helene in dem kleinen Salon, wo sie Platz genommen hatten, allein zurück. Er war im Verlauf dieser anderthalb Monate auch früher schon oft mit Helene allein geblieben, niemals aber hatte er zu ihr von Liebe gesprochen. Jetzt fühlte er, daß dies seine unvermeidliche Pflicht sei, aber er konnte sich durchaus nicht zu diesem letzten Schritt entschließen. Er schämte sich und ihm schien, daß er hier neben Helene den Platz eines anderen einnehme. Nicht für dich ist dieses Glück, sagte ihm eine innere Stimme. Dies Glück ist für solche, die das nicht haben, was du hast.

Aber er mußte irgend etwas sagen, und so fing er zu reden an. Er fragte sie, ob sie von dem heutigen Abend befriedigt sei. Sie antwortete so klar und schlicht wie immer, daß der heutige Namenstag für sie einer der angenehmsten gewesen sei, den sie je erlebt habe.

Einige der nächsten Verwandten blieben noch da. Sie nahmen im großen Salon Platz. Fürst Wassilij trat mit gemächlichen Schritten auf Pierre zu. Pierre erhob sich mit dem Bemerken, daß es schon spät sei. Fürst Wassilij sah ihn streng und fragend an, als wäre das, was er da gesagt hatte, so sonderbar, daß man es gar nicht hören dürfe. Aber gleich darauf änderte er seinen strengen Gesichtsausdruck, zog Pierre an der Hand wieder auf seinen Sessel zurück und lächelte ihm freundlich zu.

»Nun Lola?« wandte er sich an seine Tochter in dem lässigen Ton gewohnter Zärtlichkeit, der Eltern, die von klein auf ihre Kinder verhätscheln, zur zweiten Natur wird. Doch Fürst Wassilij hatte sich diesen Ton nur durch Nachahmung anderer Eltern angeeignet.

Schon wandte er sich wieder an Pierre.

»Sergej Kusmitsch, von allen Seiten …« wiederholte er und knöpfte sich den obersten Westenknopf auf.

Pierre lächelte, aber aus diesem Lächeln war zu sehen, daß er verstanden hatte, daß es nicht die Anekdote von Sergej Kusmitsch war, die augenblicklich Fürst Wassilij interessierte, und Fürst Wassilij merkte wiederum seinerseits, daß Pierre dies durchschaut hatte. Fürst Wassilij brummte etwas vor sich hin und ging hinaus. Pierre hatte den Eindruck, daß sogar der Fürst verlegen geworden war. Diesen alten Weltmann verlegen zu sehen, rührte Pierre, und er blickte Helene an. Auch sie schien verlegen zu sein, und ihr Blick sagte deutlich: Was wollen Sie, an alledem sind nur Sie allein schuld.

Ich muß unbedingt, unbedingt den Schritt tun, aber ich kann nicht, ich kann nicht, dachte Pierre und sprach wieder von etwas Nebensächlichem, von Sergej Kusmitsch, und fragte, worin eigentlich diese Anekdote bestehe, er habe das vorhin nicht gehört. Helene antwortete ihm lächelnd, sie wisse das ebenfalls nicht.

Als Fürst Wassilij in den großen Salon zurückkehrte, unterhielt sich die Fürstin gerade mit einer älteren Dame über Pierre.

»Natürlich, c’est un parti très brillant, mais le bonheur, ma chère …«

»Les mariages se font dans les cieux«, erwiderte die ältere Dame.

Fürst Wassilij ging vorüber, als hätte er das Gespräch der beiden Damen nicht gehört, und setzte sich in einer entfernten Ecke auf ein Sofa. Er schloß die Augen, als wolle er ein wenig schlummern. Da fiel sein Kopf nach vorn über, und er schlug die Augen wieder auf.

»Aline«, sagte er zu seiner Frau, »sieh, was sie treiben.«

Die Fürstin ging nach der Tür, schritt mit vielsagend gleichgültiger Miene an ihr vorüber und warf einen Blick in den kleinen Salon. Pierre und Helene saßen noch ebenso da und unterhielten sich.

»Noch immer dasselbe«, antwortete sie ihrem Mann.

Fürst Wassilij wurde finster, zog den Mund schief, und über sein Gesicht huschte der ihm eigne, unangenehm rohe Ausdruck. Er gab sich einen Ruck, stand auf, warf den Kopf zurück und ging entschlossen an den Damen vorüber in den kleinen Salon. Mit kleinen, schnellen Schritten eilte er erfreut auf Pierre zu. Sein Gesicht zeigte einen so außerordentlich feierlichen Ausdruck, daß Pierre, als er ihn sah, betroffen aufsprang.

»Gott sei Dank!« sagte er. »Meine Frau hat mir alles gesagt.« Er nahm Pierre in den Arm und in den andern seine Tochter. »Meine liebe Lola! Ich freue mich außerordentlich, außerordentlich.« Seine Stimme fing an zu zittern. »Ich habe schon deinen Vater geliebt, Pierre … sie wird dir eine gute Frau sein … Der Herr segne euch!«

Er umarmte seine Tochter und dann wieder Pierre und küßte ihn mit seinem übelriechenden Mund. Tatsächlich rannen Tränen über seine Backen.

»Fürstin, komm doch mal hierher!« rief er.

Die Fürstin kam herbei und fing ebenfalls an zu weinen. Auch die ältere Dame fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen. Pierre ließ sich küssen und küßte der schönen Helene mehrmals die Hand. Bald darauf ließ man sie wieder allein.

Wahrscheinlich muß das alles so sein und hätte gar nicht anders kommen können, dachte Pierre. Deshalb hat es auch keinen Sinn, sich zu fragen, ob es gut so ist oder nicht. Schön, daß es endlich entschieden ist und die früheren quälenden Zweifel aus der Welt geschafft sind. Pierre hielt schweigend die Hand seiner Braut in der seinen und blickte auf ihren schönen Busen, der sich hob und senkte.

»Helene!« sagte er dann laut, aber schon stockte er wieder.

Bei einer solchen Gelegenheit muß man doch etwas ganz Besonderes sagen, dachte er, konnte aber keineswegs darauf kommen, was man nun gerade in einem solchen Fall sagen müsse. Er sah ihr ins Gesicht. Sie kam näher an ihn heran. Ihr Gesicht war mit einer feinen Röte übergossen.

»Ach, nehmen Sie doch dieses … dieses Ding da … ab«, sie zeigte auf seine Brille.

Pierre nahm die Brille ab, und seine Augen zeigten einen erschrocken fragenden Ausdruck, ganz abgesehen von dem sonderbaren Aussehen, das Leuten, die ihre Brille abnehmen, allgemein zu eigen ist. Er wollte sich zu ihrer Hand hinabbeugen und sie küssen, sie aber fing mit einer raschen, derben Bewegung ihres Kopfes seine Lippen auf und vereinte sie mit den ihren im Kusse. Ihr Gesicht hatte sich ganz verändert, und der unangenehm lüsterne Ausdruck ihrer Züge setzte Pierre in Erstaunen.

Nun ist es zu spät, alles ist abgemacht, und ich liebe sie ja auch, dachte Pierre. »Je vous aime!« sagte er, sich daran erinnernd, was man bei solchen Gelegenheiten zu sagen hat, aber diese Worte klangen so armselig, daß er sich selber ihrer schämte.

Nach anderthalb Monaten war er getraut und siedelte nun als glücklicher Besitzer einer bildschönen jungen Frau und vieler Millionen, wie die Leute sagten, in das große, neuhergerichtete Petersburger Haus des Grafen Besuchow über.

3

Im November des Jahres 1805 erhielt der alte Fürst Nikolaj Andrejewitsch Bolkonskij einen Brief vom Fürsten Wassilij, worin ihm dieser seine und seines Sohnes Ankunft mitteilte. »Ich fahre zur Revision und werde selbstverständlich diesen Umweg von hundert Werst nicht scheuen, um Sie, meinen hochverehrten Wohltäter, einmal zu besuchen«, schrieb er. »Mein Anatol begleitet mich. Er zieht ins Feld, und ich hoffe, Sie werden ihm erlauben, daß er Ihnen persönlich die tiefe Ehrfurcht bezeugt, die er ganz wie sein Vater für Sie hegt.«

»Marie braucht gar nicht ausgeführt zu werden, die Freier kommen ganz von selber ins Haus«, sagte die kleine Fürstin vorwitzig, als sie es gehört hatte. Fürst Nikolaj Andrejewitsch runzelte die Brauen, sagte aber kein Wort darauf.

Vierzehn Tage nach Ankunft dieses Briefes langte gegen Abend die Dienerschaft des Fürsten Wassilij an. Am anderen Tag kam er dann selber mit seinem Sohn.

Der alte Bolkonskij hatte vom Charakter des Fürsten Wassilij niemals eine allzu hohe Meinung gehabt, um so weniger, als dieser es in letzter Zeit unter der neuen Regierung Kaiser Pauls und Kaiser Alexanders zu hohen Ehren und Würden gebracht hatte. Jetzt, als ihm aus den Anspielungen des Briefes und der kleinen Fürstin klar geworden war, worum es sich handelte, steigerte sich diese an und für sich schon nicht allzu hohe Meinung vom Fürsten Wassilij in seiner Seele bis zu einem Gefühl feindseliger Verachtung, so daß er immer anfing zu fauchen, wenn er von ihm sprach.

An jenem Tag nun, als Fürst Wassilij kommen sollte, war Fürst Nikolaj Andrejewitsch besonders brummig und schlechter Laune. War er nun schlechter Laune, weil Fürst Wassilij kommen sollte, oder ärgerte er sich nur besonders über Fürst Wassilijs Ankunft, weil er sowieso verstimmt war – das eine stand fest: er war eben schlechter Laune, und Tichon hatte bereits am Morgen dem Architekten abgeraten, dem Fürsten heute mit einem Bericht zu kommen.

»Hören Sie nur, wie er geht«, sagte Tichon und machte den Baumeister auf den Klang der Schritte des Fürsten aufmerksam. »Mit der ganzen Ferse stampft er auf …, da wissen wir schon …«

Gegen neun Uhr kam der Fürst in seinem Samtpelz mit dem Zobelkragen und einer ebensolchen Mütze heraus, um wie gewöhnlich spazierenzugehen. Es hatte die ganze Nacht geschneit.

Der schmale Weg, auf dem Fürst Nikolaj Andrejewitsch nach seiner Orangerie zu gehen pflegte, war sauber gefegt, man sah noch die Spuren des Besens auf dem beiseitegekehrten Schnee, und eine Schaufel steckte in dem Schneewall, der den Fußpfad auf beiden Seiten einfaßte. Der Fürst ging durch die Orangerie, durch das Gesindehaus, durch den Neubau, immer in finsteres Schweigen gehüllt.

»Kann man schon Schlitten fahren?« fragte er den Verwalter Alpatytsch, der ihn ehrerbietig bis zum Hause geleitete und seinem Herrn im Äußeren und seiner ganzen Art ziemlich ähnlich war.

»Der Schnee liegt schon hoch, Durchlaucht. Ich habe bereits die Allee fegen lassen.«

Der Fürst senkte den Kopf und trat auf die Freitreppe. Gott sei Dank, dachte der Verwalter. Nun ist das Gewitter vorübergezogen.

»Sonst hätte man schwer einfahren können, Durchlaucht«, setzte der Verwalter hinzu. »Wie ich gehört habe, soll doch heute der Herr Minister geruhen, zu Euer Durchlaucht …«

Der Fürst wandte sich jäh nach dem Verwalter um und heftete seinen finsteren Blick fest auf ihn.

»Was? Ein Minister? Was für ein Minister denn? Wer hat das befohlen?« schrie er mit seiner rauhen, schneidenden Stimme. »Für die Prinzessin, meine Tochter, wird nicht gefegt, aber für diesen Minister natürlich! Ich habe mit Ministern nichts zu tun!«

»Durchlaucht, ich dachte nur …«

»Du dachtest«, schrie der Fürst und stieß die Worte immer hastiger und unzusammenhängender hervor. »Du dachtest … Ihr Gauner! Ihr Halunken! Ich werde dich denken lehren!« Und er hob seinen Stock auf, schwang ihn über den Verwalter und hätte ihn sicherlich geschlagen, wenn dieser nicht unwillkürlich ausgewichen wäre. »Gedacht hat er … der Spitzbube!« schrie er wütend. Obwohl der Verwalter, selber über seine Kühnheit, dem Schlag auszuweichen, erschrocken, sich dem Fürsten wieder näherte und ergeben sein kahles Haupt vor ihm neigte, oder vielleicht eben gerade deswegen, hob der Fürst den Stock nicht noch einmal auf, sondern lief in sein Zimmer und schrie nur immer: »Halunken! … den Weg zuschütten … zuschütten!«

Vor dem Mittagessen standen die Prinzessin und Mademoiselle Bourienne, die wußten, daß der Fürst schlechte Laune hatte, zusammen im Zimmer und warteten auf ihn: Mademoiselle Bourienne mit strahlendem Gesicht, auf dem geschrieben stand: Ich weiß von nichts, ich bin so, wie ich immer bin, Prinzessin Marja bleich und erschrocken, mit niedergeschlagenen Augen. Das Bedrückendste für Prinzessin Marja war, daß sie wohl wußte: man mußte sich in solchen Fällen so benehmen wie Mademoiselle Bourienne; das aber brachte sie niemals fertig. Sie dachte: Stelle ich mich so, als ob ich es nicht bemerkte, dann denkt er, ich hätte kein Mitgefühl mit ihm; zeige ich mich aber ärgerlich und schlechter Laune, wird er wie immer sagen, ich ließe ja stets gleich den Kopf hängen.

Der Fürst blickte in das erschrockene Gesicht seiner Tochter und fauchte sie an.

»Dumme Gans!« brummte er.

Und die andere ist gar nicht da. Die haben sie auch schon aufgehetzt, dachte er in bezug auf die kleine Fürstin, die nicht im Speisezimmer anwesend war.

»Wo ist die Fürstin?« fragte er. »Versteckt sie sich?«

»Sie fühlt sich nicht ganz wohl«, erwiderte Mademoiselle Bourienne mit einem heiteren Lächeln. »Sie möchte deshalb ihr Zimmer nicht verlassen. Das ist doch sehr begreiflich in ihrer Lage.«

»Hm! Hm! Kch! Kch!« knurrte der Fürst und setzte sich an den Tisch.

Der Teller kam ihm nicht ganz sauber vor; er zeigte auf den Fleck und schleuderte den Teller beiseite. Tichon fing ihn auf und reichte ihn dem Büfettdiener.

Die kleine Fürstin fühlte sich durchaus nicht unwohl, aber sie hatte eine so unüberwindliche Furcht vor dem Fürsten, daß sie, als sie gehört hatte, er sei schlechter Laune, zu dem Entschluß gekommen war, auf ihrem Zimmer zu bleiben.

»Ich habe nur Angst um das Kind«, hatte sie zu Mademoiselle Bourienne gesagt. »Weiß der liebe Gott, was durch Schreck alles geschehen kann.«

Überhaupt lebte die Fürstin in Lysyja-Gory ständig unter dem Druck einer ängstlichen Abneigung gegen den alten Fürsten, die ihr aber nicht zum Bewußtsein kam, weil sie ganz von Furcht überwuchert wurde, so daß sie sich über dieses Gefühl nicht recht klar werden konnte. Der Fürst empfand ebenfalls eine Abneigung gegen sie, die aber gänzlich durch Verachtung erstickt wurde. Die Fürstin hatte, nachdem sie in Lysyja-Gory etwas heimisch geworden war, ganz besonders Mademoiselle Bourienne in ihr Herz geschlossen, verbrachte ganze Tage mit ihr, bat sie, in ihrem Zimmer zu schlafen, und sprach oft mit ihr über den Schwiegervater, ohne mit ihrem Urteil hinter dem Berge zu halten.

»Il vous arrive du monde, mon prince«, sagte Mademoiselle Bourienne, indem sie ihre weiße Serviette auseinanderfaltete. »Son Excellence le prince Kouraguine avec son fils, à ce que j’ai entendu dire?« fügte sie fragend hinzu.

»Hm … diese Exzellenz ist ein dummer Junge … ich habe ihn schon auf die Schule gebracht«, erwiderte der Fürst gereizt. »Und warum er seinen Sohn mitbringt, ist mir unverständlich. Die Fürstin Lisaweta Karlowna und Prinzessin Marja wissen das vielleicht, ich aber verstehe nicht, warum er ihn mit hierherbringt. Ich brauche ihn nicht.« Und er sah auf seine errötende Tochter. »Bist wohl krank? Hast wohl auch Angst vor diesem Minister, wie ihn dieser Schwätzer, der Alpatytsch, nennt?«

»Nein, mon père.«

Obgleich Mademoiselle Bourienne mit ihrem ersten Gesprächsthema arg danebengetappt war, schwieg sie doch nicht still, sondern schwatzte lustig weiter über die Orangerie und über die Schönheit irgendeiner soeben aufgeblühten Blume, so daß der Fürst nach der Suppe schon ganz besänftigt war.

Nach dem Mittagessen besuchte er seine Schwiegertochter. Die Fürstin saß an einem kleinen Tischchen und schwatzte mit ihrer Zofe Mascha. Als sie den Schwiegervater eintreten sah, wurde sie ganz blaß.

Sie hatte sich sehr verändert. Man konnte sie jetzt eher häßlich als hübsch nennen. Ihre Wangen waren eingefallen, die Lippen hatten sich nach oben gezogen, und ihre Augen lagen in tiefen Höhlen.

»Mir ist zu schwer zumute«, erwiderte sie auf die Frage des Fürsten nach ihrem Befinden.

»Willst du etwas?«

»Nein, merci, mon père.«

»Nun schön, schön.«

Er ging hinaus und trat in das Geschäftszimmer. Hier stand mit gesenktem Kopf der Verwalter Alpatytsch.

»Ist der Weg zugeschüttet?«

»Zu Befehl, Durchlaucht, verzeihen Sie um Gottes willen … es war nur aus Dummheit …«

Der Fürst unterbrach ihn und lachte in seiner unnatürlichen Weise.

»Schon gut, schon gut.«

Er reichte Alpatytsch die Hand, die dieser küßte, und ging in sein Arbeitszimmer.

Gegen Abend kam Fürst Wassilij an. Auf dem »Preschpekt« – so nannte die Dienerschaft den Prospekt oder die Allee – kamen ihm die Kutscher und Lohndiener entgegen und schafften mit viel Geschrei seine Schlitten und Wagen über den absichtlich mit Schnee verschütteten Weg nach dem Flügel hin.

Dem Fürsten Wassilij und Anatol waren getrennte Zimmer angewiesen worden. Anatol hatte den Rock ausgezogen, die Arme in die Seiten gestemmt und saß an einem Tisch, die großen, schönen Augen mit einem Lächeln starr und zerstreut auf eine Ecke dieses Tisches geheftet. Er betrachtete sein ganzes Leben als eine ununterbrochene Kette von Zerstreuungen, die irgend jemand aus irgendeinem Grund immer eigens für ihn in Szene zu setzen habe. In diesem Licht betrachtete er auch jetzt seine Reise zu dem bösen alten Herrn und der reichen häßlichen Erbin. Seiner Ansicht nach konnte diese Sache sehr gut und vergnüglich ausgehen. Warum soll ich sie denn nicht heiraten, wenn sie doch so reich ist? Das stört ja weiter nicht, dachte Anatol.

Er rasierte und parfümierte sich in der eleganten, stutzerhaften Art, die ihm zur Gewohnheit geworden war, und trat, den schönen Kopf hoch aufgerichtet, mit der ihm angeborenen gutmütigen und siegesbewußten Miene in das Zimmer seines Vaters. Zwei Kammerdiener waren eifrig damit beschäftigt, den Fürsten Wassilij anzukleiden, er selber sah sich lebhaft um und nickte dem eintretenden Sohn vergnügt zu, als wollte er zu ihm sagen: Recht so! So will ich dich haben!

»Hör mal, Vater, Scherz beiseite, ist sie wirklich so häßlich? Was?« fragte er wie in Fortsetzung eines Gespräches, das sie unterwegs oft geführt hatten.

»Sei still! Das sind ja nur Dummheiten! Die Hauptsache ist: bemühe dich, dem alten Fürsten gegenüber ehrerbietig und vernünftig zu sein.«

»Wenn er anfängt zu schimpfen, laufe ich fort«, sagte Anatol. »Ich kann diese alten Rauhbeine nicht ausstehen.«

»Denke daran, daß davon dein Schicksal abhängt.«

Indessen war im Mädchenzimmer nicht nur die Ankunft des Ministers mit seinem Sohn bekannt geworden, sondern es war auch bereits das Äußere der beiden bis in alle Einzelheiten beschrieben worden. Prinzessin Marja saß allein in ihrem Zimmer und versuchte vergeblich, ihrer inneren Erregung Herr zu werden. Warum hat man mir das geschrieben, warum hat Lisa mit mir darüber gesprochen? Das kann doch nicht sein! sagte sie zu sich selber und betrachtete sich im Spiegel. Wie soll ich nur in den Salon hineingehen? Selbst wenn er mir gefiele, könnte ich jetzt ihm gegenüber doch nicht so sein, wie ich wirklich bin. Und schon der Gedanke an den Blick ihres Vaters jagte ihr Schrecken ein.

Die kleine Fürstin und Mademoiselle Bourienne hatten von ihrer Zofe Mascha schon alle nötigen Einzelheiten erfahren: was für ein frischer, hübscher junger Mann mit dunklen Augenbrauen der Ministersohn sei, wie sein Papa nur mühsam die Treppe heraufgekommen sei, während er leichtfüßig, immer drei Stufen auf einmal nehmend, nur so heraufgeflogen sei. Nachdem sie diese Kunde erhalten hatten, begaben sich die kleine Fürstin und Mademoiselle Bourienne ins Zimmer der Prinzessin, und ihre lebhaft erregten Stimmen waren schon vom Korridor aus zu hören.

»Ils sont arrivés, Marie, wissen Sie es schon?« rief die kleine Fürstin, eilte mit ihrem schwankenden Gang herbei und ließ sich schwerfällig auf einen Sessel nieder. Sie war nicht mehr in der Bluse wie am Morgen, sondern hatte ihr bestes Kleid angezogen. Ihr Haar war sorgfältig frisiert und ihr Gesicht heiter und lebhaft, was jedoch über ihre eingesunkenen und welk gewordenen Züge nicht hinwegtäuschen konnte. In dieser gewählten Toilette, in der sie sich gewöhnlich in Petersburger Gesellschaften gezeigt hatte, trat noch deutlicher zutage, wie häßlich sie geworden war. Auch an Mademoiselle Bourienne bemerkte man eine gewisse Vervollkommnung ihres Anzuges, die ihr hübsches, frisches Gesicht noch anziehender erscheinen ließ.

»Eh bien, et vous restez comme vous êtes, chère princesse?« fing sie an. »Gleich wird man melden, daß die Herren im Salon sind, wir werden hinuntergehen müssen, und Sie haben noch nicht ein bißchen Toilette gemacht!«

Die kleine Fürstin stand vom Sessel auf, klingelte nach der Zofe und fing eilig und vergnügt an, Vorschläge zu machen, was Prinzessin Marja wohl anziehen könne, und half ihr, diese zur Ausführung zu bringen. Prinzessin Marja fühlte sich im Bewußtsein ihrer eignen Würde gekränkt, weil das Kommen des ihr angekündigten Bewerbers sie so sehr in Erregung versetzte, und noch mehr darüber, daß ihre beiden Freundinnen dies für etwas ganz Selbstverständliches ansahen. Hätte sie ihnen aber gesagt, wie sehr sie sich selbst und auch ihretwegen schämte, so hätte sie dadurch ihre Erregung verraten; hätte sie sich gegen den Putz, den man ihr vorschlug, gesträubt, so hätte sie damit nur ein weiteres Necken heraufbeschworen. Sie wurde über und über rot, ihre schönen Augen trübten sich und ihr Gesicht bekam Flecken und jenen unschönen Ausdruck eines Opfertiers, den es häufig zu tragen pflegte. Widerstandslos überließ sie sich Mademoiselle Bouriennes und Lisas Händen. Diese beiden Frauen mühten sich ganz ernsthaft damit ab, sie so hübsch wie nur möglich zu machen. Da Prinzessin Marja so häßlich war, daß keiner der beiden anderen der Gedanke auch nur in den Kopf kam, sie könne eine von ihnen ausstechen, so bemühten sie sich vollkommen aufrichtig um ihre Toilette mit jener naiven, festen, weiblichen Überzeugung, daß der Anzug ein Gesicht schön machen könne.

»Nein wirklich, ma bonne amie, das Kleid ist nicht hübsch«, sagte Lisa und musterte die Prinzessin von weitem von der Seite. »Du hast doch ein zimtfarbenes, laß dir das doch bringen. Wirklich! Was willst du denn, vielleicht entscheidet das dein ganzes Schicksal. Aber dieses Kleid hier ist zu hell, das ist nicht hübsch, nein.«

Aber es war nicht das Kleid, was nicht hübsch war, sondern das Gesicht und die ganze Gestalt der Prinzessin, doch das fühlte weder Mademoiselle Bourienne noch die kleine Fürstin: sie glaubten beide, daß alles gut und schön sein würde, wenn sie nur ein blaues Band in das hochgekämmte Haar flöchten, eine blaue Schärpe um das zimtfarbene Kleid schlängen und so weiter, und so weiter. Sie dachten nicht daran, daß sie dadurch das erschrockene Gesicht und die ganze Gestalt der Prinzessin doch nicht ummodeln konnten, und wenn sie auch den Rahmen und Schmuck dieses Gesichtes noch so sehr veränderten, das Gesicht selber blieb doch immer kläglich und häßlich. Nach zwei- oder dreimaligem Umziehen, dem sich Prinzessin Marja ergeben unterwarf, stand sie endlich mit hochgekämmtem Haar – einer Frisur, die ihr Gesicht völlig veränderte und sie ganz entstellte – und der blauen Schärpe in dem zimtfarbenen Kleid vor der kleinen Fürstin da. Diese ging ein paarmal um sie herum, zupfte mit ihren kleinen Händen hier und da eine Falte zurecht, legte die Schärpe gerade und betrachtete sie mit vorgeneigtem Kopf bald von der einen, bald von der anderen Seite.

»Nein, so geht das nicht«, sagte sie endlich in aller Entschiedenheit und klappte die Hände zusammen. »Non, Marie, décidément ça ne vous va pas. Ich sehe dich viel lieber in deinem einfachen grauen Alltagskleid. Non, de grâce, faites cela pour moi. Katja«, rief sie der Zofe zu, »bring das graue Kleid. Sie werden sehen, Mademoiselle Bourienne, was ich daraus machen werde«, sagte sie lächelnd im Vorgeschmack ihrer Künstlerfreude.

Aber als Katja das gewünschte Kleid brachte, saß Prinzessin Marja starr vor dem Spiegel, blickte in ihr Gesicht, und Katja sah, daß in ihren Augen Tränen standen und ihr Mund zitterte, als wolle sie anfangen zu schluchzen.

»Voyons, chère princesse«, sagte Mademoiselle Bourienne, »nur noch einen letzten Anlauf.«

Die kleine Fürstin nahm der Zofe das Kleid ab und trat auf Prinzessin Marja zu.

»Nein, jetzt halten wir das ganz schlicht und lieb«, sagte sie.

Die Stimmen von ihr, Mademoiselle Bourienne und Katja, die über alles lachte, flossen zu einem lustigen Einklang zusammen, ähnlich einem Vogelgezwitscher.

»Non, laissez-moi!« bat Prinzessin Marja.

Und aus ihrer Stimme tönte so viel Ernst und Qual, daß das Vogelgezwitscher augenblicklich verstummte. Sie sahen, wie ihre großen, schönen Augen, gedankenschwer und voll Tränen, sie klar und bittend anblickten, und verstanden, daß alles weitere Zureden zwecklos und sogar grausam wäre.

»So ändere wenigstens die Frisur«, sagte die kleine Fürstin. »Ich habe es Ihnen gleich gesagt«, fügte sie mit einem Vorwurf zu Mademoiselle Bourienne gewandt hinzu. »Marie hat ein Gesicht, zu dem diese Art von Frisur durchaus nicht paßt. Mais du tout, du tout! Changez de grâce!«

»Laissez-moi, laissez-moi, das ist mir ja alles ganz gleichgültig«, erwiderte Prinzessin Marja mit einer Stimme, der man die verhaltenen Tränen anhörte.

Mademoiselle Bourienne und die kleine Fürstin mußten sich selber eingestehen, daß Prinzessin Marja in diesem Aufzug sehr häßlich aussah, häßlicher als gewöhnlich, aber es war bereits zu spät. Sie sah sie mit jenem Ausdruck an, den sie so wohl an ihr kannten, mit dieser gedankenschweren, wehmütigen Miene. Doch dieser Ausdruck erweckte in ihnen keine Furcht vor Prinzessin Marja – ein solches Gefühl flößte sie niemandem ein –, aber sie wußten, daß, wenn sich dies auf ihrem Gesicht zeigte, sie stumm und unerschütterlich auf ihren Entschlüssen beharrte.

»Du wirst sie ändern, nicht wahr?« sagte Lisa und verließ, als Prinzessin Marja keine Antwort gab, das Zimmer.

Prinzessin Marja blieb allein. Sie erfüllte Lisas Wunsch nicht und ließ nicht nur ihre Frisur so, wie sie war, sondern sah nicht einmal mehr in den Spiegel. Erschöpft schlug sie die Augen nieder und ließ die Hände sinken, setzte sich still hin und dachte nach. Sie träumte von dem Mann, einem starken, alles überwindenden Mann, der sie auf ganz unbegreifliche Weise anzog und plötzlich in seine eigne, ihr ganz fremde, glückliche Welt hinübertragen sollte. Und sie stellte sich vor, wie ein solches Kindchen, wie sie es gestern bei der Tochter ihrer Amme gesehen hatte, als ihr eigenes an ihrer eigenen Brust liegen würde. Und der Mann stand neben ihr und blickte zärtlich bald auf sie, bald auf das Kindchen. Nein, nein, das ist unmöglich; ich bin zu häßlich, dachte sie.

»Der Teetisch ist fertig. Seine Durchlaucht werden sogleich erscheinen«, meldete an der Tür das Stubenmädchen.

Die Prinzessin kam zu sich und erschrak über das, woran sie soeben gedacht hatte. Sie erhob sich, trat aber, ehe sie hinunterging, noch einmal vor den Schrein, heftete den Blick auf das von einem Lämpchen erleuchtete, rauchgeschwärzte Gesicht des großen Erlöserbildes und blieb mit gefalteten Händen ein paar Augenblicke vor ihm stehen. Prinzessin Marjas Seele erfüllten quälende Zweifel. Waren für sie die Freuden der Liebe, der irdischen Liebe zu einem Mann, überhaupt möglich? Wenn sie an eine Ehe dachte, träumte sie wohl auch von Familienglück und von Kindern, aber das, was sie hauptsächlich und am stärksten und geheimsten beschäftigte, war doch der Gedanke an die Liebe eines Mannes. Und je mehr sie sich bemühte, diese Gedanken vor allen anderen, ja sogar vor sich selber zu verbergen, um so häufiger kamen sie ihr. Mein Gott, betete sie, wie kann ich nur in meinem Herzen diese Eingebungen des Teufels ersticken? Wie kann ich nur auf immer diese sündhaften Gedanken loswerden, um in Frieden deinen Willen zu erfüllen? Aber kaum hatte sie diese Frage gestellt, als ihr Gott schon die Antwort in ihrem eigenen Herzen eingab: Wünsche nichts für dich selbst, suche nicht, errege dich nicht und sei nicht neidisch. Die Zukunft der Menschen und dein eignes Schicksal sollen dir unbekannt bleiben, aber lebe so, daß du immer zu allem bereit bist. Wenn es Gott gefallen sollte, dir die Pflichten einer Ehe aufzuerlegen, so sei bereit, seinen Willen zu erfüllen. Bei diesem beruhigenden Gedanken – aber immerhin in der Hoffnung auf Erfüllung ihrer unerlaubten irdischen Träume – seufzte Prinzessin Marja tief auf, bekreuzigte sich und ging dann hinunter, ohne an ihr Kleid oder ihre Frisur oder daran zu denken, wie sie eintreten und was sie sagen sollte. Wie nichtig war doch das alles im Vergleich mit der Vorsehung Gottes, ohne dessen Willen kein Haar vom Kopf eines Menschen fällt.

4

Als Prinzessin Marja eintrat, saß Fürst Wassilij mit seinem Sohn bereits im Salon und unterhielt sich mit der kleinen Fürstin und Mademoiselle Bourienne. Mit ihrem schweren Gang, den ganzen Fuß mit der Ferse aufsetzend, ging Prinzessin Marja durchs Zimmer. Die Herren und Mademoiselle Bourienne standen auf, und die kleine Fürstin wies mit der Hand auf ihre Schwägerin und sagte zu den Gästen: »Da ist Marie.«

Prinzessin Marja sah alle an und beobachtete alles genau. Sie betrachtete das Gesicht des Fürsten Wassilij, das bei ihrem Anblick einen Augenblick ernsthaft geworden war, dann aber gleich wieder lächelte, beobachtete, wie die kleine Fürstin neugierig auf den Gesichtern der Gäste den Eindruck festzustellen suchte, den Marie hervorbrachte. Sie sah Mademoiselle Bourienne mit ihrem Band und dem hübschen Gesicht, den Blick so angeregt wie noch nie auf ihn gerichtet, ihn aber konnte sie nicht sehen: sie sah nur etwas Großes, Helles und Schönes, das auf sie zukam, als sie ins Zimmer trat. Zuerst kam Fürst Wassilij zu ihr heran, und sie küßte seinen kahlen Kopf, der sich über ihre Hand beugte, und antwortete ihm auf seine Frage, daß sie sich ganz im Gegenteil noch sehr gut auf ihn besinnen könne. Dann trat Anatol auf sie zu. Sie sah ihn noch immer nicht, fühlte nur eine weiche Hand, die fest die ihrige ergriff, und berührte kaum seine weiße Stirn unter dem prachtvollen, blonden, pomadisierten Haar. Als sie ihn dann endlich ansah, setzte seine Schönheit sie in Erstaunen. Anatol hatte den Daumen der rechten Hand hinter einen Knopf seines geschlossenen Uniformrockes gesteckt, die Brust herausgereckt und den Rücken geradegerichtet, wiegte sich, den Kopf leicht zur Seite geneigt, auf dem einen nach hinten gestellten Bein und sah die Prinzessin schweigend und heiter an, anscheinend ohne überhaupt an sie zu denken. Anatol war nicht gerade gewandt und schnell in der Unterhaltung, aber er besaß die in der großen Welt kostbare Gabe eines ruhigen, unerschütterlichen Selbstvertrauens. Wenn ein Mensch mit mangelndem Selbstvertrauen bei einem ersten Bekanntwerden schweigt und das Bewußtsein der Ungeschicklichkeit dieses Schweigens und den Wunsch, irgendein Gesprächsthema zu finden, verrät, so gibt er sich dadurch eine Blöße. Anatol aber schwieg, wiegte sich leicht hin und her und betrachtete belustigt die Frisur der Prinzessin. Man sah deutlich, daß er noch lange mit derselben Ruhe hätte schweigen können. Wenn jemand dieses Schweigen peinlich ist, so kann er ja reden, ich habe keine Lust dazu, schien seine Miene zu sagen. Außerdem pflegte Anatol mit Frauen immer in einer Art umzugehen, die jenen stets Neugier, Furcht und sogar Liebe einflößte: er behandelte sie geringschätzig aus dem Bewußtsein seiner eignen Überlegenheit heraus. Es war, als wollte seine Miene sagen: Ich kenne euch, kenne euch, wozu sich da mit euch abgeben? Euch würde es natürlich freuen, wenn ich es täte! Möglicherweise dachte er das gar nicht, wenn er mit Frauen zusammenkam – und das war sogar anzunehmen, weil er überhaupt wenig dachte –, aber er sah nun einmal so aus und benahm sich so. Die Prinzessin merkte das gleich, und da sie ihm zeigen wollte, daß sie gar nicht daran zu denken wagte, ihn in Anspruch zu nehmen, wandte sie sich wieder dem alten Fürsten zu.

Die Unterhaltung wurde allgemein und sehr angeregt, dank dem frischen Stimmchen der kleinen Fürstin und ihrer Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen, die beim Heraufziehen die weißen Zähne sehen ließ. Sie empfing Fürst Wassilij in jenem scherzhaften Ton, dessen sich plauderlustige Leute oft zu bedienen pflegen, deren ganzer Trick nur darin besteht, daß sie zwischen dem Menschen, an den sie sich so wenden, und sich selber irgendwelche schon lange bestehenden Neckereien und lustige, zum Teil nicht allen bekannte, drollige Erinnerungen vermuten lassen, während solche in Wirklichkeit keineswegs vorhanden sind. Obwohl es nun auch zwischen dem Fürsten Wassilij und der kleinen Fürstin keinerlei solche Erinnerungen gab, stimmte Fürst Wassilij doch gern in diesen Ton ein, und die kleine Fürstin verknüpfte diese Erinnerungen mit spaßigen Geschehnissen, die sich niemals ereignet hatten, und zog selbst Anatol mit in diese Plaudereien hinein, den sie doch kaum kannte. Auch Mademoiselle Bourienne nahm an diesen allgemeinen Erinnerungen teil, und sogar Prinzessin Marja fühlte sich mit Vergnügen in dieses lustige Erinnern mit hineingezogen.

»Wenigstens können wir Sie hier einmal völlig genießen, lieber Fürst«, sagte die kleine Fürstin zu Fürst Wassilij, natürlich auf französisch. »Hier ist es nicht so wie bei den Abendgesellschaften Annettes, wo Sie sich immer so rar machten. Wissen Sie noch, cette chère Annette?«

»Ja, Sie quälen mich aber auch nicht so mit Politik wie Annette!«

»Und wissen Sie noch, unser Teetisch?«

»O ja!«

»Warum waren Sie niemals bei Annette?« fragte die kleine Fürstin Anatol. »Doch ich weiß ja, ich weiß«, fügte sie, sich plötzlich erinnernd, hinzu. »Ihr Bruder Hippolyt hat mir ja von Ihnen erzählt. Oh!« Und sie drohte ihm mit dem Finger. »Schon in Paris! Ich weiß, weiß von Ihren Streichen.«

»Aber er, Hippolyt, hat dir das wohl nicht erzählt?« sagte Fürst Wassilij, zu seinem Sohn gewandt, und faßte die kleine Fürstin dabei an der Hand, als könne sie ihm entschlüpfen und er sie nur mit Mühe festhalten. »Das hat er dir wohl nicht erzählt, wie er selber, der Hippolyt, zu Füßen unserer lieben Fürstin hier geschmachtet hat und wie sie le mettait à la porte? Oh, c’est la perle des femmes, princesse!« wandte er sich an Prinzessin Marja.

Als das Wort Paris fiel, versäumte wiederum Mademoiselle Bourienne nicht die Gelegenheit, sich ebenfalls in das allgemeine Erinnerungsgespräch einzumischen.

Sie erlaubte sich die Frage, ob es schon lange her sei, daß Anatol in Paris gewesen sei, und wie ihm diese Stadt gefallen habe. Anatol antwortete der kleinen Französin sehr bereitwillig, sah sie lächelnd an und unterhielt sich mit ihr über ihr Vaterland. Nachdem er die hübsche Bourienne gesehen hatte, war er ganz entschieden zu der Ansicht gekommen, daß es hier in Lysyja-Gory gar nicht so langweilig werden würde. Nicht übel, dachte er, indem er sie betrachtete, diese demoiselle de compagnie ist wirklich gar nicht übel. Hoffentlich nimmt sie die mit, wenn wir heiraten, la petite est gentille.

Der alte Fürst nahm sich in seinem Zimmer lange Zeit zum Anziehen, machte ein finsteres Gesicht und überlegte, was er tun solle. Die Ankunft dieser Gäste ärgerte ihn. »Was geht mich dieser Fürst Wassilij und sein Früchtchen von Sohn an? Der Alte ist ein Prahlhans, ein ganz hohler Mensch, na, und der Junge wird wohl auch nicht viel besser sein«, brummte er vor sich hin. Es ärgerte ihn, daß die Ankunft dieser Gäste in seiner Seele eine noch unentschiedene, immer wieder unterdrückte Frage aufleben ließ, eine Frage, über die sich der alte Fürst bisher immer noch hinweggetäuscht hatte. Es war die Frage, ob er sich jemals dazu entschließen könne, sich von Prinzessin Marja zu trennen und sie zu verheiraten. Der Fürst hatte sich niemals dazu aufraffen können, sich offen diese Frage vorzulegen, da er im voraus wußte, daß er sie nur gerecht beantworten würde, aber gerade eben diese gerechte Antwort stand in Widerspruch zu seinem Gefühl und mehr noch zu allen seinen Lebensgewohnheiten. Nikolaj Andrejewitsch konnte sich ein Leben ohne Prinzessin Marja, obwohl er sie scheinbar nur wenig schätzte, überhaupt nicht vorstellen. Und wozu soll sie heiraten? dachte er. Sie wird ja doch nur unglücklich werden. Lisa und Andrej zum Beispiel – und einen besseren Mann kann man doch wohl schwerlich finden –, sind die etwa mit ihrem Schicksal zufrieden? Und wer soll sie denn aus Liebe nehmen? So häßlich und ungeschickt, wie sie ist? Die wird doch nur der Verbindungen, nur des Geldes wegen geheiratet. Leben denn andre nicht auch als alte Jungfern? Und noch glücklicher dazu? So dachte Nikolaj Andrejewitsch, während er sich anzog, und dabei verlangte doch die immer wieder hinausgeschobene Frage eine augenblickliche Entscheidung. Fürst Wassilij hatte doch offenbar seinen Sohn in der Absicht mit hierhergebracht, daß dieser einen Antrag machen sollte, und verlangte nun aller Wahrscheinlichkeit nach schon heute oder morgen eine offene Antwort. Sein Name und seine Stellung in der Welt waren allerdings angemessen. Ach was, ich bin nicht dagegen, sagte der Fürst zu sich selber. Aber er muß ihrer auch wert sein. Und das wollen wir erst einmal sehen. »Das wollen wir doch erst einmal sehen!« sagte er laut. »Das wollen wir erst einmal sehen.«

Und mit rüstigen Schritten, wie immer, ging er in den Salon, streifte alle mit einem schnellen Blick, bemerkte das neue Kleid der jungen Fürstin und das Band bei Mademoiselle Bourienne, sah Prinzessin Marjas unvorteilhafte Frisur, beobachtete, wie die Bourienne und Anatol sich anlächelten und daß Prinzessin Marja inmitten des allgemeinen Gesprächs ganz einsam dasaß. Angeafft hat sie sich wie eine Verrückte! dachte er und warf seiner Tochter einen feindseligen Blick zu. Ob sie sich nicht schämt, und er will gar nichts von ihr wissen!

Er trat auf den Fürsten Wassilij zu.

»Nun willkommen, willkommen. Freue mich, dich zu sehen.«

»Um eines lieben Freundes willen ist ein Umweg von sieben Werst nicht zu weit«, erwiderte Fürst Wassilij in seiner schnellen, selbstbewußten und vertraulichen Art wie immer. »Hier ist mein zweiter Sohn, ich bitte dich, ihn wohlwollend in dein Herz zu schließen.«

Fürst Nikolaj Andrejewitsch sah Anatol an.

»Ein forscher Junge, ein forscher Junge!« sagte er. »Na, komm her und gib mir einen Kuß.« Und er hielt ihm die Backe hin.

Anatol küßte den Alten und sah ihn neugierig, aber vollkommen ruhig an, als warte er darauf, daß nun bald die Wunderlichkeiten zutage treten sollten, auf die ihn der Vater vorbereitet hatte.

Fürst Nikolaj Andrejewitsch setzte sich auf seinen gewohnten platz in der Sofaecke, zog einen Sessel für den Fürsten Wassilij herbei, lud diesen durch eine Handbewegung ein, neben ihm Platz zu nehmen, und fing an, sich mit ihm über Politik und die neuesten Neuigkeiten zu unterhalten. Er tat, als höre er den Worten des Fürsten Wassilij mit größter Aufmerksamkeit zu, beobachtete dabei aber unausgesetzt Prinzessin Marja.

»So hat man also bereits aus Potsdam geschrieben?« wiederholte er die letzten Worte des Fürsten Wassilij, stand aber plötzlich auf und ging auf seine Tochter zu. »Du hast dich wohl für die Gäste so herausgeputzt, was?« fragte er. »Entzückend, wirklich entzückend! Der Gäste wegen hast du dich wohl auch neumodisch frisiert? Ich aber sage dir hier vor allen Gästen, daß du in Zukunft dich nie wieder unterstehen sollst, dich anders anzuziehen, ohne mich vorher zu fragen!«

»Das ist meine Schuld, mon père«, nahm sie die kleine Fürstin errötend in Schutz.

»Sie haben Ihren freien Willen«, sagte Fürst Nikolaj Andrejewitsch und machte vor seiner Schwiegertochter einen Kratzfuß, »sie aber darf sich nicht noch mehr entstellen, sie ist schon so häßlich genug.«

Und er setzte sich wieder auf seinen alten Platz, ohne seine Tochter, die er bis zu Tränen gebracht hatte, nun noch weiter zu beachten.

»Ganz im Gegenteil, diese Frisur steht Prinzessin Marja ausgezeichnet«, bemerkte Fürst Wassilij.

»Na, mein lieber junger Fürst, wie heißt du doch?« sagte Fürst Nikolaj Andrejewitsch und wandte sich zu Anatol. »Komm doch einmal her, wir wollen zusammen plaudern, um uns kennenzulernen.«

Jetzt geht die Komödie los, dachte Anatol und setzte sich mit einem Lächeln neben den alten Herrn.

»Na also, mein Lieber, du bist, wie ich höre, im Ausland erzogen worden? Hast also nicht, wie dein Vater und ich, beim Küster Lesen und Schreiben gelernt? Sag mal, mein Freund, und jetzt stehst du bei der Gardekavallerie?« fragte der Alte und sah Anatol näher und aufmerksamer an.

»Nein, ich bin zur Armee übergetreten«, erwiderte Anatol, der sich kaum das Lachen verbeißen konnte.

»Schön, ausgezeichnet! Du willst also, mein Lieber, dem Zaren und dem Vaterland dienen? Wir haben ja Krieg. Da muß so ein junger, strammer Bursche schon ran, muß dienen. Willst wohl gar zur Front?«

»Nein, Fürst, unser Regiment ist ausgerückt. Ich bin jetzt abkommandiert … Wem bin ich eigentlich zugezählt worden, Papa?« wandte sich Anatol lachend an seinen Vater.

»Das nenne ich Dienst! Großartig! ›Wem bin ich zugezählt worden?‹ Hahaha!« lachte Fürst Nikolaj Andrejewitsch. Anatol stimmte noch lauter in dieses Gelächter ein. Plötzlich wurde Fürst Nikolaj Andrejewitsch wieder finster.

»Na, kannst nun wieder gehen, es ist gut«, sagte er zu Anatol. Anatol gesellte sich lächelnd wieder zu den Damen.

»Du hast deine Kinder also im Ausland erziehen lassen, nicht wahr?« wandte sich der alte Fürst wieder an Fürst Wassilij.

»Ich habe getan, was ich konnte, und ich sage dir, die dortige Erziehung ist allerdings weit besser als die unsrige.«

»Ja, heutzutage ist alles anders, alles neumodisch. Ein forscher Junge, dein Jüngster, ein forscher Junge! Na, komm mit in mein Zimmer.«

Er nahm Fürst Wassilijs Arm und führte ihn in sein Zimmer.

Als dieser sich mit dem alten Fürsten unter vier Augen sah, weihte er ihn sogleich in seine Wünsche und Hoffnungen ein.

»Du denkst wohl«, fuhr ihn der alte Fürst ärgerlich an, »daß ich sie halte, mich nicht von ihr trennen kann? Bilde dir das nur nicht ein«, wiederholte er gereizt. »Meinetwegen morgen schon! Nur das eine sage ich dir: ich will meinen Schwiegersohn erst besser kennen lernen. Du kennst meinen Grundsatz: Immer offen und ehrlich. Ich werde sie morgen in deiner Gegenwart fragen; will sie, dann mag er meinetwegen noch eine Weile hier bleiben. Mag er hier bleiben, dann werde ich ja sehen.« Der Fürst fauchte. »Meinetwegen kann sie ihn heiraten, mir ist das einerlei«, schrie er ebenso scharf und schneidend, wie er beim Abschied von seinem Sohn geschrien hatte.

»Ich sage dir ganz offen«, erwiderte Fürst Wassilij in dem pfiffigen Ton eines Menschen, der von der Zwecklosigkeit, einen scharfsinnigen Gegner überlisten zu wollen, überzeugt ist, »denn du durchschaust ja doch alle Leute, Anatol ist nicht gerade ein Genie, aber ein ehrlicher, guter Junge, ein prächtiger Sohn und Verwandter.«

»Na, schon gut, schon gut. Wir werden ja sehen.«

Wie alle alleinstehenden Frauen, die lange die Gesellschaft eines Mannes entbehrt haben, so fühlten auch die Damen im Hause des Fürsten Nikolaj Andrejewitsch bei Anatols Erscheinen alle drei, daß ihr Leben bisher kein Leben gewesen war. Die Kraft zu denken, zu fühlen und zu beobachten hatte sich augenblicklich bei ihnen allen verzehnfacht. Als hätten sie bisher in tiefer Finsternis zugebracht, so fühlten sie auf einmal ihr ganzes Leben von einem neuen, bedeutungsvollen Licht übergossen.

Prinzessin Marja dachte überhaupt nicht mehr an ihr Gesicht und ihre Frisur. Die hübschen offenen Züge des jungen Menschen, der möglicherweise ihr Gatte werden würde, verschlangen ihre ganze Aufmerksamkeit. Er erschien ihr gutmütig, tapfer, fest, männlich und hochherzig. Davon war sie überzeugt. Tausend Träume von ihrem künftigen Familienleben umgaukelten ständig ihre Sinne. Aber sie verscheuchte sie und bemühte sich, das nicht zu zeigen.

Bin ich auch nicht zu kalt gegen ihn? dachte Prinzessin Marja. Ich bemühe mich, zurückhaltend gegen ihn zu sein, weil ich mich ihm in tiefster Seele schon allzu nah fühle, er aber weiß doch nicht, was ich von ihm denke, und könnte womöglich annehmen, daß ich ihn nicht mag.

Prinzessin Marja bemühte sich, liebenswürdig gegen den neuen Gast zu sein, brachte es aber nicht fertig. La pauvre fille! Sie ist verteufelt häßlich, dachte Anatol von ihr.

Mademoiselle Bourienne jedoch, die ebenfalls durch die Ankunft Anatols in höchste Erregung versetzt war, dachte anders. Als hübsches junges Mädchen ohne feste Stellung in der Welt, ohne Freunde und Verwandte, ja selbst ohne Heimat, hatte sie natürlich nicht die Absicht, ihr ganzes Leben dem Dienst beim Fürsten Nikolaj Andrejewitsch zu weihen, ihm Bücher vorzulesen und der Prinzessin Marja eine Freundin zu sein. Sie lauerte schon lange auf einen russischen Fürsten, der auf den ersten Blick ihre Vorzüge vor den häßlichen, geschmacklos angezogenen und unbeholfenen russischen Fürstinnen zu würdigen verstünde, sich in sie verlieben und sie entführen würde – und nun war dieser russische Fürst auf einmal da. Mademoiselle Bourienne ging immer eine Geschichte im Kopf herum, die sie einmal von einer Tante gehört und zu der sie sich dann selber den Schluß ausgedacht hatte, und diese Geschichte rief sie sich immer wieder mit Vorliebe ins Gedächtnis zurück. Sie handelte davon, wie eine arme Mutter, une pauvre mère, vor ihre verführte Tochter hintrat und ihr darüber Vorwürfe machte, daß sie sich ohne Ehe einem Mann hingegeben habe. Mademoiselle Bourienne wurde oft bis zu Tränen gerührt, wenn sie sich vorstellte, wie sie dann ihm, dem Verführer, diese Geschichte erzählen würde. Und nun war dieser er, ein echt russischer Fürst, auf der Bildfläche erschienen. Er würde sie entführen, dann würde la pauvre mère erscheinen, und dann würde er sie heiraten. So entrollte sich in Mademoiselle Bouriennes Kopf ihre ganze künftige Lebensgeschichte, schon während sie sich mit Anatol über Paris unterhielt. Dabei ließ sie sich nicht etwa durch irgend welche Berechnungen leiten – sie dachte nicht einen Augenblick darüber nach, was sie zu tun habe –, sondern dies alles lag schon lange in ihr bereit und fand jetzt nur auf den soeben erschienenen Anatol Anwendung, und sie hatte den eifrigen Wunsch und das Streben, ihm so gut wie nur möglich zu gefallen.

Die kleine Fürstin aber hatte, ganz wie ein altes Soldatenpferd, wenn es die Trompete hört, ganz unbewußt zum Gewohnheitsgalopp der Koketterie angesetzt, ohne dabei an ihre Lage zu denken und ohne jeden Hintergedanken an eine Nebenbuhlerschaft, nur aus naivem, leichtsinnigem Vergnügen.

Obgleich sich Anatol in Damengesellschaft immer den Anschein gab, als langweilten ihn alle diese ihm nachlaufenden Frauenzimmer, so fühlte er sich doch in seiner Eitelkeit gekitzelt, als er den Eindruck, den er auf diese drei Frauen machte, wahrnahm. Außerdem begann er für die hübsche und herausfordernde Bourienne jenes leidenschaftliche, wilde Gefühl zu empfinden, das oft mit außerordentlicher Schnelligkeit über ihn kam und ihn zu den rohesten und kühnsten Handlungen trieb.

Nach dem Tee begab sich die Gesellschaft in das Diwanzimmer, und man bat die Prinzessin, etwas auf dem Klavier vorzutragen. Anatol stand, die Ellbogen auf den Flügel gestützt, neben Mademoiselle Bourienne, und seine Augen strahlten lachend und heiter Prinzessin Marja an. Diese fühlte in quälender, freudiger Erregung seinen Blick auf sich ruhen. Trug schon ihre Lieblingssonate sie in eine poetische Welt des Empfindens, so steigerte dieser Blick, den sie auf sich ruhen fühlte, dieses poetische Empfinden nur noch mehr. Doch obgleich Anatols Blick auf sie gerichtet war, so bezog er sich doch nicht auf sie, sondern auf Mademoiselle Bourienne, deren Füßchen er gleichzeitig unter dem Flügel mit seinem Fuß berührte. Auch Mademoiselle Bourienne sah Prinzessin Marja an, und in ihren schönen Augen zeigte sich ein der Prinzessin ebenfalls neuer Ausdruck ängstlicher Freude und Hoffnung.

Wie lieb sie mich hat, dachte Prinzessin Marja. Wie glücklich bin ich jetzt, und wie glücklich werde ich sein mit einem solchen Mann und solchen Freunden! Könnte er wirklich mein Mann werden? Und sie wagte nicht ihn anzusehen, fühlte aber immer diesen Blick, der auf sie gerichtet war.

Als man dann abends nach dem Nachtessen auseinanderging, küßte Anatol der Prinzessin die Hand. Sie wußte selber nicht, woher ihr der Mut dazu kam, aber sie schaute ihm gerade in das schöne Gesicht, das ihren kurzsichtigen Augen so nahe war. Dann trat er auf Mademoiselle Bourienne zu und küßte ihr ebenfalls die Hand. Das war zwar nicht ganz passend, aber er tat es vollkommen sicher und einfach. Mademoiselle Bourienne wurde feuerrot und sah erschrocken die Prinzessin an.

Quelle délicatesse, dachte die Prinzessin. Denkt Amélie – so hieß Mademoiselle Bourienne – vielleicht, ich könne auf sie eifersüchtig sein und ihre reine Liebe und Ergebenheit mir gegenüber nicht zu schätzen wissen?

Sie ging auf Mademoiselle Bourienne zu und küßte sie herzlich. Anatol wollte auch der kleinen Fürstin die Hand küssen.

»Non, non, non! Wenn Ihr Vater mir schreibt, daß Sie sich gut geführt haben, dann werde ich Ihnen meine Hand zum Küssen geben. Pas avant.« Und sie drohte ihm lachend mit dem Finger und ging hinaus.

5

Alle gingen auseinander, und alle konnten in dieser Nacht lange nicht einschlafen, außer Anatol, der, wie er sich nur ins Bett gelegt hatte, auch gleich schon eingeschlafen war.

Soll er wirklich mein Mann werden, ausgerechnet dieser fremde, schöne, gute, junge Mensch? Ja, gut ist er, das ist die Hauptsache, dachte Prinzessin Marja, und eine Angst, die sie sonst niemals empfunden hatte, kam über sie. Sie fürchtete sich, sich umzuschauen: ihr war, als stünde dort jemand hinter dem Schirm in der dunklen Ecke. Und dieser Jemand war der Teufel oder er – der junge Mann mit der weißen Stirn, den schwarzen Augenbrauen und dem roten Mund. Sie klingelte nach der Zofe und bat sie, bei ihr im Zimmer zu schlafen.

Mademoiselle Bourienne ging an diesem Abend noch lange im Wintergarten auf und ab und wartete vergeblich auf jemanden. Bald lächelte sie vor sich hin, bald war sie zu Tränen gerührt, wenn sie an die Worte der pauvre mère dachte, die der Tochter über ihren Fall Vorwürfe machte.

Die kleine Fürstin haderte mit ihrer Zofe darüber, daß das Bett schlecht gemacht sei. Sie konnte sich weder auf die Seite noch nach vorn legen. Alles war ihr lästig und schwer. Ihr Leib war ihr unbequem. Sie fühlte das gerade heute mehr denn je, weil die Gegenwart Anatols sie so lebhaft in jene Zeit zurückversetzt hatte, da dies noch nicht gewesen war und sie sich noch leicht und froh gefühlt hatte. Sie saß in ihrer Nachtjacke und Nachthaube im Lehnsessel. Schon zum drittenmal schüttelte und wendete die schlaftrunkene Katja mit halbaufgelösten Zöpfen brummend das schwere Federbett um.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, es ist alles wie Berg und Tal«, behauptete die kleine Fürstin. »Ich wäre doch selber froh, wenn ich einschlafen könnte; ich bin doch nicht schuld daran.« Und ihre Stimme fing an zu zittern wie die eines kleinen Kindes, das zu weinen anfangen will.

Der alte Fürst schlief ebenfalls nicht. Tichon hörte halb im Schlaf, wie er grimmig im Zimmer auf und ab ging und schnaufte. Fürst Nikolaj Andrejewitsch hatte den Eindruck, als wäre er in der Person seiner Tochter beleidigt worden. Und diese Beleidigung war um so größer, weil sie nicht ihn betraf, sondern einen anderen: seine Tochter, die er mehr liebte als sich selbst. Er sagte sich, er werde schon die ganze Sache überlegen und das herausfinden, was gerecht sei und getan werden müsse, statt dessen regte er sich aber nur immer mehr und mehr auf.

»Da erscheint nun der erste beste auf der Bildfläche – und gleich ist der Vater und alles andere vergessen. Sie läuft nach oben, frisiert sich, wedelt mit dem Schwanz und ist nicht wiederzuerkennen. Freut sich, den alten Vater zu verlassen. Und dabei wußte sie doch, daß ich es bemerken würde. Frr… frr… frr…« fauchte er. »Als ob ich nicht sähe, daß dieser Strohkopf nur für die kleine Bourienne Augen hat. Fortjagen müßte man sie! Daß Marja nicht so viel Stolz hat, um das zu verstehen. Und wenn schon nicht um ihretwillen – wenn sie nun einmal keinen Stolz hat –, so dann wenigstens um meinetwillen. Man muß ihr klarmachen, daß dieser Windbeutel gar nicht an sie denkt, sondern immer nur die Bourienne angafft. Sie hat wirklich keinen Stolz, aber ich werde es ihr schon zeigen …«

Der alte Fürst wußte, daß, wenn er Prinzessin Marja sagen würde, daß sie sich täusche und Anatol nur darauf ausgehe, der Bourienne den Hof zu machen, er ihre Eigenliebe reizen und somit gewonnenes Spiel haben würde, das heißt: sein Wunsch, sich nicht von seiner Tochter zu trennen, würde dann in Erfüllung gehen. Deshalb beruhigte er sich ein wenig, rief Tichon und fing an sich auszukleiden.

Die hat der Teufel hierhergeführt! dachte er, während Tichon seinen hageren Greisenkörper, der an der Brust mit grauen Haaren bedeckt war, mit dem Nachthemd bekleidete. Ich habe sie nicht hergerufen. Sie sind nur gekommen, um mir mein Leben zu zerstören. Es ist zwar sowieso nicht mehr viel davon übrig.

Und während man ihm das Nachthemd über den Kopf zog, murmelte er noch: »Der Teufel soll sie holen!«

Tichon kannte diese Gewohnheit des Fürsten, seinen Gedanken manchmal laut Ausdruck zu verleihen, und begegnete deshalb dem ärgerlich fragenden Blick seines nun wieder aus dem Hemd zum Vorschein gekommenen Herrn mit unverändertem Gesichtsausdruck.

»Haben sie sich schlafen gelegt?« fragte der Fürst.

Wie alle guten Diener erriet Tichon instinktmäßig die Gedankenrichtung seines Herrn. Er wußte gleich, daß er nach Fürst Wassilij und dessen Sohn gefragt worden war.

»Die Herrschaften haben sich schlafen gelegt und das Licht ausgelöscht, Durchlaucht.«

»Brauchten gar nicht erst zu kommen«, murmelte der Fürst hastig, fuhr mit den Füßen in die Pantoffel und mit den Armen in den Schlafrock und legte sich dann auf den Diwan, auf dem er schlief.

Obgleich zwischen Anatol und Mademoiselle Bourienne noch kein Wort gefallen war, so hatten sie doch, was den ersten Teil ihres Romans bis zum Erscheinen der pauvre mère anbetrifft, einander vollkommen verstanden, waren sich darüber klargeworden, daß sie sich im geheimen viel zu sagen hatten, und suchten daher gleich früh am Morgen nach einer Gelegenheit, sich unter vier Augen zu sehen. Als nun Prinzessin Marja zur gewohnten Stunde zu ihrem Vater ging, hatten sich Mademoiselle Bourienne und Anatol gerade im Wintergarten getroffen.

An diesem Tag trat Prinzessin Marja mit ganz besonders starkem Herzklopfen in ihres Vaters Zimmer. Es kam ihr vor, als wüßten nicht nur alle bereits, daß sich heute ihr Schicksal entscheiden sollte, sondern auch, wie sie darüber dachte. Das hatte sie aus dem Gesichtsausdruck Tichons gelesen und auch aus dem des Kammerdieners des Fürsten Wassilij, der ihr mit heißem Wasser auf dem Korridor begegnet war und sich tief vor ihr verneigt hatte.

Der Fürst zeigte sich an diesem Morgen in seinem Benehmen der Tochter gegenüber außerordentlich freundlich und zuvorkommend. Diesen Ausdruck des liebevollen Bemühens kannte Prinzessin Marja an ihm nur zu gut. Es war derselbe Ausdruck, der sich auf seinem Gesicht zu zeigen pflegte, wenn sich aus Ärger darüber, daß sie eine arithmetische Aufgabe nicht verstand, seine knochigen Hände zu Fäusten ballten und er aufsprang, von ihr wegging und dann mit sanfter Stimme ein paarmal immer dieselben Worte sprach.

Er steuerte geradewegs auf das Ziel los und eröffnete das Gespräch, indem er seine Tochter mit »Sie« anredete.

»Man hat mir da einen Vorschlag gemacht in bezug auf Sie«, sagte er mit einem unnatürlichen Lächeln. »Ich nehme an, daß Sie bereits erraten haben«, fuhr er fort, »daß Fürst Wassilij mit seinem Zögling« – warum er Anatol einen Zögling nannte, war nicht recht verständlich – »nicht etwa nur meiner schönen Augen wegen hier hergekommen ist. Er hat mir gestern einen Vorschlag gemacht. Aber Sie kennen ja meine Grundsätze: ich lege die Entscheidung in Ihre Hand.«

»Wie soll ich das verstehen, mon père?« erwiderte die Prinzessin und wurde abwechselnd blaß und rot.

»Wie du das verstehen sollst!« schrie der Vater ärgerlich. »Fürst Wassilij will dich zur Schwiegertochter haben und hat für seinen Zögling um deine Hand angehalten. So sollst du das verstehen. Und da fragst du noch: ›Wie soll ich das verstehen?!‹ Ich bin’s, der dich jetzt fragt.«

»Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, mon père«, stammelte die Prinzessin flüsternd.

»Ich? Ich? Was habe ich damit zu tun? Mich lasse man gefälligst beiseite! Ich heirate doch nicht. Aber Sie – es wäre wünschenswert, das zu erfahren.«

Die Prinzessin merkte, daß ihr Vater der Sache nicht wohlwollend gegenüberstand, gleichzeitig kam ihr aber auch der Gedanke, daß sich jetzt oder nie ihr Schicksal entscheiden werde. Sie senkte die Augen, um seinen Blicken nicht zu begegnen, unter deren Einfluß ihr jedes Nachdenken unmöglich war und sie eben nur gewohnheitsgemäß gehorchen konnte, und sagte dann: »Ich habe nur das eine Verlangen: Ihren Willen zu erfüllen. Wenn es aber nötig ist, meine eigenen Wünsche zu äußern …«

Sie sprach nicht zu Ende. Der Fürst unterbrach sie.

»Das ist ja ausgezeichnet«, rief er. »Er nimmt dich samt der Mitgift und erwischt bei der Gelegenheit gleich noch die Bourienne dazu. Die wird dann seine Frau und du …«

Der Fürst hielt inne. Er sah wohl den Eindruck, den diese Worte auf seine Tochter machten. Sie ließ den Kopf hängen und fing beinahe an zu weinen.

»Na, na, ich mache ja nur Spaß«, sagte er. »Denke nur an das eine, Prinzessin: ich halte an dem Grundsatz fest, daß ein Mädchen das volle Recht besitzt, selbst seine Wahl zu treffen. Ich gebe dir volle Freiheit. Aber vergiß nicht: Von deiner Entscheidung hängt das Glück deines Lebens ab. Von mir ist dabei gar nicht die Rede.«

»Aber ich weiß nicht … mon père …«

»Da ist nichts weiter zu sagen. Er heiratet auf Befehl, entweder dich oder jede beliebige andere; du aber hast freie Wahl … Gehe auf dein Zimmer, denke darüber nach, komme in einer Stunde wieder zu mir und erkläre dann in seiner Gegenwart: Ja oder nein. Ich weiß, du wirst beten. Na, meinetwegen, bete. Aber es wäre besser, gründlich darüber nachzudenken. Nun geh! Ja oder nein, ja oder nein, ja oder nein!« rief er ihr noch nach, während sie wie umnebelt schon taumelnden Schrittes das Zimmer verlassen hatte.

Ihr Schicksal hatte sich entschieden, hatte sich glücklich entschieden. Aber die Anspielung, die ihr Vater auf Mademoiselle Bourienne gemacht hatte, war entsetzlich. Wenn man auch annehmen konnte, daß es nicht wahr war, entsetzlich blieb es doch, und sie mußte immer wieder daran denken. Ohne etwas zu hören und zu sehen, ging sie, den Blick vor sich hin gerichtet, geradewegs durch den Wintergarten, als plötzlich das bekannte Flüstern Mademoiselle Bouriennes sie aus ihren Träumen weckte. Sie hob die Augen auf und sah zwei Schritte von sich entfernt Anatol stehen, der die Französin in den Armen hielt und ihr etwas zuflüsterte. Mit einem wütenden Ausdruck auf seinem schönen Gesicht blickte sich Anatol nach der Prinzessin um und ließ im ersten Augenblick Mademoiselle Bourienne nicht einmal los, die die Prinzessin noch gar nicht gesehen hatte.

Wer ist da? Was wollen Sie? Hüten Sie sich! schien Anatols Gesicht zu sagen. Prinzessin Marja sah beide schweigend an. Sie konnte das nicht begreifen. Endlich kreischte Mademoiselle Bourienne auf und lief davon. Anatol verbeugte sich mit einem verschmitzten Lächeln vor Prinzessin Marja, als fordere er sie auf, über diesen sonderbaren Zufall mitzulachen, zuckte dann mit den Achseln und wandte sich der Tür zu, die nach seinen Gemächern führte.

Eine Stunde später erschien Tichon, um Prinzessin Marja zu ihrem Vater zu rufen. Er fügte hinzu, daß Fürst Wassilij Sergejewitsch bereits dort sei. Als Tichon ins Zimmer trat, saß Prinzessin Marja gerade auf dem Sofa und hielt die weinende Mademoiselle Bourienne in ihren Armen. Sanft strich sie ihr über den Kopf. Die schönen Augen der Prinzessin leuchteten ganz wie früher in ruhigem Glanz und blickten mitleidsvoll und mit zärtlicher Liebe in das hübsche Gesichtchen der Bourienne.

»Non, princesse, je suis perdue pour toujours dans votre cœur«, schluchzte Mademoiselle Bourienne.

»Pourquoi? Je vous aime plus que jamais«, erwiderte Prinzessin Marja, »und ich werde alles, was in meiner Macht steht, versuchen, um Ihnen zu Ihrem Glück zu verhelfen.«

»Mais vous me méprisez, vous si pure. Sie werden niemals eine solche Verirrung der Leidenschaft verstehen können. Ah, ce n’est que ma pauvre mère …«

»Je comprends tout«, entgegnete Prinzessin Marja und lächelte schwermütig. »Beruhigen Sie sich, meine Liebe. Ich gehe jetzt zu meinem Vater«, fügte sie hinzu und ging hinaus.

Als Prinzessin Marja ins Zimmer ihres Vaters eintrat, saß Fürst Wassilij, die Beine hoch übereinander geschlagen, mit der Tabaksdose in der Hand und einem gerührten Lächeln auf den Lippen da und machte ein Gesicht, als könne er kaum seiner Gefühle Herr werden, bedaure aber und verspotte sich gleichzeitig wegen dieser Rührseligkeit. Hastig nahm er schnell noch eine Prise.

»Ah, ma bonne, ma bonne«, sagte er, sprang auf und ergriff ihre beiden Hände. Dann fügte er seufzend hinzu: »Das Schicksal meines Sohnes liegt in Ihren Händen. Entscheiden Sie, ma bonne, ma chère, ma douce Marie, die ich immer wie eine eigne Tochter geliebt habe.«

Er trat zurück. Eine wirkliche Träne schimmerte in seinen Augen.

»Frr … frr …« fauchte Fürst Nikolaj Andrejewitsch. »Im Namen seines Zöglings … seines Sohnes hat der Fürst um deine Hand angehalten. Willst du die Frau des Fürsten Anatol Kuragin werden? Antworte mit Ja oder Nein!« schrie der Fürst seine Tochter an. »Und dann werde ich mir noch das Recht vorbehalten, auch meine Meinung zu sagen. Ja, meine Meinung, nur meine eigne Meinung«, fügte Fürst Nikolaj Andrejewitsch, zum Fürsten Wassilij gewandt, hinzu, als Antwort auf dessen bittende Miene. »Ja oder nein?«

»Es ist mein Wunsch, mon père, Sie niemals zu verlassen und mein Leben niemals von dem Ihrigen zu trennen. Ich möchte mich nicht verheiraten«, sagte sie in entschiedenem Ton und sah Fürst Wassilij und ihren Vater mit ihren schönen Augen an.

»Unsinn, dummes Zeug! Unsinn, Unsinn, Unsinn!« schrie Fürst Nikolaj Andrejewitsch und zog die Brauen finster zusammen. Dann nahm er seine Tochter bei der Hand, zog sie zu sich heran, küßte sie aber nicht, sondern berührte nur mit seiner Stirn die ihrige und drückte ihr so fest die Hand, die er in der seinen behielt, daß sie die Stirn runzelte und aufschrie.

Fürst Wassilij erhob sich.

»Ma chère, ich sage Ihnen: Dies ist ein Augenblick, den ich niemals vergessen werde, niemals. Mais, ma bonne, wollen Sie uns nicht einen kleinen Hoffnungsschimmer lassen, daß wir doch noch einmal dieses so gute, so edelmütige Herz rühren werden? Dites que peut-être … L’avenir est si grand. Dites: peut-être.«

»Fürst, was ich Ihnen soeben gesagt habe, ist alles, was mein Herz fühlt. Ich danke Ihnen für die Ehre, aber ich werde niemals die Frau Ihres Sohnes werden.«

»Nun, die Sache ist also erledigt, mein Lieber. Habe mich sehr gefreut, dich zu sehen, sehr gefreut, dich zu sehen. Geh auf dein Zimmer, Prinzessin«, sagte der alte Fürst. »Sehr, sehr gefreut habe ich mich, dich zu sehen«, wiederholte er und umarmte den Fürsten Wassilij.

Meine Bestimmung ist eine andere, dachte Prinzessin Marja bei sich. Meine Bestimmung ist, mich an dem Glück anderer zu freuen in Nächstenliebe und Selbstaufopferung. Und was es mich auch kosten sollte, ich werde das Glück der armen Amélie begründen. Sie liebt ihn so leidenschaftlich. Und ihre Reue ist so tief. Ich werde alles tun, um ihre Ehe mit ihm zustande zu bringen. Wenn er nicht reich ist, werde ich ihr die Mittel geben, ich werde den Vater bitten, werde Andrej bitten. Das wäre ein so großes Glück für mich, wenn sie seine Frau würde. Sie ist so unglücklich, so heimatlos, so einsam, so hilflos! Großer Gott, wie leidenschaftlich muß sie ihn lieben, wenn sie sich so vergessen kann! Vielleicht hätte ich es ebenso gemacht, dachte Prinzessin Marja.

6

Lange hatten die Rostows keine Nachrichten von Nikoluschka erhalten. Da wurde auf einmal mitten im Winter beim Grafen ein Brief abgegeben, auf dessen Adresse er die Handschrift seines Sohnes erkannte. Hastig und erschrocken eilte der Graf mit dem Brief, bemüht, nicht bemerkt zu werden, auf den Fußspitzen in sein Arbeitszimmer, machte die Tür zu und fing an zu lesen. Da Anna Michailowna gehört hatte, daß ein Brief gekommen war – sie erfuhr ja alles, was im Hause vor sich ging –, trat sie mit leisen Schritten beim Grafen ein und fand ihn, den Brief in der Hand, halb schluchzend, halb lachend.

Anna Michailowna lebte, obwohl sich ihre Verhältnisse gebessert hatten, immer noch bei den Rostows im Hause.

»Mon bon ami?« fing sie in traurig fragendem Tone an, der bekundete, daß sie zu jeder Art der Teilnahme bereit war.

Der Graf schluchzte nur noch lauter.

»Nikoluschka … einen Brief … verwundet … gewesen … ma chère … verwundet … mein Liebling … die liebe, gute Gräfin … er ist Offizier geworden … Gott sei Dank … Wie sollen wir das nur der lieben, guten Gräfin sagen!«

Anna Michailowna setzte sich neben ihn und wischte mit ihrem Taschentuch erst ihm die Tränen ab, dann den Brief, auf den einige Tropfen gefallen waren, und endlich die Tränen aus ihren eignen Augen. Dann las sie den Brief durch, beruhigte den Grafen und beschloß, die Gräfin bis zum Mittagessen und bis zum Tee vorzubereiten, um ihr dann mit Gottes Hilfe alles zu erzählen.

Während des Mittagessens sprach Anna Michailowna die ganze Zeit über von allerlei Gerüchten vom Kriegsschauplatz, von Nikoluschka, fragte zweimal, wann der letzte Brief von ihm eingegangen sei, obgleich sie das sehr wohl wußte, und ließ die Bemerkung fallen, es sei sehr leicht möglich, daß noch heute ein Brief von ihm komme. Und jedesmal, wenn bei diesen Andeutungen die Gräfin anfing unruhig zu werden und erregt bald den Grafen, bald Anna Michailowna anblickte, lenkte Anna Michailowna das Gespräch unbemerkt auf etwas ganz Nebensächliches. Natascha, die mehr als alle anderen in der Familie die Fähigkeit besaß, die feinsten Abstufungen im Tonfall, im Blick und im Gesichtsausdruck anderer herauszufühlen, hatte schon von Anfang an die Ohren gespitzt und gemerkt, daß zwischen ihrem Vater und Anna Michailowna ein geheimes Einverständnis herrschte über irgend etwas, was ihren Bruder betraf, und daß Anna Michailowna ihre Mutter auf etwas vorbereitete. Trotz ihrer Beherztheit – Natascha wußte, wie empfindlich ihre Mutter allen Nachrichten gegenüber war, die Nikoluschka betrafen – konnte sie sich während des Mittagessens doch nicht dazu entschließen, eine Frage zu stellen, aß aber vor Aufregung überhaupt nichts und rückte nur unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, ohne auf die Ermahnungen ihrer Gouvernante zu hören. Nach dem Mittagessen aber stürzte sie atemlos hinter Anna Michailowna her, holte sie im Diwanzimmer ein und warf sich ihr im Flug um den Hals.

»Tantchen, liebstes, bestes Tantchen, sagen Sie mir doch, was los ist!«

»Nichts, mein Liebling.«

»Nein, mein liebstes, süßestes Herzenstantchen, ich lasse Sie nicht. Ich weiß, daß Sie etwas wissen.«

Anna Michailowna wiegte bedenklich den Kopf.

»Vous êtes une fine mouche, mon enfant«, sagte sie.

»Ein Brief von Nikolenka? Wirklich?« rief Natascha aus und las die bejahende Antwort auf Anna Michailownas Gesicht.

»Aber um Gottes willen, laß dir nichts merken: du weißt, wie sehr maman darüber erschrecken könnte.«

»Aber ich werde doch nicht! Doch erzählen Sie. Sie wollen es mir nicht erzählen? Nun, dann laufe ich gleich hin und sage es ihr.«

In kurzen Worten teilte Anna Michailowna Natascha den Inhalt des Briefes unter der Bedingung mit, daß sie niemandem ein Wort davon verraten dürfe.

»Mein heiliges Ehrenwort«, erwiderte Natascha und bekreuzigte sich. »Ich werde keinem ein Sterbenswörtchen sagen.« Und sie rannte sogleich zu Sonja.

»Nikolenka … verwundet … ein Brief …« rief sie triumphierend und froh.

»Nicolas!« stieß Sonja nur hervor und wurde augenblicklich leichenblaß.

Als Natascha den Eindruck sah, den die Kunde von der Verwundung ihres Bruders auf Sonja machte, wurde sie sich zum ersten Male der ernsten Seite dieser Nachricht bewußt. Sie stürzte auf Sonja zu, umschlang sie und fing an zu weinen.

»Er ist ja nur leicht verwundet, aber er ist doch Offizier geworden. Und jetzt ist er doch wieder gesund, er schreibt ja selber«, wiederholte sie unter Tränen.

»Da sieht man gleich wieder mal, was ihr Frauenzimmer alle für Heulsusen seid«, sagte der kleine Petja und ging mit großen, energischen Schritten im Zimmer auf und ab. »Ich freue mich, freue mich kolossal, daß sich mein Bruder so ausgezeichnet hat. Ihr aber müßt gleich wieder flennen. Ihr versteht eben von so etwas nichts.«

Natascha lächelte unter Tränen.

»Hast du den Brief gelesen?« fragte Sonja.

»Nein, aber sie hat mir erzählt, daß nun alles vorüber und er Offizier geworden ist.«

»Gott sei Dank«, seufzte Sonja und bekreuzigte sich. »Aber vielleicht hat sie das nur so gesagt. Komm, wir wollen zu maman gehen.«

Petja war schweigend auf und ab gegangen, dann sagte er: »Wenn ich an Nikoluschkas Stelle gewesen wäre, hätte ich noch viel mehr Franzosen umgebracht. So eine Schwefelbande! So viele hätte ich totgemacht, so viele, daß man einen ganzen Haufen davon hätte auftürmen können.«

»Sei still, Petja, du bist dumm!«

»Ich bin gar nicht dumm, sondern ihr seid dumm, weil ihr bei jeder Kleinigkeit zu heulen anfangt«, entgegnete Petja.

»Denkst du noch an ihn?« fragte plötzlich Natascha nach minutenlangem Schweigen.

Sonja lächelte: »Ob ich noch an Nicolas denke?«

»Nein, Sonja, ich meine, ob du ganz genau an ihn denkst, an alles …« fragte Natascha mit eindringlicher Miene, bemüht, ihren Worten die allerernsthafteste Bedeutung beizulegen. »Ich denke auch an Nikolenka, erinnere mich … aber an Boris denke ich nicht … ganz und gar nicht.«

»Wie? Du denkst nicht an Boris?« fragte Sonja erstaunt.

»Nicht, daß ich gar nicht an ihn dächte, ich weiß, wie er war, aber ich denke an ihn nicht so wie an Nikolenka. Wenn ich die Augen zumache und denke an Nikolenka – so sehe ich ihn vor mir. Aber Boris nicht.« Sie machte die Augen zu. »Siehst du, ich sehe ihn nicht.«

»Ach, Natascha«, sagte Sonja und blickte dabei ihre Freundin ernst und schwärmerisch an, als ob sie sie nicht für würdig erachtete, das zu hören, was sie zu sagen beabsichtigte, oder als ob sie das zu irgend jemand anderem, mit dem man nicht scherzen dürfe, sagen wollte. »Ich habe nun einmal deinen Bruder lieb, und was auch immer mit ihm und mir geschehen möge, nie in meinem ganzen Leben werde ich aufhören, ihn zu lieben.«

Natascha sah Sonja mit erstaunten Augen neugierig an und schwieg. Sie fühlte, daß das, was Sonja sagte, wahr war, daß es eine solche Liebe, von der Sonja sprach, gab, aber sie selber hatte so etwas noch nicht empfunden. Sie glaubte, daß es eine solche Liebe wohl geben könne, begriff es aber nicht.

»Wirst du ihm schreiben?« fragte sie.

Sonja wurde nachdenklich. Ob und wie und was sie an Nicolas schreiben mußte, das war für sie eine quälende Frage. War es recht von ihr, ihn jetzt, wo er bereits Offizier und ein verwundeter Held war, an ihre Person und gewissermaßen an die Verpflichtung, die er ihr gegenüber übernommen hatte, zu erinnern?

»Ich weiß nicht; ich denke, wenn er mir schreibt, werde ich ihm wiederschreiben«, entgegnete sie errötend.

»Schämst du dich nicht, an ihn zu schreiben?«

Sonja lächelte.

»Nein.«

»Ich würde mich schämen, an Boris zu schreiben; ich werde ihm nicht schreiben.«

»Aber warum denn schämen?«

»Nur so, ich weiß nicht. Es wäre mir peinlich, ich würde mich schämen.«

»Ich weiß, warum sie sich schämen würde«, rief Petja, der noch durch Nataschas Bemerkung von vorhin beleidigt war: »Darum, weil sie erst in den dicken Mops mit der Brille« – so nannte Petja seinen Namensvetter, den neuen Grafen Besuchow – »verliebt gewesen ist und sich jetzt in den Singfritzen verschossen hat.« Petja meinte Nataschas Gesanglehrer, den Italiener. »Deshalb schämt sie sich.«

»Du bist dumm, Petja!«

»Auch nicht dümmer als du, Kleine«, sagte der neunjährige Knirps, als wäre er ein alter Feldwebel.

Die Gräfin war durch Anna Michailownas Anspielungen bei Tische genügend vorbereitet worden. Sie ging in ihr Zimmer, ließ sich auf einen Sessel nieder und verwandte kein Auge von dem Miniaturbild ihres Sohnes, das in ihre Tabaksdose eingelassen war. Tränen traten ihr in die Augen. Anna Michailowna schlich sich mit dem Brief in der Hand auf den Zehen bis zum Zimmer der Gräfin und blieb vor der Tür stehen.

»Kommen Sie nicht mit hinein«, sagte sie zu dem alten Grafen, der ihr folgte. »Später.« Und sie machte die Tür hinter sich zu. Der Graf legte das Ohr ans Schlüsselloch und horchte.

Anfangs hörte er die gleichgültigen Laute irgendeines Gesprächs, dann nur den Ton der Stimme Anna Michailownas allein, die eine lange Rede hielt, dann einen Aufschrei, dann ein Schweigen, dann wieder beide Stimmen zusammen in freudigem Tonfall, dann Schritte, und – Anna Michailowna öffnete ihm die Tür. Ihr Gesicht zeigte den stolzen Ausdruck eines Operateurs, der eine schwere Amputation beendet hat und nun das Publikum einläßt, damit es seine Kunst bewundern kann.

»C’est fait«, sagte sie zum Grafen und zeigte mit triumphierender Geste auf die Gräfin, die in der einen Hand die Tabakdose mit dem Bild, in der anderen den Brief hielt und ihre Lippen bald auf diesen, bald auf jenes drückte.

Als sie den Grafen sah, streckte sie ihm beide Arme entgegen, umschlang seinen kahlen Kopf, blickte über diesen hinweg auf den Brief und das Bild und schob, um beides von neuem küssen zu können, leicht den kahlen Kopf wieder beiseite.

Wera, Natascha, Sonja und Petja wurden herbeigerufen und der Brief vorgelesen. Nikoluschka schilderte darin kurz den Feldzug und die zwei Gefechte, an denen er teilgenommen hatte, seine Beförderung zum Offizier, schrieb, daß er maman und Papa die Hand küsse, um ihren Segen bitte und Wera, Natascha und Petja einen herzlichen Kuß sende. Dann ließ er noch Herrn Schelling, Frau Schoß und die Kinderfrau grüßen, und bat noch besonders, die teure Sonja, die er noch ebenso liebe, und an die er immer denke, zu küssen. Als Sonja das hörte, wurde sie purpurrot, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Und da sie nicht imstande war, alle die Blicke, die auf sie gerichtet waren, zu ertragen, stürmte sie in den Saal, rannte und drehte sich ungestüm im Kreise herum, daß sich ihr Kleid wie ein Ballon aufblähte, und setzte sich dann hochrot und lächelnd auf den Boden nieder. Die Gräfin weinte.

»Worüber weinen Sie denn, maman?« fragte Wera. »Nach alledem, was er schreibt, muß man sich doch eher freuen und nicht weinen.«

Das war vollkommen richtig, doch alle, der Graf, die Gräfin und auch Natascha, sahen sie vorwurfsvoll an. Von wem muß sie das nur haben! dachte die Gräfin.

Nikoluschkas Brief wurde wohl hundertmal vorgelesen, und die, welche ihn zu hören für würdig erachtet wurden, mußten zur Gräfin hereinkommen, da sie ihn nicht aus den Händen ließ. Es erschienen die Hauslehrer, die Kinderfrau, Mitenka, verschiedene Bekannte, und immer wieder las die Gräfin den Brief mit neuem Hochgenuß durch und entdeckte dabei jedesmal neue Tugenden an ihrem Nikoluschka. Wie seltsam, wie feiertäglich, wie glücklich war ihr zumute, wenn sie daran dachte, daß ihr Sohn – jenes Kind, das sich mit seinen winzigen Gliedern vor zwanzig Jahren kaum merklich in ihrem Leibe gerührt hatte, um dessentwillen sie mit dem ihn verhätschelnden Grafen so manches liebe Mal in Streit geraten war, jenes Kind, das zuerst das Wort »Birne« sagen konnte, und dann erst das Wort »Baba« –, daß dieser ihr Sohn jetzt dort in fremdem Land, in fremdem Kreise, ganz allein und ohne eine Hand, die ihm half und ihn leitete, als Mann und Krieger seine Pflicht tat. Die jahrhundertealte Erfahrung der Welt, die lehrt, wie aus den Kindern in der Wiege auf kaum merklichem Weg Männer werden, existierte nicht für die Gräfin. Das Heranreifen ihres Sohnes zum Mann kam ihr auf jeder Stufe der Entwicklung als etwas so Außergewöhnliches vor, als ob es nicht Millionen und aber Millionen von Menschen gegeben hätte, die ebenso zu Männern geworden waren. Ebenso wie sie es vor zwanzig Jahren nicht für möglich gehalten hatte, daß jenes kleine Wesen, das da irgendwo unter ihrem Herzen lebte, einmal schreien, an ihrer Brust saugen und sprechen werde, konnte sie auch jetzt kaum glauben, daß dieses winzige Wesen ein so starker, tapferer Mann geworden war, ein Vorbild für alle anderen Söhne und Leute, was er ja, nach diesem Brief zu urteilen, jetzt sein mußte.

»Was für ein Stil, wie allerliebst er alles beschreibt!« sagte sie und las den beschreibenden Teil des Briefes noch einmal. »Und was für ein Gemüt! Von sich selber – kein Wort, kein Wort! Von einem gewissen Denissow schreibt er, und er selber ist doch sicherlich der Tapferste von allen gewesen. Und von seinen Leiden schreibt er kein Wort. Ein goldenes Herz! Ich kenne ihn doch! Und wie er sich an alle erinnert! Keinen hat er vergessen. Ich habe immer, immer gesagt, schon als er noch so klein war, habe ich gesagt …«

Acht Tage lang schrieb nun das ganze Haus Briefe an Nikoluschka, erst im Konzept und dann ins reine. Dann wurden unter Oberaufsicht der Gräfin und geschäftiger Mithilfe des Grafen die nötigsten Dinge und vor allem Geld für die Ausstattung und Einrichtung des neugebackenen Offiziers gesammelt. Anna Michailowna hatte als praktische Frau sich und ihrem Sohne Protektion im Felde zu verschaffen gewußt, was ihr auch beim Briefwechsel zustatten kam. Sie hatte Gelegenheit, ihre Briefe an den Großfürsten Konstantin Pawlowitsch, der die Garde befehligte, zu senden. Die Rostows nahmen an, daß »An die russische Garde im Ausland« eine genügende Adresse sei und kein Grund vorliege, daß ihr Brief das Pawlograder Regiment nicht erreiche, das doch ganz in der Nähe der Garde liegen mußte, wenn er erst einmal den die Garde kommandierenden Großfürsten erreicht hatte. Deshalb beschloß man, den Brief und das Geld durch einen Kurier über den Großfürsten an Boris zu senden, und Boris sollte die Sendung dann an Nikoluschka weitergeben. Es waren Briefe vom alten Grafen, von der Gräfin, von Petja, von Wera, von Natascha, von Sonja und endlich sechstausend Rubel zur Ausstattung und noch verschiedene Kleinigkeiten, die der Graf seinem Sohn schickte.

7

Am 12. November bereitete sich Kutusows Armee, die bei Olmütz ihr Lager aufgeschlagen hatte, zu einer Besichtigung vor, die beide Kaiser, der russische und der österreichische, zusammen abhalten wollten. Die Garde, die soeben erst aus Rußland eingetroffen war, hatte fünfzehn Werst von Olmütz entfernt Nachtquartier bezogen und sollte am anderen Morgen um zehn Uhr zur Besichtigung von dort aus auf das Olmützer Feld rücken.

An diesem Tag erhielt Nikolaj Rostow von Boris ein Schreiben, worin ihm dieser mitteilte, daß das Ismailer Regiment fünfzehn Werst entfernt Nachtquartier bezogen habe und nicht nach Olmütz einrücke, und daß Boris ihn dort erwarte, um ihm Briefe und Geld zu übergeben. Geld brauchte Rostow jetzt gerade ganz besonders nötig, da die Truppen aus dem Feld zurückgekehrt und bei Olmütz in Ruhestand lagen, wo das Lager mit reichlich ausgestatteten Marketendern und österreichischen Juden angefüllt war, die verführerische Dinge aller Art feilhielten. Bei den Pawlograder Husaren jagte ein Festschmaus den anderen, bald wurde eine im Feld erhaltene Auszeichnung gefeiert, bald ritten sie nach Olmütz zu der Ungarin Karoline, die dort neuerdings ein Restaurant mit weiblicher Bedienung aufgemacht hatte. Rostow hatte erst kürzlich seine Beförderung zum Kornett gefeiert, hatte Denissows Pferd, den »Beduinen«, gekauft, und war nun bei allen Kameraden und Marketendern in tüchtige Schulden geraten.

Nachdem Rostow das Schreiben von Boris erhalten hatte, begab er sich mit einem Kameraden nach Olmütz, aß dort zu Mittag, trank eine Flasche Wein und ritt dann allein nach dem Lager der Garde, um seinen Jugendfreund aufzusuchen. Bisher hatte sich Rostow noch nicht equipieren können. Er trug eine abgetragene Junkerjacke mit dem Soldatenkreuz, ebenso abgescheuerte, mit Leder besetzte Reithosen und nur den Offizierssäbel mit der Quaste. Er ritt auf einem Donpferdchen, das er im Feld von einem Kosaken erstanden haue, die verbeulte Husarenmütze hatte er keck seitwärts nach hinten geschoben. Als er sich dem Lager des Ismailer Regiments näherte, malte er sich aus, wie er Boris und alle seine Kameraden von der Garde durch seine Erscheinung als feldmäßiger, an den Donner der Schlacht gewöhnter Husar in Erstaunen versetzen werde.

Die Garde hatte den Feldzug bisher als einen Spaziergang betrachtet und bildete sich nicht wenig auf ihre Sauberkeit und Disziplin ein. Die Märsche waren klein gewesen, die Tornister hatte man auf Wagen mitgeführt, und nach allen Märschen hatten die österreichischen Behörden für die Offiziere ein glänzendes Essen bereitgehalten. Mit Musik waren die Regimenter in die Städte ein- und ausgerückt, und auf einen Befehl des Großfürsten waren die Soldaten auf allen Märschen – und darauf war die Garde ganz besonders stolz – immer im Tritt gegangen und die Offiziere ebenfalls zu Fuß an der Spitze ihrer Kompanien. Boris war während des ganzen Marsches immer mit Berg zusammengewesen, der bereits Kompanieführer war. Er hatte diese Kompanie erst während des Marsches erhalten, sich durch seine Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit das Vertrauen seiner Vorgesetzten erworben und seine finanziellen Angelegenheiten zur Zufriedenheit geordnet. Boris hatte während des Marsches die Bekanntschaft vieler Leute gemacht, die ihm nützlich sein konnten, war durch einen Empfehlungsbrief, den Pierre ihm gesandt hatte, mit dem Fürsten Andrej Bolkonskij bekannt geworden, durch den er einen Posten beim Stabe des Oberkommandierenden zu erhalten hoffte.

Berg und Boris hatten sich gerade von dem letzten Tagesmarsch ausgeruht, saßen nun, sauber und adrett gekleidet, in dem ihnen angewiesenen, blitzblanken Quartier vor einem runden Tisch und spielten Schach. Berg hielt eine lange, brennende Pfeife zwischen den Knien. Boris baute mit seinen feinen weißen Händen und mit der ihm eignen Sorgfalt eine Pyramide aus den sich nicht mehr im Spiel befindenden Schachfiguren, wartete auf Bergs Zug und blickte seinem Partner ins Gesicht. Anscheinend waren seine Gedanken nur beim Spiel, wie er überhaupt immer nur an das dachte, was ihn gerade beschäftigte.

»Bin gespannt, wie Sie sich da aus der Schlinge ziehen«, sagte er.

»Werden uns schon alle Mühe geben«, entgegnete Berg, faßte einen Stein an, zog aber gleich wieder die Hand zurück.

In diesem Augenblick tat sich die Tür auf.

»Endlich habe ich ihn erwischt!« rief Rostow. »Und Berg ist auch da! Ach du, ›petits enfants, allez coucher dormir‹«, rief er und wiederholte die Worte ihrer alten Kinderfrau, über die sie zusammen immer so gelacht hatten. »Mein Gott, wie du dich verändert hast!«

Boris ging Rostow entgegen, wobei er beim Aufstehen nicht versäumte, die Schachfiguren zu halten und die umgefallenen wieder aufzustellen. Er wollte seinen Freund umarmen, aber Nikolaj schob ihn beiseite. In dem der Jugend eignen Drang, der die althergebrachten Wege und jede Nachahmung scheut und seine Gefühle auf seine Art und in einer neuen Weise und nicht so, wie dies oft heuchlerisch die alte Generation tut, zum Ausdruck bringen möchte, wollte Nikolaj bei diesem Wiedersehen mit seinem Freund etwas ganz Besonderes tun: er verspürte die größte Lust, ihn zu kneipen oder zu puffen, nur nicht, sich mit ihm zu küssen, wie das alle anderen taten. Boris dagegen umarmte Rostow ruhig und freundschaftlich und küßte ihn dreimal.

Sie hatten sich fast ein halbes Jahr lang nicht gesehen, und da das gerade in einer Zeit war, wo die jungen Leute die ersten Schritte ins Leben hinein getan hatten, fanden sie, daß sie sich beide mächtig verändert hatten, und daß jene Gesellschaft, die zum Schauplatz ihres ersten Auftretens geworden war, schon tüchtig auf sie abgefärbt hatte. Seitdem sie das letztemal zusammengewesen waren, waren sie beide ganz anders geworden und wollten sich nun so bald wie möglich gegenseitig über die in ihnen vorgegangene Umwandlung aussprechen.

»Ach, ihr verfluchten Fatzken! Geschniegelt und gebügelt wie zu einem Stadtbummel! Und wir dagegen, wir armen Frontsoldaten!« rief Rostow mit einer Baritonstimme, die Boris noch gar nicht an ihm kannte, und wies mit der Gebärde eines alten, feuererprobten Soldaten auf seine mit Kot bespritzte Reithose.

Durch Rostows laute Stimme herbeigelockt, steckte die deutsche Quartierwirtin ihren Kopf zur Tür herein.

»Ist sie hübsch?« fragte Rostow und zwinkerte mit den Augen.

»Schrei doch nicht so! Du jagst ihnen ja nur einen Schrecken ein«, erwiderte Boris. »Ich hatte dich heute noch gar nicht erwartet«, fügte er hinzu. »Erst gestern habe ich den Brief durch Bolkonskij, einen Bekannten von mir, der bei Kutusow Adjutant ist, an dich abgeschickt. Ich dachte nicht, daß du ihn so schnell erhalten würdest … Na, was machst du denn? Schon im Feuer gewesen?« fragte Boris.

Rostow gab keine Antwort, schüttelte nur das Georgskreuz, das an den Schnüren seines Uniformrockes hing, wies auf seinen verbundenen Arm und sah Berg lächelnd an.

»Wie du siehst«, sagte er.

»Schau, schau! Ja, ja«, erwiderte Boris lächelnd. »Wir haben aber auch einen tüchtigen Marsch hinter uns. Doch weißt du, Seine Hoheit ist beständig mit unserem Regiment geritten, und dadurch hatten wir alle Vorteile und Bequemlichkeiten. Wie wir in Polen empfangen worden sind, was für Diners und Bälle wir dort mitgemacht haben, das kann ich dir gar nicht beschreiben. Und Seine Hoheit war gegen uns Offiziere immer äußerst gnädig.«

Und so erzählten die beiden Freunde einander, der eine vom Zechen und Schmausen der Husaren und dem Leben im Feld, der andere von den Vorteilen und Annehmlichkeiten im Dienst unter dem Kommando hochstehender Persönlichkeiten.

»O diese Garde!« sagte Rostow. »Aber weißt du, du könntest eigentlich Wein kommen lassen.«

Boris wurde finster.

»Wenn du es durchaus willst«, sagte er.

Und er ging ans Bett, zog unter dem sauberen Kopfkissen seinen Geldbeutel hervor und befahl, Wein zu bringen.

»Und nun will ich dir den Brief und das Geld geben«, fügte er hinzu.

Rostow nahm den Brief, warf das Geld aufs Sofa, stützte beide Ellbogen auf den Tisch und fing an zu lesen. Er las ein paar Zeilen und sah dann Berg ärgerlich an. Ihre Blicke trafen sich, und Rostow versteckte sein Gesicht hinter dem Brief.

»Man hat Ihnen wenigstens eine anständige Summe Geld geschickt«, sagte Berg und warf einen Blick auf den schweren Geldbeutel, der das Sofa ganz niedergedrückt hatte. »Wir müssen uns mit unserem Gehalt durchschlagen, Graf. Ich, zum Beispiel, sage ich Ihnen …«

»Sehen Sie, mein lieber Berg«, sagte Rostow, »wenn Sie einen Brief von zu Hause bekämen und mit einem Menschen zusammenträfen, den sie über mancherlei ausfragen möchten, und ich wäre dabei, so würde ich augenblicklich fortgehen, um nicht zu stören. Hören Sie, gehen Sie, gehen Sie, ich bitte darum, irgendwohin, wohin Sie wollen … zum Teufel meinetwegen!« rief er, fügte aber sogleich, indem er ihn an der Schulter packte und ihm freundlich ins Gesicht sah, hinzu, sichtlich bemüht, die Grobheit seiner Worte zu mildern: »Seien Sie mir nicht böse, Liebster, Bester, Sie wissen ja, daß ich Ihnen als altem Bekannten gegenüber frei von der Leber weg rede.«

»Aber ich bitte Sie, Graf, das verstehe ich sehr wohl«, sagte Berg mit seiner schnarrenden Stimme und stand auf.

»Gehen Sie zu den Wirtsleuten, sie haben gerufen«, fügte Boris hinzu.

Berg zog seinen tadellosen Rock, an dem weder ein Flecken noch ein Stäubchen zu sehen war, über, strich sich vor dem Spiegel die Haare an den Schläfen nach oben, wie Kaiser Alexander Pawlowitsch sie trug, entnahm aus Rostows Blicken, daß dieser seinem Anzug genügend Beachtung geschenkt hatte, und verließ mit liebenswürdigem Lächeln das Zimmer.

»Ach, was bin ich doch für ein Rindvieh!« murmelte Rostow, während er den Brief las.

»Was?«

»Ach, ein Lump bin ich gewesen, daß ich nicht ein einziges Mal an sie geschrieben und ihnen einen solchen Schrecken eingejagt habe. Gott, was bin ich für ein Lump!« wiederholte er und wurde plötzlich ganz rot dabei. »Aber wie ist’s, hast du Gawrila nach Wein geschickt? Na schön, dann kippen wir mal eine!«

Unter den Briefen von zu Hause befand sich noch ein Empfehlungsschreiben an den Fürsten Bagration, das sich die alte Gräfin auf den Rat Anna Michailownas durch Bekannte zu verschaffen gewußt und ihrem Sohn geschickt hatte, mit der Bitte, es an seine Adresse weiterzugeben und davon Gebrauch zu machen.

»So ein Quatsch! Als ob ich das nötig hätte!« sagte Rostow und warf den Brief unter den Tisch.

»Warum hast du das fortgeworfen?« fragte Boris.

»Ach, so ein Empfehlungsbrief. Hol ihn der Teufel!«

»Warum wünschst du diesen Brief zum Teufel?« sagte Boris, hob ihn auf und las die Adresse. »Der kann dir noch mal sehr nützlich sein.«

»Mir kann gar nichts nützlich sein, denn ich will gar nicht Adjutant werden.«

»Warum nicht?« fragte Boris.

»Lakaiendienst!«

»Du bist noch ganz und gar der alte Schwärmer, wie ich sehe«, sagte Boris und schüttelte den Kopf.

»Und du noch ganz derselbe Diplomat. Na, aber das ist ja Nebensache … Wie geht dir’s eigentlich?« fragte Rostow.

»Na so, wie du eben siehst. Bis jetzt ist noch alles gut gegangen, aber ich muß gestehen, ich möchte viel lieber Adjutant werden und nicht an der Front bleiben.«

»Warum?«

»Darum, weil man sich, wenn man nun einmal die militärische Laufbahn gewählt hat, auch bemühen muß, eine so glänzende Karriere zu machen, wie nur irgend möglich.«

»So, so«, erwiderte Rostow, der sichtlich an etwas anderes dachte.

Er sah seinem Freund aufmerksam und fragend ins Auge und suchte darin offenbar vergeblich die Antwort auf irgendeine Frage zu lesen.

Der alte Gawrila brachte den Wein.

»Wollen wir jetzt nicht Alfons Karlowitsch wieder hereinrufen?« fragte Boris. »Er kann mit dir trinken, ich habe keine Lust dazu.«

»Meinetwegen, meinetwegen. Was ist denn dieser deutsche Fritze eigentlich für ein Bruder?« fragte Rostow mit geringschätzigem Lächeln.

»Ein sehr, sehr guter, anständiger und liebenswürdiger Mensch«, erwiderte Boris.

Rostow sah Boris noch einmal forschend ins Auge und seufzte. Berg kam wieder herein, und bei der Flasche Wein wurde die Unterhaltung zwischen den drei Offizieren immer lebhafter und lebhafter. Die Gardeoffiziere erzählten Rostow von ihrem Marsch, wie man sie in Rußland, in Polen und im Ausland gefeiert habe, erzählten von den Worten und Taten ihres Kommandeurs, des Großfürsten, und gaben Anekdoten von seiner Herzensgüte und seinem aufbrausenden Wesen zum besten. Berg, der wie gewöhnlich, wenn eine Sache nicht ihn persönlich anging, geschwiegen hatte, fing, als die Rede auf das leicht aufbrausende Wesen des Großfürsten kam, mit Wonne zu erzählen an, wie es ihm in Galizien einmal geglückt sei, mit dem Großfürsten zu sprechen, als dieser die Front des Regiments abgeritten und sich über die Unregelmäßigkeit des Vorrückens geärgert habe. Mit liebenswürdigem Lächeln erzählte er, wie der Großfürst in höchstem Zorn auf ihn losgeritten sei und ihn angeschrien habe: »Ihr Arnauten[74]!« – Arnauten war das Lieblingswort Seiner Hoheit, wenn er sich in höchster Wut befand – und den Kompanieführer verlangt habe.

»Glauben Sie mir, Graf, ich fürchtete mich ganz und gar nicht, weil ich wußte, daß ich im Recht war. Wissen Sie, Graf, ich kann wohl, ohne mich zu loben, sagen, daß ich die Regimentsbefehle immer auswendig weiß und das Reglement ebenso gut kenne wie das Vaterunser. Deshalb wird auch in meiner Kompanie nie etwas versäumt, Graf. Also war mein Gewissen auch vollkommen ruhig. Ich trat vor.« Berg stand auf und stellte mimisch dar, wie er vorgetreten war und salutiert hatte, und wirklich hätte wohl kaum jemand mehr Ehrerbietung und Selbstvertrauen auf seinem Gesicht zeigen können. »Da hat er mich nun angeschnauzt und mir den Kopf gewaschen und mich auf Tod und Teufel heruntergeputzt, wie man zu sagen pflegt, und mir ›Arnauten‹, ›Teufelspack‹ und ›nach Sibirien‹ an den Kopf geworfen«, sagte Berg mit bedeutsamem Lächeln, »ich aber schwieg, denn ich wußte ja, daß ich im Recht war, nicht wahr, Graf? ›Du bist wohl taub? Was?‹ brüllte er mich an. Ich schwieg immer noch. Und was glauben Sie wohl, Graf? Am nächsten Tag kein Wort davon im Befehl, da sieht man, was es heißt, nicht den Kopf zu verlieren! Ja, ja, das ist Tatsache, Graf«, schloß Berg, zog an seiner Pfeife und blies Ringe in die Luft.

»Das haben Sie ja großartig gemacht«, meinte Rostow lachend.

Doch Boris merkte, daß Rostow nahe daran war, sich über Berg lustig zu machen, und er lenkte geschickt das Gespräch auf etwas anderes über. Er bat Rostow, doch zu erzählen, wann und wo er verwundet worden sei. Rostow war gleich dabei, fing an zu erzählen und wurde, je weiter er in seinem Bericht kam, immer lebhafter und lebhafter. Er erzählte ihnen sein Schöngraberner Abenteuer ganz so, wie gewöhnlich Schlachtenteilnehmer ein Treffen zu schildern pflegen, das heißt so, wie sie gewünscht hätten, daß es gewesen wäre, so, wie sie es von anderen gehört haben, so wie es sich netter erzählen läßt, aber ganz und gar nicht so, wie es in Wirklichkeit gewesen ist. Rostow war ein ehrlicher junger Mensch, er hätte nicht um alles in der Welt bewußt eine Unwahrheit gesagt. Er fing seine Erzählung mit der Absicht an, alles so darzustellen, wie es in Wirklichkeit gewesen war, geriet aber allmählich unwillkürlich und unaufhaltsam ins Fabulieren. Wenn er diesen Zuhörern, die, ganz wie er selber auch, schon eine solche Menge Schilderungen von Reiterattacken gehört und sich in ihrem Kopf eine ganz bestimmte Vorstellung davon zurecht gemacht hatten, was eben das Wesentliche bei solch einer Attacke war, und eben auch genauso eine Schilderung erwarteten – wenn er diesen Zuhörern den ganzen Hergang der Wahrheit gemäß erzählt hätte, so hätten sie ihm entweder keinen Glauben geschenkt oder, was noch schlimmer gewesen wäre, gedacht, daß es Rostows eigne Schuld sei, wenn er nicht das, was sonst immer bei einer Kavallerieattacke zu geschehen pflegt, erlebt hätte. Er konnte ihnen doch nicht einfach erzählen, daß sie alle im Trabe dahingeritten, er vom Pferde gefallen, sich dabei den Arm verrenkt und dann Hals über Kopf vor den Franzosen ausgerissen sei, in einen Wald hinein. Außerdem hätte er, wenn er wirklich alles der Wahrheit gemäß hätte berichten wollen, sich einen wahren Zwang antun müssen, um alles so zu erzählen, wie es tatsächlich gewesen war. Die reine Wahrheit zu erzählen ist sehr schwer, und junge Leute bringen das nur selten fertig. Seine Gefährten erwarteten zu hören, wie er, sich selber vergessend, vom heiligen Feuer entbrannt, wie der Sturmwind auf den Feind losgesprengt sei, seine Reihen durchbrochen, nach rechts und links um sich geschlagen und seinen Säbel in Menschenblut getaucht habe und dann plötzlich erschöpft umgesunken sei und dergleichen mehr. Und so erzählte er ihnen denn auch sein Abenteuer in dieser Art.

Mitten in seinem Bericht, gerade als er sagte: »Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein sonderbares Gefühl der Raserei man bei solch einem Angriff empfindet«, trat Fürst Andrej Bolkonskij ins Zimmer, der von Boris erwartet wurde. Fürst Andrej, der sich gegen junge Leute gern gönnerhaft zeigte, und sich geschmeichelt fühlte, wenn jemand ihn um Protektion anging, wollte den Wunsch des jungen Mannes erfüllen, da er Boris wohlgeneigt war und ihm der junge Mann gestern gut gefallen hatte. Er war heute von Kutusow mit Papieren zum Großfürsten gesandt worden und hatte bei dieser Gelegenheit Boris mit aufsuchen wollen in der Hoffnung, ihn allein anzutreffen. Als er nun ins Zimmer trat und dort einen Husaren von der Linie sitzen sah, der Kriegsabenteuer erzählte – eine Sorte von Menschen, die Fürst Andrej nicht ausstehen konnte –, lächelte er Boris freundlich zu, sah Rostow finster und mit zusammengekniffenen Augen an, verbeugte sich leicht und ließ sich dann müde und lässig auf den Diwan nieder. Es war ihm unangenehm, daß er in eine solche Gesellschaft geraten war. Rostow fühlte das und bekam einen roten Kopf. Es war ihm zwar vollkommen gleichgültig, denn das war ja ein ganz fremder Mensch, aber er warf einen Blick auf Boris und sah, daß auch er sich der Gegenwart dieses Husaren von der Linie zu schämen schien. Trotz des widerlich spöttischen Tones des Fürsten Andrej, trotz der allgemeinen Nichtachtung, die Rostow von seinem Standpunkt als Linienoffizier allen diesen Adjutanten vom Stabe entgegenbrachte, denen offenbar dieser Ankömmling ebenfalls beizuzählen war, wurde Rostow doch verlegen, errötete und schwieg. Boris fragte, was es Neues beim Stab gebe, und was man, ohne indiskret zu sein, über unsere künftigen Pläne erfahren könne.

»Höchstwahrscheinlich rücken wir vor«, erwiderte Bolkonskij mit dem unverkennbaren Wunsch, vor Fremden nicht mehr zu sagen.

Berg benutzte die Gelegenheit, um mit der ihm eigenen Höflichkeit zu fragen, ob das Gerücht, daß die Kompanieführer bei der Linie jetzt doppelte Fouragegelder beziehen sollten, wahr sei. Fürst Andrej erwiderte darauf lächelnd, daß er über so wichtige Staatserlasse nicht orientiert sei, worauf Berg in ein fröhliches Lachen ausbrach.

»Was Ihre Angelegenheit anbetrifft«, wandte sich Fürst Andrej wieder an Boris, »so wollen wir später davon reden.« Er warf einen Blick auf Rostow. »Kommen Sie nach der Besichtigung zu mir, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.«

Er sah sich im Zimmer um, wandte sich dann an Rostow, dessen kindliche, unüberwindliche Verlegenheit, die in Wut überging, er nicht einmal zu beachten der Mühe für wert hielt, und sagte: »Sie erzählen anscheinend soeben von Schöngrabern. Sind Sie dabei gewesen?«

»Ja, ich bin dabei gewesen«, entgegnete Rostow erbost, wie um den Adjutanten dadurch zu kränken.

Bolkonskij bemerkte die Gemütsverfassung des Husaren und schien sich daran zu ergötzen. Ein etwas geringschätziges Lächeln umspielte seine Lippen.

»Ja, darüber werden jetzt viele Histörchen erzählt!«

»Ja, Histörchen«, wiederholte Rostow laut und richtete seine zornfunkelnden Augen bald auf Boris, bald auf Bolkonskij, »jawohl, Histörchen! Aber was wir erzählen, wir, die wir selber im feindlichen Feuer gestanden haben, das hat etwas zu bedeuten und ist nicht so wie das, was solche Grünschnäbel vom Stabe da zusammenschwatzen, die Auszeichnungen erhalten, ohne etwas geleistet zu haben.«

»Und zu denen, wie Sie wahrscheinlich annehmen, wohl auch ich gehöre«, fügte Fürst Andrej ruhig hinzu und lächelte dabei ganz besonders liebenswürdig.

Ein sonderbares Gefühl der Wut, gemischt mit einer gewissen Achtung vor der Ruhe dieses Menschen, regte sich plötzlich in Rostows Brust.

»Ich spreche nicht von Ihnen«, sagte er. »Ich kenne Sie nicht und muß gestehen, daß ich auch gar kein Verlangen danach habe, Sie kennen zu lernen. Ich spreche vom Stab im allgemeinen …«

»Ich will Ihnen mal was sagen«, unterbrach ihn Fürst Andrej in ruhig überlegenem Ton. »Sie wollen mich beleidigen, und ich gebe Ihnen gern zu, daß das etwas sehr Einfaches ist, wenn Sie nicht genügend Achtung vor sich selber besitzen. Aber Sie müssen doch einsehen, daß sowohl der Augenblick als auch der Ort nicht ganz passend dazu gewählt ist. Uns allen steht in diesen Tagen ein großes, ernsthaftes Duell bevor, und außerdem kann doch Drubezkoj, der behauptet, daß Sie ein alter Freund von ihm seien, wirklich nichts dafür, daß mein Gesicht das Pech hat, Ihnen zu mißfallen. Übrigens«, sagte er und stand auf, »kennen Sie ja meinen Namen und wissen, wo Sie mich finden können. Vergessen Sie aber nicht«, fügte er hinzu, »daß ich weder mich noch Sie für beleidigt halte und Ihnen als der Ältere den Rat gebe, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Also ich erwarte Sie am Freitag nach der Besichtigung, Drubezkoj, auf Wiedersehen!« rief Fürst Andrej und ging hinaus, nachdem er sich vor den beiden anderen verbeugt hatte.

Erst als Bolkonskij schon draußen war, fiel Rostow ein, was er ihm hätte antworten müssen. Und nun ärgerte er sich um so mehr, daß er nicht früher darauf gekommen war. Er ließ sich sogleich sein Pferd bringen, nahm trocken von Boris Abschied und ritt nach seinem Quartier. Sollte er morgen ins Hauptquartier reiten und diesen großschnäuzigen Adjutanten fordern oder die Sache wirklich auf sich beruhen lassen? Diese Frage quälte ihn während des ganzen Weges. Bald dachte er voller Wut daran, mit welchem Genuß er die Angst dieses kleinen, schwächlichen und stolzen Menschen vor seiner Pistole auskosten wollte, bald fühlte er zu seinem Erstaunen, daß von allen Leuten, die er kannte, er sich keinen so sehr zum Freund gewünscht hätte wie diesen verhaßten Adjutanten.

8

Am Tag nach dem Wiedersehen zwischen Boris und Rostow fand die Besichtigung der österreichischen und russischen Armee statt, an der nicht nur die frischen, soeben aus Rußland eingetroffenen Truppen, sondern auch die unter Kutusows Kommando aus dem Felde zurückgekehrten teilnahmen. Die beiden Kaiser, der russische, gefolgt vom Thronfolger, und der österreichische, gefolgt vom Erzherzog, besichtigten die achtzigtausend Mann starke verbündete Armee.

Am frühen Morgen fingen die tadellos gesäuberten und geputzten Truppen an, aufzumarschieren und sich auf dem Feld vor der Festung in Reih und Glied aufzustellen. Tausende von Beinen, Bajonetten und wehenden Fahnen waren in Bewegung, machten auf das Kommando der Offiziere halt, gingen um ähnliche Infanteriemassen in anderen Uniformen herum, machten kehrt und stellten sich in regelmäßigen Abständen auf. Dort sprengte unter gleichmäßigem Getrappel und Gestampfe die schmucke Kavallerie in blauen, roten und grünen Uniformen mit ihrer Musik in buntgestickten Röcken auf Rappen, Füchsen und Schimmeln vor. Dort kroch die Artillerie in langem Zug unter dem dumpfen Dröhnen des Metalls ihrer blankgeputzten, glänzenden, auf den Lafetten hin und her gerüttelten Kanonen und ihrem Luntegeruch zwischen Infanterie und Kavallerie durch und nahm auf dem ihr angewiesenen Platz Aufstellung. Nicht nur die Generäle in voller Paradeuniform, die dicken oder dünnen Taillen so eng wie möglich zusammengeschnürt, die roten Hälse in hohe Kragen eingezwängt, mit Schärpen und zahlreichen Orden, nicht nur die pomadisierten, eleganten Offiziere, nein, auch jeder Soldat mit seinem frischgewaschenen, sauber rasierten Gesicht und seiner bis zum letzten Grad der Möglichkeit blankgewichsten Montur und sogar jedes Pferd, so sorgsam geputzt, daß das Fell wie Atlas glänzte und in der mit Wasser gekämmten Mähne ein Haar neben dem anderen lag – sie alle fühlten, daß etwas Ernstes, Bedeutsames und Feierliches bevorstand. Ob General oder Soldat, jeder war sich in diesem Augenblick seiner Nichtigkeit bewußt, wenn er daran dachte, daß er in diesem Menschenmeere nichts weiter als ein Sandkörnchen sei; jeder fühlte aber auch gleichzeitig seine Macht bei dem Gedanken, daß auch er ein Teil dieses gewaltigen Ganzen war.

Vom frühen Morgen an hatte dieses geschäftige Leben und Treiben begonnen, und um zehn Uhr war die gewünschte Ordnung hergestellt. Alles stand in Reih und Glied auf dem gewaltigen Platze. Die ganze Streitmacht war in drei Gruppen geteilt: vorn die Kavallerie, dahinter die Artillerie und ganz hinten die Infanterie. Zwischen den Truppengattungen waren breite Durchgangsstraßen freigelassen.

Drei Gruppen dieser großen gemeinsamen Armee unterschieden sich scharf voneinander: die Armee Kutusows – dort standen am rechten Flügel in der ersten Reihe die Pawlograder –, dann die soeben aus Rußland eingetroffenen Linien- und Garderegimenter und schließlich das österreichische Heer. Aber sie standen alle in einer Linie, unter einem Oberkommando, zusammen in Reih und Glied.

Plötzlich ging ein erregtes Flüstern durch alle Reihen, wie der Wind durch die Blätter der Bäume: »Sie kommen, sie kommen!« Hier und da hörte man noch einen erschrockenen Zuruf, und eine Welle der Unruhe und der letzten Vorbereitungen wogte durch das Heer.

Man sah, wie sich vorn, von Olmütz her, eine Reitergruppe näherte. In diesem Augenblick strich, obgleich es ein windstiller Tag war, ein sanfter Luftzug über das ganze Heer und bewegte die Lanzenfähnchen und die entrollten Fahnen leicht hin und her, so daß sie gegen ihre Stangen schlugen. Es schien, als wolle die Armee selbst durch diese leise Bewegung ihre Freude über die Ankunft der beiden Herrscher ausdrücken. Eine Stimme ertönte: »Stillgestanden!« Darauf wiederholte sich dieses Kommando an allen Ecken und Enden wie das Krähen der Hähne bei Sonnenaufgang. Dann wurde alles still.

In dieser Totenstille hörte man nur das herannahende Getrappel von Pferdehufen. Es waren die beiden Kaiser mit ihrem Gefolge. Sie begaben sich nach dem einen Flügel, und schon ertönten die Trompeten des ersten Kavallerieregimentes, die den Generalmarsch bliesen. Es schien, als wären es nicht die Trompeten, sondern das ganze Heer, das seine Freude über die Ankunft der beiden Herrscher durch diese Töne zum Ausdruck brächte. Doch alle diese Laute übertönte deutlich und klar die junge, freundliche Stimme Kaiser Alexanders. Er sprach ein paar Worte der Begrüßung, und das erste Regiment brüllte: »Hurra!« Das dröhnte so ohrenbetäubend, so unendlich und froh, daß die Leute selber über die zahllose und gewaltige Masse, die sie bildeten, erschraken.

Rostow stand in den vordersten Reihen der Kutusowschen Armee, die der Kaiser zuerst abritt, und empfand das gleiche Gefühl, das jeder einzelne Mann dieser Truppe empfand – das Gefühl der Selbstvergessenheit, des stolzen Bewußtseins eigner Kraft und der leidenschaftlichen Hingabe für denjenigen, dem die heutige Feier galt.

Er war sich bewußt, daß es nur eines Wortes dieses Mannes bedurfte, um diese ganze gewaltige Masse – der auch er selber als nichtiges Sandkörnchen angehörte – ins Feuer, ins Wasser, zum Verbrechen, in den Tod oder zu erhabensten Heldentaten zu führen, und konnte deshalb gar nicht anders, als in Erwartung dieses herannahenden Wortes erzittern und fast vergehen.

»Hurra! Hurra! Hurra!« dröhnte es von allen Seiten, und ein Regiment nach dem anderen empfing den Herrscher mit den Klängen des Generalmarsches. Dann »Hurra!« und wieder Generalmarsch und abermals »Hurra!« und »Hurra!«, und all das verschmolz, immer stärker und stärker werdend, zu einem ohrenbetäubenden Getöse.

Solange der Kaiser noch nicht herangeritten war, glich jedes Regiment in seiner Stille und Starrheit einem leblosen Körper, langte aber der Herrscher dort an, so belebte es sich sogleich und stimmte donnernd in das Hurrarufen jener Reihen ein, die der Kaiser soeben abgeritten hatte. In dem furchtbaren, ohrenbetäubenden Brausen dieser Stimmen, mitten durch diese unbeweglichen, in ihren Vierecken wie zu Stein erstarrten Truppenmassen bewegte sich lässig, aber gleichmäßig und frei die Suite von einigen hundert Reitern. Ihnen voran ritten die zwei Hauptpersonen, die beiden Kaiser. Auf sie konzentrierte sich rückhaltlos die leidenschaftliche, aber verhaltene Aufmerksamkeit dieser ganzen Menschenmasse.

Der junge, hübsche Kaiser Alexander in der Uniform der Gardereiter, mit dem Dreispitz auf dem Kopf, mit seinem sympathischen Gesicht und seiner wohltönenden, nicht überlauten Stimme zog mit Macht alle Aufmerksamkeit auf sich.

Rostow stand nicht weit von den Trompetern und hatte mit seinen scharfen Augen schon von weitem den Herrscher erkannt und sein Herannahen verfolgt. Als der Kaiser bis auf eine Entfernung von zwanzig Schritten zu ihm herangekommen war, und Nikolaj sein schönes, junges und glückliches Gesicht ganz klar und in allen Einzelheiten erkennen konnte, empfand er ein solches Gefühl der Begeisterung und Liebe, wie er es bisher noch nie empfunden hatte. Alles – jeder Zug und jede Geste – erschien ihm herrlich an seinem Kaiser.

Der Kaiser machte vor dem Pawlograder Regiment halt, sagte zu dem Kaiser von Österreich ein paar Worte auf französisch und lächelte.

Als Rostow dieses Lächeln sah, mußte er unwillkürlich selber mitlächeln, und der Strom der Liebe, die er für seinen Kaiser empfand, überflutete ihn immer stärker. Wie gern hätte er dem Herrscher seine Liebe irgendwie bekundet! Und weil er wußte, daß dies unmöglich war, kamen ihm beinahe die Tränen. Der Kaiser rief den Regimentskommandeur vor und sprach ein paar Worte mit ihm.

Großer Gott, wie würde mir werden, wenn der Kaiser sich an mich gewandt hätte! dachte Rostow. Ich würde sterben vor Glück.

Da wandte sich Kaiser Alexander an die Offiziere: »Ihnen allen, meine Herren« – Rostow hörte jedes seiner Worte und sie deuchten ihm wie Töne des Himmels –, »danke ich von ganzem Herzen.«

Wie selig wäre Rostow gewesen, hätte er in diesem Augenblick für seinen Kaiser sterben dürfen.

»Sie haben sich die Georgsfahnen verdient und werden sich ihrer auch künftig würdig erweisen.«

Nur sterben, sterben für ihn! dachte Rostow.

Der Kaiser fügte noch ein paar Worte hinzu, die Rostow nicht verstand, und die Soldaten brüllten aus voller Kehle: »Hurra!«

Rostow schrie ebenfalls, so laut er nur konnte, mit, indem er sich bis zum Sattel niederbeugte, und hätte sich gern durch dieses Schreien Schaden getan, wenn er nur dadurch die Begeisterung für seinen Kaiser hätte bekunden können.

Der Kaiser blieb noch ein paar Augenblicke vor den Husaren stehen, als wäre er sich über etwas nicht ganz schlüssig.

Wie kann ein Kaiser unschlüssig sein? dachte Rostow, dann aber erschien ihm auch diese Unschlüssigkeit erhaben und begeisternd wie eben alles, was der Kaiser tat.

Aber diese Unentschiedenheit des Kaisers dauerte nur einen Augenblick. Sein einer Fuß mit der nach damaliger Mode langen und schmalen Stiefelspitze berührte die Flanke der englisierten Fuchsstute, die er ritt, seine weißbehandschuhte Rechte straffte die Zügel und er sprengte davon, gefolgt von dem wirr durcheinander wogenden Heere der Adjutanten. Weiter und weiter entfernte er sich, machte vor anderen Regimentern halt, und schließlich konnte Rostow über das Gefolge hinweg, das die beiden Kaiser umgab, nur noch seinen weißen Federbusch wehen sehen.

Unter den Offizieren der Suite hatte Rostow auch Bolkonskij bemerkt, der lässig und leicht auf seinem Pferd saß. Rostow erinnerte sich an seinen gestrigen Streit mit ihm und legte sich abermals die Frage vor, ob er ihn fordern müsse oder nicht. Natürlich brauche ich ihn nicht zu fordern, dachte Rostow. Ist es überhaupt der Mühe wert, in einem solchen Augenblick wie jetzt an so etwas zu denken und davon zu sprechen? Was haben all unsere Streitereien und Beleidigungen zu bedeuten in einem Augenblick, wo man eine solche Liebe, Begeisterung und Selbstvergessenheit empfindet? Ich liebe alle, alle und verzeihe jetzt allen, dachte Rostow.

Als der Kaiser fast alle Regimenter abgeritten hatte, fingen die Truppen an, noch einmal im Parademarsch an ihm vorüberzuziehen, und Rostow mußte am Schluß seiner Eskadron auf seinem erst kürzlich von Denissow gekauften »Beduinen« vorbeireiten, das heißt ganz allein und unmittelbar vor den Augen Seiner Majestät.

Kurz bevor er beim Kaiser vorbeikam, gab Rostow, der ein glänzender Reiter war, seinem »Beduinen« zweimal die Sporen und brachte ihn so glücklich bis zu jener tollen Art des Trabens, die der »Beduine«, wenn er angefeuert wurde, immer anzuschlagen pflegte. Die mit Schaum bedeckten Nüstern tief auf die Brust niedergebeugt, den Schweif lang ausgestreckt, schien er, fast ohne die Erde zu berühren, durch die Luft zu schießen, indem er hoch und graziös mit den Beinen ausholte, und kam so ausgezeichnet vor dem Kaiser vorbei, als fühle er ebenfalls den Blick des Herrschers auf sich ruhen.

Rostow selber warf die Beine zurück, zog den Bauch ein, fühlte, wie er mit seinem Pferd gleichsam zu einem Ganzen verschmolz und ritt mit finsterem, aber glückseligem Gesicht, »wie der Deibel«, wie Denissow zu sagen pflegte, vor dem Kaiser vorbei.

»Forsche Jungen, meine Pawlograder!« murmelte der Kaiser.

Großer Gott, wie selig wäre ich, wenn er mir jetzt befehlen würde, mich sogleich ins Schlachtenfeuer zu stürzen! dachte Rostow.

Als die Besichtigung vorüber war, traten die Offiziere, sowohl die neuangekommenen als auch die der Kutusowschen Armee, zu Gruppen zusammen und unterhielten sich über Auszeichnungen, über die Österreicher, ihre Uniformen und ihre Front, über Bonaparte und darüber, wie schlecht es ihm nun ergehen werde, hauptsächlich, wenn noch das Korps von Essen ankomme und Preußen auf unsere Seite trete.

Vor allen Dingen aber sprach man überall von Kaiser Alexander, wiederholte jedes seiner Worte und jede seiner Gesten und war von ihm entzückt.

Und alle beseelte nur der eine Wunsch: unter dem Oberbefehl des Kaisers so bald wie möglich gegen den Feind loszuziehen. Unter dem persönlichen Kommando eines solchen Kaisers war ja gar nichts anderes möglich als zu siegen, gegen wen sie auch immer zu Felde ziehen mochten. So dachten Rostow und der größte Teil der Offiziere.

Nach dieser Besichtigung waren alle von einem künftigen Sieg mehr überzeugt, als sie es nach zwei gewonnenen Schlachten hätten sein können.

9

Am Tag nach der Besichtigung zog Boris seine beste Uniform an, ließ sich von seinem Kameraden Berg guten Erfolg auf den Weg wünschen und ritt nach Olmütz zu Bolkonskij, um von seiner Liebenswürdigkeit Gebrauch zu machen und sich einen besseren Posten zu verschaffen, am liebsten die Stellung eines Adjutanten bei irgendeiner wichtigen Persönlichkeit, denn das erschien ihm als das Verlockendste in der ganzen Armee. Rostow hat gut reden, dachte er, daß er vor keinem dienern und keines Menschen Lakai sein will, wenn ihm sein Vater immer gleich zehntausend Rubel schickt. Ich aber, der ich nichts weiter habe als meinen Kopf, darf, wenn ich Karriere machen will, keine Hilfe ausschlagen und muß jede Gelegenheit beim Schopfe packen.

In Olmütz traf er Fürst Andrej an diesem Tag nicht an. Doch allein der Anblick der Stadt, wo das Hauptquartier war, das diplomatische Korps sich befand und die beiden Kaiser mit ihrem Gefolge, dem Hofstaat und Hoftroß einquartiert lagen, bestärkte nur noch mehr seinen Wunsch, zu dieser höheren Welt zu gehören.

Er kannte hier keinen Menschen, und trotz seiner schmucken Gardeuniform schienen alle diese hochstehenden Persönlichkeiten, teils Zivilpersonen, teils Offiziere, die mit Federbüschen, Bändern und Orden in ihren eleganten Equipagen durch die Straßen hasteten, doch so unermeßlich hoch über ihm, dem armen, kleinen Gardeoffizier, zu stehen, daß sie von seiner Existenz nicht nur keine Notiz nehmen wollten, sondern es auch gar nicht konnten. In dem Quartier des Oberkommandierenden Kutusow, wo er nach Bolkonskij fragte, sahen ihn alle diese Adjutanten und sogar die Burschen so an, als wollten sie ihm klarmachen, daß solch kleine Offiziere wie er hier in Unmassen herumschlenderten und ihnen bereits zum Halse heraushingen. Nichtsdestoweniger, oder vielmehr infolgedessen, ritt er am nächsten Tag, also am 15. November, nach dem Mittagessen abermals nach Olmütz, suchte das Haus, das Kutusow innehatte, auf und fragte nach Bolkonskij. Fürst Andrej war zu Hause, und Boris wurde in einen großen Saal geführt, in dem früher wahrscheinlich getanzt worden war, wo jetzt aber fünf Betten und verschiedene andere Möbelstücke standen: ein Tisch, ein paar Stühle und ein Klavier. Der eine der Adjutanten, der der Tür am nächsten war, saß in einem persischen Schlafrock am Tisch und schrieb. Ein anderer, der dicke, rotbäckige Neswizkij, lag auf dem Bett, hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und unterhielt sich lachend mit einem Offizier, der neben ihm saß. Ein dritter spielte auf dem Pianoforte einen Wiener Walzer, und ein vierter lag oben auf dem Klavier und sang dazu. Bolkonskij war nicht im Zimmer. Obgleich alle diese Herren Boris bemerkt hatten, änderte doch keiner von ihnen seine augenblickliche Stellung. Der, welcher schrieb, an den sich Boris gewandt hatte, drehte sich unwirsch nach ihm um und erwiderte, Bolkonskij habe Dienst, und er müsse durch die Türe links, ins Empfangszimmer gehen, wenn er ihn sehen wolle. Boris dankte und begab sich ins Empfangszimmer. Dort befanden sich etwa zehn Offiziere und Generäle.

Als Boris eintrat, hörte Fürst Andrej gerade mit geringschätzig zusammengekniffenen Augen – mit jenem ganz besonderen Ausdruck artiger Höflichkeit, der deutlich sagt: Wenn es nicht meine Pflicht wäre, würde ich mich keinen Augenblick länger mit Ihnen unterhalten – einen alten russischen General mit vielen Orden an, der in strammer Haltung, fast auf den Zehen stehend, mit dem unterwürfigen Ausdruck eines gewöhnlichen Soldaten auf dem blauroten Gesicht ihm irgend etwas meldete.

»Sehr wohl. Wollen Sie, bitte, etwas warten«, sagte Fürst Andrej zu dem General auf russisch, aber mit jener französischen Aussprache, deren er sich zu bedienen pflegte, wenn er seine Verachtung zum Ausdruck bringen wollte. Als er Boris bemerkte, schenkte er dem General, der hinter ihm herlief und ihn bat, ihn noch weiter anzuhören, überhaupt keine Beachtung mehr und ging Boris lächelnd und mit freundlichem Kopfnicken entgegen.

In diesem Augenblick wurde es Boris klar, daß es im Heer, wie er schon früher vermutet hatte, außer jener Subordination und Disziplin, die im Reglement vorgeschrieben und im Regiment und auch ihm selber bekannt war, noch eine andere, wesentlichere Subordination gab, jene, die diesen General mit der geschnürten Taille und dem blauroten Gesicht veranlaßte, ehrerbietigst so lange zu warten, wie es dem Hauptmann und Fürsten Andrej Vergnügen machte, sich mit dem Fähnrich Drubezkoj zu unterhalten. Und fester als jemals wurde in Boris der Entschluß, nicht nach jener im Reglement vorgeschriebenen Subordination, sondern nach dieser ungeschriebenen zu dienen. Er fühlte jetzt, daß er nur deshalb, weil er dem Fürsten Andrej empfohlen worden war, mit einem Schlag höher stand als dieser General, der bei anderen Gelegenheiten, an der Front, ihn, den kleinen Gardefähnrich, in Grund und Boden schmettern konnte.

Fürst Andrej schritt auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

»Tut mir riesig leid, daß Sie mich gestern nicht angetroffen haben. Ich habe mich den ganzen Tag mit diesen Deutschen rumgeplagt. Bin mit Weyrother zur Dispositionsprüfung geritten. Wenn die Deutschen erst einmal mit ihrer Gründlichkeit kommen, dann ist kein Ende abzusehen.«

Boris lächelte, als verstünde er, worauf Fürst Andrej als auf etwas allgemein Bekanntes anspielte. Aber er hörte sowohl den Namen Weyrother wie das Wort Disposition zum erstenmal.

»Nun, mein Lieber, Sie möchten also immer noch gern Adjutant werden? Ich habe mir seit der Zeit Ihre Angelegenheit durch den Kopf gehen lassen.«

»Ja, ich dachte«, sagte Boris und wurde aus irgendeinem Grund unwillkürlich rot dabei, »den Oberkommandierenden darum zu bitten. Ich habe ein Empfehlungsschreiben vom Grafen Kuragin an ihn. Ich möchte ihn nur deshalb darum bitten«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu, »weil ich fürchte, die Garde wird nicht ins Gefecht kommen.«

»Schön, schön, wir reden noch darüber«, erwiderte Fürst Andrej. »Lassen Sie mich nur erst jenen Herrn da melden, dann gehöre ich Ihnen ganz.«

Während Fürst Andrej den General mit dem blauroten Gesicht anmeldete, heftete dieser, der sichtlich Boris’ Auffassung von den Vorteilen der ungeschriebenen Subordination nicht teilte, seine Augen hartnäckig auf den kecken Fähnrich, der ihn daran gehindert hatte, sein Gespräch mit dem Adjutanten zu beenden, daß es Boris unbehaglich zumute wurde. Er wandte sich ab und wartete voller Ungeduld darauf, daß Fürst Andrej aus dem Arbeitszimmer des Oberkommandierenden wieder herauskomme.

»Sehen Sie, mein Lieber, ich habe über Sie nachgedacht«, sagte Fürst Andrej, als sie sich dann zusammen in den großen Saal, wo das Klavier stand, begaben. »Sie brauchen gar nicht zum Oberkommandierenden zu gehen; er würde Ihnen nur eine Menge Liebenswürdigkeiten sagen, würde Sie zum Mittagessen einladen« – das wäre gar nicht so übel für den Dienst nach jener Subordination, dachte Boris –, »doch das alles führt zu nichts; wir Adjutanten und Ordonnanzen werden bald ein ganzes Bataillon sein. Aber wissen Sie, was wir machen? Ich habe einen guten Freund, den Fürsten Dolgorukow, der Generaladjutant und überdies ein prächtiger Mensch ist. Sie können das nicht so wissen, aber die Sache ist die, daß jetzt Kutusow und sein Stab und wir alle überhaupt nichts mehr bedeuten: alles konzentriert sich jetzt um den Kaiser. Wir gehen also zu Dolgorukow, ich muß sowieso zu ihm hin und habe ihm auch bereits von Ihnen erzählt. Und dort werden wir ja sehen, ob es ihm nicht möglich sein wird, Sie irgendwo bei sich unterzubringen oder sonst wo in der Nähe der Sonne.«

Fürst Andrej wurde immer ganz besonders lebhaft, wenn er einen jungen Menschen auf den rechten Weg bringen und ihm zum Erfolg in der großen Welt verhelfen konnte. Unter dem Vorwand, Hilfe für andere zu erheischen, die er für sich selber aus Stolz niemals angenommen hätte, befand er sich immer in der Nähe jenes Zentrums, das allen Erfolg verbürgte und ihn selber im höchsten Grad anzog. Deshalb nahm er sich auch Boris’ gern an und ging mit ihm zum Fürsten Dolgorukow.

Es war schon spät am Abend, als sie das Olmützer Schloß, wo die beiden Kaiser mit ihrem Gefolge wohnten, erreichten.

An diesem Tag hatte gerade ein Kriegsrat stattgefunden, an dem alle Mitglieder des Hofkriegsrates sowie beide Kaiser teilgenommen hatten. In dieser Beratung war, ganz gegen die Überzeugung zweier bejahrter Feldherren, Kutusows und des Fürsten Schwarzenberg, der Entschluß angenommen worden, unverzüglich die Offensive zu ergreifen und Bonaparte eine Entscheidungsschlacht zu liefern. Dieser Kriegsrat war gerade beendet, als Fürst Andrej, von Boris begleitet, ins Schloß kam, um den Fürsten Dolgorukow aufzusuchen. Noch war jedermann im Hauptquartier von dem heutigen Kriegsrat, der mit einem so glänzenden Sieg der Jugend geendet hatte, vollkommen berauscht.

Die Stimmen der Bedächtigen, die geraten hatten, mit dem Angriff noch etwas zu warten, waren so einmütig erstickt und ihre Gründe durch so sonnenklare Beweise der Vorteile einer Offensive widerlegt worden, daß das, worüber man in der Sitzung beraten hatte, also die künftigen Schlachten und zweifellosen Siege, schon nicht mehr als etwas Zukünftiges, sondern als etwas bereits Geschehenes erschien. Alle Vorteile waren auf unserer Seite: gewaltige Streitkräfte, zweifellos denen Napoleons weit überlegen, waren auf einen Punkt zusammengezogen; die Truppen befanden sich durch die Gegenwart der beiden Kaiser in Begeisterung und brannten geradezu darauf, loszuschlagen; der strategische Punkt, von wo aus die Offensive unternommen werden sollte, war dem österreichischen General Weyrother, der die Truppen kommandierte, bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt: es hatte sich wie ein glücklicher Zufall gerade so getroffen, daß die österreichischen Truppen im Vorjahr ihre Manöver auf jenem Gelände abgehalten hatten, wo jetzt die Offensive gegen die Franzosen erfolgen sollte; die geringfügigsten Einzelheiten dieses Geländes waren also auf den Karten verzeichnet, und Bonaparte, sichtlich schwach, wagte nichts zu unternehmen.

Dolgorukow, einer der glühendsten Anhänger der Offensive, kehrte soeben erst müde und abgespannt, aber begeistert und stolz auf den errungenen Sieg, aus dem Kriegsrat zurück. Fürst Andrej stellte ihm seinen Schützling vor. Fürst Dolgorukow drückte ihm zwar höflich und fest die Hand, sagte aber kein Wort zu Boris. Da er augenscheinlich außerstande war, die Gedanken, die ihn in diesem Augenblick stärker als alles andere beschäftigten, nicht auszusprechen, wandte er sich auf französisch an Fürst Andrej: »Ich sage Ihnen, mein Lieber, was für einen Kampf haben wir bestehen müssen! Gebe Gott nur, daß das, was die Folge davon sein wird, mit einem ebensolchen Sieg ende. Übrigens, Fürst«, fügte er in seiner lebhaften, plötzlichen Art hinzu, »ich muß gestehen, ich bin ein Waisenknabe gegen diese Österreicher, ganz besonders gegen Weyrother. Diese Genauigkeit, diese Gründlichkeit, diese Ortskenntnis, dieses Voraussehen aller Möglichkeiten, aller Umstände, der kleinsten Kleinigkeiten! Nein, mein Lieber, etwas Vorteilhafteres als die Umstände, in denen wir uns jetzt befinden, könnte man sich gar nicht ausdenken, österreichische Präzision mit russischer Tapferkeit vereint – was wollen Sie noch mehr?«

»So ist die Offensive also endgültig beschlossen?« fragte Bolkonskij.

»Und wissen Sie, mein Lieber, mir kommt es vor, als wäre Bonaparte tatsächlich mit seinem Latein zu Ende. Sie wissen doch wohl, daß heute ein Brief von ihm beim Kaiser eingelaufen ist?« Dolgorukow lächelte vielsagend.

»Schau, schau! Was schreibt er denn?« fragte Bolkonskij.

»Was kann er groß schreiben? Papperlapapp und so weiter. Das ist alles nur, um Zeit zu gewinnen. Ich sage Ihnen, wir haben ihn vollständig in Händen, das ist mal sicher. Aber was das Ulkigste dabei war«, fuhr er fort und lachte plötzlich gutmütig auf, »niemand war sich darüber klar, wie man die Antwort an ihn adressieren solle. Doch nicht an den Konsul Bonaparte und selbstverständlich auch nicht an den Kaiser, mich dünkte, einfach an den General Bonaparte.«

»Ihn nicht als Kaiser anzuerkennen und ihn schlechtweg nur General zu nennen, ist aber nicht dasselbe«, sagte Bolkonskij.

»Das ist es ja eben«, unterbrach ihn lachend Dolgorukow in seiner lustigen Art. »Sie kennen doch Bilibin, ein sehr kluger Kopf, der schlug folgende Adresse vor: ›An den Usurpator und Feind des Menschengeschlechtes.‹« Dolgorukow lachte belustigt auf.

»Weiter nichts?« bemerkte Bolkonskij.

»Doch im Ernst, Bilibin fand die richtige Anrede für die Adresse. Er ist ein scharfsinniger und kluger Mensch.«

»Nun, und die war?«

»An das Haupt der französischen Regierung, au chef du gouvernement français«, wiederholte Fürst Dolgorukow ernst und mit Genuß. »Nicht wahr, das ist gut?«

»Ausgezeichnet, aber ihm wird es wohl nicht allzu sehr gefallen«, bemerkte Bolkonskij.

»Oh, ganz und gar nicht! Mein Bruder kennt ihn, er hat in Paris mehr als einmal bei ihm, dem jetzigen Kaiser, zu Mittag gegessen und mir erzählt, er habe nie einen feineren und schlaueren Diplomaten gesehen als Bonaparte. Französische Gewandtheit, gepaart mit italienischer Verstellungskunst. Sie kennen doch die nette Geschichte mit dem Grafen Markow? Dieser Graf Markow ist tatsächlich der einzige, der mit ihm umzugehen versteht. Kennen Sie die Geschichte mit dem Taschentuch? Die ist einzig!«

Und der redselige Dolgorukow erzählte bald an Boris, bald an den Fürsten Andrej gewandt, wie Napoleon unserem Gesandten, dem Grafen Markow, habe eine Falle stellen wollen: er habe vor ihm eigens sein Taschentuch zu Boden fallen lassen, sei stehen geblieben und habe ihn angesehen, wahrscheinlich in der Erwartung, daß Markow ihm das Tuch aufheben werde. Markow aber habe unverzüglich sein Taschentuch daneben fallen lassen, habe sich gebückt, um das seinige aufzuheben und das Bonapartes liegen gelassen.

»Charmant«, sagte Bolkonskij. »Aber hören Sie, Graf, ich bin eigentlich als Bittsteller zu Ihnen gekommen, wegen dieses jungen Menschen hier. Sehen Sie …«

Fürst Andrej konnte nicht zu Ende sprechen: ins Zimmer trat plötzlich ein Adjutant, der den Fürsten Dolgorukow zum Kaiser rief.

»Ach, wie ärgerlich!« sagte Dolgorukow, sprang hastig auf und drückte Fürst Andrej und Boris die Hand. »Aber Sie wissen ja, ich bin mit dem größten Vergnügen bereit, alles, was in meiner Macht steht, für Sie und auch für diesen lieben jungen Mann zu tun.« Er drückte Boris noch einmal mit dem Ausdruck lebhafter, herzlicher, etwas oberflächlicher Gutmütigkeit die Hand. »Aber Sie sehen … Auf ein andermal!«

Boris regte der Gedanke nicht wenig auf, daß er sich in diesem Augenblick in nächster Nähe der höchsten Machtkreise befand. Er fühlte, daß er hier mit den Triebfedern in Berührung kam, die die Masse zu allen jenen gewaltigen Bewegungen leitete, an denen er bei seinem Regiment als kleiner, bescheidener und nichtiger Soldat teilgenommen hatte. Sie traten kurz nach dem Fürsten Dolgorukow auf den Korridor hinaus und stießen hier auf einen jüngeren Herrn, der soeben aus der Tür, durch die Fürst Dolgorukow verschwand, heraustrat. Er war nicht sehr groß, trug Zivil, hatte ein kluges Gesicht, das zwar durch den ziemlich vorstehenden Unterkiefer einen etwas strengen Ausdruck zeigte, doch das entstellte ihn keineswegs, sondern verlieh ihm vielmehr ein besonders lebhaftes und gewandtes Aussehen. Dieser kleine Herr nickte Dolgorukow wie einem alten Bekannten zu, warf einen kalten, starren Blick auf den Fürsten Andrej und ging direkt auf ihn zu, augenscheinlich in der Erwartung, daß Fürst Andrej sich vor ihm verbeugen und ihm Platz machen werde. Aber Fürst Andrej tat weder das eine noch das andere, sein Gesicht nahm einen feindseligen Ausdruck an, und der junge Mann wandte sich ab und ging etwas seitlich den Korridor entlang.

»Wer ist das?« fragte Boris.

»Das ist einer der bedeutendsten Menschen, mir persönlich aber einer der unangenehmsten. Der Minister des Auswärtigen, Fürst Adam Czartoryski. Und solche Leute«, fügte Bolkonskij mit einem Seufzer, den er, als sie aus dem Schlosse traten, nicht unterdrücken konnte, hinzu, »und solche Leute entscheiden nun das Schicksal der Völker.«

Am anderen Tag setzten sich die Truppen in Marsch, und da es Boris vor der Schlacht bei Austerlitz nicht gelang, noch einmal mit Bolkonskij oder Dolgorukow zusammenzukommen, so blieb er vorläufig noch beim Ismailer Regiment.

10

Am frühen Morgen des 16. November rückte die Eskadron Denissows, bei der Nikolaj Rostow stand und die zum Korps des Fürsten Bagration gehörte, aus ihrem Quartier aus und, wie es hieß, gegen den Feind vor. Aber sie waren, hinter anderen Kolonnen herziehend, noch keine Werst vorwärtsgekommen, als der Befehl kam, auf der großen Landstraße haltzumachen. Rostow sah, wie die anderen an ihm vorüberzogen: zuerst die Kosaken, dann die erste und zweite Eskadron seines Husarenregiments, dann Infanteriebataillone und Artillerie und zuletzt die Generäle Bagration und Dolgorukow mit ihren Adjutanten. Die ganze Furcht, die er auch jetzt wieder, wie schon früher, vor dieser Schlacht empfunden hatte, der ganze innere Kampf, mit dem er diese Furcht zu überwinden suchte, all seine Träume davon, wie er sich nach Husarenart bei dieser Schlacht hatte auszeichnen wollen – das alles war nun umsonst gewesen. Seine Schwadron war zur Reserve bestimmt, und so verbrachte Nikolaj Rostow gelangweilt und verdrießlich den Tag.

Gegen neun Uhr morgens hörte er vorn Schießen und Hurrarufen, beobachtete, wie die Verwundeten zurückgebracht wurden – es waren zwar nicht viele –, und sah endlich, wie eine Kosakeneskadron eine ganze Abteilung französischer Kavallerie in ihrer Mitte gefangen vorbeiführte. Offenbar war das Treffen bereits zu Ende, es war anscheinend nicht groß, aber glücklich gewesen. Die zurückkommenden und vorübermarschierenden Soldaten und Offiziere erzählten von einem glänzenden Sieg, von der Einnahme der Stadt Wischau und der Gefangennahme einer ganzen Eskadron Franzosen.

Auf den starken Nachtfrost war ein klarer, sonniger Tag gefolgt, und der heitere Glanz dieses Herbsttages stimmte so recht zu der Siegesnachricht, die nicht nur durch die Erzählungen der Teilnehmer, sondern auch durch die strahlenden Gesichter der Soldaten, Offiziere, Generäle und Adjutanten verkündet wurde, die nach allen Richtungen hin an Rostow vorbeisprengten. Um so schmerzlicher krampfte sich Rostows Herz zusammen, hatte er doch all die der Schlacht vorausgehende Furcht nun umsonst erlitten und dabei den ganzen Tag in Untätigkeit verbracht.

»Rostow, komm, wir wollen unsern Kummer vertrinken!« rief Denissow, der es sich am Wegrand mit einer Flasche und seinem Frühstück bequem gemacht hatte.

Die Offiziere bildeten einen Kreis um Denissow, unterhielten sich und ließen es sich aus Denissows Frühstücksvorrat vorzüglich schmecken.

»Da bringen sie noch einen!« sagte einer der Offiziere und zeigte auf einen gefangenen französischen Dragoner, den zwei Kosaken zu Fuß vorbeiführten.

Der eine von ihnen führte ein stämmiges, schönes Franzosenpferd, das sie dem Gefangenen abgenommen hatten, am Zügel.

»Verkauf mir dein Pferd!« schrie Denissow dem Kosaken zu.

»Meinetwegen, Euer Wohlgeboren …«

Die Offiziere sprangen auf und umringten die Kosaken und den gefangenen Franzosen. Der französische Dragoner war ein junger Bursche, ein Elsässer, der Französisch mit deutscher Klangfarbe sprach. Er war vor Aufregung noch ganz außer Atem, sein Gesicht war feuerrot, und als er die Offiziere Französisch sprechen hörte, redete er hastig auf sie ein, indem er sich bald an den einen, bald an den anderen wandte. Er sagte, er habe sich selber nicht gefangen nehmen lassen, er sei nicht schuld daran, daß man ihn erwischt habe, sondern ›le caporal‹, der ihn noch nach Pferdedecken geschickt habe, obwohl er es ihm gleich gesagt habe, daß die Russen schon da wären. Und nach jedem zweiten Wort sagte er: »Mais qu’on ne fasse pas de mal à mon petit cheval«, und streichelte den Hals seines Pferdes. Es war offensichtlich, daß er noch gar nicht begriffen hatte, wo er sich befand. Bald entschuldigte er sich, daß er gefangengenommen worden war, bald beteuerte er seine militärische Pünktlichkeit und Dienstbeflissenheit, wobei er sich anscheinend einbildete, seine eigenen Vorgesetzten vor sich zu haben. Er brachte dadurch gewissermaßen den französischen Truppengeist, der uns Russen so fremd ist, in seiner ganzen Frische in unsere Nachhut hinein.

Die Kosaken verkauften das Pferd für zwei Dukaten, und da Rostow soeben Geld bekommen hatte und somit augenblicklich der reichste von allen Offizieren war, kaufte er es.

»Mais qu’on ne fasse pas de mal à mon petit cheval«, sagte der Elsässer gutmütig zu Rostow, als das Pferd dem Husaren übergeben wurde.

»Allöh, allöh!« rief der Kosak und zog den Gefangenen am Ärmel, damit er weitergehe.

»Der Kaiser! Der Kaiser!« ertönte es plötzlich unter den Husaren.

Alles stürzte voller Hast herbei, und Rostow sah auf dem Weg von rückwärts ein paar Reiter mit weißen Federbüschen herannahen. Im Nu waren alle auf ihrem Posten und warteten.

Rostow wußte und fühlte nicht mehr, wie er auf seinen Platz gekommen war und sich auf sein Pferd geschwungen hatte. Augenblicklich war der Gram über seine Untätigkeit und seine Alltagsstimmung im Kreis dieser ihm zur Genüge bekannten Gesichter verflogen, im Nu erstarb jeder Gedanke an das eigene Ich: war ganz überwältigt von dem Gefühl des Glücks, das die Nähe seines Kaisers in ihm hervorrief. Schon allein diese Nähe empfand er als Belohnung für den ganzen verlorenen heutigen Tag. Glückselig wie ein Liebhaber, der nach langem Warten vor dem ersehnten Wiedersehen steht, wagte er zwar nicht, den Kopf zu drehen und sich umzusehen, da er ja in Reih und Glied stand, aber er fühlte mit instinktiver Begeisterung das Herannahen seines Kaisers. Das kam ihm nicht allein durch das Getrappel der Pferdehufe der immer näher kommenden Reitergruppe zum Bewußtsein, nein, er fühlte es auch insofern, weil es, je näher sie kamen, um so heller, freudiger, bedeutsamer und feiertäglicher um ihn herum wurde. Immer näher und näher kam ihm diese Sonne, die einen solchen Strahlenkranz sanften und majestätischen Lichtes aussandte, und plötzlich fühlte er sich von diesen Strahlen erfaßt, hörte seine Stimme, diese freundliche, ruhige, majestätische und dabei doch so schlichte Stimme. Wie es nach Rostows Gefühlen auch gar nicht anders sein konnte, trat augenblicklich eine Totenstille ein, und durch diese Totenstille klang die Stimme des Kaisers.

»Les hussards de Pavlograd?« fragte er.

»La réserve, Sire!« antwortete eine nach jenen wie vom Himmel kommenden Lauten, in denen gefragt worden war: ›Les hussards de Pavlograd‹ mehr menschenähnlich klingende Stimme.

Der Kaiser war bis dicht vor Rostow herangekommen und hielt an. Das Gesicht Alexanders erschien heute noch schöner als bei der Besichtigung vor drei Tagen. Es erstrahlte in Frohsinn und Jugendlichkeit, einer solch unschuldigen Jugendlichkeit, die an die Ausgelassenheit eines vierzehnjährigen Knaben erinnerte, und doch war es dabei gleichzeitig das Gesicht eines erhabenen Herrschers. Während der Kaiser die Eskadron musterte, begegneten seine Augen zufällig den Augen Rostows und blieben ein paar Sekunden auf ihnen ruhen. Fühlte der Kaiser, was in Rostows Seele vorging – Rostow wollte es scheinen, als müsse er alles verstehen –, jedenfalls sah er wohl zwei Sekunden lang mit seinen blauen Augen Rostow gerade ins Gesicht. Ein sanftes, weiches Licht strömte aus diesem Blick. Dann zog er plötzlich die Brauen hoch, stieß mit seinem linken Fuß jäh das Pferd an und sprengte im Galopp nach vorn.

Der junge Kaiser hatte sich des Wunsches, an der Schlacht teilzunehmen, nicht enthalten können, sich trotz aller Gegenvorstellungen seines Gefolges gegen zwölf Uhr von der dritten Kolonne, der er bis dahin gefolgt war, getrennt und war der Avantgarde nachgesprengt. Doch hatte er die Husaren noch nicht erreicht, als er auf mehrere Adjutanten stieß, die ihm die Nachricht von dem glücklichen Ausgang des Treffens überbrachten.

Obgleich die Schlacht nur darin bestanden hatte, daß eine Eskadron Franzosen gefangengenommen worden war, wurde das Ganze doch als glänzender Sieg über die Franzosen dargestellt, und deshalb glaubte auch der Kaiser und das ganze Heer, besonders solange der Pulverdampf noch nicht vom Schlachtfeld abgezogen war, daß die Franzosen besiegt seien und sich gegen ihren Willen zurückziehen müßten.

Kurz nachdem der Kaiser vorbeigeritten war, wurde auch Rostows Schwadron nach vorn beordert. In Wischau, dem kleinen deutschen Städtchen, sah Rostow den Kaiser noch einmal. Auf dem Marktplatz der Stadt, wo bis kurz vor der Ankunft des Kaisers eine ziemlich heftige Schießerei stattgefunden hatte, lagen noch einige Verwundete und Gefallene, die man noch nicht hatte fortschaffen können. Der Kaiser, von einem Gefolge von Zivil- und Militärpersonen umringt, ritt wieder eine englisierte Fuchsstute, jedoch eine andere als zur Besichtigung, beugte sich etwas zur Seite, hielt mit anmutiger Gebärde seine goldene Lorgnette vor die Augen und besah durch diese einen Soldaten, der mit dem Gesicht auf der Erde, ohne Tschako, mit blutüberströmtem Kopf am Boden lag. Der verwundete Soldat war so schmutzig, häßlich und garstig, daß Rostow seine Nähe beim Kaiser wie eine Kränkung empfand. Er sah, wie die gekrümmten Schultern des Kaisers zusammenzuckten, als liefe ein kalter Schauder über sie hin, sah, wie er mit dem linken Fuß krampfhaft seinem Pferde die Sporen gab, aber das wohldressierte Tier sah sich nur gleichmütig um und rührte sich nicht von der Stelle. Einer der Adjutanten sprang vom Pferd, faßte den Verwundeten unter den Arm und machte sich daran, ihn auf eine soeben herbeigeschaffte Tragbahre zu legen. Der Soldat stöhnte.

»Vorsichtiger, vorsichtiger! Geht es denn nicht vorsichtiger?« sagte der Kaiser, der dabei anscheinend mehr litt als der sterbende Soldat, und ritt weiter.

Rostow bemerkte Tränen, die die Augen des Herrschers füllten, und hörte, wie er beim Weiterreiten zu Czartoryski auf französisch sagte: »Wie entsetzlich ist doch der Krieg, wie entsetzlich! Quelle terrible chose que la guerre!«

Die Truppen der Avantgarde nahmen vor Wischau gerade gegenüber der feindlichen Vorpostenkette Aufstellung, die im Verlauf des ganzen Tages selbst bei der geringsten Beschießung immer vor ihnen zurückgewichen war.

Der Kaiser hatte den Truppen der Avantgarde seinen Dank aussprechen lassen, Auszeichnungen waren ihnen versprochen worden, und den Soldaten wurde die doppelte Ration Branntwein verabreicht. Und nun prasselten die Biwakfeuer noch lustiger als in der vergangenen Nacht, und die Lieder der Soldaten ertönten noch fröhlicher. Denissow feierte an diesem Abend seine Beförderung zum Major, und Rostow, der schon reichlich betrunken war, brachte am Ende des Zechgelages einen Toast auf den Kaiser aus, aber »nicht auf Seine Majestät den Kaiser, wie es bei allen offiziellen Essen heißt«, sagte er, »sondern auf die Gesundheit unseres guten Kaisers, des bezaubernden und großen Menschen, auf sein Wohl und auf einen sicheren Sieg über die Franzosen! Haben wir schon früher tapfer dreingeschlagen und den Franzosen keinen Pardon gegeben, wie bei Schöngrabern«, fuhr er fort, »wie wird es da jetzt erst werden, wenn er uns führt? Wir alle werden sterben, werden mit Begeisterung für ihn sterben. Ist es nicht so, meine Herren? Vielleicht sage ich das nicht so, wie man es sagen müßte, ich habe viel getrunken, aber ich fühle es so und Sie sicherlich ebenfalls. Auf die Gesundheit Alexanders des Ersten! Hurra!«

»Hurra!« fielen die begeisterten Stimmen der Offiziere ein.

Und der alte Rittmeister Kirsten schrie begeistert und nicht weniger aufrichtig mit als der zwanzigjährige Rostow.

Als die Offiziere ausgetrunken und ihre Gläser zerschlagen hatten, schenkte Kirsten neue Gläser ein, ging, nur mit Reithose und Hemd bekleidet, mit einem Glas in der Hand zu den Wachtfeuern der Soldaten hin und blieb in großartiger Pose, die rechte Hand hoch erhoben, mit seinem langen grauen Schnurrbart und der weißen Brust, die aus dem offenstehenden Hemd herausschaute, im Feuerschein stehen.

»Kinder, auf die Gesundheit unseres Herrn, des Kaisers, auf den Sieg über alle unsere Feinde! Hurra!« rief er mit seinem greisen, heldenhaft klingenden Husarenbariton.

Die Husaren umringten ihn und antworteten einstimmig mit lautem Gebrüll.

Als dann spät nachts alle schon auseinandergegangen waren, klopfte Denissow mit seiner kurzen breiten Hand seinem Liebling Rostow auf die Schulter und sagte zu ihm: »Sieh einer an! Weil es im Feld niemanden zum Verlieben gibt, hat er sich in unseren Zaren verschossen.«

»Denissow, darüber darfst du nicht scherzen«, rief Rostow. »Das ist ein so hohes, so herrliches Gefühl …«

»Glaub schon, glaub schon, Freundchen, geht mir ebenso, versichere dir …«

»Nein, das verstehst du nicht.«

Und Rostow stand auf, schlenderte zwischen den Wachtfeuern herum und träumte davon, was für ein Glück es wäre, zu sterben, nicht etwa als Retter des Zaren – davon wagte er nicht einmal zu träumen –, sondern nur einfach vor seinen Augen. Er war tatsächlich in seinen Kaiser, in den Ruhm der russischen Waffen und in die Hoffnung auf den künftigen Sieg verliebt. Und nicht er allein empfand jenes Gefühl in diesen denkwürdigen Tagen vor der Schlacht bei Austerlitz, nein, neun Zehntel des ganzen russischen Heeres waren damals, wenn auch nicht mit der gleichen Begeisterung, in den Zaren und den Ruhm der russischen Waffen verliebt.

11

Den nächsten Tag blieb der Kaiser noch in Wischau. Sein Leibarzt Villiers wurde mehrmals zu ihm befohlen. Im Hauptquartier und bei den zunächstliegenden Truppenteilen verbreitete sich das Gerücht, der Kaiser sei nicht wohl. Er habe nichts gegessen und die letzte Nacht schlecht geschlafen, hieß es in seiner nächsten Umgebung. Der Grund dieses Unwohlseins war in der starken Erschütterung zu suchen, die der Anblick der Verwundeten und Gefallenen auf die empfindsame Seele des Kaisers gemacht hatte.

In der Morgendämmerung des 17. November geleiteten Vorposten einen französischen Offizier nach Wischau herein, der mit der Parlamentärflagge angeritten gekommen war und um eine Audienz beim Kaiser von Rußland gebeten hatte. Dieser Offizier war Savary. Der Kaiser war soeben erst eingeschlafen, und deshalb ließ man Savary warten. Erst gegen Mittag wurde er vom Kaiser empfangen, und eine Stunde später ritt er zusammen mit dem Fürsten Dolgorukow der französischen Vorpostenkette wieder zu.

Wie verlautete, war Savary aus dem Grund abgesandt worden, um Kaiser Alexander eine Zusammenkunft mit Napoleon vorzuschlagen. Zur Freude und Genugtuung des ganzen Heeres hatte aber Kaiser Alexander seine persönliche Teilnahme an dieser Unterredung verweigert und an seiner Statt den Fürsten Dolgorukow, den Sieger von Wischau, mit Savary zusammen abgesandt, um mit Napoleon zu verhandeln, wenn wider Vermuten wirklich der Wunsch, Frieden zu schließen, der Zweck dieser Unterredung sein sollte.

Gegen Abend kehrte Dolgorukow zurück, begab sich geradewegs zum Kaiser und blieb lange mit ihm allein.

Am 18. und 19. November rückten dann die Truppen noch um zwei Tagemärsche vor, und die feindlichen Vorposten wichen nach kurzem Geplänkel immer weiter zurück. In den höheren Sphären der Armee setzte am 19. November mittags eine sehr geschäftige, erregte Bewegung ein, die bis zum Morgen des nächsten Tages, also bis zum 20. November, anhielt, an welchem Tag die so denkwürdige Schlacht bei Austerlitz geliefert wurde.

Bis zum Mittag des 19. November beschränkte sich diese Bewegung, die erregten Verhandlungen, das Hin- und Herrennen, das Botschaftenbringen der Adjutanten, nur auf das Hauptquartier des Kaisers, am Nachmittag pflanzte sich dieselbe Bewegung auf Kutusows Hauptquartier und die Stäbe bei den Kolonnen fort, um dann am Abend von den Adjutanten bis in alle Ecken und Enden des Heeres hinausgetragen zu werden, und in der Nacht vom 19. zum 20. November brach die achtzigtausend Mann starke verbündete Armee aus ihren Nachtquartieren auf und setzte sich, mit dumpfem Getöse auf und nieder wogend, wie ein gewaltiges, neun Werst langes Band, in Bewegung.

Die auf einen Punkt konzentrierte Bewegung, die am Morgen im Innern des Hauptquartiers der beiden Kaiser angefangen und den Anstoß zu allen weiteren Bewegungen gegeben hatte, glich dem ersten Umdrehen des Mittelrades einer großen Turmuhr. Langsam fängt dieses eine Rad an sich zu drehen, setzt dabei ein zweites, dann ein drittes in Bewegung, immer schneller und schneller drehen sich die Räder, Spulen und Walzen; das Glockenspiel ertönt; die Figuren springen heraus, und gemessen fangen die Zeiger an vorzurücken, um das Ergebnis der Bewegung anzuzeigen.

Wie bei dem Räderwerk der Uhr, so setzt sich auch bei dem Getriebe des Krieges die einmal in Schwung gekommene Bewegung unaufhaltsam bis zu den letzten Ergebnissen fort, und auch hier stehen diejenigen Teile des Mechanismus, bis zu denen die allgemeine Bewegung noch nicht gelangt ist, bis zu dem Augenblick, wo ihnen die Bewegung mitgeteilt wird, ebenso teilnahmslos still. Pfeifend drehen sich die Räder um ihre Achsen, die Zähne greifen ineinander, vom schnellen Drehen fangen die Walzen an zu kreischen, aber das Rad nebenan bleibt ruhig und starr stehen, als wollte es noch jahrhundertelang so unbeweglich verharren, bis der Augenblick kommt, wo auch hier der Hebel eingreift, das Rad sich dem Anstoß fügt, sich ächzend zu drehen anfängt und so in die allgemeine Bewegung mit hineingezogen wird, deren Ergebnis und Ziel ihm unbekannt sind.

Wie bei der Uhr das Endergebnis der ganzen komplizierten Bewegung dieser unzähligen verschiedenen Räder und Walzen einzig und allein die langsame, gleichmäßige Vorwärtsbewegung der Zeiger ist, um die Zeit zu bestimmen, so war hier das Endergebnis der ganzen komplizierten Menschenbewegung dieser hundertsechzigtausend Russen und Franzosen mit all ihrem Räderwerk an Leidenschaften, Wünschen, Reuebezeigungen, Demütigungen, Leiden, Ausbrüchen von Stolz, Furcht und Begeisterung – einzig und allein der Verlust der Schlacht bei Austerlitz, der sogenannten Dreikaiserschlacht, das heißt das langsame Vorrücken des weltgeschichtlichen Zeigers auf dem Zifferblatt der Geschichte der Menschheit.

Fürst Andrej hatte an diesem Tag Dienst und befand sich ständig beim Oberkommandierenden.

Gegen sechs Uhr abends langte Kutusow im Hauptquartier der beiden Kaiser an, verweilte kurze Zeit bei Kaiser Alexander und begab sich dann zum Oberhofmarschall Grafen Tolstoi.

Bolkonskij benutzte diese Zeit und suchte Dolgorukow auf, um Näheres über die Schlacht zu erfahren. Fürst Andrej fühlte, daß Kutusow über irgend etwas verstimmt und verdrießlich war, und daß auch er im Hauptquartier Unzufriedenheit erregt hatte. Auch schien es ihm, als schlügen alle Leute im Hauptquartier ihm gegenüber einen Ton an, als wüßten sie etwas, was anderen noch nicht bekannt sei, und deshalb wollte er mit Dolgorukow sprechen.

»Nun, guten Abend, mon cher«, sagte Dolgorukow, der mit Bilibin beim Tee saß. »Morgen ist ein großer Tag. Was hat denn Ihr Alter? Wohl schlechte Laune?«

»Ich will nicht sagen, daß er gerade schlechte Laune hat, aber er möchte anscheinend gern, daß man auf ihn hörte.«

»Man hat ja im Kriegsrat auf ihn gehört und man wird auch immer auf ihn hören, wenn er sachlich redet; aber jetzt zu zaudern und noch auf irgend etwas zu warten, wo Bonaparte nichts mehr fürchtet als eine Entscheidungsschlacht – das ist doch wirklich ein Ding der Unmöglichkeit.«

»Sie haben ihn ja doch gesehen?« sagte Fürst Andrej. »Nun, wie ist dieser Bonaparte? Was für einen Eindruck hat er auf Sie gemacht?«

»Ja, ich habe ihn gesehen und mich davon überzeugt, daß er eine Entscheidungsschlacht mehr als alles in der Welt fürchtet«, wiederholte Dolgorukow, indem er sichtlich auf diese Schlußfolgerung, die er aus seiner Zusammenkunft mit Napoleon gezogen hatte, großen Wert legte. »Wenn er nicht Angst vor einer Schlacht hätte, warum hätte er dann diese Zusammenkunft gefordert, Unterhandlungen geführt und, was die Hauptsache ist, warum wäre er da zurückgewichen, wo doch ein Zurückweichen der ganzen Methode seiner Kriegführung so zuwiderläuft? Glauben Sie mir, er hat Angst, hat Angst vor einer Entscheidungsschlacht. Seine Stunde hat geschlagen – das sage ich Ihnen.«

»Aber erzählen Sie doch, wie ist er denn!« fragte Fürst Andrej noch einmal.

»Ein Mann in grauem Überrock, der es furchtbar gern gesehen hätte, wenn ich ihn mit ›Euer Majestät‹ angeredet hätte. Aber zu seinem großen Kummer habe ich ihn mit keinerlei Titel beehrt. Solch ein Mensch ist das und weiter nichts«, erwiderte Dolgorukow und sah Bilibin dabei lächelnd an.

»Trotz meiner Hochachtung vor dem alten Kutusow«, fuhr er fort, »bin ich doch der Ansicht, daß wir schön dumm wären, wenn wir jetzt noch auf irgend etwas warten wollten und ihm dadurch Gelegenheit gäben, den Rückzug anzutreten oder uns zu täuschen, wo wir ihn jetzt so sicher in der Hand haben. Nein, wir dürfen Suworow und seinen Grundsatz niemals vergessen:

Man soll sich nie einer Offensive aussetzen, sondern selber die Offensive ergreifen. Glauben Sie mir, im Krieg bringt uns die Tatkraft der jungen Leute oft sicherer auf den richtigen Weg als alle Erfahrungen der alten Kunktatoren[75]

»In welcher Stellung wollen wir ihn denn angreifen? Ich war heute bei den Vorposten, es ist unmöglich, daraus klug zu werden, wo eigentlich seine Hauptstreitkräfte stehen«, sagte Fürst Andrej. Er wollte Dolgorukow seinen eigenen, selbst entworfenen Angriffsplan entwickeln.

»Ach, das ist ja ganz einerlei«, fiel Dolgorukow schnell ein, stand auf und breitete seine Karte auf dem Tisch aus. »Alle Möglichkeiten sind vorausgesehen, wenn er bei Brünn steht …« Und Fürst Dolgorukow erklärte hastig und unklar den Plan der Weyrotherschen Flankenbewegung.

Fürst Andrej fing an, dagegen zu reden und seinen eignen Plan zu entwickeln, der vielleicht ebenso gut gewesen wäre wie der Weyrothers, wenn er nicht den einen Fehler gehabt hätte, daß er zu spät kam und Weyrothers Plan nun schon angenommen war. Aber als Fürst Andrej nur anfing, die Nachteile jenes und die Vorteile seines eignen Plans darzulegen, hörte Dolgorukow schon auf zuzuhören und sah bereits nicht mehr auf die Karte, sondern zerstreut in Fürst Andrejs Gesicht.

»Übrigens wird ja heute noch ein Kriegsrat bei Kutusow stattfinden, da können Sie ja das alles vorbringen«, sagte Dolgorukow.

»Das werde ich auch tun«, erwiderte Fürst Andrej und trat von der Karte zurück.

»Worüber beunruhigen Sie sich eigentlich, meine Herren?« mischte sich Bilibin ein, der bisher mit vergnügtem Lächeln ihrem Streit gefolgt war und sich jetzt offenbar zu einem Scherz anschickte. »Ob wir nun morgen einen Sieg oder eine Niederlage erleben – der Ruhm der russischen Waffen wird nicht gefährdet: außer unserem Kutusow ist nicht ein einziger russischer Kommandeur dabei. Die Truppen werden geführt von General Wimpffen, le comte de Langeron, le prince de Liechtenstein, le prince de Hohenlohe et enfin Prschprsch[76] … et ainsi de suite comme tous les noms polonais.«

»Taisez-vous, mauvaise langue«, sagte Dolgorukow. »Das ist gar nicht wahr, wir haben jetzt schon zwei russische Heerführer, Miloradowitsch und Dochturow, und wir hätten noch einen dritten, den Grafen Araktschejew[77], wenn der nicht so schwache Nerven hätte.«

»Jetzt ist Michail Ilarionowitsch, glaube ich, wiedergekommen«, sagte Fürst Andrej. »Ich wünsche Ihnen viel Glück und guten Erfolg, meine Herren«, fügte er hinzu und ging hinaus, nachdem er Dolgorukow und Bilibin die Hand gedrückt hatte.

Nach Hause zurückgekehrt, konnte Fürst Andrej nicht umhin, den schweigend neben ihm sitzenden Kutusow darüber zu befragen, wie er über die morgige Schlacht denke.

Kutusow sah den Adjutanten streng an, schwieg und sagte dann endlich: »Ich denke, daß wir die Schlacht morgen verlieren werden, und das habe ich auch dem Grafen Tolstoi gesagt mit der Bitte, diese meine Ansicht dem Kaiser zu übermitteln. Und was, glaubst du, daß er mir zur Antwort gegeben hat? ›Eh, mon cher général, je me mêle du riz et des côtelettes, mêlez-vous des affaires de la guerre.‹ Ja, das hat er mir zur Antwort gegeben!«

12

Punkt zehn Uhr abends kam Weyrother mit seinen Plänen in Kutusows Quartier, wo der Kriegsrat abgehalten werden sollte. Alle oberen Befehlshaber waren zum Oberkommandierenden befohlen worden, und mit Ausnahme des Fürsten Bagration, der sich geweigert hatte, zu kommen, erschienen alle zur festgesetzten Stunde.

Weyrother, der der eigentliche Urheber und Leiter der bevorstehenden Schlacht war, bildete in seiner lebhaften, raschen Art einen schroffen Gegensatz zu dem unzufriedenen und schläfrigen Kutusow, der nur widerwillig die Rolle eines Vorsitzenden in diesem Kriegsrat spielte. Sichtlich fühlte sich Weyrother als Haupt der ganzen Bewegung, die schon unaufhaltsam ins Rollen gekommen war. Er glich einem angeschirrten Pferde, das mit seiner Fuhre den Berg hinunterrast. Ob er selber zog oder angetrieben wurde – das wußte er nicht, er raste nur mit größtmöglicher Schnelligkeit voran, ohne auch nur die Zeit zu haben, sich zu überlegen, wohin die Bewegung führen werde. Weyrother hatte an diesem Abend bereits zweimal persönlich die feindlichen Vorpostenketten besichtigt, war zweimal bei den beiden Kaisern, dem russischen und dem österreichischen, gewesen, um seinen Plan darzulegen und Erklärungen abzugeben, und hatte dann in seiner Kanzlei die Disposition in deutscher Sprache diktiert. Ziemlich abgespannt kam er bei Kutusow an.

Er war so beschäftigt, daß er es dem Oberkommandierenden gegenüber sogar an Ehrerbietung fehlen ließ: er unterbrach ihn, redete überstürzt und unklar, sah ihm nicht ins Gesicht, wenn er mit ihm sprach, und antwortete nicht auf seine Fragen. Er war ganz mit Schmutz bespritzt, sah elend, müde und zerstreut, dabei aber selbstbewußt und stolz aus.

Kutusow bewohnte ein kleines, einem österreichischen Adligen gehöriges Schloß bei Ostralitz. In dem großen Empfangsraum, der jetzt dem Oberkommandierenden als Arbeitszimmer diente, versammelten sich Kutusow, Weyrother und die Mitglieder des Kriegsrates. Sie tranken Tee. Man wartete nur noch auf den Fürsten Bagration, um zur Beratung zusammenzutreten. Aber es kam nur ein Ordonnanzoffizier von Bagration mit der Nachricht, daß der Fürst nicht kommen könne. Fürst Andrej ging zum Oberkommandierenden hinein, um dies zu melden, und blieb dann im Zimmer, indem er von der ihm von Kutusow im voraus erteilten Erlaubnis, an dem Kriegsrat teilzunehmen, Gebrauch machte.

»Da Fürst Bagration nicht kommen wird, können wir anfangen«, sagte Weyrother, sprang hastig von seinem Stuhl auf und trat an den Tisch, auf dem eine riesige Karte von Brünn und Umgebung ausgebreitet lag.

Kutusow saß mit aufgeknöpfter Uniform, aus deren Kragen, wie nach Freiheit strebend, sein fetter Hals herausquoll, in einem Armsessel, hatte seine fleischigen alten Hände symmetrisch auf beide Armlehnen gelegt und schlief beinahe. Bei dem Klang von Weyrothers Stimme machte er mühsam sein einziges Auge auf.

»Ja, ja, bitte, es wird sonst so spät«, sagte er, nickte, ließ dann den Kopf wieder hängen und machte das Auge wieder zu.

Wenn die Mitglieder des Kriegsrates zuerst geglaubt hatten, daß Kutusow sich nur schlafend stelle, so bekundeten doch die Töne, die er im Verlauf der nun folgenden Verlesung der Disposition durch die Nase von sich gab, daß es sich für den Oberkommandierenden in diesem Augenblick um etwas bedeutend Wichtigeres handelte als um den Wunsch, der Disposition oder irgend etwas anderem seine Verachtung zu bezeigen: es handelte sich für ihn um die unaufhaltsame Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses – des Schlafes. Er schlief tatsächlich. Mit der Geste eines Menschen, der viel zu beschäftigt ist, um auch nur einen Augenblick Zeit zu verlieren, warf Weyrother einen Blick auf Kutusow, nahm, nachdem er sich überzeugt hatte, daß dieser schlief, ein Blatt Papier zur Hand und fing an, mit lauter, eintöniger Stimme die Disposition der bevorstehenden Schlacht vorzulesen, unter der Überschrift, die er ebenfalls mitlas: »Disposition für die Offensive auf die feindliche Stellung hinter Kobelnitz und Sokolnitz am 20. November 1805.«

Die Disposition war sehr kompliziert und umständlich. Darin hieß es in der deutschen Originalfassung folgendermaßen:

»Da sich der Feind mit seinem linken Flügel an die mit Wald bedeckten Berge lehnt und sich mit seinem rechten Flügel längs Kobelnitz und Sokolnitz hinter die dort befindlichen Teiche zieht, wir im Gegenteil mit unserem linken Flügel seinen rechten sehr debordieren, so ist es vorteilhaft, letzteren Flügel des Feindes zu attackieren, besonders wenn wir die Dörfer Kobelnitz und Sokolnitz im Besitz haben, wodurch wir dem Feind zugleich in die Flanke fallen und ihn auf der Fläche zwischen Schlapanitz und dem Turaser Wald verfolgen können, indem wir den Defileen von Schlapanitz und Bellwitz ausweichen, welche die feindliche Front decken. Zu diesem Endzweck ist nötig: Die erste Kolonne marschiert … die zweite Kolonne marschiert … die dritte Kolonne marschiert … und so weiter, und so weiter«, las Weyrother vor.

Es machte den Eindruck, als ob die Generäle nur widerwillig diese schwerverständliche Disposition mitanhörten. Der große blonde Buxhöwden, der mit dem Rücken an die Wand gelehnt seine Augen auf die brennende Kerze gerichtet hielt, hörte anscheinend überhaupt nicht zu und schien sich nicht einmal den Anschein geben zu wollen, als ob er zuhörte. Weyrother gerade gegenüber, die glänzenden, weitgeöffneten Augen starr auf ihn gerichtet, saß in kriegerischer Pose, beide Arme mit nach außen gekehrten Ellbogen auf die Knie gestützt, Miloradowitsch mit seinem frischen Gesicht, dem nach oben gedrehten Schnurrbart und den hochgezogenen Schultern. Er schwieg hartnäckig, sah Weyrother ins Gesicht und wandte nur die Augen von ihm ab, wenn der österreichische Generalstabschef eine Pause machte. Dann sah Miloradowitsch die anderen Generäle bedeutsam an. Aber die Bedeutung dieses vielsagenden Blickes war nicht zu erkennen: war er einverstanden oder nicht einverstanden, zufrieden oder nicht zufrieden mit dieser Disposition? Dicht neben Weyrother saß Graf Langeron und betrachtete mit einem feinen Lächeln auf seinem südfranzösischen Gesicht, das während der ganzen Zeit der Vorlesung der Disposition nicht von seinen Lippen wich, seine schmalen Finger, die emsig eine goldene Tabaksdose mit einem Bildnis um und um drehten. Mitten in einer dieser weitläufigen Perioden hielt er plötzlich mit dem Drehen der Tabaksdose inne, hob den Kopf, unterbrach Weyrother mit einem unangenehm höflichen Ausdruck in den äußersten Ecken seiner schmalen Lippen und wollte irgend etwas sagen, aber der österreichische General zog finster die Brauen zusammen und machte, ohne seine Vorlesung abzubrechen, nur eine Bewegung mit dem Ellenbogen, als wolle er sagen: Später, später können Sie mir Ihre Ansichten mitteilen, jetzt wollen Sie bitte auf die Karte sehen und zuhören. Langeron hob mit einem Ausdruck des Staunens die Augen auf und sah Miloradowitsch an, als suche er bei ihm eine Erklärung. Als er aber dessen bedeutsamem und doch nichts bedeutendem Blick begegnete, senkte er traurig die Augen und drehte weiter an seiner Tabaksdose. »Une leçon de géographie«, murmelte er wie zu sich selber, aber doch laut genug, daß alle es hören konnten.

Przebyszewski hörte, die Hand hinters Ohr gelegt, Weyrother mit ehrerbietiger, würdiger Höflichkeit an und machte den Eindruck eines Menschen, der ganz Auge und Ohr ist. Der kleine Dochturow saß mit diensteifriger, bescheidener Miene Weyrother gerade gegenüber, beugte sich über die ausgebreitete Karte vor und studierte gewissenhaft die Disposition und das ihm unbekannte Gelände. Mehrmals bat er Weyrother, ein paar Worte, die er nicht recht verstanden hatte, sowie die schwierigen Namen der Ortschaften zu wiederholen. Weyrother kam diesem Wunsche nach, und Dochturow notierte sich diese Namen.

Als die Verlesung der Disposition, die länger als eine Stunde gedauert hatte, zu Ende war, hielt Langeron abermals mit dem Drehen seiner Tabaksdose inne und fing, ohne Weyrother oder irgendeinen anderen dabei anzusehen, darüber zu reden an, wie schwierig es doch sei, eine solche Disposition zu erfüllen, in der die Stellung des Feindes als bekannt angenommen sei, während dies doch gar nicht der Fall sein könne, da sich der Feind ja in Bewegung befinde. Die Entgegnungen Langerons waren begründet, aber es war klar ersichtlich, daß der Zweck dieser Entgegnungen vornehmlich der Wunsch war, den General Weyrother, der seine Disposition den anderen so selbstbewußt wie Schuljungen gegenüber vorgelesen hatte, fühlen zu lassen, daß er es hier nicht nur mit Dummköpfen, sondern mit Leuten zu tun hatte, von denen selbst er in strategischer Beziehung noch etwas lernen könne.

Als Weyrothers eintönige Stimme verstummt war, hatte Kutusow die Augen aufgeschlagen wie ein Müller, der aufwacht, wenn das einschläfernde Geräusch der Mühlräder einmal aussetzt. Als er aber hörte, was Langeron sagte, ließ er den Kopf wieder sinken und machte schnell das Auge wieder zu, als wolle er sagen: Ach, ihr seid immer noch bei diesem dummen Zeug!

Bemüht, Weyrother als Urheber des Schlachtenplanes in seiner Eigenliebe so tief wie möglich zu verletzen, fing Langeron an zu beweisen, daß Bonaparte, statt sich angreifen zu lassen, sehr leicht selber die Offensive ergreifen und infolgedessen diese ganze Disposition hinfällig machen könne. Weyrother antwortete auf alle diese Einwände mit einem unerschütterlichen verächtlichen Lächeln, mit dem er sich offenbar schon im voraus gegen jeden Einwand gewappnet hatte, ganz gleich, was man ihm sagen würde.

»Wenn er uns angreifen könnte, so hätte er es heute getan«, sagte er.

»Sie sind also der Ansicht, daß seine Kräfte nicht bedeutend sind?« fragte Langeron.

»Wenn er viel hat, so sind es vierzigtausend Mann«, erwiderte Weyrother mit dem Lächeln eines Arztes, den ein Kurpfuscher auf ein Heilmittel hinweist.

»Dann wird er also seinem Verderben entgegengehen, wenn er auf unseren Angriff wartet«, sagte Langeron mit fein ironischem Lächeln und blickte, Zustimmung heischend, wieder den neben ihm sitzenden Miloradowitsch an.

Aber Miloradowitsch dachte in diesem Augenblick anscheinend an etwas ganz anderes als an das, worüber sich die Generäle stritten,

»Ma foi«, sagte er, »das werden wir ja morgen auf dem Schlachtfeld sehen.«

Weyrother lächelte wieder jenes geringschätzige Lächeln, das besagte, wie lächerlich und merkwürdig es ihm vorkomme, daß er solchen Einwänden von seiten russischer Generäle begegne und ihnen etwas erst noch beweisen müsse, wovon er nicht nur selber felsenfest überzeugt sei, sondern auch beide Kaiser bereits überzeugt habe.

»Der Feind hat seine Feuer ausgelöscht und man hört ein ununterbrochenes Getöse aus seinem Lager herüber«, sagte er. »Was bedeutet das? Entweder zieht er sich zurück – und das wäre das einzige, was wir zu fürchten hätten – oder er wechselt seine Stellung.« Er lächelte. »Aber selbst wenn er bei Turas Aufstellung nähme, würde er uns nur eine große Mühe ersparen, und alle Anordnungen würden, bis in die kleinsten Einzelheiten hinein, genau dieselben bleiben …«

»Wie ist das möglich?« fragte Fürst Andrej, der schon lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, seine Bedenken auszusprechen.

Doch da wachte Kutusow auf, hustete vernehmlich und sah die Generäle der Reihe nach an.

»Meine Herren, an der Disposition für morgen, oder vielmehr für heute, denn es ist ja schon bald ein Uhr, kann nichts mehr geändert werden«, sagte er. »Sie haben sie gehört, und wir alle werden unsere Pflicht tun. Vor einer Schlacht aber ist nichts wichtiger«, er machte eine Pause, »… als ordentlich auszuschlafen.«

Er traf Anstalten, sich zu erheben. Die Generäle verbeugten sich und zogen sich zurück. Es war schon nach Mitternacht. Auch Fürst Andrej verließ das Zimmer.

Der Kriegsrat, bei dem es Fürst Andrej nicht gelungen war, seine Meinung, wie er gehofft hatte, auszusprechen, hatte in ihm einen Eindruck der Unklarheit und Unruhe hinterlassen. Wer hatte recht: Dolgorukow und Weyrother oder Kutusow und Langeron und alle die anderen, die nicht mit der Offensive einverstanden waren? Er wußte es nicht. Hatte Kutusow dem Kaiser wirklich nicht seine Ansicht persönlich darlegen dürfen? War es wirklich nicht anders zu machen gewesen? Dürfen sie aus höfischen und persönlichen Interessen das Leben so vieler Tausende und auch mein eignes Leben aufs Spiel setzen? fragte er sich.

Ja, es ist sehr leicht möglich, daß ich morgen falle, dachte er. Und bei diesem Gedanken an den Tod stieg plötzlich eine ganze Kette von Erinnerungen, fernster, liebster Erinnerungen, vor seinem Geiste auf: er dachte an seinen letzten Abschied von seinem Vater und von seiner Frau, dachte an die erste Zeit seiner Liebe zu ihr, dachte an ihre Schwangerschaft, und es war ihm leid um sie und um sich. Und in einem nervös erregten Zustand der Rührung verließ er das Quartier, in dem er mit Neswizkij zusammen lag, und ging vor dem Hause auf und ab.

Die Nacht war neblig, aber durch den Nebel brach geheimnisvoll das Licht des Mondes. Ja, morgen, morgen, dachte er. Morgen wird vielleicht alles für mich ein Ende haben, alle diese Erinnerungen werden nicht mehr sein, werden für mich keinen Sinn mehr haben. Morgen vielleicht, nein, morgen ganz sicherlich – das fühle ich im voraus – werde ich endlich zum erstenmal in meinem Leben das zeigen können, was ich zu leisten vermag. Und er sah im Geiste die Schlacht, sah, wie sie verloren wurde, wie sich alles auf den einen Punkt konzentrierte und die Anführer die Köpfe verloren. Und da ist für ihn endlich der glückliche Augenblick gekommen, jenes Toulon, auf das er so lange gewartet hat. Fest und klar setzt er Kutusow seine Meinung auseinander und dann auch Weyrother und dem Kaiser. Alle sind von der Richtigkeit seiner Berechnungen überrascht, aber keiner wagt es, die Ausführung zu übernehmen. Und da tritt er vor, nimmt ein Regiment, eine Division, unter der Bedingung, daß ihm niemand in seine Anordnungen hineinredet, führt seine Division an die entscheidende Stelle und erringt den Sieg, er ganz allein. Aber der Tod und die Leichen? mahnt eine andere Stimme in ihm. Doch Fürst Andrej antwortet nicht auf diese Stimme und spinnt seine Träumereien von Sieg und Erfolg weiter. Die Disposition für die nächste Schlacht entwirft er ganz allein. Obgleich er noch Dienstadjutant bei Kutusow ist, liegt doch alles in seiner Hand. Er gewinnt auch die folgende Schlacht. Kutusow wird abgesetzt, er an seiner Statt ernannt … Nun, und dann? fragt wieder die andere Stimme. Was dann, wenn du nicht vorher zehnmal verwundet wirst, fällst oder betrogen wirst, nun, was dann? – Dann, gibt sich Fürst Andrej selber zur Antwort, was dann sein wird, das will und kann ich nicht wissen. Aber wenn ich danach strebe, strebe ich nach Ruhm, will von den Menschen gekannt und geliebt werden, und das ist doch kein Unrecht, wenn ich danach strebe, wenn ich nur das allein will, nur darum allein lebe. Ja, einzig und allein nur darum. Ich werde das niemals einem Menschen sagen, aber, mein Gott, was soll ich nur tun, wenn ich nun einmal nichts so sehr liebe wie den Ruhm und die Anerkennung der Menschen? Tod, Verwundung, Verlust meiner Angehörigen, nichts fürchte ich. Und wie lieb und wert mir auch viele Menschen sind, mein Vater, meine Schwester, meine Frau und alle, die mir am nächsten stehen, sie alle gäbe ich hin – und wenn es auch noch so entsetzlich und unnatürlich klingen mag – für einen Augenblick des Ruhmes, des Triumphes und der Liebe von Menschen, die ich nicht kenne und nie kennen werde, für die Liebe von Menschen wie jenen da, dachte er und horchte nach den Soldatenstimmen hin, die draußen auf dem Hof vor Kutusows Haus laut wurden.

Es waren Kutusows Diener und Burschen, die die Sachen packten. Der eine, wahrscheinlich ein Kutscher, neckte Kutusows alten Koch, Tit genannt, den Fürst Andrej kannte, und rief: »Tit, he, Tit!«

»Was willst du?« antwortete der Alte.

»Tit, Tit, Tit, komm drisch dich mit!« rief der Spaßvogel.

»Pfui, scher dich zum Teufel!« klang es zurück, übertönt vom Gelächter der Burschen und Diener.

Und doch liebe und schätze ich nichts mehr als die Herrschaft über diese Leute und strebe nach dem Ruhm und der geheimnisvollen Kraft, die jetzt wie dieser Nebel über meinem Haupt schwebt.

13

Rostow befand sich in dieser Nacht mit seiner Schwadron bei der Vorpostenkette vor dem Korps Bagrations. Seine Husaren waren paarweise auf diese Kettenlinie verteilt, er selber aber ritt diese Linie entlang, bemüht, den Schlaf zu verscheuchen, der ihn unwiderstehlich überkam. Hinter sich erblickte er die weit ausgedehnten, schwach durch den Nebel schimmernden Lagerfeuer unserer Armee, vor ihm lag dichter Nebel. So angestrengt auch Rostow in diese neblige Ferne spähte, er konnte nichts erkennen: bald schien etwas Graues, bald etwas Schwarzes aufzutauchen, bald blitzte anscheinend dort, wo der Feind stehen mußte, ein Licht auf, und bald kam es ihm wieder vor, als sei das soeben nur ein Flimmern vor seinen Augen gewesen. Die Augen fielen ihm zu. Vor seinem Geiste erschienen bald der Kaiser, bald Denissow, bald Moskauer Erinnerungen, hastig riß er dann die Augen wieder auf und sah nun wieder vor sich den Kopf und die Ohren des Pferdes, auf dem er saß, und ab und zu die schwarze Gestalt eines Husaren, wenn er bis auf sechs Schritt an ihn herangeritten war. In der Ferne aber zeigte sich immer nur der finstere Nebel.

Warum nicht? Es wäre doch sehr leicht möglich, dachte Rostow, daß der Kaiser, wenn er mich zufällig träfe, mir wie jedem anderen Offizier auch einen Befehl erteilen und zum Beispiel sagen würde: Reit mal dorthin und sieh nach, was dort ist! Wie oft ist schon erzählt worden, daß er auf diese Weise irgendeinen Offizier kennen gelernt und dann in seine Nähe gezogen hat. Wenn er nun auch mich in seine Nähe zöge! Oh, wie würde ich ihn schützen, ihm immer die Wahrheit sagen, ihn von allen Schmeichlern befreien! Und um sich seine Liebe und Ergebenheit für den Kaiser recht lebhaft auszumalen, stellte sich Rostow einen Feind oder deutschen Betrüger vor, den er nicht nur mit Hochgenuß tötete, sondern auch vor den Augen des Kaisers ohrfeigte. Plötzlich weckte ihn ein fernes Schreien aus seinen Träumen. Er fuhr zusammen und riß die Augen auf.

Wo bin ich? Ach, auf Vorposten. Losung und Parole: Deichsel und Olmütz. Wie ärgerlich, daß unsere Schwadron morgen in Reserve bleibt … dachte er. Aber ich werde darum bitten, doch an dem Gefecht teilnehmen zu dürfen. Das ist vielleicht die einzige Möglichkeit, den Kaiser zu sehen. Jetzt werden wir ja bald abgelöst werden. Ich werde noch einmal die Runde machen und, wenn ich zurückkomme, zum General gehen und darum bitten. Und er setzte sich im Sattel zurecht und trieb das Pferd an, um bei seinen Husaren noch einmal die Runde zu machen. Es kam ihm vor, als sei der Nebel durchsichtiger geworden. Zur Linken war eine mondbeschienene sanfte Berglehne zu sehen und ihr gegenüber ein dunkler Hügel, der senkrecht wie eine Wand abfiel. An diesem Hügel war ein weißer Fleck, über den sich Rostow nicht recht klar werden konnte: war das eine vom Mond beschienene Waldblöße oder ein bißchen Schnee, der noch nicht geschmolzen war, oder ein weißes Haus? Es wollte ihm sogar scheinen, als ob sich in diesem weißen Fleck irgend etwas bewege. Muß doch wohl Schnee sein, dieser Fleck; ein Fleck … une tache … tasche … Natascha … Natascha, Schwesterlein mit den schwarzen Augen. Nataschka! Die wird gucken, wenn ich ihr erzähle, wie ich den Kaiser gesehen habe! Nataschka … nimm die Tasche …

»Mehr nach rechts, Euer Wohlgeboren, dort sind Büsche«, rief die Stimme eines Husaren, an dem Rostow, der am Einschlafen war, vorbeiritt.

Rostow riß den Kopf, der ihm schon bis auf die Mähne des Pferdes herabgesunken war, hoch und machte neben dem Husaren halt. Aber der gesunde Schlaf der Jugend überwältigte ihn immer mehr.

Ja, halt, an was dachte ich doch eben? Das darf ich nicht vergessen. Was ich zum Kaiser sagen werde? … Nein, das war es nicht … das ist morgen. Ach ja, ja: über die Taschen … überraschen? … Wen? … Die Husaren … Husaren mit Schnurrbärten … In Moskau, in der Twerskaja, ritt einmal ein Husar mit einem solchen Schnurrbart, ich dachte neulich an ihn, gerade gegenüber von Gurjews Haus … der alte Gurjew … ach, ein prächtiger Mensch … und Denissow … Aber das sind ja alles Nebensachen … die Hauptsache ist … der Kaiser ist hier. Wie er mich anschaute, als wollte er etwas zu mir sagen, wagte es aber nicht … Nein, das war ich, der das nicht wagte. Aber das ist ja dummes Zeug, die Hauptsache ist – nicht vergessen, daß ich an etwas Wichtiges gedacht habe, ja. Une tache … Natascha … die Taschen … uns überraschen? … Schön, schön! Und wieder sank sein Kopf auf den Pferdehals hinunter. Plötzlich schien es ihm, als schösse man auf ihn. »Was ist? Was ist? Schlag los! Was ist?« rief Rostow und riß die Augen auf. Doch in dem Augenblick, als er die Augen aufschlug, hörte er vor sich, dort, wo der Feind stehen mußte, ein langgezogenes Geschrei von Tausenden von Stimmen. Sein Pferd und auch das des Husaren, der neben ihm stand, spitzten bei diesem Schreien die Ohren. An der Stelle, von wo das Geschrei gekommen war, flammte plötzlich ein Feuerschein auf und erlosch gleich wieder, dann ein zweiter, und die ganze Linie der französischen Truppen auf dem Berg entlang pflanzte sich dieser Feuerschein fort, und das Geschrei wurde immer stärker und stärker. Rostow hörte den Klang französischer Worte, konnte sie aber nicht verstehen. Zu viele Stimmen brausten durcheinander. Man hörte nur immer: aaa und rrr!

»Was bedeutet das? Was denkst du?« wandte sich Rostow an den Husaren, der neben ihm stand. »Das ist doch wohl beim Feind?«

Der Husar gab keine Antwort.

»Was, das hörst du wohl gar nicht?« fragte Rostow noch einmal, nachdem er ziemlich lang auf eine Antwort gewartet hatte.

»Wer kann das wissen, Euer Wohlgeboren«, entgegnete der Husar widerwillig.

»Der Lage nach zu urteilen, müßte es wohl der Feind sein?« sagte Rostow noch einmal.

»Kann sein, kann auch nicht sein«, brummte der Husar. »Bei Nacht läßt sich das schwer beurteilen. Holla, halt still!« rief er seinem Pferde zu, das nicht mehr still stehen wollte.

Auch Rostows Pferd wurde unruhig, schlug mit den Hufen auf die gefrorene Erde, spitzte die Ohren bei dem Geschrei und sah nach dem aufflammenden Feuerschein. Der Klang der Stimmen wurde immer stärker und stärker und wuchs schließlich zu einem solch allgemeinen Brausen an, wie es nur eine Armee von vielen tausend Mann hervorbringen konnte. Auch das Feuer pflanzte sich immer weiter und weiter fort, wahrscheinlich die ganze Linie des französischen Lagers entlang. Rostow war die Lust zum Schlafen vergangen. Das begeisterte, jubelnde Geschrei des feindlichen Heeres hatte ihn wachgerüttelt. »Vive l’empereur, l’empereur!« unterschied er jetzt ganz deutlich die Stimmen.

»Aber die sind ja gar nicht weit, die müssen ja gleich jenseits des Baches sein«, sagte er zu dem neben ihm stehenden Husaren.

Der Husar gab wieder keine Antwort, seufzte nur und räusperte sich ärgerlich. An der Linie der Husaren entlang hörte man den Hufschlag eines herantrabenden Reiters, und aus dem Nebel tauchte plötzlich, riesengroß, wie ein Elefant erscheinend, die Gestalt eines Husarenunteroffiziers auf.

»Euer Wohlgeboren, die Generäle!« meldete der Unteroffizier, auf Rostow zureitend.

Rostow ritt, immer noch nach dem Feuer und dem Geschrei hinübersehend, mit dem Unteroffizier zusammen einem Trupp Reiter entgegen, die die Linie entlanggeritten kamen. Der eine von ihnen ritt auf einem Schimmel. Es war Fürst Bagration mit dem Fürsten Dolgorukow und seinen Adjutanten, der gekommen war, sich die merkwürdige Erscheinung von Feuer und Geschrei beim feindlichen Heer anzusehen. Rostow ritt auf Bagration zu, stattete seinen Rapport ab, zog sich dann zu den Adjutanten zurück und hörte zu, was die Generäle sagten.

»Glauben Sie mir«, fing Fürst Dolgorukow zu Bagration gewandt an, »das ist weiter nichts als eine List: er zieht sich zurück und hat seiner Nachhut befohlen, Feuer anzuzünden und Lärm zu machen, um uns irrezuführen.«

»Wohl kaum«, entgegnete Bagration, »am Abend noch habe ich sie auf dem Hügel dort drüben gesehen. Wenn sie sich zurückgezogen hätten, so wären sie auch von dort verschwunden. Herr Offizier«, wandte sich Fürst Bagration an Rostow, »stehen dort noch feindliche Vorposten?«

»Abends standen sie noch dort, jetzt kann ich es freilich nicht mit Sicherheit sagen, Durchlaucht. Wenn Sie aber befehlen, reite ich mit ein paar Husaren hin«, erwiderte Rostow.

Bagration hielt an und suchte, ohne eine Antwort zu geben, Rostows Gesicht im Nebel zu erforschen.

»Gut, sehen Sie einmal nach«, sagte er dann, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.

»Zu Befehl.«

Rostow gab seinem Pferd die Sporen, rief den Unteroffizier Fedtschenko und noch zwei andere Husaren heran, befahl ihnen, ihm zu folgen, und ritt im Trabe den Berg hinunter in der Richtung, woher das immer noch fortdauernde Geschrei kam. Er empfand ein banges und zugleich freudiges Gefühl, so allein mit seinen drei Husaren dahinzureiten, in jene geheimnisvolle und gefährliche neblige Ferne, wo niemand vor ihm noch gewesen war. Bagration rief ihm noch von oben nach, er solle nicht weiter reiten als bis an den Fluß, aber Rostow hielt, als hätte er diese Worte nicht mehr gehört, nicht an und ritt immer weiter und weiter. Dabei irrte er sich beständig, hielt bald einen Busch für einen Baum, bald eine Wassergrube für lagernde Menschen, wurde sich aber dann immer wieder gleich seines Irrtums bewußt.

Als er den Berg im Trabe hinuntergeritten war, sah er überhaupt keine Feuer mehr, weder die unsrigen noch die feindlichen, hörte aber das Schreien der Franzosen immer lauter und deutlicher. Vor sich im Tal erblickte er etwas, das wie ein Fluß aussah, als er aber bis dicht herangeritten war, erkannte er, daß er die Landstraße vor sich hatte. Auf der Straße angelangt, hielt er sein Pferd unschlüssig an: sollte er den Weg entlang oder, über die Straße hinweg, das schwarze Feld den Berg hinaufreiten? Auf dieser hell aus dem Nebel hervortretenden Straße entlang zu reiten, wäre gefahrloser gewesen, weil man da den Feind eher hätte erkennen können. »Mir nach!« rief er, kreuzte den Weg und sprengte im Galopp den Berg hinauf, gerade auf die Stelle zu, wo am Abend die französischen Vorposten gestanden hatten.

»Euer Wohlgeboren, da sind sie«, sagte hinter ihm einer der Husaren. Und Rostow konnte gerade noch etwas Schwarzes, das plötzlich im Nebel vor ihm stand, erkennen, als auch schon ein Feuerschein aufblitzte, ein Schuß knallte und eine Kugel mit klagendem Pfeifen hoch in den Nebel hineinschwirrte und sich in weite Fernen verlor. Bei einem zweiten Gewehr ging der Schuß nicht los, sondern es blitzte nur das Pulver in der Pfanne auf. Rostow riß sein Pferd herum und sprengte im Galopp zurück. Noch vier Schüsse flogen in kurzen Abständen hinter ihm her, und die Kugeln pfiffen in den verschiedensten Tonarten irgendwohin in den Nebel. Rostow hielt sein Pferd zurück, das, wie er selber auch, durch die Schüsse munter und aufgeregt geworden war, und ritt im Schritt weiter.

Na, immer zu! Schießt nur! Immer zu! rief eine fröhliche Stimme in ihm. Aber die Schüsse verstummten.

Erst als er in Bagrations Nähe kam, setzte Rostow sein Pferd wieder in Galopp und ritt, die Hand an die Mütze gelegt, auf den General zu.

Dolgorukow hatte immer noch auf seiner Ansicht bestanden, daß die Franzosen sich zurückgezogen und nur, um uns irrezuführen, die Feuer angezündet hätten.

»Was beweist das?« sagte er, gerade als Rostow angeritten kam. »Sie können abgezogen sein und doch ein paar Vorposten zurückgelassen haben.«

»Anscheinend sind sie aber doch noch nicht alle fort, Fürst«, erwiderte Bagration. »Morgen, morgen früh werden wir alles erfahren.«

»Die feindlichen Vorposten stehen noch auf dem Berg, Euer Durchlaucht, genau an derselben Stelle, wo sie am Abend gestanden haben«, meldete Rostow in ehrerbietig vorgebeugter Haltung, die Hand am Mützenschirm, und konnte das fröhliche Lächeln, das dieser Erkundungsritt und hauptsächlich das Pfeifen der Kugeln bei ihm hervorgerufen hatte, nicht unterdrücken.

»Schön, schön«, erwiderte Bagration. »Ich danke Ihnen, Herr Offizier.«

»Euer Durchlaucht«, sagte Rostow, »darf ich mir eine Bitte erlauben?«

»Was wünschen Sie?«

»Unsere Schwadron ist morgen für die Reserve bestimmt; darf ich um Abkommandierung zur ersten Schwadron bitten?«

»Wie heißen Sie?«

»Graf Rostow.«

»Schön. Bleiben Sie als Ordonnanz bei mir.«

»Sind Sie ein Sohn von Ilja Andrejewitsch?« fragte Dolgorukow.

Aber Rostow antwortete ihm nicht.

»So darf ich hoffen, Euer Durchlaucht?«

»Ich werde Befehl geben.«

Vielleicht werde ich dann morgen mit irgendeiner Meldung zum Kaiser geschickt. Gott sei Dank! dachte Rostow.

Das Geschrei und die Feuer im feindlichen Lager rührten aber daher, daß Napoleon selber durch die Biwaks hindurchritt, gerade zu einer Zeit, als sein Tagesbefehl den Truppen verlesen wurde. Als die Soldaten den Kaiser sahen, zündeten sie Strohwische an und liefen mit dem Ruf: »Vive l’empereur!« hinter ihm her. Napoleons Tagesbefehl lautete:

»Soldaten! Die russische Armee rückt gegen uns vor, um die Niederlage des österreichischen Heeres bei Ulm zu rächen. Das sind dieselben Bataillone, die ihr bei Hollabrunn geschlagen und ohne Unterlaß bis hierher verfolgt habt. Die Stellungen, die wir innehaben, sind gut, und wenn sie kommen sollten, um uns von rechts zu umgehen, so werden sie mir ihre Flanke zum Angreifen darbieten. Soldaten! Ich selbst werde eure Bataillone führen. Ich werde mich vom Feuer fernhalten, wenn ihr mit eurer gewohnten Tapferkeit Unordnung und Verwirrung in die feindlichen Reihen hineintragen werdet; wenn aber der Sieg auch nur einen Augenblick zweifelhaft werden sollte, so werdet ihr sehen, daß euer Kaiser der erste sein wird, der sich den Hieben des Feindes aussetzt, denn unser Sieg muß ein zweifelloser sein, zumal an einem Tag, wo es sich um die Ehre der französischen Infanterie handelt, die für den Ruhm der gesamten Nation so unentbehrlich ist.

Keiner darf seinen Platz verlassen, auch nicht unter dem Vorwand, Verwundete abzutransportieren. Jeder einzelne soll von dem Gedanken durchdrungen sein, daß wir siegen müssen, siegen über diese Mietlinge Englands, die von einem solchen Haß gegen unsere Nation beseelt sind. Dieser Sieg wird unseren Feldzug beenden, und wir können dann in die Winterquartiere zurückkehren, wo die neue französische Armee, die ich jetzt in Frankreich zusammenstellen lasse, zu uns stoßen wird. Und der Friede, den ich dann schließen werde, wird meiner Völker, euer und meiner würdig sein.

Napoleon«

14

Um fünf Uhr morgens war es noch vollständig finster. Die Truppen des Zentrums, die Reserven und Bagrations rechter Flügel lagen noch still. Aber auf dem linken Flügel fingen die Infanterie-, Kavallerieund Artilleriekolonnen schon an, sich zu regen und von ihrem Nachtlager aufzubrechen, weil sie als die ersten von der Höhe hinabzusteigen, den rechten Flügel der Franzosen anzugreifen und ihn der Disposition gemäß in die böhmischen Berge zurückzuwerfen hatten. Der Rauch der Lagerfeuer, in das man alles, was man nicht mehr brauchen konnte, hineingeworfen hatte, brannte in den Augen. Es war kalt und finster. Die Offiziere tranken in aller Eile Tee und frühstückten, die Soldaten kauten ihren Zwieback, trampelten mit den Beinen, um warm zu werden, und drängten sich um die Feuer, in die sie Zeltreste, Tische, Stühle, Räder, Fässer, kurz alles das hineingeworfen hatten, was sie nicht mitnehmen konnten, österreichische Kolonnenführer tauchten als Vorboten des Aufbruchs zwischen den russischen Truppen auf. Sowie ein solcher österreichischer Offizier sich nur vor dem Standquartier eines Regimentskommandeurs gezeigt hatte, setzte sogleich ein reges Leben im ganzen Regiment ein: die Soldaten rannten von den Feuern weg, steckten die Tabakspfeifen in die Stiefelschäfte, luden ihre Brotbeutel auf die Fuhrwerke, sahen die Flinten noch einmal nach und stellten sich auf. Die Offiziere knöpften die Uniformröcke zu, legten den Degen und den Feldranzen um und gingen, hier und da einen ihrer Leute anschnauzend, die Reihen ab. Die Fuhrleute und Burschen spannten an, luden die Bagage auf und banden sie fest. Die Adjutanten, Bataillons- und Regimentskommandeure bestiegen ihre Pferde, bekreuzigten sich, erteilten den zurückbleibenden Fuhrleuten die letzten Befehle und Aufträge, und dann hörte man nur noch das eintönige Stampfen von Tausenden von Füßen. Die Kolonnen setzten sich in Bewegung, ohne zu wissen wohin, und sahen vor Menschen, vor Rauch und vor Nebel, der immer stärker und stärker wurde, weder den Ort, den sie verließen, noch den, auf den sie losmarschierten.

Ein Soldat auf dem Marsche wird von seinem Regiment ebenso umgeben, umgrenzt und weitergetragen wie der Seemann von dem Schiff, auf dem er fährt. Wie weit er auch ausrücken, in welch fremde, unerforschte und gefährliche Breiten er auch vordringen mag, immer nur sieht er um sich herum – wie der Seemann stets und überall nur immer das gleiche Verdeck, die gleichen Masten und Taue seines Schiffes sieht – dieselben Kameraden, die gleichen Reihen, denselben Feldwebel Iwan Mitritsch, denselben Kompaniehund Schutschka, die gleichen Vorgesetzten. Ein Soldat empfindet selten das Bedürfnis, die Breiten, in denen das ganze Schiff segelt, kennenzulernen. Doch am Tage der Schlacht schwingt, Gott mag wissen wie und woher, ein gemeinsamer, ernster Ton durch die Sinneswelt der Truppen, der das Herannahen von etwas Entscheidendem und Feierlichem ankündigt, und ruft in ihnen eine Wißbegierde hervor, die ihnen sonst niemals zu eigen ist. Am Tage einer Schlacht sucht der Soldat erregt aus der Interessensphäre seines Regimentes herauszukommen, er horcht auf, sieht sich um und fragt begierig danach, was um ihn herum vorgeht.

Der Nebel war so dicht, daß man, obgleich es nach und nach heller wurde, keine zehn Schritt vor sich etwas sehen konnte. Die Büsche sahen aus wie gewaltige Bäume, ebene Flächen wie Abhänge und Schluchten. Überall, auf allen Seiten, konnte man auf den Feind stoßen, der auf zehn Schritt Entfernung nicht sichtbar war. Doch lange bewegten sich die Kolonnen immer im gleichen Nebel vorwärts, marschierten bergauf und bergab, an Gärten und Feldern vorbei, durch neue, unbekannte Gegenden, stießen aber nirgends auf den Feind. Im Gegenteil, vorn, hinten und auf allen Seiten erkannten die Soldaten, daß nur russische Kolonnen in dieser Richtung marschierten. Und jeder Soldat empfand ein angenehmes Gefühl bei dem Bewußtsein, daß dorthin, wohin er ging, das heißt in die unbekannte Ferne, noch viele, viele der Unsrigen ebenfalls zogen.

»Siehst du, die Kursker sind auch schon vorüber«, hieß es in den Reihen.

»Was für eine Unmasse von Truppen hier zusammengezogen sind, Bruder! Ich habe das gestern abend gemerkt, als die Feuer brannten: es war kein Ende abzusehen. Ganz Moskau scheint hier zu sein.«

Obgleich keiner der Kommandeure an die Reihen heranritt und mit den Soldaten sprach – die obersten Truppenführer waren, wie bereits beim Kriegsrat zu sehen war, mißgelaunt und mit dem geplanten Angriff nicht einverstanden und führten deshalb nur ihre Befehle aus, ohne es sich angelegen sein zu lassen, die Soldaten aufzumuntern –, so marschierten sie doch frisch drauflos, wie sie es immer taten, wenn es zum Treffen kam, und besonders wenn es sich um einen Angriff handelte. Aber nachdem sie ungefähr eine Stunde immer in dichtem Nebel vorgerückt waren, mußte ein großer Teil der Truppen plötzlich haltmachen. Die Reihen beschlich das unangenehme Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung war und nicht klappte. Auf welche Weise sich ein solches Gefühl von Reihe zu Reihe fortpflanzt, ist schwer mit Bestimmtheit zu sagen, aber es besteht kein Zweifel, daß es mit ungewöhnlicher Sicherheit und Schnelligkeit unbemerkt und unaufhaltsam weiterrinnt, wie das Wasser den Berg hinunter. Wären die russischen Truppen allein gewesen, ohne Verbündete, so hätte es möglicherweise noch lange gedauert, bis das Gefühl einer Unordnung zur allgemeinen Überzeugung geworden wäre, so aber hielt man mit besonderem Vergnügen und großer Selbstverständlichkeit die verrückten Deutschen für den Grund dieses ganzen Wirrwarrs, und alle waren davon überzeugt, daß eine unheilvolle Konfusion entstanden sei, die sie nur den »Wurstfressern« zu verdanken hätten.

»Warum geht’s nicht weiter? Wohl gesperrt? Oder sind wir schon auf die Franzosen gestoßen?«

»Nein, nichts zu hören. Dann müßte doch geschossen werden.«

»Da mußten wir nun in aller Eile losmarschieren und losmarschieren, und nun stehen wir hier wie die Blödsinnigen mitten auf freiem Feld. Diese verfluchten Deutschen richten doch immer nur Konfusion an! Diese verwünschte Teufelsbrut!«

»Die würde ich aber alle an die Front schicken. Doch da brauchst du keine Angst zu haben, die drücken sich sämtlich nach hinten! Da steht man nun hier, ohne einen Bissen gegessen zu haben.«

»Was soll denn das? Dauert das noch lange? Die Kavallerie soll uns den Weg versperrt haben«, sagte ein Offizier zu einem anderen.

»Ach, diese verdammten Deutschen, kennen ihr eignes Land nicht einmal«, erwiderte der andere.

»Heda, was für eine Division seid ihr?« schrie ein heransprengender Adjutant.

»Die achtzehnte.«

»Warum seid ihr denn immer noch hier? Ihr müßtet doch schon lange vorn sein. Jetzt kommt ihr vor Abend nicht mehr durch.«

»Das kommt von diesen törichten Anordnungen. Die wissen ja selber nicht, was sie wollen«, sagte der eine Offizier und ritt weg.

Da kam ein General herangesprengt und schrie ärgerlich irgend etwas auf deutsch.

»Tafa-lafa, was schimpft der da? Da versteht man doch kein Wort«, sagte ein Soldat und äffte den fortreitenden General nach. »Erschießen müßte man sie alle, diese Hunde!«

»Um neun Uhr sollen wir laut Befehl an Ort und Stelle sein, und jetzt haben wir noch nicht einmal die Hälfte. Schöne Anordnungen das!« wurde von verschiedenen Seiten laut.

Und das Gefühl der Kraft, mit dem die Truppen in den Kampf ausgezogen waren, fing an, sich in Ärger zu verwandeln und in Wut gegen diese sinnlosen Anordnungen und die »verrückten Deutschen« überzugehen.

Die Ursache des Wirrwarrs aber bestand darin, daß das Oberkommando, als die österreichische Kavallerie auf der äußersten Linken bereits vorgerückt war, gefunden hatte, unser Zentrum sei vom rechten Flügel doch zu weit entfernt, und deshalb der ganzen Kavallerie befohlen hatte, auf die rechte Seite hinüberzuschwenken. Und so zogen nun Tausende von Kavalleristen vor der Infanterie vorbei, und diese mußte inzwischen warten.

An der Spitze der Truppen war es zu einem unliebsamen Zusammenstoß zwischen einem österreichischen Offizier und einen russischen General gekommen. Der russische General schrie und verlangte, die Reiterei solle augenblicklich anhalten, aber der Österreicher machte ihm klar, daß nicht er, sondern das Oberkommando schuld sei. Inzwischen standen die Truppen gelangweilt da und verloren den Mut. Endlich, nach stundenlangem Aufenthalt, setzten sie sich wieder in Marsch und zogen bergabwärts weiter. Der Nebel, der sich auf dem Berge schon fast verteilt hatte, ballte sich im Tal, wohin die Truppen marschierten, nur noch fester zusammen. Vor sich im Nebel hörten sie ab und zu Schüsse, anfänglich vereinzelt und in verschiedenen Zwischenräumen: »Tratta … tat«, dann aber immer regelmäßiger und öfter: das Gefecht am Goldbach setzte ein.

Man hatte nicht erwartet, unten am Fluß den Feind zu treffen, und war im Nebel ganz unvermutet auf ihn gestoßen. Ohne ein Wort der Aufmunterung von den höchsten Vorgesetzten, in dem Bewußtsein, bereits zu spät gekommen zu sein, und, was die Hauptsache war, durch den dichten Nebel behindert, der sie weder vor sich noch im Umkreis irgend etwas erkennen ließ, beschossen die russischen Truppen langsam und träge den Feind, rückten dann wieder ein Stück vor und machten dann von neuem halt, da sie nicht rechtzeitig die Befehle von den Kommandeuren durch die Adjutanten erhielten, die im Nebel durch das unbekannte Gelände irrten und ihre Truppenteile nicht fanden. So fing der Kampf für die erste, zweite und dritte Kolonne an, die bereits ins Tal hinabgestiegen waren. Die vierte Kolonne, bei der sich Kutusow selber befand, stand noch auf den Höhen von Pratzen.

Unten, wo das Gefecht einsetzte, lag immer noch dichter Nebel, während es sich oben etwas aufgeklärt hatte, doch konnte man auch hier nichts von dem sehen, was weiter vorn vor sich ging. Waren die Hauptstreitkräfte des Feindes, wie wir annahmen, zehn Werst von uns entfernt oder stand der Feind dort in jenem Nebelstreifen? Das wußte bis jetzt kein Mensch.

Es war neun Uhr morgens. Wie ein dichtes Meer breitete sich der Nebel in den Tälern aus, aber oben auf der Höhe unweit des Dorfes Schlapanitz, wo Napoleon mit seinen Marschällen stand, war es ganz hell. Über ihm wölbte sich ein klarer blauer Himmel, und der riesige Sonnenball schaukelte wie ein gewaltiger, hohler, purpurner Schwimmkork auf dem milchweißen Nebelmeer. Nicht nur das ganze französische Heer, sondern auch Napoleon selber mit seinem Stabe befand sich nicht jenseits der Bäche und Niederungen der Dörfer Sokolnitz und Schlapanitz, wo wir sie aus den Stellungen vertreiben und die Schlacht zu eröffnen beabsichtigten, sondern diesseits, und zwar in so nächster Nähe unserer Truppen, daß Napoleon mit bloßem Auge unsere Kavallerie von der Infanterie unterscheiden konnte. Napoleon hielt auf seinem kleinen Araberschimmel ein paar Schritte vor seinen Marschällen; er war mit demselben blauen Mantel bekleidet, den er schon während seines Feldzuges durch Italien getragen hatte. Schweigend blickte er nach den Hügeln hinüber, die hier und dort aus dem Nebelmeer auftauchten und auf denen sich in der Ferne russische Truppen bewegten, und lauschte auf das Geknatter der Schüsse im Tal. In seinem damals noch hageren Gesicht rührte sich nicht ein Muskel, seine leuchtenden Augen waren starr auf eine bestimmte Stelle gerichtet. Seine Annahmen erwiesen sich als richtig. Die russischen Truppen waren teils schon ins Tal zu den Seen und Teichen hinabgestiegen, teils hatten sie die Pratzener Höhen geräumt, die er anzugreifen beabsichtigte, weil er sie für den Schlüssel der ganzen Stellung hielt. Er sah durch den Nebel, wie in einem Einschnitt zwischen zwei Bergen in der Nähe des Dorfes Pratzen die russischen Kolonnen mit blitzenden Bajonetten immer in derselben Richtung ins Tal hinabzogen und wie eine Kolonne nach der anderen dann wieder im Nebelmeer verschwand. Aus Nachrichten, die er am Abend erhalten hatte, aus dem Geräusch der Räder und Schritte, das seine Vorposten in der Nacht vernahmen, aus dem wirren Vormarsch der russischen Kolonnen, aus alledem hatte er klar und deutlich erkannt, daß die Verbündeten ihn viel weiter entfernt glaubten, daß die Kolonnen, die jetzt bei Pratzen in Bewegung waren, das Zentrum der russischen Armee bildeten, und daß dieses Zentrum bereits genügend geschwächt war, um es mit Erfolg angreifen zu können. Aber trotzdem eröffnete er die Schlacht nicht.

Es war heute ein Festtag für ihn: der Jahrestag seiner Krönung. Gegen Morgen hatte er ein paar Stunden geschlafen und sich dann in jener glücklichen Gemütsverfassung, in der alles möglich scheint und alles glückt, gesund, frisch und heiter aufs Pferd geschwungen und war ins Feld geritten. Jetzt blickte er starr auf die aus dem Nebel hervortretenden Höhen, und auf seinem kalten Gesicht lag jener besondere Ausdruck von Selbstvertrauen und wohlverdientem Glück, wie er sich auf dem Antlitz eines glücklich verliebten Burschen zu zeigen pflegt. Die Marschälle hielten etwas hinter ihm und wagten nicht, seine Aufmerksamkeit abzulenken. So schaute er sinnend bald auf die Höhen von Pratzen, bald auf die aus dem Nebelmeer auftauchende Sonne.

Als die Sonne gänzlich aus dem Nebel herausgetreten war und die Felder und nebligen Täler mit blendendem Glanz überflutete, zog Napoleon – als hätte er nur darauf gewartet, um die Schlacht zu beginnen – den Handschuh von seiner schönen weißen Hand, gab dadurch seinen Marschällen das Zeichen und erteilte ihnen den Befehl, den Kampf zu eröffnen. Von ihren Adjutanten begleitet, sprengten die Marschälle nach allen Seiten auseinander, und kurze Zeit darauf bewegte sich die Hauptstreitkraft des französischen Heeres in großer Eile auf jene Pratzener Höhen zu, welche von den russischen Truppen, die nach links ins Tal hinabzogen, immer mehr und mehr entblößt wurden.

15

Um acht Uhr begab sich Kutusow zu Pferd nach Pratzen, an der Spitze von Miloradowitschs vierter Kolonne, welche die Stellung der Kolonnen Przebyszewskis und Langerons, die schon weiter ins Tal gezogen waren, einnehmen sollte. Er begrüßte die Mannschaften des Vorderregimentes, erteilte den Befehl, zu marschieren, und zeigte damit, daß er diese Kolonne selber zu führen beabsichtigte. Beim Dorf Pratzen angelangt, hielt er an. Fürst Andrej, der zu der gewaltigen Schar gehörte, die das Gefolge des Oberkommandierenden bildete, hielt dicht hinter ihm. Er fühlte sich erregt und nervös, gleichzeitig aber auch gelassen und ruhig, wie einem Menschen gewöhnlich zumute ist, wenn ein langersehnter Augenblick endlich herannaht. Er war fest davon überzeugt, daß heute der Tag für sein Toulon oder seine Brücke von Arcole angebrochen war. Wie sich das ereignen werde, wußte er nicht, aber er glaubte fest daran, daß es kommen müsse. Das Gelände und die Stellungen unserer Truppen waren ihm so gut bekannt, wie sie nur irgendeinem aus der ganzen Armee bekannt sein konnten. Seinen eignen strategischen Plan, an dessen Ausführung offenbar augenblicklich nicht mehr zu denken war, hatte er ganz vergessen. Jetzt war er ganz von Weyrothers Plan durchdrungen, dachte sich alle nur möglichen Zwischenfälle, die sich ereignen konnten, aus, stellte neue Kombinationen auf und in der Hauptsache solche, bei denen seine schnelle Auffassungsgabe und seine Entschlossenheit von Nutzen sein konnten.

Links unten, im Nebel, hörte man das Schießen der unsichtbaren Truppen. Dort, so schien es dem Fürsten Andrej, mußte sich die ganze Schlacht konzentrieren. Dort mußte man auf Schwierigkeiten stoßen. Da wird man mich hinschicken, dachte er, mit einer Brigade oder einer Division, und dort werde ich mit der Fahne in der Hand allen voranstürmen und alles kurz und klein schlagen, was sich mir in den Weg stellt. Und Fürst Andrej konnte nicht mehr gleichmütig auf die Fahnen der vorüberziehenden Bataillone blicken, da er bei jeder von ihnen denken mußte: Vielleicht ist es gerade diese Fahne, mit der ich den Truppen voranstürmen werde.

Auf den Höhen hatte der nächtliche Nebel am Morgen nur Reif zurückgelassen, der sich nach und nach in Tau verwandelte, in den Tiefen aber war er wie ein milchweißes Meer stehen geblieben. Nichts war in jenem Tal zu sehen, wohin unsere Truppen abgezogen waren und woher jetzt das Geknatter des Gewehrfeuers kam. Über den Höhen wölbte sich ein tiefblauer, klarer Himmel, zur Rechten erhob sich gigantisch der Sonnenball. Vorn, in weiter Ferne, am jenseitigen Ufer des Nebelmeeres, sah man einige bewaldete Hügel hervortreten, auf denen sich die feindlichen Truppen befinden mußten, und wirklich konnte man auch etwas von ihnen erkennen. Rechts rückte die Garde in den Bereich des Nebels ein, man hörte Pferdegetrappel und das Rollen der Räder, hie und da blitzte ein Bajonett auf; links hinter den Dörfern wälzte sich eine ebenso große Masse Kavallerie vorbei und verschwand ebenfalls in den Nebelschwaden. Vorn und hinten marschierte die Infanterie.

Der Oberkommandierende hatte am Ausgang des Dorfes haltgemacht und ließ die Truppen an sich vorüberziehen. Kutusow schien an diesem Morgen abgespannt und gereizt zu sein. Die an ihm vorbeiziehende Infanterie machte, ohne daß es ihr befohlen war, halt, offenbar weil sie durch irgend etwas aufgehalten wurde.

»So lassen Sie doch endlich Bataillonskolonnen bilden und einen Umweg um das Dorf machen!« rief Kutusow ärgerlich einem heranreitenden General zu. »Begreifen Sie denn nicht, meine verehrte Exzellenz, daß man, wenn man gegen den Feind vorgeht, nicht in einer solchen Breite durch die langen Dorfstraßen ziehen kann.«

»Ich wollte die Aufstellung hinter dem Dorf vornehmen lassen, Exzellenz«, erwiderte der General.

Kutusow lachte bitter.

»Das kann ja gut werden, wenn Sie die Front erst angesichts des Feindes formieren! Sehr gut kann das werden!«

»Der Feind ist noch weit, Exzellenz. Nach der Disposition …«

»Zum Teufel die Disposition!« schrie Kutusow gallig. »Wer sagt Ihnen denn das? Tun Sie gefälligst, was ich Ihnen befehle!«

»Zu Befehl.«

»Mon cher«, flüsterte Neswizkij dem Fürsten Andrej zu, »le vieux est d’une humeur de chien.«

Da sprengte ein österreichischer Offizier in weißer Uniform und grünem Federbusch auf Kutusow zu und fragte im Namen des Kaisers, ob die vierte Kolonne schon in den Kampf gezogen sei.

Kutusow gab keine Antwort, wandte sich um, und sein Blick fiel zufällig auf den Fürsten Andrej, der gleich hinter ihm stand. Als Kutusow Bolkonskij sah, milderte sich der böse, scharfe Ausdruck seiner Augen, als käme es ihm zum Bewußtsein, daß sein Adjutant doch an dem, was da vorging, nicht schuld sei. Und ohne dem österreichischen Adjutanten eine Antwort zu geben, wandte er sich an Bolkonskij und sagte auf französisch zu ihm: »Sehen Sie zu, mein Lieber, ob die dritte Division schon durch das Dorf marschiert ist, und sagen Sie ihr, sie solle haltmachen und meine Befehle abwarten.«

Fürst Andrej wollte gerade abreiten, als er ihn noch einmal zurückhielt: »Und fragen Sie, ob die Schützen aufgestellt sind«, fügte er hinzu.

»Was die nur machen, was die nur machen!« murmelte er dann vor sich hin, noch immer ohne dem Österreicher eine Antwort gegeben zu haben.

Fürst Andrej sprengte hinweg, um seinen Auftrag auszuführen.

Nachdem er alle schon vorübergezogenen Bataillone überholt hatte, hielt er bei der dritten Division an und überzeugte sich, daß tatsächlich keine Schützenkette vor unseren Kolonnen aufgestellt war. Der Kommandeur des vordersten Regiments war höchst verwundert, als ihm vom Oberkommandierenden der Befehl, Schützen ausschwärmen zu lassen, überbracht wurde. Er war der festen Überzeugung gewesen, daß vor ihm noch andere von unseren Truppen marschierten, und daß der Feind noch gegen zehn Werst entfernt sein müsse. Und tatsächlich war vorn nichts weiter zu sehen als ein ödes Gelände, das stark abfiel und von dichtem Nebel bedeckt war. Nachdem Fürst Andrej im Namen des Oberkommandierenden den Befehl erteilt hatte, das Versäumte nachzuholen, sprengte er eilig wieder zurück. Kutusow befand sich noch an derselben Stelle, sein vierschrötiger Körper war greisenhaft im Sattel zusammengesunken; er gähnte schwer und machte die Augen zu. Die Truppen waren nicht mehr in Bewegung, sie standen Gewehr bei Fuß.

»Schön, schön«, sagte er zum Fürsten Andrej und wandte sich dann an einen General, der mit der Uhr in der Hand bemerkte, es sei Zeit abzumarschieren, da alle Kolonnen des linken Flügels bereits talabwärts gezogen wären.

»Wir kommen schon noch hin, Exzellenz«, brummte Kutusow unter Gähnen. »Wir kommen schon noch hin«, wiederholte er.

In diesem Augenblick hörte man die Regimenter hinter Kutusow in der Ferne Hurra schreien, und dieses Geschrei, das sich über die ganze Linie der vorrückenden russischen Kolonnen ausbreitete, kam rasch immer näher und näher. Es war deutlich zu merken, daß der, dem dieser Gruß galt, sehr schnell ritt. Als nun auch die Soldaten jenes Regiments, vor dem Kutusow hielt, zu schreien anfingen, ritt dieser ein wenig zur Seite und sah sich stirnrunzelnd um. Auf dem Weg von Pratzen kam eine buntfarbige Kavalkade daher, als wäre es eine ganze Schwadron. Allen voran sprengten in scharfem Galopp zwei Reiter. Der eine, in schwarzer Uniform und weißem Federbusch, ritt eine englisierte Fuchsstute, der andere, in weißer Uniform, einen Rappen. Es waren die beiden Kaiser mit ihrem Gefolge. Als alter Soldat, der schon oft an der Front gewesen ist, kommandierte Kutusow dem neben ihm stehenden Regiment: »Stillgestanden!« und ritt salutierend auf den Kaiser zu. Seine ganze Gestalt und sein ganzes Wesen schienen mit einem Schlag verändert. Er nahm die Miene eines Untergebenen an, der sich jedes Urteils enthält. Mit erkünstelter Ehrerbietung, die Kaiser Alexander offenbar unangenehm berührte, ritt er auf ihn zu und salutierte.

Doch dieser unangenehme Eindruck huschte schnell, wie ein letztes Nebelfetzchen am klaren Himmel, über das junge, glückliche Gesicht des Kaisers und verschwand sogleich wieder. Nach seinem Unwohlsein erschien er heute etwas magerer als auf dem Felde bei Olmütz, wo ihn Bolkonskij zum erstenmal im Ausland gesehen hatte, aber in seinen schönen blaugrauen Augen lag dieselbe bezaubernde Verschmelzung majestätischer Größe und sanfter Güte, und seine feinen Lippen zeigten dieselbe vielgestaltige Ausdruckskunst, wobei allerdings meist der Ausdruck jugendlich harmloser Gutherzigkeit vorherrschte.

Bei der Besichtigung in Olmütz war er majestätisch würdevoller gewesen, heute war er heiterer und energischer. Durch diesen Galopp von beinahe drei Werst hatte sich sein Gesicht etwas gerötet, und er hielt ausruhend an, schöpfte tief Atem und sah sich nach seiner Suite um, deren Gesichter ebenso jung und belebt waren wie das seine. Czartoryski und Nowosilzew, Fürst Wolkonskij, Stroganow und andere, lauter reich gekleidete, heitere junge Leute auf prächtigen, sorgfältig gepflegten, frischen Pferden, die nur wenig in Schweiß geraten waren, machten hinter dem Kaiser halt und unterhielten sich lächelnd. Kaiser Franz, ein frischer junger Mann mit länglichem Gesicht, saß ungewöhnlich steif auf seinem schönen schwarzen Hengst und sah sich besorgt und gemessen um. Er rief einen seiner Adjutanten in weißer Uniform zu sich heran und fragte ihn etwas. Sicherlich will er wissen, um welche Zeit sie weggeritten sind, dachte Fürst Andrej und betrachtete den Kaiser wie einen alten Bekannten, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken, als er an seine Audienz bei ihm dachte. Im Gefolge der Kaiser befanden sich auserlesene, reckenhafte junge Ordonnanzoffiziere aus österreichischen und russischen Garde- und Linienregimentern. Dazwischen waren auch einige Bereiter, die prächtige kaiserliche Reservepferde mit gestickten Decken mit sich führten.

Wie durch ein geöffnetes Fenster der frische Wind aus Wald und Feld in die dumpfe Stube hineinbläst, so fühlte sich der verdrossene Kutusowsche Stab durch die Heiterkeit, Energie und Siegesgewißheit dieser heransprengenden glänzenden Jugend frisch angeweht.

»Warum fangen Sie denn nicht an, Michail Ilarionowitsch?« wandte sich Kaiser Alexander eilig an Kutusow, warf aber gleichzeitig einen höflichen Seitenblick auf Kaiser Franz.

»Ich warte noch, Majestät«, erwiderte Kutusow in ehrerbietig vornübergeneigter Haltung.

Der Kaiser hielt ihm das Ohr hin, runzelte leicht die Stirn und tat, als habe er ihn nicht verstanden.

»Ich warte noch, Majestät«, wiederholte Kutusow. Fürst Andrej bemerkte, daß Kutusows Oberlippe unnatürlich zitterte, während er dieses »Ich warte noch« aussprach. »Es sind noch nicht alle Kolonnen zusammengezogen, Majestät.«

Der Kaiser hatte es jetzt gehört, aber diese Antwort schien ihm sichtlich nicht zu gefallen. Er zuckte die etwas krummen Schultern und sah Nowosilzew an, der neben ihm hielt, als wolle er sich mit diesem Blick über Kutusow beklagen.

»Wir sind doch hier nicht auf der Zarizynwiese, Michail Ilarionowitsch, wo die Parade nicht eher anfangen darf, als bis alle Regimenter aufmarschiert sind«, sagte der Kaiser und sah dabei wieder Kaiser Franz ins Gesicht, als fordere er ihn auf, zuzuhören, was er sage, wenn er sich nun schon an dem Gespräch nicht beteiligen wolle. Aber Kaiser Franz fuhr fort, sich umzuschauen, und hörte nicht hin.

»Eben deswegen fange ich nicht an, Majestät«, erwiderte Kutusow mit lauter Stimme, um jeder Möglichkeit, abermals nicht verstanden zu werden, vorzubeugen, und wieder zuckte es über sein Gesicht. »Eben deshalb fange ich nicht an, Majestät, weil wir hier nicht zur Parade auf der Zarizynwiese sind.« Klar und deutlich sprach er jedes Wort aus.

Im Gefolge des Kaisers sah einer den anderen an, und auf allen Gesichtern war Mißbilligung und Tadel zu lesen. Wenn er auch ein alter Mann ist, so darf er doch, darf er doch unter keinen Umständen so mit dem Kaiser reden, drückten alle Mienen aus.

Der Kaiser sah Kutusow starr und gespannt ins Auge und wartete, ob er noch etwas sagen würde. Aber der Oberkommandierende senkte nur ehrerbietig den Kopf und schien ebenfalls zu warten. Das Schweigen dauerte etwa eine Minute lang.

»Übrigens, wenn Majestät befehlen«, sagte dann Kutusow, hob den Kopf und verfiel wieder in den Ton eines abgestumpften, sich unterordnenden Generals, der sich kein eignes Urteil erlauben darf. Er wandte sein Pferd um, rief den Gruppenkommandeur Miloradowitsch heran und erteilte ihm den Befehl zum Angriff.

Wieder setzten sich die Truppen in Bewegung. Zwei Bataillone des Nowgoroder Regimentes und ein Bataillon des Apscheroner Regimentes rückten vor und zogen am Kaiser vorüber.

Während dieses Apscheroner Regiment vorbeizog, sprengte Miloradowitsch mit seinem roten Gesicht, ohne Mantel, im bloßen Uniformrock mit vielen Orden, den Hut mit der aufgeschlagenen Krempe und gewaltigen Feder seitlich auf den Kopf gedrückt, in vollem Galopp vor, salutierte schneidig und brachte sein Pferd vor dem Kaiser zum Stehen.

»Mit Gott, General!« sagte der Kaiser zu ihm.

»Ma foi, Sire, nous ferons ce que sera dans notre possibilité, Sire«, erwiderte er heiter, rief aber trotzdem durch seine schlechte Aussprache des Französischen ein spöttisches Lächeln auf den Lippen der Herren des kaiserlichen Gefolges hervor.

Miloradowitsch wandte sein Pferd kurz um und nahm etwas hinter dem Kaiser Aufstellung. Durch die Gegenwart des Zaren aufgemuntert, marschierten die Apscheroner mit festen, kräftigen Schritten an den beiden Kaisern und ihrem Gefolge vorbei.

»Kinder!« rief Miloradowitsch mit lauter, munterer und selbstbewußter Stimme. Er war sichtlich durch das Geknatter der Schüsse, durch die Nähe des Kampfes und durch den Anblick der tapferen Apscheroner, die schon unter Suworow seine Kameraden gewesen waren und jetzt so stramm an den Kaisern vorbeimarschierten, so in Begeisterung geraten, daß er sogar die Anwesenheit des Zaren vergaß. »Kinder, das ist doch nicht das erste Dorf, das ihr stürmt!« schrie er ihnen zu.

»Hurra! Hurra! Hurra!« riefen die Soldaten zurück.

Das Pferd des Zaren scheute bei dem plötzlichen Geschrei. Dieses Pferd, das den Kaiser schon bei seinen Besichtigungen in Rußland getragen hatte, trug ihn auch heute auf dem Schlachtfeld bei Austerlitz. Ruhig duldete es, wenn sein Reiter es mit dem linken Fuß zerstreut in die Seite stieß, und spitzte bei dem Geknatter der Schüsse die Ohren, ganz so, wie es dies schon auf der Zarizynwiese[78] getan hatte, ohne zu wissen, was diese Schüsse zu bedeuten hatten, und warum der schwarze Hengst von Kaiser Franz neben ihm stand, und ohne zu verstehen, was der, welcher auf ihm ritt, an diesem Tag fühlte, dachte und sprach.

Lächelnd wandte sich der Kaiser an einen, der neben ihm stand, zeigte auf die strammen Apscheroner und sagte irgend etwas zu ihm.

16

Begleitet von seinen Adjutanten ritt Kutusow im Schritt hinter der Reiterei her.

Nachdem er so gegen eine halbe Werst am Schluß der Kolonne geritten war, hielt er bei einem einsamen, baufälligen Hause, wahrscheinlich einer früheren Schenke, an, weil sich der Weg hier teilte. Beide Wege führten bergab und auf beiden zogen Truppen dahin.

Der Nebel fing an sich zu lichten, und auf den gegenüberliegenden Anhöhen sah man schon in einer Entfernung von etwa zwei Werst verschwommen die feindlichen Truppen. Von links unten wurde das Schießen vernehmbar.

Kutusow machte halt und sprach ein paar Worte mit einem österreichischen General. Fürst Andrej hielt dicht hinter ihm und beobachtete die beiden, dann wandte er sich an einen Adjutanten, um sich dessen Fernrohr auszubitten.

»Sehen Sie bloß, sehen Sie bloß«, sagte dieser Adjutant und blickte nicht auf die Truppen in der Ferne, sondern vor sich den Berg hinunter. »Das sind die Franzosen!«

Die beiden Generäle und die anderen Adjutanten griffen nach dem Glase und entrissen es einer dem anderen. Ihre Gesichter hatten sich plötzlich verfärbt und drückten Entsetzen aus. Sie hatten die Franzosen in zwei Werst Entfernung geglaubt, und jetzt standen sie plötzlich unerwartet vor ihnen.

»Ist das der Feind? … Nein! … Aber sehen Sie doch, das ist er … ganz sicher … Was ist das?« schwirrte es durcheinander.

Fürst Andrej erkannte mit bloßem Auge rechts unten eine dichte Kolonne Franzosen, die den Apscheronern bergaufwärts entgegendrängte und nicht weiter als fünfhundert Schritt von der Stelle entfernt war, wo Kutusow hielt.

Jetzt ist er da, der entscheidende Augenblick. Jetzt ist’s an mir! dachte Fürst Andrej, riß sein Pferd herum und ritt an Kutusow heran.

»Die Apscheroner müssen angehalten werden, Exzellenz«, rief er.

Doch in diesem Augenblick hüllte sich alles in Rauch, man hörte das Schießen in nächster Nähe, und zwei Schritte von Fürst Andrej entfernt schrie plötzlich eine Stimme in naivem Entsetzen: »Zurück, Brüder, zurück!« Und als wäre dies ein Kommando gewesen, fing plötzlich alles an zu fliehen.

Wirre, immer größer werdende Scharen flohen bis zu der Stelle zurück, wo noch vor fünf Minuten die Truppen an den beiden Kaisern vorübergezogen waren. Es war nicht nur schwierig, diese Menschenmassen aufzuhalten, sondern einfach unmöglich, selber stehenzubleiben und nicht von der Menge mit fortgerissen zu werden. Bolkonskij bemühte sich nur, nicht abgetrieben zu werden, sah sich um, traute seinen Augen kaum und war nicht imstande zu begreifen, was sich da vor ihm abspielte. Neswizkij war kaum wiederzuerkennen und rief mit hochrotem, wütendem Gesicht Kutusow zu, wenn er nicht augenblicklich von hier wegritte, würde er unwiderruflich gefangengenommen werden. Doch Kutusow gab keine Antwort, blieb auf demselben Fleck stehen und zog sein Taschentuch hervor. Aus seiner Backe floß Blut. Fürst Andrej drängte sich zu ihm heran.

»Sie sind verwundet?« fragte er, kaum imstande, das Zittern seines Unterkiefers zu verbergen.

»Nicht hier bin ich verwundet, sondern dort!« erwiderte Kutusow, drückte das Taschentuch gegen die verwundete Backe und zeigte auf die Fliehenden.

»Haltet sie auf!« schrie er, gab aber, wahrscheinlich in der Überzeugung, daß dieses Aufhalten ein Ding der Unmöglichkeit sei, seinem Pferde die Sporen und sprengte nach rechts hinüber.

Aber eine neu heranströmende Schar Fliehender erfaßte ihn und riß ihn mit zurück.

Die Truppen hatten sich zu einem so dicken Knäuel zusammengeballt, daß es, wenn man einmal in ihre Mitte geraten war, schwerfiel, sich wieder herauszufitzen. Da schrie einer: »Marsch vorwärts! Was stehst du im Wege?« Ein anderer drehte sich um und schoß in die Luft. Ein dritter versetzte dem Pferde, auf dem Kutusow saß, einen Hieb. Nur mit größter Mühe arbeitete sich Kutusow mit seinem Gefolge, das bis auf die Hälfte zusammengeschmolzen war, durch die Flut der zurückdrängenden Truppen nach links hindurch und ritt dem Donnern eines nahen Geschützfeuers entgegen. Während sich Fürst Andrej, bemüht, nicht von Kutusow getrennt zu werden, ebenfalls durch die Menge der Fliehenden durcharbeitete, sah er, wie am Fuße des Berges in dichten Rauch gehüllt eine russische Batterie noch Feuer gab und von den Franzosen bestürmt wurde. Etwas weiter oben stand russische Infanterie und ging weder vorwärts, um der Batterie zu Hilfe zu kommen, noch rückwärts, auf die Fliehenden zu. Ein General zu Pferde trennte sich von dieser Infanterie und ritt zu dem Oberkommandierenden hin. Von Kutusows Gefolge waren nur noch vier Mann übriggeblieben. Mit bleichen Gesichtern sahen sie einander an.

»Halten Sie doch diese elenden Kerle auf!« schrie Kutusow, vor Wut fast erstickend, den Regimentskommandeur an und zeigte auf die Fliehenden. Aber in diesem Augenblick schwirrten pfeifend wie zur Strafe für diese Worte eine Unmenge Kugeln wie ein Vogelschwarm auf das Regiment und Kutusows Gefolge zu.

Die Franzosen hatten beim Ansturm gegen die Batterie Kutusow gesehen und schossen nun auf ihn. Durch diese Salve wurde der Regimentskommandeur am Fuß verwundet, einige Soldaten fielen, und der Fähnrich, der die Fahne hielt, ließ diese aus den Händen gleiten, die Fahne schwankte, fiel und verfing sich in den Flinten der zunächststehenden Soldaten. Die Mannschaften fingen ohne Kommando an zu schießen.

»Oooh!« stieß Kutusow mit verzweifeltem Ausdruck hervor und sah sich um.

»Bolkonskij«, flüsterte er und seine Stimme zitterte im Bewußtsein seiner durch das Alter bedingten Schwäche, »Bolkonskij«, flüsterte er und zeigte auf das aufgelöste Bataillon und auf den Feind, »was ist das?«

Aber ehe er noch diese Worte zu Ende gesprochen hatte, war Fürst Andrej, Tränen der Scham und des Zornes, die ihm die Kehle zuzuschnüren drohten, in den Augen, vom Pferde gesprungen und auf die Fahne zugestürzt.

»Vorwärts, Kinder!« schrie er mit kindlich heller Stimme.

Der Augenblick ist da! dachte Fürst Andrej, ergriff die Fahnenstange und lauschte mit Wonne dem Pfeifen der Kugeln, die alle nur auf ihn gerichtet zu sein schienen. Einige Soldaten fielen.

»Hurra!« schrie Fürst Andrej, der kaum die schwere Fahne in der Hand halten konnte, aber er stürmte vorwärts in der festen Zuversicht, daß das ganze Bataillon ihm folgen werde.

Tatsächlich stürmte er nur wenige Schritte allein voran. Dann folgte ihm einer nach, dann ein anderer, und schließlich stürzte das ganze Bataillon mit Hurrarufen hinter ihm her und holte ihn ein.

Ein Unteroffizier des Bataillons eilte herbei und ergriff die Fahne, die infolge ihres Gewichtes in Fürst Andrejs Händen zu schwanken anfing, aber er wurde sogleich von einer Kugel getroffen. Da faßte Fürst Andrej wieder die Fahne, ließ die schwere Stange hinten nachschleifen und stürmte dem Bataillon nach. Vor sich sah er unsere Artilleristen, von denen die einen kämpften, die anderen ihre Kanonen im Stich ließen und ihm entgegenliefen, und die französischen Infanteristen, die die Artilleriepferde ergriffen und die Kanonen umdrehten. Fürst Andrej war mit seinem Bataillon nur noch zwanzig Schritte von den Geschützen entfernt. Er hörte über sich das ununterbrochene Pfeifen der Kugeln und fortwährend sanken rechts und links von ihm stöhnend Soldaten zu Boden. Aber er sah nicht nach ihnen hin, er sah nur auf das, was sich vorn bei der Batterie abspielte. Ganz deutlich unterschied er die Gestalt eines rothaarigen Artilleristen, der mit zur Seite gerutschtem Tschako an der einen Seite eines Wischers zog, während ein französischer Soldat den Wischer von der anderen Seite an sich heranzuziehen suchte. Fürst Andrej erkannte ganz genau den wirren und gleichzeitig wütenden Gesichtsausdruck dieser beiden Menschen, die anscheinend nicht wußten, was sie taten.

Was machen die? dachte Fürst Andrej und sah nach ihnen hin. Warum reißt der rothaarige Artillerist nicht aus, wenn er keine Waffe hat? Warum sticht ihn der Franzose nicht einfach tot? Wenn es dem einfällt, daß er eine Waffe bei sich hat, wird der andere keine Zeit mehr haben zu fliehen, dann wird ihn der Franzose niederstrecken.

Wirklich stürzte ein anderer Franzose mit gefälltem Bajonett auf die Ringenden zu, und das Schicksal des rothaarigen Artilleristen, der immer noch nicht begriffen hatte, was ihm bevorstand, und triumphierend den Wischer in der Hand hielt, mußte sich jetzt entscheiden. Aber Fürst Andrej sah nicht mehr, wie es endete. Ihm war, als schlüge ihn ein Soldat mit aller Gewalt mit einem dicken Knüttel auf den Kopf. Das tat nicht allzu weh, aber es war doch unangenehm, weil ihn dieser Schmerz ablenkte und ihn hinderte, das weiterzuverfolgen, was er gerade beobachtete.

Was ist das? Ich falle? Die Beine knicken mir ein? dachte er und fiel rücklings auf den Boden. Er riß wieder die Augen auf, in der Hoffnung, noch sehen zu können, wie der Kampf des Franzosen mit dem Artilleristen ausginge, und noch zu erfahren, ob der rothaarige Artillerist erstochen worden sei oder nicht, und ob die Kanonen genommen oder gerettet wären. Aber er sah nichts. Über ihm war nichts als der Himmel, der hohe Himmel, der zwar nicht klar, aber trotzdem unermeßlich hoch schien. Graue Wolken glitten ruhig dahin. Wie still, wie ruhig, wie feierlich, dachte Fürst Andrej, gar nicht so, wie ich eben dahergestürmt bin, gar nicht so, wie wir rennen und schreien und kämpfen, und wie sich der Franzose und der Artillerist mit wütenden, entsetzten Gesichtern den Wischer zu entwinden suchten – ganz anders ziehen die Wolken über diesen hohen, unendlichen Himmel dahin. Wie kommt es, daß ich früher niemals diesen Himmel gesehen habe? Wie glücklich bin ich, daß ich ihn endlich sehe. Ja! Alles ist eitel, alles ist Lug und Trug, außer diesem unendlichen Himmel. Es gibt nichts, nichts außer ihm … Und auch er ist wohl nicht … nichts ist … außer der Stille … der Ruhe … Gott sei Dank!

17

Am rechten Flügel, den Bagration führte, hatte die Schlacht um neun Uhr noch nicht begonnen. Da Bagration dem Drängen Dolgorukows, in Aktion zu treten, nicht nachgeben, aber auch alle Verantwortung von sich abwälzen wollte, schlug er Dolgorukow vor, einen Boten zum Oberkommandierenden zu schicken und anfragen zu lassen. Bagration wußte, daß bei einer Entfernung von nahezu zehn Werst der beiden Flügel voneinander dieser Bote, wenn er nicht unterwegs erschossen wurde, was sehr wahrscheinlich war, und wenn er auch wirklich den Oberkommandierenden fand, was äußerst schwierig schien, dann wohl kaum vor Abend zurückkommen könne.

Bagration sah sich mit seinen großen, ausdruckslosen, halbverschlafenen Augen in seinem Gefolge um und unwillkürlich fiel ihm Rostows vor Aufregung und Hoffnung fast vergehendes Kindergesicht zuerst in die Augen. Er schickte ihn.

»Wenn ich nun Seine Majestät früher als den Oberkommandierenden treffen sollte?« fragte Rostow, die Hand am Mützenschirm.

»Dann können Sie auch Seiner Majestät den Rapport abstatten«, sagte Dolgorukow, indem er Bagration hastig unterbrach.

Nachdem Rostow von seinem Vorpostendienste abgelöst worden war, hatte er gegen Morgen ein paar Stunden schlafen können und fühlte sich jetzt munter, frisch und entschlossen, mit jener Spannkraft der Glieder, jenem Vertrauen auf das eigne Glück und in jener Gemütsverfassung, in der alles leicht, lustig und möglich erscheint.

Alle seine Wünsche waren an diesem Morgen in Erfüllung gegangen: es kam zu einer Entscheidungsschlacht, er durfte daran teilnehmen, außerdem war er als Ordonnanzoffizier zu dem tapfersten General abkommandiert, und überdies ritt er nun mit einem Auftrag zu Kutusow und möglicherweise gar zum Kaiser selber. Der Morgen war klar, er ritt ein gutes Pferd. Glück und Freude erfüllten sein Herz. Nachdem er den Befehl erhalten hatte, spornte er sein Pferd an und sprengte die Front entlang. Anfänglich ritt er an Bagrations Truppen entlang, die noch nicht in Aktion getreten waren und noch in Ruhe lagen, dann kam er auf die weite Fläche, die Uwarows Kavallerie besetzt hatte, und bemerkte hier schon Verschiebungen, Anzeichen und Vorbereitungen zum Kampf, und als er Uwarows Kavallerie hinter sich hatte, hörte er den Donner der Kanonen und das Gewehrfeuer schon ganz deutlich vor sich. Das Schießen wurde immer stärker.

Man hörte in der frischen Morgenluft nicht mehr als erst nur ein, zwei Schüsse in ungleichen Abständen und dann den Donner von ein oder zwei Kanonenschüssen: von den Hängen bei Pratzen ertönte ein fortwährendes Knattern der Gewehre, unterbrochen von so häufigen Kanonenschüssen, daß man die Schüsse der einzelnen Geschütze gar nicht mehr auseinanderhalten konnte und alles in ein allgemeines Dröhnen zusammenfloß.

Man sah, wie die Rauchwölkchen der Gewehre an den Hängen entlangliefen und einander zu jagen schienen, und wie die Rauchschwaden der Geschütze aufwirbelten, sich ausbreiteten und ineinanderflossen. An dem Blinken der Bajonette durch den Rauch erkannte man, wie sich die Infanterie in Massen vorwärts wälzte und die Artillerie mit ihren grünen Munitionswagen in schmalen Streifen dahinzog.

Auf einem Höhenvorsprung hielt Rostow sein Pferd einen Augenblick an, um zu beobachten, was dort vor sich ging. Aber wie sehr er auch seine Aufmerksamkeit anspannte, er konnte weder erkennen noch verstehen, was sich da abspielte: es bewegten sich dort im Rauch gewaltige Menschenmassen, irgendwelche Truppenkörper schoben sich vorwärts und rückwärts, aber wer, warum und wohin – daraus konnte er nicht klug werden. Doch dieser Anblick und das Getöse weckten in ihm keineswegs Bangen und Zagen, sondern flößten ihm im Gegenteil Energie und Entschlossenheit ein.

Nur immer feste, immer feste! sagte er in Gedanken zu diesem Getöse und sprengte weiter die Front entlang, immer mehr und mehr in jene Truppenteile eindringend, die schon in den Kampf verwickelt waren.

Wie es kommen wird, weiß ich nicht, aber es wird schon alles gut werden! sagte sich Rostow.

Nachdem er an verschiedenen österreichischen Truppen vorbeigekommen war, bemerkte er, daß der nun folgende Teil der Front – es war die Garde – bereits mitten im Kampf stand.

Um so besser, dann werde ich alles aus nächster Nähe sehen, dachte Rostow.

Er ritt fast an der Vorderlinie entlang. Einige Reiter sprengten in der Richtung auf ihn zu. Es waren unsere Leibulanen, die in aufgelösten Reihen von einem Angriff zurückkamen. Rostow ritt dicht an ihnen vorbei, bemerkte, daß einer blutüberströmt war, und jagte weiter.

Das schert mich nicht! dachte er.

Er war noch keine hundert Schritt weitergeritten, als links, über die ganze weite Ausdehnung des Feldes, eine Unmasse Kavallerie in glänzenden weißen Uniformen auf schwarzen Rossen sichtbar wurde, die, ihm den Weg abschneidend, gerade auf ihn zutrabte. Rostow trieb sein Pferd an, so sehr er konnte, um den Reitern die Bahn freizugeben, und es wäre ihm auch gerade noch gelungen, wenn diese ihr anfängliches Tempo beibehalten hätten. Aber sie ritten immer schneller und schneller, so daß sie teilweise bereits galoppierten. Rostow hörte immer deutlicher das Stampfen der Hufe und Klirren der Waffen und erkannte immer greifbarer die Pferde, die Gestalten und sogar die Gesichter. Es war unsere Gardekavallerie, die zu einer Attacke gegen französische Kavallerie vorging, welche gegen sie anrückte.

Die Gardekavalleristen sprengten im Galopp heran, hielten aber die Pferde noch etwas zurück. Rostow erkannte schon genau die Gesichter und hörte das Kommando: »Marsch, Marsch!« eines Offiziers, der sein Vollblut in vollem Galopp dahinsausen ließ. Rostow, der in Gefahr schwebte, überritten oder in die Attacke auf die Franzosen mit hineingezogen zu werden, jagte, was sein Pferd nur laufen konnte, vor der Front her. Dennoch gelang es ihm nicht, vollständig vorbeizukommen.

Der Flügelmann der Gardekavallerie, ein riesiger Mensch mit pockennarbigem Gesicht, runzelte finster die Stirn, als er Rostow, mit dem er unfehlbar zusammenstoßen mußte, vor sich sah. Zweifellos hätte er ihn mitsamt seinem »Beduinen« in Grund und Boden gestampft – Rostow kam sich im Vergleich mit diesen riesigen Leuten und Pferden selber so winzig und schwach vor –, wenn Rostow nicht auf den Einfall gekommen wäre, dem Pferde des Kavalleristen mit der Peitsche in die Augen zu schlagen. Der schwere, lange Rappe legte die Ohren zurück und bäumte sich, aber der pockennarbige Gardekavallerist stieß ihm mit aller Wucht die gewaltigen Sporen in die Flanken, und das Pferd schlug mit dem Schweif, streckte den Hals vor und jagte noch toller weiter. Kaum war die Gardekavallerie an Rostow vorbei, da hörte er auch schon ihr Hurraschreien, und als er sich umblickte, sah er, wie die ersten Reihen sich bereits mit fremden Kavalleristen, wahrscheinlich Franzosen, mit roten Achselstücken vermischt hatten. Weiter konnte er nichts sehen, denn gleich darauf wurde von irgendwoher geschossen, und alles hüllte sich wieder in Rauch.

In dem Augenblick, als die Gardekavallerie an ihm vorbei und im Rauch verschwunden war, fing Rostow an zu schwanken, ob er ihnen nachsprengen oder dorthin reiten sollte, wohin es ihm befohlen war. Es war jene glänzende Attacke der Gardekavallerie, die selbst bei den Franzosen Bewunderung hervorgerufen hat. Mit Grauen hörte Rostow dann später, daß von dieser gewaltigen Masse schöner Menschen, von all den reichen jungen Leuten, Offizieren und Junkern, die auf ihren prächtigen Pferden für tausend Rubel an ihm vorbeisprengten, nach der Attacke nur noch achtzehn Mann übriggeblieben waren.

Warum beneide ich sie? Der Kampf wird mir nicht davonlaufen, und vielleicht sehe ich doch noch den Kaiser, dachte Rostow und jagte weiter.

Als er bis zur Gardeinfanterie vorgedrungen war, bemerkte er, daß hier und ringsherum Kanonenkugeln einschlugen, und zwar merkte er das nicht nur an dem Sausen der Kugeln, sondern an den unruhigen Gesichtern der Soldaten und den unnatürlich kriegerischfeierlichen Mienen der Offiziere.

Er ritt hinter der einen Linie dieser Gardeinfanterie entlang. Da hörte er plötzlich seinen Namen rufen.

»Rostow!«

»Was ist?« rief er zurück, ohne Boris erkannt zu haben.

»Denk mal, wir sind ganz an die Front gekommen! Unser Regiment ist zum Angriff vorgegangen!« rief Boris mit jenem glückseligen Lächeln, wie man es oft bei jungen Leuten sieht, die zum erstenmal im Feuer gewesen sind. Rostow hielt sein Pferd an.

»Sieh mal an!« sagte er. »Nun und?«

»Wir haben sie geschlagen!« sagte Boris erregt und wurde gesprächig.

»Denke dir nur …«

Und nun fing Boris an zu erzählen, wie die Garde in Ruhe gelegen und vor sich Truppen gesehen habe und immer in dem Glauben gewesen sei, es seien Österreicher. Plötzlich hätten sie durch Kanonenkugeln, die von jenen Truppenteilen zu ihnen herübergeflogen seien, erkannt, daß sie in der ersten Linie standen, und seien ganz unerwartet in den Kampf verwickelt worden. Aber Rostow ließ Boris nicht zu Ende erzählen, sondern trieb sein Pferd wieder an.

»Wohin reitest du?« fragte Boris.

»Zu Seiner Majestät, mit einem Auftrag.«

»Da ist er ja«, sagte Boris, der verstanden hatte, daß Rostow Seine Hoheit und nicht Seine Majestät suche.

Und er zeigte auf den Großfürsten, der im Helm und Koller der Gardekavallerie mit seinen hochgezogenen Schultern stirnrunzelnd etwa hundert Schritte von ihnen entfernt stand und einem bleichen österreichischen Offizier in weißer Uniform etwas zuschrie.

»Aber das ist doch der Großfürst, ich muß doch zum Oberkommandierenden oder zum Kaiser«, rief Rostow und wollte davonsprengen.

»Graf, Graf!« rief Berg, der ebenso aufgeregt wie Boris von der anderen Seite herbeigelaufen kam, »Graf, ich bin an der rechten Hand verwundet worden«, rief er und zeigte seine blutende Hand, die mit einem Taschentuch umwunden war, »bin aber trotzdem an der Front geblieben. Ich führe jetzt den Degen mit der linken Hand, Graf, in unserem Geschlecht, im Geschlecht derer von Berg, sind alle stets Helden gewesen!«

Berg fügte noch etwas hinzu, aber Rostow hörte nicht auf ihn und sprengte weiter.

Nachdem er die Garde und einen darauf folgenden leeren Zwischenraum hinter sich hatte, hielt sich Rostow, um nicht wieder in die vorderste Linie wie bei der Attacke der Gardekavallerie hineinzugeraten, mehr nach den Reserven zu und weit von der Richtung entfernt, von wo aus das lauteste Flinten- und Geschützfeuer zu hören war. Plötzlich vernahm er vor sich, also hinter unseren Truppen, an einer Stelle, wo keineswegs der Feind zu vermuten war, in nächster Nähe Gewehrfeuer.

Was kann das sein? Der Feind im Rücken unserer Truppen? Das ist unmöglich, dachte Rostow, und eine entsetzliche Furcht für sich und den Ausgang der ganzen Schlacht kam plötzlich über ihn. Was es auch immer sein mag, dachte er dann weiter, ich kann jetzt nicht mehr ausweichen. Ich muß den Oberkommandierenden hier suchen, und wenn alles verloren ist, so ist es meine Pflicht, hier mit allen anderen zu fallen.

Das böse Vorgefühl, das Rostow überschlichen hatte, bestätigte sich immer mehr und mehr, je weiter er in die Gegend um das Dorf Pratzen vordrang, die von wirren, aufgelösten Truppenteilen besetzt war.

»Was ist das? Was bedeutet das? Auf wen wird geschossen? Wer schießt da?« fragte Rostow die russischen und die österreichischen Soldaten, die in wirren Haufen quer über seinen Weg liefen.

»Der Teufel mag’s wissen! Alle geschlagen! Alles verloren!« antwortete man ihm auf russisch, auf deutsch und auf tschechisch aus der Schar der Fliehenden, die nicht mehr als er selber von alledem verstanden, was hier vorging.

»Haut sie tot, die Deutschen!« schrie einer.

»Der Teufel hole diese Verräter!«

»Zum Henker diese Russen …« brüllte ein Deutscher.

Auch Verwundete kamen den Weg entlang. Das Schreien, Schimpfen und Stöhnen verschmolz zu einem allgemeinen Getöse. Das Schießen verstummte, Russen und Österreicher hatten sich gegenseitig beschossen, wie Rostow später erfuhr.

Mein Gott, wie ist das nur möglich? dachte Rostow. Hier, wo sie jeden Augenblick der Kaiser sehen kann … Aber nein, das kann nicht sein, das sind nur ein paar feige Hunde. Das geht vorüber, das kann, kann nicht sein! dachte er. Nur schnell, schnell an ihnen vorbei.

Der Gedanke an eine Niederlage und Flucht wollte nicht in Rostows Kopf. Obgleich er die französischen Truppen und Geschütze bereits auf den Höhen von Pratzen erblickte, auf denselben Höhen, wo er den Oberkommandierenden suchen sollte, konnte und wollte er es nicht glauben.

18

Rostow war befohlen worden, Kutusow oder den Kaiser in der Nähe des Dorfes Pratzen zu suchen. Aber er fand hier nicht nur keinen von beiden, sondern überhaupt keinen Kommandeur, nur bunte Haufen aufgelöster Truppenteile. Er spornte sein schon müde werdendes Pferd an, um schneller an diesem Chaos vorbeizukommen, aber je weiter er vorwärts drang, desto wirrer wurden die Haufen. Auf der Landstraße, auf die er jetzt stieß, drängten sich Wagen und Fuhrwerke aller Art, russische und österreichische Soldaten aller Truppengattungen, Verwundete und Unverwundete. All das wogte und flutete wirr zurück unter dem unheimlichen Pfeifen heransausender Kanonenkugeln der französischen Batterien, die auf den Höhen von Pratzen standen.

»Wo ist der Kaiser? Wo ist Kutusow?« fragte Rostow alle, die er anhalten konnte, aber von keinem konnte er eine Antwort bekommen. Endlich packte er einen Soldaten am Kragen und zwang ihn so, Rede zu stehen.

»Ach, Bruder, die sind schon lange dort vorn, die haben sich zuerst aus dem Staube gemacht!« sagte der Soldat lachend zu Rostow und riß sich los.

Rostow ließ den Soldaten, der augenscheinlich betrunken war, laufen und hielt das Pferd eines anderen an, der Bursche oder Bereiter eines höheren Offiziers zu sein schien, und fragte ihn aus. Der Bursche versicherte Rostow, man habe den Kaiser vor etwa einer Stunde in einer Kutsche in schnellstem Tempo diese Landstraße hier zurückgefahren, er sei schwer verwundet.

»Das kann nicht sein«, erwiderte Rostow, »das ist sicherlich ein anderer gewesen.«

»Ich habe ihn selber gesehen«, sagte der Bursche selbstbewußt und spöttisch, »wäre auch Zeit für mich, den Kaiser zu kennen, sollte ich meinen, wo ich ihn so oft in Petersburg in nächster Nähe gesehen habe. Ganz blaß wie eine Leiche hat er in der Kutsche gesessen. Und wie die vier Rappen an uns vorbeisausten, das donnerte nur so! Ich werde doch wohl die kaiserlichen Pferde kennen, sollte ich meinen, und Ilja Iwanytsch! Und einen anderen als den Kaiser selber fährt der Kutscher Ilja überhaupt nicht!«

Rostow ließ das Pferd des Burschen los und wollte weiterreiten. Ein vorübergehender verwundeter Offizier wandte sich nach ihm um.

»Wen suchen Sie?« fragte der Offizier. »Den Oberkommandierenden? Der ist von einer Kugel getötet worden, mitten durch die Brust geschossen, angesichts unseres Regimentes.«

»Nicht getötet, nur verwundet«, verbesserte ein anderer Offizier.

»Wer denn? Kutusow?« fragte Rostow.

»Nein, Kutusow nicht, wie heißt er doch gleich … na, einerlei, am Leben sind nur wenige geblieben. Aber reiten Sie dorthin, in jenes Dorf, dort haben sich alle Kommandeure versammelt«, fügte der Offizier hinzu, zeigte auf das Dorf Hosteradek und ging vorüber.

Rostow ritt im Schritt weiter, ohne zu wissen, an wen er sich wenden sollte und wozu noch. Der Kaiser war verwundet, die Schlacht verloren. Ein Zweifel war jetzt nicht mehr möglich. Er ritt in der Richtung weiter, die man ihm angegeben hatte, wo er in der Ferne den Turm einer Kirche sah. Wohin sollte er jetzt noch eilen? Wozu sollte er nun noch mit dem Kaiser oder mit Kutusow sprechen, wenn sie auch wirklich noch am Leben und nicht verwundet waren?

»Reiten Sie jenen Weg dort, Euer Wohlgeboren, auf diesem hier werden Sie glatt totgeschossen«, rief ihm ein Soldat zu. »Ja, glatt totgeschossen.«

»Was sagst du da?« mischte sich ein anderer ein. »Wo reitet er denn hin? Hier ist es doch näher.«

Rostow schwankte einen Augenblick und ritt dann gerade in der Richtung weiter, wo man ihm gesagt hatte, daß er totgeschossen würde.

Jetzt ist mir alles gleich, dachte er, wenn sogar der Kaiser verwundet worden ist, warum soll ich mich da in acht nehmen? Er kam jetzt auf eine Stelle des Schlachtfeldes, wo die meisten der aus Pratzen Geflohenen umgekommen waren. Die Franzosen hatten diesen Platz noch nicht eingenommen, und diejenigen Russen, die am Leben geblieben oder nur verwundet gewesen waren, ihn schon lange geräumt. Die Toten und Verwundeten lagen zu Dutzenden auf der Erde. Die Verwundeten waren zu zweien und dreien zusammengekrochen, und man hörte ihr unheimliches und, wie es Rostow schien, manchmal übertriebenes Schreien und Stöhnen. Rostow setzte sein Pferd in Trab, um nicht alle diese leidenden Menschen sehen zu müssen, ihm war entsetzlich zumute. Er fürchtete nicht für sein Leben, aber für sein Herz, das den Anblick dieser Unglücklichen, das wußte er, nicht ertragen hätte.

Die Franzosen hatten aufgehört, dieses mit Verwundeten und Toten besäte Feld zu beschießen, da ja kein lebendes Wesen mehr dort war. Als sie aber den Adjutanten daherreiten sahen, richteten sie ihre Geschütze auf ihn und sandten ihm ein paar Kugeln hinüber. Diese fürchterlich pfeifenden Töne und der Eindruck der ihn umgebenden Toten flossen in Rostow zu einem Gefühl des Entsetzens und des Mitleids mit sich selber zusammen. Er dachte an den letzten Brief seiner Mutter. Was würde sie empfinden, dachte er, wenn sie mich hier sähe, auf diesem Feld, vor den auf mich gerichteten Geschützen!

Die russischen Truppen, die sich nach dem Dorf Hosteradek zurückgezogen hatten, befanden sich zwar auch in Verwirrung, waren aber doch in besserer Ordnung vom Schlachtfeld abgezogen. Bis hierher waren die französischen Kugeln noch nicht gekommen, und das Dröhnen der einschlagenden Geschosse erschien entfernt. Hier sahen alle bereits klar und sprachen es offen aus, daß die Schlacht verloren war. An wen sich Rostow auch wandte, keiner konnte ihm sagen, wo der Kaiser oder wo Kutusow war. Die einen sagten, das Gerücht von der Verwundung des Kaisers sei wahr, andere wieder behaupteten das Gegenteil und erklärten dieses falsch verbreitete Gerücht damit, daß tatsächlich der Oberhofmarschall Graf Tolstoi, der sich zusammen mit anderen Herren aus dem Gefolge des Kaisers nach dem Schlachtfeld begeben habe, bleich und erschrocken im Wagen des Kaisers zurückgejagt sei. Ein Offizier sagte Rostow, er habe links auf dem Felde jemanden vom Oberkommando gesehen, und Rostow ritt hin, zwar nicht mehr in der Hoffnung, dort irgend jemanden zu finden, sondern nur, um vor sich selber mit reinem Gewissen dazustehen.

Nachdem er etwa drei Werst weit geritten war und die letzten russischen Truppen hinter sich hatte, sah er an einem Obstgarten, der mit einem Graben umgeben war, zwei Reiter, die dem Graben gegenüber standen. Der eine mit der weißen Feder auf dem Hute kam Rostow irgendwie bekannt vor, der andere unbekannte Reiter, der einen prächtigen Fuchs ritt – Rostow schien es, als habe er das Pferd schon irgendwo gesehen –, sprengte bis an den Graben, gab seinem Pferd die Sporen, ließ die Zügel locker und setzte leicht hinüber. Nur etwas Erde wirbelten die Hinterhufe des edlen Tieres auf. Dann drehte er das Pferd um, sprang wieder über den Graben zurück, wandte sich ehrerbietig an den Reiter mit der weißen Feder und schlug ihm anscheinend vor, dasselbe zu tun. Der erste Reiter, dessen Gestalt Rostow bekannt schien, und der auch aus irgendeinem Grunde immer wieder unwillkürlich seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, machte eine verneinende Gebärde mit dem Kopf und mit der Hand, und an dieser Gebärde erkannte Rostow augenblicklich seinen betrauerten, vergötterten Kaiser.

Aber das kann er doch nicht sein, so allein, mitten auf diesem öden Feld, dachte Rostow. In diesem Augenblick wandte Alexander den Kopf, und Rostow erkannte die geliebten Züge, die sich so lebhaft seinem Gedächtnis eingeprägt hatten. Der Kaiser war bleich, seine Wangen eingefallen, seine Augen hohl, aber um so anziehender erschien der sanfte Ausdruck seiner Züge. Rostow war froh, sich überzeugen zu können, daß das Gerücht von der Verwundung des Kaisers falsch war. Er war glücklich, ihn zu sehen. Er wußte, er konnte, ja er mußte sich jetzt direkt an ihn wenden und ihm das melden, was ihm von Dolgorukow befohlen worden war.

Aber wie ein verliebter Jüngling zittert und zagt und das nicht auszusprechen wagt, wovon er nächtelang geträumt hat, und sich, wenn der ersehnte Augenblick gekommen ist und »sie« endlich allein vor ihm steht, ängstlich umsieht und Hilfe sucht oder die Möglichkeit, es noch aufzuschieben oder gar zu fliehen, so wußte auch Rostow jetzt, da das erreicht war, was er sich mehr als alles andere auf der Welt gewünscht hatte, nicht, wie er sich dem Kaiser nähern sollte, und tausend Bedenken kamen ihm, daß dies störend, unpassend, ja unmöglich wäre.

Wie! Das sähe ja aus, als wäre ich froh, die Gelegenheit zu benutzen, wo er allein und niedergeschlagen ist. Ihm wäre ein fremdes Gesicht unangenehm und schwer zu ertragen in diesem Augenblick des Kummers, und dann, was könnte ich denn jetzt herausbringen, wo mir schon bei seinem bloßen Anblick das Herz stillzustehen droht und der Mund verstummt? Nicht eines jener zahlreichen Worte, die er sich auf dem Weg zum Kaiser im Geiste zurechtgelegt hatte, kam ihm jetzt in den Sinn. Alle diese Reden hatten größtenteils unter ganz anderen Bedingungen gehalten werden sollen, in einem Augenblick des Sieges und Triumphes, oder wenn er, Rostow, tödlich verwundet auf dem Sterbebett läge und der Kaiser ihm für sein heldenhaftes Vorgehen und seine durch die Tat bewiesene Liebe seinen Dank aussprechen würde.

Und dann, wie kann ich denn jetzt den Kaiser um Befehle für den rechten Flügel befragen, wo es bereits vier Uhr nachmittags und die Schlacht verloren ist? Nein, ganz entschieden darf ich nicht an ihn heranreiten. Ich darf ihn nicht aus seinen Gedanken aufschrecken. Lieber tausendmal sterben, als einen unzufriedenen Blick, eine schlechte Meinung von ihm zu verdienen, entschied Rostow und ritt, Trauer und Verzweiflung im Herzen, fort, schaute sich aber fortwährend nach dem immer noch unentschlossen auf derselben Stelle stehenden Kaiser um.

Und gerade, als Rostow diese Erwägungen anstellte und traurig vom Kaiser fortritt, kam zufällig Hauptmann von Toll dort vorbeigeritten, sah den Kaiser, ritt geradewegs auf ihn zu, bot ihm seine Dienste an und half ihm, zu Fuß über den Graben zu gelangen. Der Kaiser, der sich nicht ganz wohl fühlte und sich ausruhen wollte, setzte sich unter einen Apfelbaum und Toll blieb neben ihm stehen. Rostow beobachtete voller Neid und Reue von weitem, wie von Toll lange und eifrig mit dem Kaiser sprach und wie dann der Kaiser die Hand auf die Augen legte, offenbar weinte und Toll die Hand drückte.

Und ich hätte an seiner Stelle sein können! dachte Rostow bei sich, konnte kaum die Tränen des Mitleids mit dem Geschick des Kaisers zurückhalten und ritt voller Verzweiflung fort, ohne zu wissen wohin, und warum er jetzt noch weiterritt. Und seine Verzweiflung war deshalb so groß, weil er wußte, daß seine eigne Schwäche der Grund seines Kummers war.

Er hätte an den Kaiser heranreiten können, hätte es nicht nur gekonnt, es wäre sogar seine Pflicht gewesen. Eine nie wiederkehrende Gelegenheit hatte sich ihm geboten, dem Kaiser seine Ergebenheit zu zeigen. Und er hatte sie ungenutzt vorübergehen lassen … Was habe ich getan? dachte er. Er warf sein Pferd herum und sprengte an die Stelle zurück, wo er den Kaiser gesehen hatte, aber am Graben war niemand mehr zu sehen. Und Wagen und Fuhrwerke rollten vorüber. Rostow erfuhr von einem Kutscher, daß Kutusows Stab sich ganz in der Nähe in einem Dorf befand und daß die Bagagewagen dorthin fuhren. Rostow ritt hinter ihnen her.

Vor ihm ging Kutusows Bereiter, der ein paar Pferde mit Decken am Zügel führte. Hinter ihm kam ein Fuhrwerk und hinter dem Wagen ging ein alter Leibeigner mit krummen Beinen, in Halbpelz und Mütze.

»Tit, he, Tit!« rief der Bereiter.

»Was ist?« erwiderte der Alte zerstreut.

»Tit, Tit, Tit, komm, drisch dich mit!«

»Ach, du Schafskopf, pfui Teufel!« sagte der Alte ärgerlich und spuckte aus. Eine Zeitlang bewegte sich der Zug schweigend weiter, dann wiederholte sich derselbe Scherz.

Um fünf Uhr nachmittags war die Schlacht auf allen Punkten verloren. Mehr als hundert Geschütze befanden sich bereits in den Händen der Franzosen.

Przebyszewski mit seinem Korps streckte die Waffen. Andere Kolonnen zogen sich, nachdem sie die Hälfte ihrer Leute verloren hatten, in wirren, bunten Haufen zurück.

Die Überreste der Truppen Langerons und Dochturows drängten wirr an den Teichen und Uferdämmen bei dem Dorf Äugest zurück. Gegen sechs Uhr hörte man dort nur noch ein heißes Geschützfeuer, das die Franzosen aus den zahlreichen auf den Abhängen der Pratzener Höhen aufgestellten Batterien unseren fliehenden Truppen nachsandten.

Die Nachhut Dochturows und anderer sammelte ihre Bataillone und schoß auf die französische Kavallerie, die unsere Truppen verfolgte. Es fing an zu dämmern. Auf dem schmalen Teichdamme von Äugest, wo so viele Jahre lang der alte Müller mit der Zipfelmütze friedlich mit seiner Angelrute gesessen, während sein Enkelkind mit aufgestreiften Ärmelchen die silbernen, zappelnden Fische in der Gießkanne zu haschen versucht hatte, auf diesem Teichdamme, auf dem so viele Jahre lang friedlich mährische Bauern in blauen Jacken und Pudelmützen ihre zweispännigen Fuhren mit Weizen zur Mühle gefahren und dann, von Mehl bestäubt, mit ihren weißen Säcken aus der Mühle wieder heimgekehrt waren – auf diesem schmalen Teichdamme drängten sich jetzt zwischen Wagen und Kanonen, zwischen Pferden und Rädern von Todesangst entstellte Menschen, quetschten und stießen sich, fielen tot um, schritten über Sterbende hinweg und erdrückten andere, um dann selber getötet zu werden, wenn sie ein paar Schritte weitergekommen waren.

Alle zehn Sekunden machte sich ein Luftdruck bemerkbar, und eine Kanonenkugel oder Granate platzte mitten in die engzusammengedrängte Menschenmasse hinein, forderte ihre Todesopfer und bespritzte alle in der Nähe Stehenden mit Blut. Dolochow, der an der Hand verwundet war und mit zehn Soldaten seiner Kompanie zu Fuß ging – er war bereits wieder Offizier geworden – und sein Regimentskommandeur zu Pferde waren die einzigen, die von ihrem Regiment übriggeblieben waren. Von der Menge mit fortgerissen, waren sie in den Eingang des Teichdammes hineingedrängt worden und blieben nun, von allen Seiten eingepreßt, stehen, weil vorn ein Pferd unter eine Kanone geraten war und die Menge es hochzuziehen versuchte. Hinter ihnen wurde ein Soldat von einer Kanonenkugel getötet, eine andere Kugel schlug vor ihnen ein und bespritzte Dolochow mit Blut. Die Menge drängte verzweifelt nach vorn, preßte sich zusammen, schob sich ein paar Schritte vor, mußte aber dann wieder stehen bleiben.

Nur noch hundert Schritte vor, dann bin ich gerettet, aber wenn ich hier noch zwei Minuten stehen bleibe, bin ich todsicher verloren, dachte ein jeder.

Dolochow stand mitten im Gedränge, stieß zwei Soldaten mit dem Fuß beiseite und arbeitete sich bis zum Rande des Dammes durch.

»Weicht hierhin aus!« schrie er und sprang auf das Eis, das unter ihm krachte.

»Weicht hierhin aus!« schrie er den Geschützen zu. »Es trägt.«

Das Eis trug ihn, aber es knisterte und krachte, und es war klar, daß es nicht nur unter den Geschützen und der Menschenmasse, sondern schon unter ihm allein jeden Augenblick einbrechen mußte. Alle sahen auf ihn und drängten sich an das Ufer, aber keiner konnte sich entschließen, das Eis zu betreten. Der Regimentskommandeur, der zu Pferd am Eingang des Dammes hielt, erhob die Hand, machte den Mund auf und wollte Dolochow etwas zurufen. Plötzlich aber pfiff eine Kanonenkugel so dicht über die Menge, daß sich alle erschrocken niederduckten. Man hörte ein feuchtes Klatschen, und der General sank mit seinem Pferde in einer Blutlache zusammen. Niemand sah sich nach ihm um oder dachte daran, ihn aufzuheben.

»Vorwärts aufs Eis, aufs Eis! Marsch! Lenk um! Hörst du denn nicht? Vorwärts!« schrien plötzlich, nachdem die Kugel den General zerrissen hatte, zahllose Stimmen, ohne selber zu wissen, was und warum sie schrien.

Eines der letzten Geschütze, das auf den Damm heraufgefahren war, lenkte nach dem Eis um. Eine Schar Soldaten sprang auf den zugefrorenen Teich hinunter. Aber schon unter einem der ersten brach das Eis. Er sank mit dem einen Fuß ins Wasser, wollte sich wieder hochrichten, brach aber bis zum Gürtel ein. Die nachdrängenden Soldaten schraken zurück. Der Fahrer auf dem Geschütz hielt sein Pferd an, aber hinter ihnen hörte man immer heftiger schreien: »Vorwärts aufs Eis! Was steht ihr still? Vorwärts! Vorwärts!« Rufe des Entsetzens drangen aus der Menge. Die Soldaten, die das Geschütz umdrängten, hieben und schlugen auf die Pferde ein, damit sie auswichen und von der Stelle kamen. Die Pferde traten vom Ufer hinunter. Das Eis, das die Fußgänger gerade noch getragen hatte, brach in einer gewaltigen Scholle ein, und von den vierzig Mann, die darauf standen, stürzten die einen vor, die anderen zurück, zogen sich gegenseitig ins Wasser und ertranken.

Immer toller pfiffen die Kugeln in regelmäßigen Abständen herbei und klatschten auf das Eis und ins Wasser, am häufigsten aber in die Menschenmenge, die sich auf dem Damm, am Teich und am Ufer vorwärtsdrängte.

19

Auf der Höhe von Pratzen lag Fürst Andrej blutüberströmt an derselben Stelle, wo er mit der Fahne in der Hand gefallen war, und stieß halb bewußtlos ein leises, jämmerliches Stöhnen aus, das wie das Weinen eines kleinen Kindes klang.

Gegen Abend hörte er auf zu stöhnen und wurde ganz still. Er wußte nicht, wie lange er so bewußtlos gelegen hatte, aber plötzlich fühlte er sich ins Leben zurückgekehrt und empfand einen brennenden Schmerz, als wolle ihm der Kopf zerspringen.

Wo ist er, dieser hohe Himmel, den ich bisher noch nicht gekannt und erst heute gesehen habe? war sein erster Gedanke. Und auch den Schmerz kannte ich bis heute noch nicht, dachte er. Ja, nichts, nichts habe ich gekannt bis jetzt. Aber wo bin ich?

Er horchte auf und hörte das Gestampfe von Pferdehufen, das immer näher kam, und den Klang französisch sprechender Stimmen. Er schlug die Augen auf. Über sich sah er wieder den selben hohen Himmel, höher noch hatten sich die leise dahinschwimmenden Wolken erhoben, durch die man die blaue Unendlichkeit hindurchsah. Er wandte den Kopf nicht zur Seite und sah nicht jene, die, nach dem Lärm der Hufe und Stimmen zu urteilen, ganz nahe an ihn herangekommen sein und haltgemacht haben mußten.

Die herangekommenen Reiter waren Napoleon und zwei ihn begleitende Adjutanten. Bonaparte ritt das Schlachtfeld ab und erteilte die letzten Befehle zur Verstärkung der Batterien, die den Damm von Äugest beschossen, und besichtigte die Verwundeten und Gefallenen, die auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben waren.

»De beaux hommes!« sagte Napoleon und betrachtete einen gefallenen russischen Grenadier, der, das Gesicht in die Erde gewühlt, mit gebräuntem Nacken auf dem Bauch lag, den einen, schon erstarrten Arm weit von sich gestreckt.

»Les munitions des pièces de position sont épuisées, Sire«, meldete in diesem Augenblick ein Adjutant, der von den Batterien, die auf Äugest schossen, herübergeritten kam.

»Faites avancer celles de la réserve«, erwiderte Napoleon, ritt ein paar Schritte weiter und machte neben Fürst Andrej halt, der auf dem Rücken lag, neben sich die umgesunkene Fahnenstange – die Fahne selbst hatten die Franzosen als Trophäe mitgenommen.

»Voilà une belle mort«, sagte Napoleon und zeigte auf Bolkonskij.

Fürst Andrej verstand, daß man dies von ihm sagte und daß es Napoleon war, der sprach. Er hatte gehört, daß man den Sprecher mit Sire anredete. Aber diese Worte klangen in sein Ohr wie das Summen einer Fliege. Sie interessierten ihn nicht, er gab nicht auf sie acht und hatte gleich wieder alles vergessen. Ihm brannte der Kopf, er fühlte, daß sein Blut floß, und er sah nichts als den fernen, hohen, ewigen Himmel. Er wußte, daß dies Napoleon war, sein Held, aber in diesem Augenblick erschien ihm selbst Napoleon so klein, so unbedeutend im Vergleich zu dem, was sich jetzt zwischen seiner Seele und jenem hohen, unendlichen Himmel mit den still über ihn hingleitenden Wolken hin und her spann. Ihm war in diesem Augenblick alles vollkommen gleichgültig, wer auch neben ihm stehen, was man auch von ihm sagen mochte, er freute sich nur darüber, daß Menschen bei ihm haltmachten, und hatte nur den einen Wunsch, daß ihm diese Menschen helfen und ihn ins Leben zurückrufen möchten, das ihm jetzt so herrlich erschien, weil er es nun so ganz anders verstand.

Er raffte alle seine Kräfte zusammen, um sich zu rühren und einen Laut von sich zu geben. Matt zuckte er mit dem Fuße und stieß ein so schwaches, schmerzliches Stöhnen aus, daß er sich dabei selber leid tat.

»Ach, er lebt noch!« sagte Napoleon. »Nehmt diesen jungen Mann auf und tragt ihn an einen Verbandplatz!«

Nachdem er das gesagt hatte, ritt Napoleon weiter, dem Marschall Lannes entgegen, der mit dem Hut in der Hand auf den Kaiser zugeritten kam, um ihm zum Siege Glück zu wünschen.

An das, was weiter geschah, konnte sich Fürst Andrej später nicht mehr erinnern: er verlor infolge der furchtbaren Schmerzen, die ihm das Aufladen auf die Tragbahre, die Stöße während des Transportes und das Sondieren der Wunde auf dem Verbandplatz verursachten, das Bewußtsein. Erst gegen Abend schlug er die Augen wieder auf, als er zusammen mit anderen verwundeten und gefangenen russischen Offizieren ins Hospital geschafft wurde. Bei dieser Überführung fühlte er sich etwas besser und konnte sich schon ein wenig umschauen und sogar sprechen.

Das erste, was er vernahm, als er die Augen aufschlug, waren die Worte des französischen Begleitoffiziers, der hastig sagte: »Wir müssen hier haltmachen. Der Kaiser wird sogleich vorbeikommen. Es wird ihm Vergnügen machen, diese gefangenen Offiziere zu sehen.«

»Wir haben doch heute so viele Gefangene gemacht, beinahe die ganze russische Armee, daß ihm das möglicherweise schon langweilig sein wird«, erwiderte ein anderer Offizier.

»Na, einerlei! Dies soll der Kommandeur der Garde Kaiser Alexanders sein«, sagte wieder der erste und zeigte auf einen verwundeten russischen Offizier in der weißen Uniform der Gardekavalleristen.

Bolkonskij erkannte den Fürsten Repnin, den er in Petersburg oft auf Gesellschaften getroffen hatte. Neben ihm stand ein anderer verwundeter Offizier von der Gardekavallerie, ein junger Mann von neunzehn Jahren.

Bonaparte sprengte im Galopp herbei und hielt sein Pferd an.

»Welcher von ihnen ist der Rangälteste?« fragte er, als er die Gefangenen sah.

Man nannte ihm den Fürsten Repnin.

»Sie sind der Kommandeur des Gardekavallerieregimentes Kaiser Alexanders?« fragte Napoleon.

»Ich habe eine Eskadron kommandiert«, erwiderte Repnin.

»Ihr Regiment hat wacker seine Pflicht getan«, sagte Napoleon.

»Das Lob eines großen Feldherrn ist der schönste Lohn für einen Soldaten«, entgegnete Repnin.

»Mit Freuden spreche ich es Ihnen zu«, sagte Napoleon. »Wer ist der junge Mann neben Ihnen?«

Fürst Repnin nannte den Leutnant Suchtelen.

Napoleon musterte ihn und sagte dann lächelnd: »Il est venu bien jeune se frotter à nous.«

»Jugend hindert nicht daran, tapfer zu sein«, erwiderte Suchtelen mit stockender Stimme.

»Eine treffliche Antwort!« sagte Napoleon. »Junger Mann, Sie werden es noch weit bringen.«

Fürst Andrej, der, um die Trophäen an Gefangenen voll zu machen, ebenfalls vorn, vor den Augen des Kaisers, zur Schau gestellt war, mußte unwillkürlich dessen Aufmerksamkeit auf sich lenken. Napoleon erinnerte sich anscheinend daran, ihn schon auf dem Schlachtfeld gesehen zu haben, und wandte sich jetzt mit derselben Anrede, junger Mann, an ihn, mit welcher er ihn schon bei ihrer ersten Begegnung bezeichnet hatte.

»Et vous, jeune homme?« redete er ihn an. »Wie fühlen Sie sich, mon brave?«

Obgleich Fürst Andrej noch vor fünf Minuten ein paar Worte mit den Soldaten, die ihn trugen, hatte sprechen können, schwieg er doch jetzt, die Augen voll auf Napoleon gerichtet … So nichtig erschienen ihm in diesem Augenblick alle Interessen, die den Kaiser beschäftigten, so unbedeutend kam ihm sein Held in seiner kleinlichen Eitelkeit und Siegesfreude jetzt selber vor, im Vergleich zu jenem hohen, gerechten und gütigen Himmel, den er gesehen und verstanden hatte. – Er gab ihm keine Antwort.

Auch alles andere erschien ihm jetzt so zwecklos und nichtig im Vergleich mit jener ernsten und erhabenen Gedankenrichtung, die die Abnahme der Kräfte infolge des Blutverlustes, die Leiden und die Erwartung eines nahen Todes in ihm wachgerufen hatten. Während Fürst Andrej Napoleon ins Auge sah, dachte er an die Nichtigkeit aller Größe und Herrlichkeit, an die Nichtigkeit des Lebens, dessen Bedeutung niemand verstehen kann, und an die noch größere Nichtigkeit des Todes, dessen Sinn keiner, der noch am Leben ist, zu begreifen und zu erklären vermag.

Der Kaiser wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, um, ritt weiter und sagte zu einem der Kommandeure: »Man nehme sich dieser Herren an und bringe sie in mein Biwak. Mein Leibarzt Larrey soll ihre Wunden untersuchen. Auf Wiedersehen, Fürst Repnin!« und er gab seinem Pferd die Sporen und sprengte davon.

Sein Gesicht strahlte von Selbstzufriedenheit und Glück.

Den Soldaten, die den Fürsten Andrej hier hergetragen hatten, war das silberne Heiligenbild, das Prinzessin Marja ihrem Bruder umgehängt hatte, in die Augen gefallen, und sie hatten es ihm weggenommen. Als sie nun aber sahen, mit welchem Wohlwollen der Kaiser die Gefangenen behandelte, gaben sie ihm schleunigst das Bildchen zurück.

Fürst Andrej sah nicht, wer und wie man es ihm wieder umgehängt hatte, aber er gewahrte plötzlich auf seiner Brust über der Uniform das winzige Heiligenbild an dem feinen silbernen Kettchen.

Das wäre schön, dachte Fürst Andrej, als er das Bildchen sah, das ihm seine Schwester mit so viel Liebe und Andacht übergeben hatte, ja, das wäre schön, wenn alles so klar und einfach wäre, wie Prinzessin Marja sich das vorstellt. Wie schön wäre es, wenn man wüßte, wo man hier in diesem Leben Hilfe suchen kann, und was man dann dort, nach dem Tode, zu erwarten hat. Wie ruhig und glücklich wäre ich, wenn ich jetzt sagen könnte: Herr Gott, erbarme dich meiner! … Aber zu wem soll ich das sagen? Ist jene unbestimmbare, unergründliche Kraft, an die ich mich nicht nur nicht wenden, sondern die ich nicht einmal in Worte fassen kann, das große Alles oder Nichts? Oder ist es jener Gott, den Prinzessin Marja hier auf dieses Amulett aufgenäht hat? Nichts, nichts ist gewiß als nur das eine: alles, was wir verstehen, ist nichtig, und groß und bedeutungsvoll ist nur das, was wir nicht begreifen.

Die Tragbahren setzten sich in Bewegung. Bei jedem Stoß fühlte er wieder einen unerträglichen Schmerz. Sein Fieberzustand verschlimmerte sich, er fing an zu phantasieren. Jene Träume von seinem Vater, seiner Frau und Schwester und seinem erhofften Sohn, die ganze Zärtlichkeit, die er in der Nacht vor der Schlacht für sie empfunden hatte, die kleine, unbedeutende Gestalt Napoleons und über ihnen allen der hohe, lichte Himmel – dies alles kehrte nun in seinen glühenden Fieberphantasien wieder.

Das stille Leben und ruhige Familienglück in Lysyja-Gory stieg vor seinem Geist auf. Schon wollte er sich diesem Glück hingeben, als plötzlich der kleine Napoleon mit seinem teilnahmslosen, kalten, sich am Unglück anderer labenden Blick wieder vor ihm auftauchte und abermals die Zweifel und Qualen einsetzten, denen nur der hohe Himmel Beruhigung versprach. Gegen Morgen verwirrten sich alle diese Träume zu einem Chaos und versanken in der Finsternis der Bewußtlosigkeit, die, wie Napoleons Arzt Larrey meinte, weitaus wahrscheinlicher den Tod als die Genesung zur Folge haben würde.

»C’est un sujet nerveux et bilieux«, sagte Larrey, »il n’en réchappera pas.«

So wurde Fürst Andrej mit anderen hoffnungslos Verwundeten der Pflege der Einwohner überlassen.

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