Der ununterbrochene Fortgang einer Bewegung ist für den menschlichen Verstand unfaßbar. Die Gesetze einer Bewegung, welcherart diese auch sein möge, werden dem Menschen nur dann verständlich, wenn er willkürlich herausgegriffene, einzelne Phasen dieser Bewegung betrachtet. Doch eben aus diesem Verfahren, aus dieser willkürlichen Zergliederung einer fortdauernden Bewegung in abgerissene Einzelteile entspringen die meisten aller menschlichen Irrtümer.
Bekannt ist jener Sophismus der Alten, demzufolge Achilles eine vor ihm herkriechende Schildkröte nie einholen könne, wenn er auch zehnmal schneller laufe als diese; denn während er den Raum, der ihn von ihr trenne, durcheilt habe, sei diese wieder um ein Zehntel dieses Raumes vorwärts gekommen, und während Achilles nun dieses Zehntel zurücklege, wandere die Schildkröte abermals um ein Hundertstel weiter, und so fort bis ins Unendliche. Diese Aufgabe schien den Alten unlösbar. Das Unsinnige dieser Folgerung, daß Achilles die Schildkröte niemals einholen werde, kam nur daher, daß man diesen Vorgang willkürlich in einzelne abgerissene Phasen zergliederte, während die Bewegung sowohl des Achill als auch der Kröte ununterbrochen fortlief.
Greifen wir immer kleinere und kleinere Einzelphasen einer Bewegung heraus, so nähern wir uns nur der Lösung, kommen aber nie zum Ziel. Nur wenn wir eine unendlich kleine Größe und eine von ihr ausgehende Progression ansetzen, die bis zu zehn Gliedern aufsteigt, und von dieser geometrischen Progression die Summe nehmen, kommen wir auf die richtige Lösung. Ein neuer Zweig der Mathematik, der bis zu der Kunst vorgedrungen ist, mit unendlich kleinen Größen zu rechnen, gibt jetzt auch in anderen komplizierten Fällen der Bewegung Antwort auf Fragen, die bisher unlösbar schienen.
Dieser neue, den Alten unbekannte Zweig der Mathematik, der Bewegungsfragen durch Ansetzen unendlich kleiner Größen auf den Grund geht, das heißt solcher Größen, bei denen die Haupteigenschaft einer Bewegung, ihre absolute Stetigkeit, wiederhergestellt wird, macht durch ein solches Verfahren jenen unvermeidlichen Fehler wieder gut, den der menschliche Verstand machen muß, wenn er statt einer fortdauernden Bewegung nur einzelne Phasen von ihr betrachtet.
Die Erforschung der Gesetze historischer Bewegungen vollzieht sich ganz in der gleichen Weise.
Die Bewegung der Menschheit, die unzähligen menschlichen Willensäußerungen entspringt, ist eine stetige Bewegung.
Die Gesetze dieser Bewegung zu begreifen, ist das Ziel der Geschichtswissenschaft. Doch um die Gesetze dieser fortdauernden Bewegung der Summe aller menschlichen Willensäußerungen zu verstehen, greift der menschliche Verstand willkürlich abgerissene Einzelphasen heraus. Der eine Weg der Geschichtsforschung besteht darin, willkürliche Reihen fortdauernder Ereignisse herauszugreifen und sie, gesondert von allen anderen, zu betrachten, während es doch für einzelne Ereignisse keinen Anfang gibt und geben kann, da ja ununterbrochen ein Ereignis aus dem anderen entspringt. Der zweite Weg besteht darin, die Taten eines einzelnen Menschen, eines Kaisers oder Feldherrn, als die Summe aller menschlichen Willensäußerungen zu betrachten, während diese Summe doch niemals durch die Wirksamkeit einer einzelnen geschichtlichen Persönlichkeit zum Ausdruck kommt.
Zwar unterzieht die Geschichtswissenschaft in ihrer fortschreitenden Entwicklung jetzt immer kleinere und kleinere Einzelphasen der Betrachtung und ist bemüht, sich auf diesem Weg der Wahrheit zu nähern. Aber so klein diese Einzelphasen, die die Geschichtsforschung herausgreift, auch immer sein mögen, fühlen wir doch, daß die Betrachtung von Einzelereignissen, abgesondert von anderen, ebenso wie die Annahme eines Anfanges einer Erscheinung und die Behauptung, daß die Willensäußerungen aller Menschen in den Taten einzelner geschichtlicher Persönlichkeiten zum Ausdruck kämen, an und für sich falsch sind.
Jede Schlußfolgerung der Geschichte fällt ohne die geringste Anstrengung von Seiten der Kritik immer schon aus dem Grund wie Staub in sich zusammen und läßt keine Spur zurück, weil man sich zum Gegenstand der Betrachtung immer eine größere oder kleinere abgerissene Einzelphase auswählt, wozu man auch stets das Recht hat, weil ja die historischen Ereignisse von seiten der Geschichtsforschung ebenfalls willkürlich herausgegriffen worden sind.
Nur wenn wir einen unendlich kleinen Teil – das Differential der Geschichte, das heißt den gleichartigen Trieb der Menschen – der Betrachtung unterwerfen und bis zur Kunst der Integralrechnung – die Summe dieser unendlich kleinen Einzelteile zu ziehen – vorgedrungen sind, erst dann dürfen wir hoffen, die Gesetze der Geschichte zu verstehen.
Die ersten fünfzehn Jahre des neunzehnten Jahrhunderts stellen uns in Europa eine ungewöhnliche Bewegung von Millionen von Menschen vor Augen. Die Menschen verlassen ihre gewohnte Beschäftigung, streben vom einen Ende Europas zum anderen, berauben und töten sich gegenseitig, frohlocken und verzweifeln, und der ganze Gang ihres Lebens nimmt für Jahre einen anderen Verlauf und zeigt eine verstärkte Bewegung, die anfangs wächst, dann aber wieder abflaut. Was war der Grund für diese Bewegung, und nach welchen Gesetzen vollzog sie sich? fragt sich der menschliche Verstand.
Die Geschichtsschreiber beantworten die Frage, indem sie uns die Reden und Taten von ein paar Dutzend Leuten in einem Gebäude von Paris auslegen, und nennen diese Reden und Taten Revolution. Dann geben sie uns eine ausführliche Lebensbeschreibung Napoleons und einiger Persönlichkeiten, die ihm teils freundlich, teils feindlich gesinnt waren, erzählen von dem Einfluß, den der auf den und dieser auf jenen ausgeübt habe, und behaupten: daher kam diese Bewegung, das waren ihre Gesetze.
Doch der menschliche Verstand weigert sich nicht nur, an diese Erklärung zu glauben, sondern sagt uns geradezu, daß der Weg zu einer solchen Lösung der Frage falsch ist, weil dabei eine schwächere Erscheinung als Grund einer stärkeren angenommen wird. Die Summe aller menschlichen Willensäußerungen war es, die sowohl die Revolution als auch Napoleon geschaffen hat, und nur die Summe dieser Willensäußerungen schuf und vernichtete dann auch beide.
Jedesmal, wenn Eroberungen gemacht wurden, hat es Eroberer gegeben, sagt die Geschichtsforschung, und jedesmal, wenn im Staat Umwälzungen vorgenommen wurden, große Männer.
Gewiß hat es jedesmal, so antwortet der menschliche Verstand, wenn Eroberer sich zeigten, auch Kriege gegeben, aber das beweist noch nicht, daß die Eroberer der Grund zu diesen Kriegen gewesen seien oder daß es möglich wäre, die Gesetze des Krieges in der persönlichen Wirksamkeit eines einzelnen Menschen zu finden. Jedesmal, wenn ich auf meine Uhr blicke und sehe, daß der Zeiger sich der Zehn nähert, höre ich, daß in der Kirche nebenan das Läuten beginnt; doch aus dem Umstand, daß der Zeiger jedesmal auf der Zehn steht, wenn das Glockenläuten anfängt, darf ich nicht schließen, daß der Stand meines Zeigers die Ursache für die Bewegung der Glocke ist. Jedesmal, wenn ich die Bewegung eines Dampfwagens sehe, höre ich den Ton der Pfeife und sehe, wie die Klappen sich öffnen und die Räder sich drehen, aber ich habe nicht das Recht, daraus zu schließen, daß das Pfeifen und Drehen der Räder die Ursache für die Bewegung des Dampfwagens ist.
Die russischen Bauern sagen, im späten Frühling wehe stets noch einmal ein kalter Wind, weil die Knospen der Eichen aufspringen, und wirklich wehen immer im Frühling zu der Zeit, wenn sich die Eiche entfaltet, noch einmal kalte Winde. Doch wenn mir auch die Ursache des beim Knospen der Eiche wehenden kalten Windes unbekannt ist, so kann ich mich trotzdem mit der Annahme der Bauern, daß das Aufblühen der Eiche die Ursache der kalten Winde sei, schon allein aus dem Grund nicht einverstanden erklären, weil die Kraft des Windes nicht unter dem Einfluß der Knospen steht. Ich erblicke darin nur ein Zusammentreffen von Umständen, wie sie bei jeder Lebenserscheinung vorkommen, und sehe, daß ich, wie eingehend ich auch den Zeiger der Uhr, die Klappen und Räder des Dampfwagens und die Knospen der Eiche betrachten mag, den Grund des Glockenläutens, der Bewegung des Dampfwagens und des Frühlingswindes daraus doch nicht erkennen kann. Um das zu erreichen, muß ich den Standpunkt für meine Beobachtung vollkommen ändern: ich muß die Gesetze der Bewegung des Dampfes, der Glocke und des Windes studieren. Dasselbe muß man auch in der Geschichte tun. Und solche Versuche sind bereits unternommen worden.
Um die Gesetze der Geschichte kennenzulernen, müssen wir den Gegenstand unserer Betrachtung vollkommen ändern, müssen Kaiser, Minister, Generäle gänzlich beiseite lassen und dafür die unendlich kleinen, gleichartigen Elemente studieren, welche die Massen leiten. Niemand vermag vorauszusagen, inwieweit es uns beschieden sein wird, auf diesem Weg zu einem Verständnis der Gesetze der Geschichte zu gelangen, aber es ist klar, daß nur auf diesem Weg die Möglichkeit gegeben ist, den Gesetzen der Geschichte auf die Spur zu kommen, auf diesem Weg allein, auf den der menschliche Geist noch nicht ein Millionstel all jener Anstrengungen verwandt hat, die die Historiker zur Schilderung der Taten verschiedener Könige, Feldherren und Minister und zur Auseinandersetzung ihrer Betrachtungen darüber verschwendet haben.
Streitkräfte zwölf verschiedener Zungen brechen in Rußland ein. Die russischen Truppen und die Einwohnerschaft ziehen sich zurück und weichen einem Zusammenstoß bis Smolensk und von Smolensk bis Borodino aus. Die französischen Truppen treibt eine immer stärker werdende ungestüme Kraft nach Moskau, an das Ziel ihrer Bewegung. Diese Kraft nimmt, je mehr sie sich ihrem Ziel nähert, an Ungestüm zu, ebenso wie die Schnelligkeit eines fallenden Körpers im gleichen Verhältnis mit seiner Annäherung zur Erde wächst. Hinter ihnen liegen Tausende von Werst durch Hungersnot verödetes Feindesland, vor ihnen nur noch hundert Werst, die sie vom Ziel trennen. Das fühlt jeder Soldat der Napoleonischen Armee, und so bewegt sich das eindringende Heer infolge dieser ungestümen Kraft ganz von selbst.
Je weiter sich die russischen Truppen zurückziehen müssen, um so heftiger entbrennt in ihnen die Erbitterung gegen den Feind: sie konzentriert sich und wächst, während sie zurückweichen. Da kommt es bei Borodino zum Zusammenstoß. Weder das eine noch das andere Heer wird vernichtet, aber die russischen Truppen müssen unmittelbar nach dem Zusammenprall mit derselben Notwendigkeit zurückweichen, wie eine Kugel unfehlbar zurückrollen muß, die mit einer anderen, ihr mit großem Ungestüm entgegenfliegenden Kugel zusammenprallt. Und mit derselben Notwendigkeit muß – obgleich sie beim Anprall ihre Hauptkraft verloren hat – die ungestüm ansausende Kugel der Invasion noch eine Strecke weiterrollen.
Die Russen ziehen hundertundzwanzig Werst zurück, noch hinter Moskau, und die Franzosen dringen bis Moskau vor und machen dort halt. Fünf Wochen lang findet nicht ein einziges Gefecht statt. Die Franzosen rühren sich nicht. Wie ein tödlich verwundetes Tier, das verblutend seine Wunden leckt, liegen sie fünf Wochen lang in Moskau still, ohne irgend etwas zu unternehmen. Plötzlich aber weichen sie ohne jeden neuen Grund zurück, eilen nach der Kalugaer Heerstraße und fliehen, selbst nach einem Sieg, da ja das Schlachtfeld bei Malo-Jaroslawez wieder in ihren Händen blieb, ohne sich weiter auf ein ernstes Gefecht einzulassen, immer schneller und schneller bis nach Smolensk zurück, über Smolensk hinaus bis nach Wilna, über die Beresina und immer weiter.
Am 26. August abends war sowohl Kutusow wie auch die ganze russische Armee davon überzeugt, daß die Schlacht bei Borodino gewonnen sei. Kutusow schrieb auch in diesem Sinn an den Kaiser. Den Truppen erteilte er den Befehl, sich auf einen neuen Kampf vorzubereiten, um den Feind endgültig zu schlagen, und er tat das nicht etwa, um jemanden zu täuschen, sondern weil er wie jeder andere Teilnehmer an der Schlacht der Meinung war, daß der Feind besiegt sei.
Aber noch am selben Abend und am anderen Tag liefen, eine nach der anderen, die Nachrichten von unerhörten Verlusten ein, vom Verlust der halben Armee, und so wurde eine neue Schlacht zur physischen Unmöglichkeit.
Man konnte einfach keine neue Schlacht liefern, ehe man nicht Erkundigungen eingezogen, die Verwundeten aufgesammelt, neue Munition herbeigeschafft, die Toten gezählt, neue Führer an Stelle der gefallenen gesetzt, und ehe nicht die Mannschaften sich satt gegessen und ausgeschlafen hatten. So aber drang gleich am Morgen nach der Schlacht das französische Heer infolge jener ungestümen Kraft der Bewegung, die gleichsam im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat ihrer Entfernung gewachsen war, wie von selber auf die Russen ein. Kutusow wollte am nächsten Tag angreifen, und die ganze Armee wünschte dasselbe. Aber zum Angreifen genügt nicht nur der Wunsch, dies zu tun, es muß auch die Möglichkeit dazu vorhanden sein. Diese Möglichkeit aber fehlte. Man konnte gar nicht anders, als einen Tagemarsch zurückgehen, dann mußte man noch einen zweiten weichen, und dann noch einen dritten, und endlich, am 1. September, als die Armee bis nach Moskau gekommen war, forderte die Wucht der Tatsachen, daß sich die Truppen bis hinter Moskau zurückzogen, obgleich sich das Gefühl in den Reihen des Heeres mit aller Macht dagegen sträubte. Und so wich unsere Armee noch um einen Tagemarsch, den letzten, zurück und gab Moskau dem Feinde preis.
Jenen Leuten, die zu denken gewohnt sind, daß Kriegs- und Schlachtenpläne von den Feldherren auf dieselbe Weise entworfen werden, wie es jeder von uns in seinem Arbeitszimmer, über die Karte gebeugt, tut, indem er sich ausdenkt, wie er in dieser und in jener Schlacht verfügt hätte – jenen Leuten werden sich mancherlei Fragen aufdrängen: warum Kutusow bei diesem Rückzug nicht so oder so verfahren sei, warum er die Stellung vor Fili nicht eingenommen habe, warum er nicht mit einemmal bis zur Kalugaer Heerstraße zurückgegangen sei und Moskau beiseite gelassen habe, und so weiter. Leute, die so zu denken gewohnt sind, vergessen oder haben keine Ahnung von all den unvermeidlichen Umständen, denen das Handeln jedes Oberkommandierenden unterworfen ist.
Die Tätigkeit eines Feldherrn hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was wir uns darunter vorstellen, wenn wir in unserem Arbeitszimmer sitzen und irgendeinen Feldzug auf der Karte verfolgen, die Stärke der Streitkräfte sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite und auch das Gelände kennen und mit unseren Kombinationen an irgendeinem bestimmten Zeitpunkt einsetzen. Ein Oberkommandierender wird sich nie unter jenen Anfangsbedingungen eines Ereignisses befinden, unter denen wir die Sache betrachten. Er wird immer inmitten einer fortlaufenden Reihe von Ereignissen stehen, so daß er niemals und nicht einen einzigen Augenblick imstande sein wird, die volle Bedeutung eines sich eben vollziehenden Ereignisses zu überdenken. Unmerklich, von Augenblick zu Augenblick, reift das Ereignis zu seiner eignen Bedeutung aus, und während dieses steten folgerichtigen Ausreifens befindet sich der Oberkommandierende jeden Augenblick im Mittelpunkt eines höchst verwickelten Spiels von Intrigen, Sorgen, Abhängigkeit, Machtbefugnis, Projekten, Ratschlägen, Drohungen und Täuschungen und sieht sich ständig der unumgänglichen Notwendigkeit gegenüber, auf eine Unzahl ihm vorgelegter Fragen zu antworten, die einander stets widersprechen.
Gelehrte Kriegskundige behaupten mit dem größten Ernst, Kutusow habe die Truppen schon lange vor Fili auf die Kalugaer Heerstraße leiten müssen, es habe ihm sogar jemand einen solchen Plan unterbreitet. Aber einem Oberkommandierenden pflegt, besonders in einem schwierigen Augenblick, nicht nur ein einziger Plan vorgelegt zu werden, sondern immer Dutzende auf einmal. Und jeder dieser auf Strategie und Taktik gestützten Pläne widerspricht dem andern. Es könnte scheinen, als habe der Oberkommandierende nun weiter keine Aufgabe, als aus allen diesen Plänen einen auszuwählen. Aber auch das kann er nicht tun. Die Zeit und die Ereignisse warten nicht. Nehmen wir an, man hat ihm am 28. den Vorschlag gemacht, auf die Kalugaer Heerstraße überzugehen, gleichzeitig aber kommt ein Adjutant von Miloradowitsch angesprengt und fragt, ob sich sein General sogleich in ein Gefecht mit den Franzosen einlassen oder zurückgehen soll. Es muß unverzüglich im selben Augenblick ein Befehl erteilt werden. Doch ein solcher Befehl zu einem Rückzug bringt Kutusow dann wieder davon ab, auf die Kalugaer Straße umzuschwenken.
Und nach dem Adjutanten kommt der Intendant und fragt, wohin er den Proviant fahren, und der Chef eines Lazaretts will wissen, wohin er die Verwundeten transportieren lassen soll. Es kommt ein Kurier aus Petersburg und bringt einen Brief vom Kaiser, der von der Möglichkeit, Moskau zu übergeben, nichts wissen will. Und der Nebenbuhler des Oberkommandierenden, der dessen Stellung zu untergraben sucht – solche gibt es immer, und nicht nur einen, sondern mehrere –, schlägt einen neuen Plan vor, der dem Projekt eines Übergangs auf die Kalugaer Straße diametral zuwiderläuft. Die Körperkräfte des Oberkommandierenden selbst fordern Schlaf und Stärkung. Doch da kommt schon wieder ein ehrenwerter General, der bei der Ordensverteilung übergangen worden ist, und beschwert sich. Die Einwohner flehen um Schutz. Ein Offizier, der zur Erkundung des Geländes abgesandt wurde, kommt zurück und meldet gerade das Gegenteil dessen, was ein anderer vor ihm gesagt hat, und ein Kundschafter, ein Gefangener, ein General nach einem Rekognoszierungsritt – jeder entwirft von der Stellung des feindlichen Heeres ein anderes Bild.
Leute, die nicht gewohnt sind, an diese unvermeidlichen Bedingungen für die Tätigkeit jedes Oberkommandierenden zu denken und ihnen Verständnis entgegenzubringen, führen uns zum Beispiel die Stellung unserer Truppen bei Fili vor Augen und nehmen dabei an, der Oberkommandierende habe am 1. September vollkommen frei die Frage einer Preisgabe oder Verteidigung Moskaus entscheiden können, während es bei der Stellung der russischen Armee fünf Werst von Moskau eine solche Frage überhaupt nicht geben konnte.
Wann aber wurde diese Frage entschieden? Schon an der Drissa und bei Smolensk. Am merklichsten aber am 24. bei Schewardino und am 26. bei Borodino und jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick während des Rückzugs von Borodino nach Fili.
Als Jermolow, den Kutusow ausgesandt hatte, um die Stellung zu besichtigen, dem Feldmarschall sagte, daß man sich in einer solchen Position vor Moskau unmöglich schlagen könne und zurückgehen müsse, sah ihn Kutusow schweigend an.
»Gib mal deine Hand her«, sagte er dann, und indem er sie so drehte, daß er den Puls fühlen konnte, fuhr er fort: »Du bist krank, mein Täubchen, bedenke doch, was du sprichst!«
Kutusow konnte die Möglichkeit, sich ohne Schlacht hinter Moskau zurückzuziehen, gar nicht fassen.
Auf dem Poklonberg, sechs Werst vom Dorogomilowtor in Moskau entfernt, stieg Kutusow aus seinem Wagen und setzte sich auf eine Bank am Rand des Weges. Eine große Anzahl Generäle scharte sich um ihn. Graf Rastoptschin, der aus Moskau gekommen war, gesellte sich zu ihnen. Diese ganze glänzende Gesellschaft, die sich in mehrere Gruppen gegliedert hatte, unterhielt sich über die Vorteile und Nachteile der Stellung, über die Lage des Heeres, die vorliegenden Pläne, den Zustand Moskaus und überhaupt über Fragen, die den Krieg betrafen. Sie alle fühlten, daß sie, obgleich sie nicht dazu berufen und nicht so benannt waren, doch einen Kriegsrat bildeten. Alle Gespräche beschränkten sich auf das Gebiet allgemeiner Fragen. Wenn auch jemand einmal eine persönliche Neuigkeit mitteilte oder erfuhr, so wurde davon doch nur im Flüsterton gesprochen, und gleich ging man wieder auf allgemeine Fragen über. Weder Scherzen noch Lachen, ja nicht einmal ein Lächeln war bei diesen Männern zu sehen. Alle waren offenbar bemüht, sich mit Anstrengung auf der Höhe der Situation zu halten. Jede Gruppe suchte, während sie ihre Gespräche führte, sich möglichst in der Nähe des Oberkommandierenden zu behaupten, dessen Bank im Mittelpunkt aller Kreise stand, und alle sprachen so laut, daß er sie hören konnte.
Der Oberkommandierende hörte zu, warf manchmal eine Frage zwischen das, was um ihn herum gesprochen wurde, beteiligte sich aber selber nicht an der Unterhaltung und verlieh keinerlei Ansicht Ausdruck. Meistenteils wandte er sich, nachdem er eine Weile den Gesprächen irgendeines Kreises gelauscht hatte, mit enttäuschter Miene, als wären ihre Worte ganz und gar nicht das, was er wissen wolle, wieder von ihnen ab.
Die einen unterhielten sich über die ausgewählte Stellung, wobei sie nicht nur die Stellung selbst kritisierten, sondern auch die geistigen Fähigkeiten derjenigen, die diese Wahl getroffen hatten. Andere bewiesen, daß der Fehler schon früher gemacht worden sei: man hätte die Schlacht bereits vorgestern annehmen müssen. Ein dritter Kreis unterhielt sich über die Schlacht bei Salamanka[182], von welcher der soeben bei der Armee eingetroffene Franzose Crossard, der spanische Uniform trug, erzählte. Dieser Franzose setzte einem der deutschen Prinzen, die in der russischen Armee dienten, die Belagerung von Saragossa[183] auseinander und erwog die Möglichkeit, Moskau in der gleichen Weise zu verteidigen. In einer vierten Gruppe sprach Graf Rastoptschin davon, daß er bereit sei, mit der Moskauer Stadtwache vor den Mauern der Residenz zugrunde zu gehen, dabei aber nicht umhin könne, sein Bedauern darüber zu äußern, daß man ihn solange in Unkenntnis gelassen habe, denn wenn er das früher gewußt hätte, so stünde manches anders … Eine fünfte Gruppe sprach von der Richtung, die unsere Truppen einschlagen müßten, wobei alle die ganze Tiefe ihrer strategischen Kenntnisse offenbarten, während in einer sechsten Gruppe nichts als Blödsinn zusammengeredet wurde.
Kutusows Miene wurde immer sorgenvoller und bekümmerter. Aus all diesen Gesprächen ersah er nur das eine: Moskau zu verteidigen war physisch unmöglich, und zwar in der vollen Bedeutung dieses Wortes, das heißt bis zu einem solchen Grad unmöglich, daß, wenn wirklich ein toller Oberkommandierender den Befehl erteilt hätte, eine Schlacht zu liefern, es nur zu einem kopflosen Durcheinander und trotz alledem zu keiner Schlacht gekommen wäre, schon allein deshalb, weil alle höheren Offiziere diese Stellung nicht nur für unmöglich hielten, sondern sogar schon in ihren Gesprächen immer nur das in Erwägung zogen, was nach dem zweifellosen Verlassen dieser Stellung geschehen werde. Wie hätten Kommandeure ihre Truppen auf ein Schlachtfeld führen können, das sie für unmöglich hielten? Auch die unter ihnen stehenden Offiziere und sogar die Soldaten, die sich doch auch ein Urteil bildeten, hätten ebenfalls die Unmöglichkeit einer solchen Stellung erkannt und deshalb nicht mit Zuversicht in die Schlacht ziehen können. Wenn Bennigsen auf der Verteidigung dieser Stellung bestand, und andere ihre Vorteile und Nachteile noch abwogen, so hatte diese Frage doch an und für sich keine Bedeutung mehr, höchstens noch als Vorwand für Streit und Intrigen. Das sah Kutusow ein.
Bennigsen, der diese Stellung ausgewählt hatte, stellte leidenschaftlich seinen russischen Patriotismus zur Schau, was Kutusow nicht ohne Stirnrunzeln anhören konnte, und bestand auf einer Verteidigung Moskaus. Kutusow war Bennigsens Ziel sonnenklar: mißlang die Verteidigung, so wälzte er alle Schuld auf Kutusow, der die Truppen, ohne eine Schlacht zu liefern, bis zu den Sperlingsbergen geführt hatte, war die Verteidigung von Erfolg gekrönt, so nahm er diesen für sich in Anspruch; lehnte man seinen Vorschlag ab, so wusch er sich hinsichtlich des Verbrechens, Moskau preisgegeben zu haben, die Hände in Unschuld.
Aber diese Intrigen waren es nicht, die den alten Feldherrn jetzt beschäftigten. Eine furchtbare Frage stieg vor ihm auf. Und auf diese Frage hörte er von niemandem eine Antwort. Es war die Frage: War ich es, der Napoleon bis Moskau hat vordringen lassen, und wann habe ich das getan? Wann ist es zu einer solchen Entscheidung gekommen? War es gestern, als ich Platow den Rückzugbefehl schickte? Oder vorgestern abend, als ich vor Erschöpfung einschlief und Bennigsen den Oberbefehl überließ? Oder schon früher? … Aber wann, wann hat sich nur dies entsetzliche Ereignis entschieden? Moskau muß preisgegeben werden. Die Truppen müssen zurückgehen, und dieser Befehl muß erteilt werden.
Diesen furchtbaren Befehl zu erteilen erschien ihm ebenso schwer, wie vom Kommando über die Armeen zurückzutreten. Nicht nur weil er die Macht liebte und an sie gewöhnt war – die Ehrungen, die dem Fürsten Prosorowskij erwiesen worden waren, unter dem er in der Türkei gedient hatte, reizten ihn –, er hatte auch die Überzeugung, daß er zum Retter Rußlands vorausbestimmt und nur deshalb gegen den Willen des Kaisers, aber auf Wunsch des Volkes zum Oberbefehlshaber ernannt worden war. Er war überzeugt, daß er allein sich in so schwierigen Verhältnissen an der Spitze der Armee behaupten könne, und daß er allein in der ganzen Welt imstande sei, in dem unbesiegbaren Napoleon furchtlos seinen Gegner zu erkennen. Doch bei dem Gedanken an den Befehl, den er jetzt erteilen mußte, packte ihn das Entsetzen. Aber eine Entscheidung mußte getroffen, und diesen Gesprächen rund um ihn herum, die anfingen, einen zu freien Charakter anzunehmen, mußte ein Ende gemacht werden.
Er rief die ältesten Generäle zu sich heran.
»Ma tête, fût-elle bonne ou mauvaise, n’a qu’à s’aider d’elle même«, sagte er, stand von der Bank auf und fuhr nach Fili, wo seine Equipagen standen.
In der besten Stube der geräumigen Hütte des Bauern Andrej Sawostjanow versammelte sich um zwei Uhr der Kriegsrat. Die Männer, Weiber und Kinder der Bauernfamilie drängten über den Flur nach dem dunklen Teil der Hütte hinüber. Nur das Enkelkind Andrejs, die sechsjährige Malascha, die der Durchlauchtigste gestreichelt und beim Tee mit einem Stück Zucker beschenkt hatte, blieb auf dem Ofen in der großen Stube. Lustig und schüchtern betrachtete sie von ihrem Ofenplatz aus die Gesichter, Uniformen und Orden der Generäle, die einer nach dem anderen in die Hütte traten und auf den breiten Bänken unter den Heiligenbildern in der Besuchsecke Platz nahmen. Großväterchen selber – wie Malascha Kutusow in Gedanken nannte – saß von ihnen abgesondert in einer dunklen Ecke hinter dem Ofen. Schwer auf seinem Feldstuhl zusammengesunken, saß er da, hüstelte ununterbrochen und schob immer wieder seinen Uniformkragen zurück, der, obwohl er aufgeknöpft war, ihn doch am Hals zu drücken schien.
Die Eintretenden gingen einer nach dem andern zum Feldmarschall hin; einigen reichte er die Hand, anderen nickte er zu. Der Adjutant Kaisarow wollte den Vorhang an dem Fenster, das Kutusow gegenüberlag, zurückziehen, aber Kutusow winkte ihm ärgerlich mit der Hand ab, und Kaisarow verstand: der Durchlauchtige wünschte nicht, daß alle sein Gesicht sahen.
Um den Bauerntisch aus Tannenholz, auf dem Karten, Pläne, Bleistifte und Zettel lagen, hatten sich so viele Personen versammelt, daß die Burschen noch eine Bank hereinbringen und an den Tisch stellen mußten. Auf diese Bank setzten sich die zuletzt Eingetroffenen: Jermolow, Kaisarow und Toll. Auf dem Ehrenplatz, gerade unter den Heiligenbildern, saß, mit dem Georgskreuz am Hals, mit seinem blassen, kränklichen Gesicht und seiner hohen Stirn, die in eine Glatze überging, Barclay de Tolly. Er quälte sich schon seit zwei Tagen mit einer Fieberkrankheit herum, die ihn gerade jetzt wieder packte und schüttelte. Neben ihm saß Uwarow, der mit leiser Stimme, wie auch alle anderen sprachen, Barclay unter lebhaften Gebärden etwas auseinandersetzte. Der kleine, kugelrunde Dochturow, der die Brauen hochgezogen und die Hände über dem Bauch gefaltet hatte, hörte aufmerksam zu.
Auf der anderen Seite saß, den breiten Kopf mit den verwegenen Zügen und leuchtenden Augen auf die Hand gestützt, Graf Ostermann-Tolstoi und schien in Gedanken versunken. Rajewskij, der mit gewohnter Gebärde sein schwarzes Haar an den Schläfen zu Locken ringelte, blickte mit einem Ausdruck der Ungeduld bald auf Kutusow, bald auf die Eingangstür. Auf dem hübschen, gutmütigen und bestimmten Gesicht Konownizyns strahlte ein liebevolles und verschmitztes Lächeln; er begegnete Malaschas Blicken und machte ihr mit den Augen Zeichen, die das kleine Mädchen zum Lachen brachten.
Alle warteten auf Bennigsen, der unter dem Vorwand einer erneuten Besichtigung unserer Stellung erst sein leckeres Mittagsmahl in Ruhe zu Ende aß. Man wartete von vier bis sechs auf ihn und ging während dieser ganzen Zeit nicht zu den Beratungen über, sondern führte mit gedämpfter Stimme Gespräche über nebensächlichere Dinge.
Erst als Bennigsen in die Hütte eintrat, kam Kutusow aus seiner Ecke heraus und an den Tisch heran, aber nur so weit, daß sein Gesicht nicht von den Kerzen auf dem Tisch beleuchtet wurde.
Bennigsen eröffnete den Kriegsrat mit der Frage: Sollen wir die alte, heilige Hauptstadt Rußlands ohne Kampf überliefern oder sollen wir sie verteidigen? Ein langes und allgemeines Schweigen folgte. Alle Gesichter wurden finster, und durch die Stille klang nur das zornige Hüsteln und Krächzen Kutusows. Aller Augen wandten sich ihm zu. Selbst Malascha blickte Großväterchen an. Sie war ihm näher als alle andern und konnte sehen, wie sich sein Gesicht in Falten zog, als wolle er weinen. Doch das dauerte nur einen Augenblick.
»Die alte, heilige Hauptstadt Rußlands«, fing er, mit zorniger Stimme Bennigsens Worte wiederholend, plötzlich an und deckte damit den hinterlistigen Beiklang dieser Worte auf. »Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, Erlaucht, daß eine solche Frage für einen Russen keinen Sinn hat.« Dabei wälzte er seinen schweren Körper nach vorn. »Eine solche Frage darf man nicht stellen, eine solche Frage hat keinen Sinn. Die Frage, um derentwillen ich die Herren gebeten habe, sich hier zu versammeln, ist eine militärische. Es ist folgende Frage: Rußlands Rettung beruht auf seiner Armee; ist es nun vorteilhafter, den Verlust dieser Armee und auch Moskaus zu riskieren, indem wir eine Schlacht annehmen, oder Moskau ohne Kampf zu übergeben? Über diese Frage wünsche ich Ihre Ansichten zu hören.« Darauf sank er an die Lehne seines Sessels zurück.
Die Debatte begann.
Bennigsen hielt das Spiel noch nicht für verloren. Zwar stimmte er nun der Ansicht Barclays und anderer bei, daß es unmöglich sei, eine Verteidigungsschlacht bei Fili anzunehmen, aber er machte, durchdrungen von russischem Patriotismus und der Liebe zu Moskau, den Vorschlag, die Truppen in der Nacht vom rechten auf den linken Flügel hinüberzuführen und am nächsten Tag gegen den rechten Flügel der Franzosen vorzustoßen.
Die Meinungen gingen auseinander, eine Debatte für und wider diesen Vorschlag setzte ein. Jermolow, Dochturow und Rajewskij stimmten Bennigsen bei. Wurden diese Generäle von dem Gefühl geleitet, daß es notwendig sei, vor der Preisgabe der Hauptstadt noch ein Opfer zu bringen, oder spornten andere, persönliche Erwägungen sie dazu an – jedenfalls schienen sie nicht einzusehen, daß der gegenwärtige Kriegsrat an dem unabwendbaren Verlauf der Dinge nichts mehr zu ändern vermochte, und daß Moskau schon jetzt preisgegeben war. Die übrigen Generäle begriffen dies, ließen das Problem Moskau ganz beiseite und sprachen nur von der Richtung, die die Truppen bei ihrem Rückzug einzuschlagen hatten.
Malascha, die, ohne ein Auge zu verwenden, alles verfolgte, was sich vor ihr abspielte, faßte die Bedeutung dieses Kriegsrates anders auf. Ihr schien, als handle es sich hier nur um einen persönlichen Streit zwischen Großväterchen und dem Langrock, wie sie Bennigsen nannte. Sie sah, wie beide immer böse wurden, wenn sie miteinander sprachen, und schlug sich im stillen auf Großväterchens Seite. Mitten im Gespräch sah sie, wie Großväterchen dem Langrock einen schnellen, listigen Blick zuwarf, und bemerkte gleich darauf zu ihrer Freude, daß Großväterchen, indem er irgend etwas sagte, es dem Langrock ordentlich gesteckt haben mußte: Bennigsen bekam plötzlich einen roten Kopf und ging wütend in der Hütte auf und ab. Die Worte, die einen solchen Eindruck auf Bennigsen gemacht hatten, waren Kutusows ruhig und leise geäußerte Ansicht über die Vorteile und Nachteile von Bennigsens Vorschlag, die Truppen bei Nacht vom rechten auf den linken Flügel hinüberzuführen, um gegen den rechten Flügel der Franzosen vorzustoßen.
»Ja, meine Herren«, sagte Kutusow, »ich kann dem Plan des Grafen nicht beistimmen. Eine Verschiebung der Truppen in so geringer Entfernung vom Feind pflegt immer gefährlich zu sein, und die Kriegsgeschichte bestätigt diese Erfahrung. So zum Beispiel …« Kutusow sah Bennigsen, als suche er nachdenklich nach einem Beispiel, mit einem hellen, harmlosen Blick an, »so war zum Beispiel gleich die Schlacht bei Friedland, an die sich der Graf, denke ich, noch sehr wohl erinnern wird, nicht ganz … erfolgreich nur deshalb, weil die Truppen in zu geringer Entfernung vom Feind umgruppiert wurden …«
Es trat ein minutenlanges Schweigen ein, das allen sehr lang vorkam.
Dann lebte die Debatte noch einmal auf, aber es traten immer mehr und mehr Pausen ein, und man hatte das Gefühl, daß eigentlich über nichts mehr zu verhandeln war.
Während einer dieser Pausen seufzte Kutusow schwer auf, als wolle er das Wort ergreifen. Alle sahen ihn an.
»Eh bien, messieurs! Je vois que c’est moi qui payerai les pots cassés«, sagte er.
Langsam erhob er sich und trat bis an den Tisch heran.
»Meine Herren«, fuhr er dann fort, »ich habe Ihre Meinungen gehört. Einige von Ihnen werden mir nicht zustimmen. Ich aber« – er hielt inne – »erteile kraft der Gewalt, die der Kaiser und das Vaterland in meine Hände gelegt haben, den Befehl zum Rückzug.«
Nach diesen Worten fingen die Generäle an, sich mit derselben Feierlichkeit und stillen Behutsamkeit zu entfernen, mit der man nach einem Begräbnis auseinandergeht.
Einige von ihnen machten dem Oberkommandierenden noch mit gedämpfter Stimme und in ganz anderem Ton, als sie im Rat gesprochen hatten, verschiedene Mitteilungen.
Auch Malascha, die schon lang zum Abendbrot erwartet wurde, glitt nun mit aller Vorsicht rücklings von ihrer Pritsche herab, indem sie sich mit ihren nackten Füßchen an den Abstufungen des Ofens anklammerte, wand sich zwischen den Beinen der Generäle hindurch und schlüpfte zur Tür hinaus. Nachdem Kutusow die Generäle entlassen hatte, saß er noch lange, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, da und dachte immer wieder über ein und dieselbe schreckliche Frage nach: Wann, wann hat sich das entschieden, daß Moskau preisgegeben werden muß? Wann wurde das getan, was die Entscheidung dieser Frage herbeigeführt hat, und wer ist schuld daran?
»Nein, das hätte ich nicht erwartet«, sagte er zu seinem Adjutanten Schneider, der spät in der Nacht zu ihm kam. »Das hätte ich nicht erwartet! Das hätte ich nicht geglaubt!«
»Durchlaucht sollten lieber ausruhen«, sagte Schneider.
»Aber wartet nur! Auch sie werden noch Pferdefleisch fressen wie die Türken«, rief Kutusow aus, ohne dem Adjutanten eine Antwort zu geben, und schlug mit seiner dicken Faust auf den Tisch. »Auch sie werden das müssen, wenn nur …«
Im Gegensatz zu Kutusow handelte zur selben Zeit bei einem Ereignis, das noch wichtiger war als der kampflose Rückzug der Armee, nämlich bei der Übergabe Moskaus und seiner Einäscherung, Graf Rastoptschin, der uns als Urheber dieses Brandes bezeichnet wird.
Dieses Ereignis, die Preisgabe Moskaus und seine Einäscherung, war ebenso unvermeidlich wie der kampflose Rückzug unserer Truppen nach der Schlacht bei Borodino bis hinter Moskau.
Jeder Russe hätte – nicht auf Grund von Vernunftschlüssen, sondern auf Grund jenes Gefühls, das in uns liegt und in unseren Vätern gelegen hat – das voraussagen können, was sich ereignet hat.
Von Smolensk an spielte sich in allen Städten und Dörfern des russischen Reiches, ohne jeden Einfluß eines Grafen Rastoptschin und seiner Flugblätter, das gleiche ab, was dann auch in Moskau vor sich ging. Das Volk erwartete sorglos den Feind, lehnte sich nicht auf, geriet nicht in Erregung, riß niemanden in Stücke, sondern harrte ruhig seines Schicksals, weil es in sich die Kraft fühlte, im schwersten Augenblick den Weg zu finden, den es zu gehen hatte. Und sobald sich nur der Feind näherte, machten sich die reicheren Elemente der Einwohnerschaft auf und davon und ließen ihr Hab und Gut zurück, während die ärmeren dablieben und das, was zurückgeblieben war, anzündeten und zerstörten.
Das Bewußtsein, daß dies so kommen mußte und immer so kommen wird, lag und liegt noch im Herzen jedes Russen begründet. Und so war auch dieses Bewußtsein und darüber hinaus ein Vorgefühl dessen, daß Moskau eingenommen werden würde, in den Russen der Moskauer Gesellschaft des Jahres 1812 vorhanden. Diejenigen, die bereits im Juli und Anfang August anfingen, aus der Stadt zu fliehen, zeigten deutlich, worauf sie gefaßt waren. Und jene Leute, die nur mit dem abreisten, was sie fortschleppen konnten, und ihr Haus und die Hälfte ihres Vermögens zurückließen, handelten ebenso aus jenem untergründigen Patriotismus, der nicht in Phrasen, Kinderopfern und anderen unnatürlichen Handlungen zur Rettung des Vaterlandes zum Ausdruck kommt, sondern kaum merklich, einfach, aber lebendig zutage tritt und deshalb immer die stärksten Wirkungen erzielt.
Es ist eine Schande, vor der Gefahr davonzulaufen; nur Feiglinge fliehen aus Moskau, wurde ihnen gesagt. Rastoptschin in seinen Flugblättern gab ihnen ein, daß es eine Schmach sei, Moskau zu verlassen. Sie schämten sich, Feiglinge zu heißen, schämten sich, wegzugehen, fuhren aber trotzdem ab, weil sie wußten, daß es so sein mußte. Weshalb gingen sie fort? Es ist wohl kaum anzunehmen, daß Rastoptschin durch die Aufzählung der Greueltaten, die Napoleon in den unterworfenen Erdteilen verübt haben sollte, ihnen Schrecken eingejagt hat. Wer zuerst wegzog, waren ja die reichen und gebildeten Leute, die sehr wohl wußten, daß Wien und Berlin unversehrt geblieben waren, und daß die Einwohner während der Besetzung dieser Städte durch Napoleon ihre Zeit dort mit den bezaubernden Franzosen, die damals von den Russen und insonderheit von den russischen Damen so sehr geliebt wurden, höchst ergötzlich verbracht hatten.
Sie zogen deshalb fort, weil es für einen Russen die Frage gar nicht geben kann, ob es sich in Moskau unter französischer Verwaltung gut oder schlecht lebt. Ihnen war es einfach unmöglich, unter französischer Herrschaft zu leben: das war für sie schlimmer als alles andere. So zogen sie vor der Schlacht bei Borodino weg und noch eiliger nachher, trotz des Aufrufs zur Verteidigung Moskaus, trotz der Erklärung des Oberkommandierenden der Stadt, er werde die Iberische Madonna beim Kampf vorantragen lassen, trotz des Luftballons, der die Franzosen vernichten sollte, und trotz allen Unsinns, den Rastoptschin in seinen Flugblättern schrieb. Sie wußten, daß es Aufgabe ihrer Truppen war, für sie zu kämpfen, und daß, wenn diese nicht dazu imstande waren, sie selber unmöglich mit ihren Töchtern und dem Hausgesinde auf die Drei Berge steigen[184] und gegen Napoleon ankämpfen konnten, sondern daß sie eben fliehen mußten, wie leid es ihnen auch tat, ihr Hab und Gut zur Vernichtung zurückzulassen. Sie zogen fort, ohne an die erhabene Bestimmung dieser gewaltigen, reichen Hauptstadt zu denken, die, von ihren Bewohnern verlassen, zweifellos eingeäschert werden würde, denn leere Häuser nicht zu zerstören und anzuzünden entspräche nicht dem Geist des russischen Volkes. Sie zogen fort aus eignem Entschluß, und nur weil sie wegzogen, vollzog sich jenes erhabene Ereignis, das auf immer der größte Ruhm des russischen Volkes sein wird.
Jene Dame, die bereits im Juni mit ihren Mohren und Hausnarren von Moskau aufbrach und in ein Dorf im Gouvernement Saratow zog, in dem unklaren Bewußtsein, daß sie nie Untertanin Bonapartes sein könne, obgleich sie fürchten mußte, daß man sie auf Befehl des Grafen Rastoptschin zurückhielt, hat schlicht und recht jenes große Werk begonnen, das Rußland gerettet hat. Graf Rastoptschin, der einerseits die Fliehenden mit Schande überhäufte, andererseits aber selber die Behörden aus der Stadt fortschaffen ließ; der bald dem betrunkenen Pöbel unbrauchbare Waffen in die Hand gab und Heiligenbilder herumzutragen befahl, bald dem Erzbischof Augustin verbot, Reliquien und Bilder von ihren Plätzen zu entfernen; der alle Privatgespanne, die sich in Moskau befanden, einzog und dann den von Leppich gebauten Luftballon auf hundertsechsunddreißig Fuhren abtransportieren ließ; der heute darauf anspielte, daß er Moskau in Brand setzen werde – er hat später erzählt, wie er sein eignes Haus angezündet habe – und morgen eine Proklamation an die Franzosen aufsetzte, in der er feierlich den Vorwurf erhob, sie hätten sein Kinderheim zerstört; der einmal den Ruhm der Einäscherung Moskaus für sich in Anspruch nahm, ein andermal jede Beteiligung daran abstritt; der bald dem Volk befahl, alle Spione zu haschen und ihm vorzuführen, bald den Leuten Vorwürfe machte, wenn sie dies wirklich taten; der alle Franzosen aus Moskau verbannte, während er Madame Auber-Chalmé[185], die den Mittelpunkt der ganzen französischen Ansiedler in Moskau bildete, in der Stadt zu bleiben erlaubte; der den alten, ehrwürdigen Postdirektor Klutscharew, ohne daß er etwas verschuldet hätte, festnehmen und in die Verbannung schicken ließ; der heute alles Volk auf den Drei Bergen versammelte, um gegen die Franzosen in den Kampf zu ziehen, und morgen, um dieses Volk wieder loszuwerden, ihm einen Menschen zum Opfertod preisgab und selber durch eine Hintertür entwischte; der bald davon sprach, daß er den Untergang Moskaus nie überleben könne, bald über seinen Anteil an den Geschehnissen französische Verse in die Albums schrieb wie diese:
Je suis né Tartare,
Je voulais être Romain.
Les Français m’appelèrent barbare,
Les Russes – Georges Dandin.
– dieser Mann verstand nicht die Bedeutung dessen, was sich vollzog, sondern wollte nur selber etwas tun, sich sehen lassen, wollte etwas Patriotisches, Heldenhaftes vollbringen. Er frohlockte wie ein Knabe über das großartige, unabwendbare Ereignis der Räumung und Einäscherung Moskaus und suchte die gewaltige Volksströmung, die auch ihn mit fortriß, mit seiner unbedeutenden Hand bald aufzuhalten, bald zu fördern.
Helene, die mit dem Hof von Wilna nach Petersburg zurückgekehrt war, befand sich in einer schwierigen Lage.
In Petersburg hatte sie sich der Gunst einer hochstehenden Persönlichkeit erfreut, die eine der höchsten Ämter im Reich bekleidete. In Wilna dagegen war sie zu einem jungen ausländischen Prinzen in nähere Beziehungen getreten. Als sie jetzt nach Petersburg zurückkehrte, befanden sich sowohl der Prinz wie auch die hochstehende Persönlichkeit in der Stadt, beide machten ihre Rechte geltend, und so sah sich Helene einer neuen Aufgabe gegenüber: ihr enges Verhältnis zu beiden zu wahren, ohne einen zu verletzen.
Was einer anderen Frau schwierig, ja unmöglich gewesen wäre, darüber zerbrach sich die Gräfin Besuchowa nicht einmal den Kopf: ein neuer Beweis, daß sie sich nicht umsonst des Rufes einer äußerst klugen Frau erfreute. Hätte sie ihre Fehltritte zu verheimlichen und sich mit Schlauheit aus der mißlichen Lage herauszuwinden gesucht, so hätte sie eben dadurch, daß sie ihre Schuld einsah, alles verdorben. Helene aber tat gerade das Gegenteil: wie ein wahrhaft großer Mensch, der alles vermag, was er will, stellte sie sich von vornherein so zu der Sache, als ob sie im Recht wäre – woran sie auch aufrichtig glaubte – und alle anderen im Unrecht.
Als sich der junge fremde Prinz erlaubte, ihr zum erstenmal Vorwürfe zu machen, hob sie stolz den schönen Kopf und sagte mit fester Stimme, indem sie sich halb nach ihm umwandte: »Da sieht man wieder mal den Egoismus und die Grausamkeit der Männer! Ich habe gar nichts anderes erwartet. Die Frau opfert sich für sie, leidet, und so wird es ihr gelohnt! Was für ein Recht haben Sie, Monseigneur, von mir über meine Freundschaften, meine Neigungen Rechenschaft zu fordern? Dieser Mann ist mehr für mich gewesen als ein Vater.«
Der Prinz wollte etwas entgegnen, aber Helene schnitt ihm das Wort ab.
»Eh bien, oui«, fuhr sie fort, »vielleicht hat er für mich noch andere Gefühle als väterliche, aber das ist doch kein Grund, ihm meine Tür zu verschließen. Ich müßte ein Mann sein, um mich so undankbar zeigen zu können. Und dann möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, Monseigneur, daß ich über alles, was meine innersten Gefühle angeht, nur Gott und meinem Gewissen Rechenschaft ablege«, schloß sie, legte die Hand auf ihre hochatmende, schöne Brust und warf einen Blick gen Himmel.
»Aber so hören Sie mich doch an, um Gottes willen.«
»Heiraten Sie mich, und ich werde Ihre Sklavin sein.«
»Aber das ist doch unmöglich.«
»Sie halten mich der Ehre nicht für wert, zu mir herabzusteigen. Sie …« erwiderte Helene und weinte.
Der Prinz fing an sie zu trösten. Unter Tränen sagte ihm Helene, wie als vergäße sie alles um sich her, daß nichts sie daran hindern könne, sich wieder zu verheiraten. Es gebe ja Beispiele, – es waren damals allerdings nur wenige, aber sie nannte Napoleon und andere hochstehende Persönlichkeiten. Sie sei niemals die Frau ihres Mannes und stets nur ein Opfer gewesen.
»Aber die Gesetze, die Religion …« warf der Prinz, schon halb besiegt, ein.
»Gesetze, Religion? … Wozu hätte man sie ersonnen, wenn sie dies nicht zustande bringen könnten!« rief Helene.
Der hohe Herr staunte, daß ein so einfacher Gedanke ihm nicht in den Sinn gekommen war, und wandte sich um Rat an die Brüder der Gesellschaft Jesu, zu denen er in engen Beziehungen stand.
Ein paar Tage später wurde der Gräfin Besuchowa bei einem der bezaubernden Feste, die sie auf ihrem Landhaus auf Kamenny Ostrow[186] gab, der nicht mehr junge, aber bestrickende Monsieur de Jobert vorgestellt, un jésuite à robe courte, mit schneeweißem Haar und leuchtenden schwarzen Augen, der beim Schein der Illumination und bei den Klängen der Musik im Garten lang mit Helene plauderte: von der Liebe zu Gott, zu Christus und zum Herzen der Mutter Gottes und von den Tröstungen, die nur die einzig wahre katholische Religion in diesem wie im künftigen Leben dem Menschen zu geben vermag. Helene war gerührt, und mehr als einmal standen sowohl in ihren als auch in Monseigneur de Joberts Augen Tränen, und ihre Stimmen zitterten. Ein Tanz, zu dem ein Partner Helene aufzufordern kam, machte dem Gespräch mit ihrem künftigen directeur de conscience ein Ende, aber am folgenden Tag erschien Monsieur de Jobert allein gegen Abend bei Helene und kam von nun an häufig zu ihr.
Eines Tages führte er die Gräfin in eine katholische Kirche, wo sie vor dem Altar, an den man sie hingeleitete, auf die Knie sank. Der nicht mehr junge, aber bezaubernde Franzose legte ihr die Hände auf den Kopf, und sie empfand, wie sie dann selber erzählte, ein Gefühl, als wehe ihr ein frischer Wind durch die Seele. Das war die Gnade, erklärte man ihr.
Dann schickte man ihr einen Abbé à robe longue, der hörte ihre Beichte an und sprach sie von ihren Sünden frei. Am folgenden Tag brachte man ihr ein Kästchen, in dem eine Hostie lag, und überließ es ihr für den Hausgebrauch. Nach einigen Tagen erhielt Helene zu ihrer Genugtuung die Nachricht, daß sie nun in die alleinseligmachende katholische Kirche eingetreten sei, daß in nächster Zeit auch der Papst dies erfahren und ihr ein gewisses Schreiben zusenden werde.
Alles, was während dieser Zeit um sie herum und mit ihr geschah, die ganze Aufmerksamkeit, die ihr so viele kluge Menschen bezeigten und die in so angenehmen, verfeinerten Formen zum Ausdruck kam, sowie der Zustand täubchenhafter Unschuld, in dem sie sich jetzt befand – sie trug die ganze Zeit über nur weiße Kleider mit weißen Bändern –, dies alles bereitete ihr Vergnügen, aber um dieses Vergnügens willen ließ sie doch ihr wahres Ziel nicht einen Augenblick aus dem Auge. Und wie es immer der Fall zu sein pflegt, daß, wenn es aufs Überlisten ankommt, der Dumme dem Klugen über ist, so bestand auch Helene darauf, daß alle die mannigfaltigen Maßnahmen, die sie von ihrem Mann freimachen sollten, getroffen wurden, ehe sie mit dem Geld herausrückte, da sie durchschaut hatte, daß das Ziel aller dieser Worte und Bemühungen vorzugsweise darin bestand, ihr, sobald man sie zum Katholizismus bekehrt hatte, Geld zum Besten der Jesuitenanstalten abzunehmen, worauf man sie schon durch Anspielungen vorbereitet hatte. Ihrer Auffassung nach bestand die Bedeutung jeder Religion nur darin, bei der Befriedigung menschlicher Wünsche gewisse Anstandsregeln wahren zu helfen. Zu diesem Zweck forderte sie in einem ihrer Gespräche von ihrem Beichtvater dringend Antwort auf die Frage, inwieweit sie jetzt noch durch ihre Ehe gebunden sei.
Sie saßen im Salon am Fenster. Es dämmerte bereits. Blütenduft drang von draußen herein. Helene trug ein weißes Kleid, das Brust und Schultern durchschimmern ließ. Ein wohlgenährter Abbe, mit feistem, glattrasiertem Kinn, hübschem, derbem Mund und weißen Händen, die er sanft über den Knien gefaltet hielt, saß Helene dicht gegenüber, warf mit feinem Lächeln auf den Lippen ab und zu einen über ihre Schönheit still entzückten Blick auf ihr Gesicht und setzte ihr dabei seinen Standpunkt über die sie beschäftigende Frage auseinander. Helene blickte, unruhig lächelnd, auf sein krauses Haar, seine glatt rasierten, schwärzlichen, vollen Backen, und war jeden Augenblick darauf gefaßt, daß das Gespräch eine andere Wendung nehmen werde. Aber der Abbé, obwohl er sich sichtlich an der Schönheit seines Gegenübers ergötzte, ließ sich doch ganz von seiner Meisterschaft als Seelsorger hinreißen.
Der Gang der Erwägungen dieses Gewissenslenkers war folgender: »Ohne die Bedeutung dessen, was Sie taten, zu kennen, haben Sie den Schwur ehelicher Treue einem Mann geleistet, der seinerseits, weil er in die Ehe eintrat, ohne an ihre religiöse Bedeutung zu glauben, einen Frevel beging. Diese Ehe hatte demnach nicht die zwiefältige, gegenseitige Bedeutung, die eine Ehe haben muß. Doch dessenungeachtet waren Sie durch Ihren Schwur gebunden. Nun haben Sie sich von Ihrem Mann getrennt. Was haben Sie damit begangen? Péché véniel oder péché mortel? Péché véniel, denn Sie haben diesen Fehler ohne böse Absicht getan. Wenn Sie jetzt, aus dem Wunsch heraus, Kinder zu haben, eine neue Ehe eingehen, so könnte Ihnen Ihr Fehltritt vergeben werden. Doch dieses Problem zerfällt wiederum in zwei Teile, erstens …«
»Aber ich bin doch der Ansicht«, unterbrach ihn plötzlich Helene, der die Sache langweilig zu werden anfing, mit ihrem bezaubernden Lächeln, »daß ich, nachdem ich zur alleinseligmachenden Religion übergetreten bin, nicht mehr an etwas gefesselt sein kann, was mir eine falsche Religion auferlegt hat.«
Der directeur de conscience staunte über dieses Ei des Kolumbus, das da plötzlich so einfach vor ihm aufgestellt wurde. Er war entzückt, welch unerwartet schnelle Fortschritte seine Schülerin machte, wollte aber dem klugen, mühselig errichteten Gebäude seiner eignen Beweisführung dennoch nicht entsagen.
»Entendons-nous, comtesse«, sagte er lächelnd und fing an, dieses Argument seines Beichtkindes zu widerlegen.
Helene merkte, daß vom geistlichen Standpunkt aus ihr Fall ganz einfach und leicht war, und daß ihre Seelsorger nur deshalb Schwierigkeiten machten, weil sie Angst hatten und nicht wußten, wie die weltliche Macht die Sache ansehen werde.
Demzufolge kam Helene zu dem Entschluß, daß sie in der Gesellschaft ihre Angelegenheit vorbereiten müsse. Sie entfachte in dem alten Würdenträger die Eifersucht und sagte ihm dasselbe, was sie ihrem anderen Liebhaber mitgeteilt hatte, das heißt sie löste die Frage so: der einzige Weg, ein Recht über sie zu erlangen, sei eine Heirat mit ihr. Der alte ehrenwerte Herr war im ersten Augenblick über den Vorschlag, die Frau eines noch lebenden Mannes zu heiraten, ebenso überrascht wie der junge Prinz. Aber Helenes unwandelbare Überzeugung, daß dies etwas ebenso Einfaches und Natürliches sei, wie wenn ein junges Mädchen heirate, verfehlte schließlich auch auf ihn ihre Wirkung nicht. Wäre bei Helene selber nur das geringste Anzeichen von Unsicherheit, Scham oder Verstellung zu merken gewesen, so hätte sie zweifellos verlorenes Spiel gehabt, aber diese Anzeichen von Verstellung und Scham fehlten nicht nur gänzlich bei ihr, sondern sie erzählte sogar ihren intimsten Freunden – und das war so ziemlich ganz Petersburg – in gutmütiger Harmlosigkeit, daß sowohl der Prinz als auch der hohe Würdenträger um ihre Hand angehalten hätten, daß sie beide liebe und nur die eine Angst habe, einen von ihnen zu bekümmern.
Augenblicklich verbreitete sich in ganz Petersburg ein Gerücht nicht etwa darüber, daß sich Helene von ihrem Mann scheiden lassen wolle – hätte man sich so etwas erzählt, so hätten sich viele gegen ein solch ungesetzliches Verhalten aufgelehnt –, sondern es ging ganz einfach das Gerücht, daß die unglückliche, interessante Helene sich nicht darüber schlüssig werden könne, welchen von beiden Bewerbern sie heiraten solle. Und die Frage war bereits nicht mehr die, ob dies überhaupt möglich sei, sondern nur noch, welche Partie vorteilhafter sei und wie der Hof sich dazu stellen werde. Zwar gab es auch ein paar verstockte Leute, die sich nicht bis zur Höhe der Frage aufschwingen konnten und in diesem Vorhaben nur eine Entweihung des Sakramentes der Ehe sahen, aber deren waren nicht viele, und sie schwiegen sich aus, während sich bei weitem die meisten mit der Frage befaßten, ob von dem Glück, das Helene in den Schoß falle, diese oder jene Wahl die bessere sei. Darüber, ob es gut oder schlecht sei, sich von einem noch lebenden Gatten zu trennen, wurde nicht gesprochen, weil diese Frage offenbar von Leuten, die klüger waren als andere Sterbliche, bereits gelöst war, und man durch einen Zweifel an der Richtigkeit dieser Lösung nur riskiert hätte, seine eigne Dummheit zu verraten und die Unfähigkeit, in der großen Welt zu leben.
Nur Marja Dmitrijewna Achrosimowa, die in diesem Sommer nach Petersburg gekommen war, um einen ihrer Söhne wiederzusehen, erlaubte sich, ihre Ansicht geradeheraus zu sagen, die der Meinung der Gesellschaft zuwiderlief. Als sie Helene auf einem Ball traf, hielt sie sie mitten im Saal an und sagte, während alle schwiegen, mit ihrer derben Stimme zu ihr: »Also bei euch heiratet man jetzt wieder, auch wenn der erste Mann noch lebt? Du denkst wohl, daß du damit etwas Neues aufgebracht hast? Da kommst du einen Posttag zu spät, meine Werteste. Die Erfindung hat man schon lange gemacht. Bei allen – ein nicht ganz salonmäßiger Ausdruck fiel – geht es so her.« Während sie dies sagte, streifte Marja Dmitrijewna mit gewohnter, drohender Gebärde ihre weiten Ärmel auf, sah sich streng um und schritt weiter durch den Saal.
Doch wenn man auch Marja Dmitrijewna in Petersburg ebenso fürchtete wie in Moskau, so betrachtete man sie hier doch als eine Art komische Alte und merkte sich von dem, was sie gesagt hatte, nur das eine recht kräftige Wort, das einer dem andern im Flüsterton wiederholte, in dem Wahn, daß in diesem Wort die ganze Würze ihres Ausspruchs enthalten sei.
Fürst Wassilij, der in letzter Zeit besonders häufig das, was er sagte, zu vergessen pflegte und hundertmal ein und dasselbe wiederholte, sagte jedesmal, wenn er zufällig seine Tochter sah: »Hélène, j’ai un mot à vous dire«, dabei führte er sie beiseite und zog ihre Hand nach unten. »Ich habe von gewissen Absichten Wind bekommen in bezug auf … na, du weißt schon. Eh bien, ma chère enfant, du weißt, daß mein Vaterherz sich freut … Du hast so viel gelitten … Mais, chère enfant … frage niemanden als dein Herz um Rat. C’est tout ce que je vous dis.«
Und indem er jedesmal die sich immer gleich bleibende Erregung zu verbergen suchte, drückte er seine Wange an die seiner Tochter und entfernte sich.
Bilibin, der immer noch im Ruf eines äußerst geistreichen Menschen stand und ein uneigennütziger Freund Helenes war, einer von jenen Freunden, wie sie immer bei glänzenden Frauen zu finden sind, männlichen Freunden, die niemals in die Rolle eines Liebhabers verfallen, Bilibin setzte einmal en petit comité seiner Freundin Helene seine Ansicht über diese ganze Angelegenheit auseinander.
»Ecoutez, Bilibine« – Helene nannte solche Freunde wie Bilibin stets beim Familiennamen –, sie legte dabei ihre weiße ringgeschmückte Hand auf seinen Frackärmel, »sagen Sie mir wie einer Schwester: was soll ich tun? Welchen von beiden?«
Bilibin zog die Augenbrauen zusammen, während ein Lächeln seine Lippen umspielte, und dachte nach.
»Sie überraschen mich nicht mit dieser Frage, wissen Sie«, sagte er. »Als wahrer Freund habe ich mir Ihre Angelegenheit hin und her überlegt. Sehen Sie«, Bilibin bog einen Finger um, »wenn Sie den Prinzen heiraten« – er war ein noch junger Mann –, »so verlieren Sie auf immer die Chance, noch jemals den anderen zu bekommen, und außerdem erregen Sie die Mißbilligung des Hofes. Sie wissen, es besteht da eine Art von Verwandtschaft. Heiraten Sie aber den alten Grafen, so werden Sie das Glück seiner letzten Tage ausmachen, und wenn Sie erst die Witwe eines so großen Mannes sind … dann begeht der Prinz keine Mesalliance mehr, wenn er Sie heiratet.«
Dabei zog Bilibin die Stirn wieder glatt.
»Voilà un véritable ami!« rief Helene strahlend aus und berührte noch einmal Bilibins Ärmel mit der Hand. »Doch da ich sowohl den einen als auch den anderen liebe, möchte ich keinem weh tun. Mein Leben gäbe ich hin, um sie beide glücklich machen zu können«, sagte sie.
Bilibin zuckte die Achseln, um zum Ausdruck zu bringen, daß er für ein solches Mißgeschick keine Abhilfe wisse.
Une maîtresse-femme. Das nenne ich in scharfen Umrissen ein Problem ins Auge fassen! Am liebsten heiratete sie alle drei auf einmal, dachte Bilibin.
»Aber sagen Sie, wie stellt sich eigentlich Ihr Mann zu dieser Angelegenheit?« fragte er, da er bei der Unerschütterlichkeit seines Rufes als kluger Mann keine Angst zu haben brauchte, sich durch eine so naive Frage zu blamieren. »Ist er einverstanden?«
»Ah! Il m’aime tant!« erwiderte Helene, die aus irgendeinem Grund davon überzeugt war, daß Pierre sie ebenfalls liebe. »Er wird alles für mich tun.«
Bilibin zog die Stirn kraus, um ein »mot« vorzubereiten, und sagte dann: »Sogar sich scheiden lassen.«
Helene lachte.
Unter der Zahl derer, die sich einen Zweifel an der Gesetzmäßigkeit der in Aussicht genommenen neuen Ehe erlaubten, befand sich auch Helenes Mutter, die Fürstin Kuragina. Der Neid auf ihre Tochter hatte sie schon immer gequält, jetzt aber, da ihr der Grund dieses Neides so nahe zu Herzen ging, ließ ihr dieser Gedanke keine Ruhe mehr. Sie beriet sich mit einem russischen Geistlichen darüber, ob überhaupt eine Scheidung und das Eingehen einer neuen Ehe, solange der Mann noch lebe, möglich sei, und der Geistliche sagte ihr, eine solche Möglichkeit bestehe nicht, und zeigte ihr zu ihrer Freude eine Stelle in der Heiligen Schrift, in der die Möglichkeit des Eingehens einer neuen Ehe, solange der erste Mann noch lebe, geradezu verboten wird.
Mit diesen Argumenten bewaffnet, die ihr unwiderleglich schienen, fuhr die Fürstin frühmorgens, um Helene allein anzutreffen, zu ihrer Tochter.
Helene hörte die Einwände ihrer Mutter ruhig mit an und lächelte sanft und spöttisch.
»Es steht hier ausdrücklich geschrieben: Wer eine Abgeschiedene freiet …« fing die alte Fürstin an.
»Ah, maman, ne dites pas de bêtises. Das verstehen Sie nicht. Ich in meiner Stellung habe Pflichten«, fiel Helene ein und ging dabei vom Russischen ins Französische über, weil es ihr, wenn sie russisch sprach, immer schien, als läge ihre Sache doch nicht so ganz klar.
»Aber meine liebe …«
»Ah, maman, verstehen Sie denn nicht, daß der Heilige Vater, der das Recht hat, Dispens zu erteilen …«
In diesem Augenblick trat die Gesellschaftsdame, die bei Helene lebte, ein und meldete ihr, daß Seine Hoheit im Saal nebenan sei und sie zu sehen wünsche.
»Nein, sagen Sie ihm, daß ich ihn nicht sehen will, daß ich wütend auf ihn bin, weil er sein Wort nicht gehalten hat.«
»Komtesse, für jede Sünde gibt es Vergebung«, sagte eintretend ein junger blonder Mensch mit langem Gesicht und langer Nase.
Die alte Fürstin erhob sich ehrerbietig und knickste. Der eintretende junge Mann schenkte ihr keine Beachtung. Die Fürstin nickte ihrer Tochter zu und schwebte zur Tür hinaus.
Nein, sie hat recht, dachte sie; alle ihre Argumente waren beim Erscheinen Seiner Hoheit in nichts zerflossen. Sie hat recht, aber warum haben wir dies in unserer unwiederbringlich verlorenen Jugend nicht ebenfalls gewußt? Und es wäre doch so einfach gewesen, dachte die alte Fürstin, während sie in ihren Wagen stieg.
Anfang August war Helenes Angelegenheit vollkommen entschieden, und sie schrieb ihrem Mann, der sie, wie sie glaubte, so sehr liebte, einen Brief, in dem sie ihn von ihrer Absicht, Herrn N.N. zu heiraten, in Kenntnis setzte, ihm mitteilte, daß sie zur alleinseligmachenden Religion übergetreten sei, und ihn bat, alle jene zur Scheidung unumgänglichen Formalitäten zu erfüllen, die ihm der Überbringer dieses Briefes noch näher bezeichnen werde.
»Sur ce je prie Dieu, mon ami, de vous avoir sous Sa sainte et puissante garde. Votre amie Hélène.«
Dieser Brief wurde Pierre gerade zu der Zeit ins Haus gebracht, als er sich auf dem Schlachtfeld bei Borodino befand.
Nachdem Pierre gegen Ende der Schlacht bei Borodino zum zweitenmal von der Rajewskijbatterie hinuntergeeilt war, begab er sich mit einem Trupp Soldaten durch die Talenge nach Knjaskowo. Als er am Verbandsplatze vorbeikam, das Blut sah und das Schreien und Stöhnen hörte, mischte er sich unter die Soldaten und schritt eilig weiter.
Das einzige, was Pierre jetzt von ganzem Herzen wünschte, war, so bald wie nur möglich aus diesen furchtbaren Eindrücken, unter denen er den ganzen Tag über gestanden hatte, herauszukommen, zu seinen gewohnten Lebensbedingungen zurückzukehren und sich zu Hause ruhig in sein Bett zu legen. Nur unter den gewohnten Lebensbedingungen, das fühlte er, würde er imstande sein, sich selbst und das, was er gesehen und empfunden hatte, zu begreifen. Aber diese gewohnten Lebensbedingungen waren nicht mehr vorhanden.
Obgleich auf dem Weg, den er eingeschlagen hatte, keine Geschosse und Kanonenkugeln mehr pfiffen, so bot sich ihm doch hier auf allen Seiten dasselbe Bild, das er auf dem Schlachtfeld gesehen hatte. Überall fand er dieselben leidenden, erschöpften und manchmal merkwürdig gleichgültigen Gesichter, dasselbe Blut, dieselben Soldatenmäntel, dasselbe Donnern der Geschütze, das zwar ferner ertönte, aber immer noch Grauen erregte. Es war staubig und schwül.
Nachdem Pierre auf der großen Straße nach Moshaisk gegen drei Werst zurückgelegt hatte, setzte er sich am Rande des Weges nieder.
Die Dämmerung senkte sich herab, und das Getöse der Geschütze verstummte. Den Kopf auf die Hand gestützt, legte sich Pierre hin und blieb in dieser Stellung lange liegen. Er blickte auf die in der Dämmerung an ihm vorbeiziehenden Schatten und hatte immer wieder das Gefühl, als flöge eine Kugel mit furchtbarem Pfeifen auf ihn zu. Plötzlich fuhr er zusammen und richtete sich auf.
Wie lange er so zugebracht haben mochte, wußte er nicht. Gegen Mitternacht ließen sich drei Soldaten, die Reisig gesammelt hatten, neben ihm nieder und zündeten ein Feuer an.
Als das Feuer brannte, stellten sie einen Kessel darauf, brockten Zwieback hinein und taten Speck dazu, wobei sie dann und wann zu Pierre hinüberschielten. Der angenehme Geruch des leckeren Mahles vermischte sich mit dem des Rauches. Pierre stand auf und seufzte. Die Soldaten – es waren ihrer drei – beachteten Pierre nicht weiter, aßen und unterhielten sich untereinander.
»Von was für einer Truppe bist du denn?« wandte sich plötzlich einer von ihnen an Pierre. Offenbar wollte er mit dieser Frage noch etwas anderes sagen, woran auch Pierre dachte, nämlich: Wenn du mitessen willst, so wollen wir dir etwas geben, sage aber erst, ob du ein ehrlicher Mensch bist.
»Ich? Ich? …« erwiderte Pierre und fühlte die Notwendigkeit, seine gesellschaftliche Stellung so gering wie nur möglich darzustellen, um den Soldaten näherzukommen und von ihnen verstanden zu werden. »Ich bin eigentlich Landsturmoffizier, aber meine Mannschaft ist nicht hier. Wir kamen ins Gefecht und ich habe sie verloren.«
»So, so«, sagte einer der Soldaten.
Ein anderer wiegte den Kopf.
»He, wenn du willst, so iß von unserm Brei«, sagte der erste wieder und gab Pierre seinen Holzlöffel, nachdem er ihn abgeleckt hatte.
Pierre setzte sich ans Feuer und fing an, von dem Brei aus dem Kessel zu essen, der ihm als das leckerste Gericht erschien, das er jemals gegessen hatte. Während er, über den Kessel gebeugt, gierig große Löffel voll Speise herausschöpfte, einen Bissen nach dem anderen zerkaute und sein Gesicht vom Feuerschein bestrahlt wurde, sahen ihm die Soldaten schweigend zu.
»Wohin mußt du denn nun, sag?« fragte ihn wieder der eine.
»Ich muß nach Moshaisk.«
»Bist wohl ein Herr?«
»Ja.«
»Wie heißt du denn?«
»Pjotr Kirillowitsch.«
»Nun, Pjotr Kirillowitsch, dann komm; wir wollen dich hinführen.«
In tiefster Finsternis marschierten die Soldaten mit Pierre nach Moshaisk.
Die Hähne krähten schon, als sie in Moshaisk ankamen und den steilen Stadtberg hinaufzusteigen begannen. Pierre ging mit den Soldaten zusammen und hatte ganz vergessen, daß seine Herberge am Fuß des Berges lag und er schon daran vorbeigegangen war. Es wäre ihm auch niemals eingefallen – in einem solchen Zustand der Kopflosigkeit befand er sich –, wenn er nicht auf halbem Weg mit seinem Reitknecht zusammengestoßen wäre, der zur Stadt hinaufgestiegen war, um ihn dort zu suchen, und nun in die Herberge zurückkehrte. Der Reitknecht erkannte Pierre an seinem Hut, der weiß durch die Dunkelheit schimmerte.
»Euer Erlaucht, euer Erlaucht«, rief er immer wieder. »Wir waren schon ganz verzweifelt. Und zu Fuß kommen Sie? Wohin gehen Sie denn?«
»Ach so«, sagte Pierre.
Die Soldaten blieben stehen.
»Na, nun hast du wohl die Deinigen gefunden?« fragte einer von ihnen. »Leb wohl, Pjotr Kirillowitsch!«
»Leb wohl, Pjotr Kirillowitsch!« fielen auch die anderen Stimmen ein.
»Lebt wohl«, erwiderte Pierre und wandte sich mit seinem Reitknecht der Herberge zu.
Ich müßte ihnen wohl etwas geben? dachte er bei sich und griff in die Tasche. Nein, das darfst du nicht, flüsterte ihm eine innere Stimme zu.
In den Zimmern der Herberge war kein Platz mehr, alles war besetzt. Pierre ging auf den Hof, legte sich in seinen Wagen und hüllte sich bis über den Kopf in seinen Mantel ein.
Kaum hatte Pierre seinen Kopf aufs Kissen gelegt, als er auch schon fühlte, daß er einschlief. Plötzlich aber hörte er mit einer fast der Wirklichkeit entsprechenden Deutlichkeit das Bum-bum-bum der Geschütze, hörte das Stöhnen und Schreien der Verwundeten, das Aufklatschen der Geschosse, spürte den Blut- und Pulvergeruch, und ein Gefühl des Entsetzens und der Todesfurcht packte ihn. Erschrocken schlug er die Augen auf und hob den Kopf aus dem Mantel.
Auf dem Hof war alles still. Nur am Tor ging ein Offiziersbursche vorüber, patschte durch den Schmutz und sprach mit dem Hausknecht. Über Pierres Kopf schüttelten sich unter dem dunklen hölzernen Schutzdach die Tauben, die bei dem Geräusch, das er beim Aufrichten gemacht hatte, munter geworden waren. Über dem ganzen Hof lagerte jener friedliche, für Pierre in diesem Augenblick so angenehme, kräftige Herbergsgeruch nach Heu, Stallmist und Teer. Zwischen den beiden dunklen Schuppendächern sah man den klaren, gestirnten Himmel.
Gott sei Dank, daß das nicht mehr ist! dachte Pierre und hüllte seinen Kopf wieder ein. Oh, wie entsetzlich ist die Furcht, und wie schmählich habe ich mich ihr hingegeben! Sie dagegen … sie waren die ganze Zeit über, bis zum Schluß, fest und ruhig … dachte er.
»Sie« waren in Pierres Gedanken die Soldaten, sowohl jene, die auf der Batterie gewesen waren, als auch die, die ihm zu essen gegeben, oder die, die vor dem Heiligenbild gebetet hatten. Sie, diese merkwürdigen, ihm bisher unbekannten Geschöpfe, sie hoben sich jetzt in seinen Gedanken klar und scharf von allen übrigen Menschen ab.
Soldat sein, ein einfacher Soldat, dachte Pierre, indem er wieder einschlummerte. Mit allem, was man ist, eintreten in dieses Gemeinschaftsleben und sich von dem durchdringen lassen, was sie so gemacht hat, wie sie sind. Aber wie soll man all dieses Überflüssige, Teuflische, den ganzen Ballast des äußeren Menschen abwerfen? Früher hätte ich einmal so werden können. Ich hätte vom Vater weglaufen können, wenn ich gewollt hätte. Auch nach dem Duell mit Dolochow hätte man mich unter die Soldaten stecken können. Und vor Pierres Erinnerung tauchte jenes Mittagessen im Klub auf, wo er Dolochow zum Duell herausgefordert hatte, und er mußte an seinen Wohltäter in Torschok denken. Dann sah er auf einmal die feierliche Tafelrunde der Loge. Doch diese Loge befand sich im Englischen Klub. Ein lieber, naher Bekannter saß am Ende der Tafel. Ja, er ist es, mein Wohltäter. Aber ist er denn nicht gestorben? dachte Pierre. Ja, er starb, aber ich wußte nicht, daß er wieder lebt. Wie weh tat es mir, als er starb, und wie freue ich mich jetzt, daß er wieder lebt! An einer Seite der Tafel saßen Anatol, Dolochow, Neswizkij, Denissow und andere dieser Art – die Kategorie dieser Menschen hob sich im Traum in Pierres Seele ebenso scharfumrissen ab wie die Kategorie der Leute, die er mit »sie« bezeichnete. Und alle diese Menschen wie Anatol, Dolochow und so weiter schrien laut und sangen, doch durch ihr Schreien hindurch hörte man die Stimme des Wohltäters, der ununterbrochen sprach, und der Klang seiner Worte war ebenso eindrucksvoll und ausdauernd wie das Donnern der Geschütze auf dem Schlachtfeld, nur klang es angenehm und tröstend. Was der Wohltäter sagte, konnte Pierre nicht verstehen, aber er wußte – denn auch die Kategorien der Gedanken aller waren ihm im Traum ganz klar –, daß der Wohltäter vom Guten sprach, von der Möglichkeit, so zu sein wie »sie«. Und sie, sie mit ihren schlichten, guten, festen Gesichtern umringten von allen Seiten den Wohltäter. Doch obwohl sie so gut waren, sahen sie Pierre doch nicht an, kannten ihn nicht. Pierre wollte ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken, wollte etwas sagen. Er stand auf, aber in diesem Augenblick fühlte er, daß seine Beine eiskalt wurden, und merkte, daß sie nackt waren.
Er schämte sich und wollte mit der Hand seine Beine zudecken, von denen tatsächlich der Mantel heruntergefallen war. Doch in dem Augenblick, als er den Mantel wieder zurechtschob, schlug Pierre die Augen auf und sah wieder die Schuppen, die Pfosten, den Hof, doch alles dies war jetzt bläulich und hell und mit schimmerndem Tau oder Reif bedeckt.
Der Tag bricht an, dachte Pierre. Aber das ist Nebensache. Ich muß auf die Worte des Wohltäters lauschen und sie erfassen.
Wieder hüllte er sich in seinen Mantel, aber er sah weder die Tafelrunde der Loge noch den Wohltäter mehr. Nur Gedanken schwebten ihm vor, die in Worten klar zum Ausdruck kamen, die jemand zu ihm sagte oder die sich Pierre selber ausdachte.
Wenn sich Pierre später diese Gedanken wieder ins Gedächtnis zurückrief, so war er, obgleich diese Gedanken doch durch die Eindrücke des Tages in ihm hervorgerufen worden waren, dennoch überzeugt, daß irgendein anderer sie vor ihm ausgesprochen haben müsse. Niemals, so schien ihm, wäre er im Wachen dazu imstande gewesen, so zu denken und seine Gedanken so auszudrücken.
Der Krieg ist die schwerste Unterordnung der menschlichen Freiheit unter die Gesetze Gottes, sagte die Stimme zu ihm. Einfalt ist Ergebenheit in Gott, von Ihm kommst du nicht los. Und »sie« sind einfältig. Sie reden nicht, sondern handeln. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Über nichts kann der Mensch Herr werden, solang er den Tod fürchtet. Wer aber den Tod nicht mehr fürchtet, dem gehört alles. Wenn es keine Leiden gäbe, würde der Mensch die Grenzen seiner selbst und sich selber nicht kennen. Das Schwerste, fuhr Pierre im Traum zu denken oder zu hören fort, besteht darin, die Bedeutung aller Dinge im Geist zusammenzufassen. Zusammenzufassen? fragte sich Pierre. Nein, nicht zusammenzufassen. Gedanken kann man nicht zusammenfassen, aneinanderreihen muß man sie, das ist es. Ja, aneinanderreihen, aneinanderreihen! wiederholte Pierre mit innerem Entzücken, weil er fühlte, daß nur so die ganze ihn quälende Frage zu lösen und nur mit diesen Worten das auszudrücken war, was er sagen wollte.
Ja, wir müssen immer und immer fortfahren, aneinanderzureihen, man muß all diese Gedanken verbinden, es ist hohe Zeit, daß wir damit fortfahren …
»Fortfahren, Euer Erlaucht, fortfahren, Euer Erlaucht!« wiederholte irgendeine Stimme. »Wir müssen anspannen, es ist Zeit fortzufahren!«
Es war die Stimme des Reitknechts, der seinen Herrn weckte. Die Sonne schien Pierre gerade ins Gesicht. Er sah sich auf dem schmutzigen Herbergshof um: in der Mitte am Brunnen tränkten ein paar Leute ihre mageren Pferde; aus dem Torweg fuhren Soldatenwagen. Mit Widerwillen wandte sich Pierre ab, schloß die Augen und ließ sich eilig auf dem Sitz des Wagens nieder.
Nein, das will ich nicht sehen noch begreifen. Begreifen will ich nur, was sich mir im Traum geoffenbart hat. Noch einen Augenblick – und ich hätte alles verstanden. Was sollte ich tun? Die Gedanken aneinanderreihen? Aber wie soll ich das machen? Und Pierre fühlte mit Grauen, daß der ganze Sinn dessen, was er im Traum gesehen und gedacht hatte, wieder verwirrt und zerstört war.
Der Reitknecht, der Kutscher und der Hausdiener erzählten Pierre, daß ein Offizier mit der Nachricht gekommen sei, die Franzosen rückten auf Moshaisk vor und die Unsrigen zögen sich zurück.
Pierre erhob sich, befahl anzuspannen und ihm dann nachzukommen, und ging zu Fuß durch die Stadt.
Die Truppen rückten ab und ließen gegen zehntausend Verwundete zurück. Diese Verwundeten sah man in den Höfen und durch die Fenster in den Häusern, auch drängten sie sich auf den Straßen. Rund um die Bauernwagen, die auf den Straßen standen und die Verwundeten wegfahren sollten, hörte man Schreien und Schimpfen, hier und da gab es auch Schlägereien. Pierre überließ einen Teil seines Wagens einem ihm bekannten verwundeten General und fuhr mit ihm zusammen bis Moskau. Unterwegs hörte Pierre, daß sein Schwager und Fürst Andrej gefallen seien.
Am 30. August kehrte Pierre nach Moskau zurück. Dicht am Schlagbaum begegnete ihm ein Adjutant des Grafen Rastoptschin.
»Und wir suchen Sie überall!« sagte der Adjutant zu Pierre. »Der Graf möchte Sie unbedingt sehen. Er läßt Sie bitten, wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit gleich zu ihm zu kommen.«
So fuhr Pierre gar nicht erst nach Hause, sondern nahm einen Wagen und begab sich zum Stadtkommandanten.
Graf Rastoptschin war erst an diesem Morgen aus seinem Landhaus in Sokolniki in die Stadt zurückgekehrt. Das Wartezimmer und der Empfangsraum in seinem Hause waren voll von Beamten, die auf seinen Wunsch oder um Befehle entgegenzunehmen gekommen waren. Wassiltschikow und Platow hatten den Grafen schon gesehen und ihm erklärt, daß es unmöglich sei, die Stadt zu verteidigen, und daß sie übergeben werden müsse. Obgleich diese Nachricht vor den Einwohnern geheimgehalten wurde, wußten doch alle Beamten, alle Chefs der verschiedenen Behörden, daß Moskau in die Hände der Feinde fallen werde, ebenso wie es auch Graf Rastoptschin wußte, und alle kamen nun, bemüht, jede Verantwortung von sich abzuwälzen, zum Stadtkommandanten, um zu fragen, wie sie in dem ihnen anvertrauten Stadtteil zu verfahren hätten.
Als Pierre ins Wartezimmer trat, kam gerade ein Kurier, der eben erst von der Armee eingetroffen war, aus dem Zimmer des Grafen.
Der Kurier beantwortete alle Fragen, die man an ihn richtete, mit einer hoffnungslosen Handbewegung und ging durch den Saal.
Während Pierre im Vorzimmer wartete, betrachtete er mit müden Augen die verschiedenen alten und jungen Militärpersonen und Zivilbeamten, die sich im Zimmer befanden. Sie alle schienen unzufrieden und beunruhigt zu sein. Pierre trat zu einer Gruppe von Beamten, von denen er einen kannte. Nachdem sie ihn begrüßt hatten, fuhren sie in ihrer Unterhaltung fort.
»Wenn wir sie hinausschicken und dann wieder zurückholen, so ist das weiter nicht schlimm. In einer solchen Lage kann man für nichts die Verantwortung übernehmen«, sagte der eine.
»Aber sehen Sie, er schreibt doch …« fiel ein anderer ein und wies auf ein gedrucktes Blatt, das er in der Hand hielt.
»Das ist etwas anderes. Das Volk braucht so etwas«, meinte der erste wieder.
»Was ist das?« fragte Pierre.
»Ein neues Flugblatt.«
Pierre nahm es in die Hand und fing an zu lesen:
»Um sich schneller mit den Truppen zu vereinigen, die zu ihm hinziehen, hat der durchlauchtige Fürst Moshaisk passiert und einen befestigten Punkt aufgesucht, wo ihn der Feind nicht so leicht überfallen wird. Von hier aus sind achtundvierzig Kanonen nebst Munition an ihn abgeschickt worden, und der Durchlauchtige erklärt, daß Moskau bis zum letzten Blutstropfen verteidigt werden soll und daß er bereit ist, auch in seinen Straßen zu kämpfen. Wundert euch nicht, Brüder, daß die Behörden ihre Arbeiten eingestellt haben: wir mußten sie schließen. Aber über die Feinde werden wir schon noch Gericht halten! Wenn es so weit ist, brauche ich kräftige Männer sowohl aus der Stadt als auch vom Lande. Zwei Tage vorher werde ich den Ruf ergehen lassen, jetzt aber ist es noch nicht nötig, darum schweige ich. Gut wird es sein, mit einem Beil zu kommen, ein Spieß ist auch nicht übel, am besten aber ist eine Heugabel mit drei Zinken, denn ein Franzose ist nun einmal nicht schwerer als eine Korngarbe. Morgen nach Tisch lasse ich die Iberische Mutter Gottes zu den Verwundeten in das Jekaterinenhospital tragen. Es wird dort das Wasser gesegnet werden, damit sie schneller gesund werden. Mir geht es wieder gut: das Auge tat mir weh, jetzt aber sehe ich wieder auf beiden.«
»Militärpersonen haben mir aber doch gesagt«, fing Pierre an, »daß man in der Stadt gar nicht kämpfen kann, und daß die Stellung …«
»Nun ja, darüber reden wir ja eben«, meinte der erste Beamte.
»Aber was bedeutet denn das: Mir tat das Auge weh, jetzt aber sehe ich wieder auf beiden?« fragte Pierre.
»Der Graf hatte ein Gerstenkorn«, erwiderte der Adjutant lachend, »und beunruhigte sich sehr, als ich ihm sagte, das Volk werde kommen und fragen, was mit ihm los sei. Aber wie steht’s bei Ihnen, Graf?« wandte sich plötzlich der Adjutant lächelnd an Pierre. »Wie verlautet, soll es ja bei Ihnen Uneinigkeiten in der Familie gegeben haben, die Gräfin, Ihre Frau Gemahlin, soll …«
»Ich weiß von nichts«, erwiderte Pierre gleichgültig. »Was haben Sie denn gehört?«
»Nein, wissen Sie, so etwas wird oft rein aus der Luft gegriffen. Ich sage ja nur, daß ich es gehört habe.«
»Was haben Sie denn gehört?«
»Man erzählt sich«, sagte der Adjutant wieder mit demselben Lächeln, »daß die Gräfin, Ihre Frau Gemahlin, Vorbereitungen trifft, ins Ausland zu reisen. Das ist doch sicher nur Unsinn …«
»Kann sein«, entgegnete Pierre und sah sich zerstreut um. »Wer ist denn das dort?« fragte er dann und wies auf einen kleinen alten Herrn mit schneeweißem Bart, ebensolchen Augenbrauen und frischem Gesicht, der einen langen, sauberen blauen Rock trug.
»Der? Das ist ein Kaufmann, das heißt ein Gastwirt, Wereschtschagin[187]. Die Geschichte von der Proklamation haben Sie doch wohl gehört?«
»Ach, das ist dieser Wereschtschagin!« sagte Pierre und betrachtete das feste, ruhige Gesicht des alten Kaufmanns, um darin einen Ausdruck von Verräterei zu finden.
»Er ist es nicht selbst. Es ist der Vater dessen, der die Proklamation geschrieben hat«, antwortete der Adjutant. »Der junge sitzt im Loch, dem wird es wohl übel ergehen.«
Ein alter Herr mit einem Ordensstern und ein Beamter, ein Deutscher, mit einem Kreuz auf der Brust, traten zu den Sprechenden hinzu.
»Sehen Sie«, erzählte der Adjutant weiter, »das ist eine verwickelte Geschichte. Diese Proklamation erschien damals, so etwa vor acht Wochen. Man meldete das dem Grafen. Er ordnete eine Untersuchung an. Gawrilo Iwanowitsch befaßte sich damit. Die Proklamation war durch dreiundsechzig Hände gegangen. Er kommt zu einem: ›Von wem haben Sie sie?‹ ›Von dem und dem.‹ Nun geht er zu dem: ›Von wem haben Sie sie?‹ und so weiter, bis er schließlich bei Wereschtschagin anlangt … einem Kaufmannssprößling, der noch nicht ausgelernt hat, wissen Sie, so ein nettes Kaufmannsfrüchtchen …« sagte der Adjutant lächelnd. »Man fragt ihn: ›Von wem hast du die Proklamation?‹ Die Hauptsache war, wir wußten nämlich, von wem er sie hatte. Er konnte sie von niemand anderem haben als vom Postdirektor. Aber offenbar hatten sich die beiden vorher verabredet. ›Von niemandem, ich habe sie selbst verfaßt‹, gibt er uns zur Antwort. Und so sehr man ihm auch zusetzt und droht – er bleibt dabei: ›Ich habe sie selbst verfaßt.‹ Das meldet man nun dem Grafen. Der Graf läßt ihn zu sich rufen. ›Von wem hast du die Proklamation?‹ – ›Ich habe sie selbst verfaßt.‹ Na, Sie kennen ja doch unsern Grafen!« fuhr der Adjutant mit stolzem, lustigem Lächeln fort. »Er geriet furchtbar in die Wolle. Stellen Sie sich vor, solch eine freche Lügnerei und Verstocktheit!«
»Ach so. Dem Grafen wäre es lieb gewesen, wenn der Befragte Klutscharew angegeben hätte!« warf Pierre ein.
»Ganz und gar nicht«, erwiderte der Adjutant erschrocken. »Klutscharew hatte ohnedies genug auf dem Kerbholz, weswegen er auch verbannt wurde. Aber die Sache war die: der Graf ist empört. ›Wie kannst du diese Proklamation verfaßt haben?‹ sagt er und nimmt eine Hamburger Zeitung vom Tisch. ›Da steht sie ja. Du hast sie nicht verfaßt, sondern übersetzt, und noch dazu schlecht, weil du nicht ordentlich Französisch kannst, du Dummkopf.‹ Was glauben Sie aber, daß er zur Antwort gibt? ›Nein‹, sagt er, ›ich lese überhaupt keine Zeitungen, ich habe sie selbst verfaßt.‹ – ›Nun, wenn die Sache so liegt, dann bist du ein Verräter; ich werde dich dem Gericht übergeben, und du wirst gehängt werden. Also sag lieber, von wem du die Proklamation erhalten hast.‹ – ›Ich habe keine Zeitungen gesehen und die Proklamation selbst verfaßt.‹ Und dabei bleibt er. Der Graf läßt auch den Vater rufen: der junge Mann besteht auf seiner Aussage. Er ist dem Gericht überliefert worden und, glaube ich, zu Zwangsarbeit verurteilt. Nun kommt der Vater und will Fürbitte für ihn einlegen. So ein windiges Bürschchen! Wissen Sie, das ist so ein Kaufmannssöhnchen, das immer nach der neuesten Mode gekleidet geht, allen Mädchen den Kopf verdreht, ein paar Vorlesungen gehört hat und sich nun einbildet, Gott weiß wer zu sein. Sehen Sie, solch ein Früchtchen ist das: Sein Vater hat eine Gastwirtschaft an der Steinbrücke. Dort hing immer ein großes Bild von Gott als Weltenbeherrscher, wissen Sie, wie er in der einen Hand das Zepter und in der anderen die Erdkugel hält. Dieses Bild nimmt er nun einmal auf ein paar Tage mit nach Hause und was fängt er damit an? Er macht einen Maler ausfindig, einen Schurken …«
Mitten in dieser neuen Geschichte wurde Besuchow zum Stadtkommandanten gerufen.
Pierre trat in das Arbeitszimmer des Grafen Rastoptschin. Dieser machte ein finsteres Gesicht und rieb sich Stirn und Augen mit der Hand. Ein nicht sehr großer Mann verhandelte mit ihm, als aber Pierre eintrat, schwieg er still und ging hinaus.
»Ah, seien Sie mir gegrüßt, Sie großer Kriegsheld«, sagte Rastoptschin, sobald der Mann hinausgegangen war. »Man hat mir von Ihren prouesses erzählt. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Mon cher, entre nous, sind Sie Freimaurer?« fragte Graf Rastoptschin in strengem Ton, als sei dies etwas Schlimmes, das er jedoch zu verzeihen beabsichtige.
Pierre schwieg.
»Mon cher, je suis bien informé, aber ich weiß auch, daß es zwei Arten von Freimaurern gibt, und hoffe, daß Sie nicht zu denen gehören, die sich den Anschein geben, die Menschheit erretten zu wollen, und dabei Rußland zugrunde richten.«
»Ja, ich bin Freimaurer«, erwiderte Pierre.
»Nun also, sehen Sie, mein Lieber. Es wird Ihnen, glaube ich, nicht unbekannt sein, daß die Herren Speranskij und Magnizkij dorthin ausgewiesen worden sind, wohin sie gehören[188]. So ist es auch Herrn Klutscharew ergangen und ebenso vielen andern, die sich den Anschein gegeben haben, den Tempel Salomonis wieder aufbauen zu wollen, und dabei den Tempel des eignen Vaterlandes zu zerstören suchten. Sie werden einsehen, daß Gründe dazu vorgelegen haben, und daß ich einen hiesigen Postdirektor nicht hätte fortschicken können, wenn er nicht ein schädlicher Mensch gewesen wäre. Nun habe ich erfahren, daß Sie ihm zur Abreise aus der Stadt einen Wagen zur Verfügung gestellt und sogar Papiere von ihm in Verwahrung genommen haben. Ich mag Sie gern und wünsche Ihnen nichts Böses, und da Sie nur halb so alt sind wie ich, darf ich Ihnen wohl den väterlichen Rat erteilen, alle Beziehungen zu derartigen Leuten abzubrechen und selber so bald wie möglich die Stadt zu verlassen.«
»Aber was hat denn Klutscharew verschuldet, Graf?« fragte Pierre.
»Das ist meine Sache, darüber unterrichtet zu sein, und Sie sind nicht befugt, mich danach zu fragen«, schrie Rastoptschin.
»Wenn man ihn etwa beschuldigt hat, daß er Napoleons Proklamationen verteilt habe, so ist das noch gar nicht bewiesen«, sagte Pierre, ohne Rastoptschin anzusehen, »und Wereschtschagin …«
»Nous y voilà«, schrie Rastoptschin, Pierre unterbrechend, noch lauter als vorher und machte plötzlich ein finsteres Gesicht. »Wereschtschagin ist ein Verräter und Aufrührer, der die verdiente Strafe erhalten wird«, fuhr er in jenem Ton heftigen Zorns fort, den man bei der Erinnerung an eine Beleidigung anzuschlagen pflegt. »Aber ich habe Sie nicht rufen lassen, damit Sie über meine Handlungen ein Urteil fällen sollen, sondern um Ihnen einen Rat oder, wenn Sie wollen, einen Befehl zu erteilen. Ich ersuche Sie, Ihre Beziehungen zu solchen Herren wie Klutscharew abzubrechen und die Stadt zu verlassen. Ich werde jedem, wer es auch sei, die Dummheiten auszutreiben wissen.« Da sich Rastoptschin aber wahrscheinlich bewußt wurde, Besuchow, ohne daß dieser etwas verschuldet hatte, angeschrien zu haben, fügte er hinzu, indem er freundschaftlich Pierres Hand faßte: »Nous sommes à la veille d’un désastre public, et je n’ai pas le temps de dire des gentillesses à tous ceux qui ont affaire à. moi. Der Kopf dreht sich mir manchmal im Kreis. Eh bien, mon cher, qu’est-ce que vous faites, vous personnellement?«
»Mais rien«, erwiderte Pierre mit seinem unverändert nachdenklichen Gesichtsausdruck, immer noch ohne die Augen aufzuheben.
Der Graf zog die Stirn kraus.
»Un conseil d’ami, mon cher. Räumen Sie das Feld so schnell wie möglich, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Leben Sie wohl, mein Lieber. Ach ja«, rief er ihm noch in der Tür nach, »ist es wahr, daß die Gräfin in die Klauen der saints pères de la société de Jesus geraten ist?«
Pierre gab keine Antwort und ging finster und erzürnt, wie man ihn noch nie gesehen hatte, von Rastoptschin weg.
Als er nach Hause kam, dunkelte es bereits. Gegen acht Personen kamen an diesem Abend noch zu ihm: der Sekretär eines Komitees, der Oberst seines Regiments, der Verwalter, der Haushofmeister und verschiedene Bittsteller. Sie alle trugen Pierre ihre Anliegen vor, die er entscheiden sollte. Pierre begriff nichts von alledem, interessierte sich auch nicht dafür und antwortete allen immer nur, um sie möglichst bald loszuwerden. Endlich war er allein, öffnete den Brief seiner Frau und fing an, ihn zu lesen.
Sie … die Soldaten auf der Batterie … Fürst Andrej tot … der Alte … Einfalt ist Ergebenheit in Gott … Man muß leiden … die Bedeutung aller Dinge … aneinanderreihen … meine Frau will wieder heiraten … man muß vergessen und begreifen … Und er ging zu seinem Bett, warf sich angekleidet darauf und schlief sofort ein.
Als er am nächsten Morgen erwachte, kam sein Haushofmeister, um ihm zu melden, Graf Rastoptschin habe eigens einen Polizeibeamten hergeschickt, um sich zu erkundigen, ob Graf Besuchow abgereist sei oder abreisen werde.
Im Salon wartete etwa ein Dutzend der verschiedensten Leute, die alle etwas von Pierre wollten. Er zog sich eilig an, und statt zu denen hineinzugehen, die auf ihn warteten, stieg er die Hintertreppe hinunter und verließ durch den Torweg das Haus.
Trotz allen Suchens bekam von diesem Augenblick an bis zur Zerstörung Moskaus keiner von den Hausgenossen Besuchow mehr zu sehen, und keiner konnte in Erfahrung bringen, wo er sich befand.
Die Rostows waren bis zum 1. September, also bis einen Tag vor dem Einrücken des Feindes, in Moskau geblieben.
Nachdem Petja in das Obolenskijsche Kosakenregiment eingetreten und nach Bjelaja Zerkow, wo dieses Regiment zusammengestellt wurde, abgereist war, kam die Gräfin aus der Angst nicht mehr heraus. Der Gedanke, daß nun ihre beiden Söhne im Feld standen, daß beide ihren Fittichen entschlüpft waren und daß heute oder morgen einer von ihnen fallen könnte, oder womöglich alle beide, wie die drei Söhne einer bekannten Familie – dieser Gedanke ging ihr jetzt in diesem Sommer zum erstenmal in seiner ganzen grausamen Klarheit durch den Kopf. Sie versuchte, Nikolaj zurückrufen zu lassen, wollte selber zu Petja fahren und ihn in Petersburg irgendwo unterbringen, aber weder das eine noch das andere erwies sich als möglich. Petja konnte nicht anders zurückkehren als mit seinem Regiment oder auf Grund einer Versetzung in ein anderes aktives Regiment.
Nikolaj befand sich irgendwo an der Front und hatte seit seinem letzten Brief, in dem er seine Begegnung mit Prinzessin Marja ausführlich geschildert hatte, kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Die Gräfin schlief keine Nacht, und wenn sie wirklich einmal einschlummerte, erblickte sie im Traum ihre beiden gefallenen Söhne.
Nach vielen Beratungen und langem Hinundherreden fand der Graf endlich ein Mittel, seine Frau zu beruhigen. Er ließ Petja von den Obolenskijkosaken in das Regiment Besuchows versetzen, das in Petersburg zusammengestellt wurde. Petja blieb auf diese Weise im Militärdienst, und der Gräfin wurde durch diese Versetzung der Trost zuteil, wenigstens den einen ihrer Söhne wieder unter ihren Fittichen zu haben. Sie hoffte, ihren Petja nun nicht mehr fortlassen zu brauchen und ihm immer solche Posten im Dienst verschaffen zu können, wo er beileibe nicht in eine Schlacht geraten konnte. Solange Nicolas allein in Gefahr gewesen war, hatte es der Gräfin immer geschienen – und sie hatte sich sogar Vorwürfe darüber gemacht –, daß sie den ältesten Sohn lieber habe als ihre übrigen Kinder. Als nun aber ihr Jüngster, dieser Strick, der schlecht lernte und zu Hause immer nur Unfug trieb, so daß es alle oft satt bekamen, als nun dieser Petja mit seiner Stupsnase, seinen lustigen schwarzen Augen, seinem frischen roten Gesicht und dem eben erst aufkeimenden Flaum auf den Wangen auch unter all diese großen, furchtbar grausamen Männer geraten war, die dort irgendwie Krieg führten und daran noch Vergnügen fanden, – da hatte die Mutter wiederum geglaubt, sie liebe diesen Sohn mehr, weit mehr als alle anderen. Je näher die Zeit heranrückte, wo der erwartete Petja nach Moskau zurückkehren mußte, desto größer wurde die Unruhe der Gräfin. Schon glaubte sie, daß sie dieses Glück nimmer erleben werde. Nicht nur Sonjas Gegenwart, sondern auch die ihrer geliebten Natascha und sogar die ihres Mannes reizte sie. Was kümmern sie mich? Ich brauche nur den einen, und das ist Petja! dachte sie.
In den letzten Tagen des August erhielten die Rostows einen zweiten Brief von Nikolaj. Er schrieb aus dem Gouvernement Woronesch, wohin er geschickt worden war, um Remonten auszuheben. Dieser Brief beruhigte die Gräfin nicht. Wenn sie jetzt auch den einen Sohn außer Gefahr wußte, so zitterte sie nur um so heftiger für Petja.
Obgleich die meisten Bekannten der Familie Rostow die Stadt schon vor dem 20. August verlassen und alle der Gräfin zugeredet hatten, so bald wie möglich abzufahren, so wollte sie doch nichts von einer Abreise hören, solange nicht ihr ein und alles, ihr vergötterter Petja, zurückgekehrt sei.
Am 28. August traf Petja ein. Die krankhaft leidenschaftliche Zärtlichkeit, mit der ihn die Mutter empfing, gefiel dem sechzehnjährigen Offizier ganz und gar nicht. Obgleich sie ihre Absicht, ihn nun nicht wieder aus ihren Fittichen zu lassen, vor ihm geheimhielt, durchschaute Petja ihre Hintergedanken doch und fürchtete instinktiv, daß er durch die Mutter verzärtelt und – wie er es in Gedanken nannte – zum alten Weibe gemacht werde. Deshalb behandelte er sie kühl, wich ihr aus und hielt sich während seines Aufenthaltes in Moskau ausschließlich an Natascha, für die er schon immer eine besondere, fast verliebte brüderliche Zärtlichkeit empfunden hatte.
Infolge der gewohnten Sorglosigkeit des Grafen war am 28. August noch nichts zur Abreise bereit, und die Fuhrwerke aus den Gütern bei Rjasan und bei Moskau, die alle Habe aus dem Haus fortschaffen sollten, trafen erst am 30. ein.
Vom 28. bis zum 30. August befand sich ganz Moskau in Unruhe und geschäftiger Bewegung. Durch das Dorogomilowtor wurden täglich Tausende von Verwundeten aus der Schlacht von Borodino nach Moskau hereingefahren und auf die Häuser verteilt, während aus den anderen Toren Tausende von Fuhren mit Einwohnern und ihrer Habe hinausrollten.
Trotz der Flugblätter Rastoptschins, unabhängig davon oder auch als ihre Folge liefen die sonderbarsten, sich widersprechenden Gerüchte durch die Stadt. Der eine sagte, niemand mehr dürfe wegfahren, ein anderer erzählte, alle Heiligenbilder würden aus den Kirchen getragen und alle Einwohner mit Gewalt zur Abreise gezwungen. Einer wollte wissen, daß nach der Schlacht bei Borodino noch eine zweite Schlacht stattgefunden habe, in der die Franzosen geschlagen worden seien, während ein anderer behauptete, daß die ganze russische Armee vernichtet sei. Dieser sprach vom Moskauer Landsturm, der, die Geistlichkeit voran, auf die Drei Berge ziehen werde, jener erzählte im Flüsterton, daß dem Erzbischof Augustin nicht erlaubt worden sei, abzureisen, daß man Verräter aufgegriffen habe, daß die Bauern revoltierten und alle ausraubten, die wegfuhren, und so weiter und so weiter. Doch das erzählte man sich nur, in Wirklichkeit aber fühlten sowohl diejenigen, die wegfuhren, als auch die, welche dablieben, obgleich der Kriegsrat in Fili, auf dem die Preisgabe Moskaus beschlossen wurde, noch nicht stattgefunden hatte, daß Moskau, wenn man es auch nicht offen aussprach, doch unbedingt kapitulieren werde, und daß es deshalb nötig war, sich selber so bald wie möglich in Sicherheit zu bringen und seine Habe zu retten. Man fühlte, daß alles auf einmal anders werden und in Trümmer gehen mußte, doch bis zum 1. September blieb noch alles beim alten. Wie der Verbrecher, der zur Richtstatt geführt wird, weiß, daß er sogleich sterben muß, aber sich doch noch umschaut und die schief aufgesetzte Mütze geraderückt, so fuhr auch Moskau unwillkürlich in seinem Alltagsleben fort, obgleich es wußte, daß sein Untergang, bei dem alle Lebensbedingungen, an die man sich gewöhnt hatte, zusammenstürzen mußten, in allernächster Zeit bevorstand.
Während dieser drei Tage, die der Einnahme Moskaus vorangingen, waren alle Glieder der Familie Rostow mit verschiedenen Sorgen und Arbeiten beschäftigt. Das Haupt der Familie, Graf Ilja Andrejewitsch, fuhr dauernd in der Stadt umher, sammelte die von allen Seiten in Umlauf gesetzten Gerüchte und erteilte zu Hause nur allgemeine, oberflächliche und hastige Befehle für die Vorbereitungen zur Abreise.
Die Gräfin kümmerte sich ab und zu um das Einpacken der Sachen, war mit allem unzufrieden, lief beständig hinter Petja her, der vor ihr ausriß, war eifersüchtig auf Natascha, weil Petja die ganze Zeit bei ihr steckte. Sonja war die einzige, die die Sache praktisch in Angriff nahm: sie half beim Einpacken. Aber sie war in letzter Zeit besonders schwermütig und still gewesen. Nicolas’ Brief, in dem von seinem Zusammentreffen mit Prinzessin Marja die Rede war, hatte der Gräfin in ihrer Gegenwart die freudige Bemerkung entlockt: sie sähe in Nicolas’ Begegnung mit Prinzessin Marja eine Fügung des Himmels.
»Als Bolkonskij Nataschas Bräutigam war«, sagte die Gräfin, »habe ich mich nie so recht darüber gefreut; aber ich habe immer gewünscht und habe auch jetzt noch die Ahnung, daß Nikolenka die Prinzessin heiraten wird. Wie herrlich wäre das!«
Sonja fühlte, daß dies richtig war, daß nur Nikolajs Verheiratung mit einer reichen Frau den Rostowschen Finanzen wieder aufhelfen konnte, und wußte, daß Prinzessin Marja eine gute Partie war.
Obgleich ihr infolgedessen das Herz schwer war, oder vielleicht gerade deshalb, hatte sie die schwierige Aufgabe übernommen, die Sachen auszuwählen und einpacken zu lassen, und war von früh bis abends beschäftigt. Der Graf und die Gräfin wandten sich an sie, wenn sie etwas anzuordnen hatten.
Petja und Natascha dagegen brachten ihren Eltern nicht nur keine Hilfe, sondern störten meist nur und waren allen im Hause im Weg. Den ganzen Tag über hörte man ihr Hin- und Herlaufen, ihr Rufen und grundloses Lachen. Sie lachten und freuten sich nicht, weil sie einen Anlaß dazu hatten, sondern es war ihnen bloß froh und heiter zumute, und deshalb bot ihnen alles, was nur geschehen mochte, Veranlassung zu Heiterkeit und Gelächter. Petja war deshalb so heiter, weil er als Knabe vom Vaterhaus fortgegangen und nun – wie ihm alle sagten – als junger Herr zurückgekehrt war, freute sich, weil er zu Hause und Bjelaja Zerkow entronnen war, wo er keine Aussicht gehabt hatte, bald an einer Schlacht teilnehmen zu können, während in Moskau doch in den nächsten Tagen gekämpft werden mußte, und war hauptsächlich auch deshalb so heiter, weil Natascha lustig war, deren Stimmung er sich immer anpaßte.
Natascha aber war deshalb so froh gestimmt, weil sie zu lange Zeit traurig gewesen war, weil sie jetzt durch nichts an den Grund ihres Kummers erinnert wurde und gesund war. Und dann freute sie sich vor allem darüber, daß sie wieder einmal einen Menschen um sich hatte, der von ihr entzückt war – die Bewunderung anderer war das Öl für die Räder, das sie unumgänglich brauchte, damit sich die Maschine ihres Seins frei bewegen konnte. Und Petja war von ihr entzückt. Die Hauptsache aber, weswegen sie sich beide so freuten, war, daß sich der Krieg jetzt dicht vor Moskau abspielte, daß vor den Toren gekämpft werden und Waffen verteilt werden würden, daß alle davonliefen und irgendwohin fuhren, und daß überhaupt etwas Außergewöhnliches vor sich ging, worüber sich der Mensch immer zu freuen pflegt, besonders wenn er noch jung ist.
Am Sonnabend, dem 31. August, schien im Hause Rostow das Unterste zuoberst gekehrt zu sein. Alle Türen standen weit offen, alle Möbel waren hinausgetragen oder umgestellt und alle Spiegel und Bilder abgenommen. In den Zimmern standen Kisten mit Heu; Packpapier und Bindfaden lagen herum. Bauern und Hausgesinde, die die Sachen hinaustrugen, gingen mit schweren Schritten über das Parkett. Auf dem Hof standen dicht gedrängt die Bauernwagen; einige waren schon hoch beladen und verschnürt, andere noch leer.
Die Stimmen und Schritte der zahlreichen Dienerschaft und der mit den Fuhren in die Stadt gekommenen Bauern, die einander dieses und jenes zuriefen, hallten durch den Hof und das ganze Haus. Der Graf war am frühen Morgen irgendwohin gefahren. Die Gräfin, die vom Trubel und Lärm Kopfschmerzen bekommen hatte, lag, mit Essigumschlägen auf dem Kopf, im neuen Diwanzimmer. Petja war nicht zu Hause; er war zu einem Kameraden gegangen, mit dem er aus der Landwehr in die aktive Armee überzutreten beabsichtigte. Sonja beaufsichtigte im Saal das Einpacken des Kristalls und Porzellans. Natascha saß in ihrem ausgeräumten Zimmer auf dem Fußboden zwischen durcheinandergeworfenen Kleidern, Bändern und Schärpen und sah starr zu Boden, während sie ein altes Ballkleid in Händen hielt, dasselbe nun schon unmodern gewordene Kleid, in dem sie zum erstenmal in Petersburg auf dem Ball gewesen war.
Sie schämte sich ein bißchen, nichts im Hause zu tun, während alle so beschäftigt waren. Schon vom frühen Morgen an hatte sie versucht, sich an die Arbeit zu machen, aber diese Art der Beschäftigung lag ihr nicht. Sie vermochte und verstand nichts zu unternehmen, wo sie nicht mit ganzem Herzen und allen ihren Kräften dabei war. Sie hatte beim Einpacken des Porzellans hinter Sonja gestanden und ihr helfen wollen, hatte es aber dann bald wieder aufgegeben und war auf ihr Zimmer gegangen, um ihre eignen Sachen in Ordnung zu bringen. Anfänglich hatte es ihr Spaß gemacht, ihre Kleider und Bänder unter die Zimmermädchen zu verteilen, dann aber, als der Rest nun wirklich eingepackt werden mußte, war ihr die Sache wieder langweilig geworden.
»Dunjascha, liebste, beste Dunjascha, du packst doch die Sachen ein, nicht wahr, nicht wahr?« Und als ihr Dunjascha versprochen hatte, alles zu besorgen, hatte sich Natascha auf den Fußboden gesetzt, ihr altes Ballkleid in die Hand genommen und durchaus nicht mehr an das gedacht, was jetzt ihre Gedanken hätte beschäftigen müssen.
Ein plötzliches, lebhaftes Schwatzen der Zofen im anstoßenden Mädchenzimmer und das Geräusch eiliger Schritte nach der Hintertreppe zu weckten Natascha aus ihrer Versunkenheit. Sie stand auf und sah zum Fenster hinaus. Auf der Straße stand ein langer Wagenzug mit Verwundeten.
Die Zofen, die Diener, die Haushälterin, die Kinderfrau, die Köche, die Kutscher, die Reitknechte, die Küchenjungen – sie alle standen am Tor und betrachteten die Verwundeten.
Natascha legte ein weißes Taschentuch übers Haar, hielt es an beiden Zipfeln fest und lief ebenfalls auf die Straße hinunter.
Die frühere Wirtschafterin der Rostows, die alte Mawra Kusminitsdma, trat aus der Menge, die vor dem Tor stand, ging auf einen Bauernwagen mit einer Matte als Verdeck zu und sprach mit dem jungen, bleichen Offizier, der darin lag. Natascha lief ein paar Schritte näher, blieb aber dann schüchtern stehen, indem sie immer noch das Taschentuch über den Kopf hielt, und lauschte auf das, was die Wirtschafterin sagte.
»Sie haben also niemanden hier in Moskau?« fragte Mawra Kusminitschna. »Aber es wäre doch ruhiger für Sie in einem Privathaus … Bleiben Sie doch gleich hier bei uns. Die Herrschaft reist ab.«
»Ich weiß nicht, ob das erlaubt ist«, erwiderte der Offizier mit schwacher Stimme. »Dort ist der Leiter des Transportes, fragen Sie den.« Und er zeigte auf einen dicken Major, der am Zug der Wagen entlang von unten die Straße zurückkam.
Natascha blickte dem verwundeten Offizier mit erschrockenen Augen ins Gesicht und lief gleich auf den Major zu.
»Dürfen von den Verwundeten einige in unserem Hause bleiben?« fragte sie.
Der Major legte lächelnd die Hand an den Mützenschirm.
»Welchen möchten Sie denn gern, Mamsell?« fragte er, kniff die Augen zusammen und lächelte.
Natascha wiederholte ruhig ihre Frage, und ihr Gesicht und ihre ganze Art war, obgleich sie immer noch das Taschentuch an den Zipfeln über ihren Kopf hielt, doch so ernst und bestimmt, daß der Major zu lächeln aufhörte, erst ein wenig nachdachte, als frage er sich, bis zu welchem Grad dies zu ermöglichen sei, ihr aber dann doch eine zustimmende Antwort gab.
»O ja, warum nicht? Das ginge schon«, sagte er.
Natascha nickte leicht und kehrte mit schnellen Schritten zu Mawra Kusminitschna zurück, die neben dem Offizier stehen geblieben war und mit wehleidiger Teilnahme auf ihn einredete.
»Es geht, er hat gesagt, es ginge!« flüsterte Natascha.
Der Offizier in seiner Kibitka bog in den Hof der Rostows ein, und gleich darauf fuhren auf die Einladung der Stadtbewohner hin Dutzende von Wagen mit Verwundeten in die Höfe und Torwege der Nachbarhäuser in der Powarskaja.
Natascha fand an diesen außerhalb der sonstigen Lebensgewohnheiten liegenden Beziehungen zu fremden Menschen sichtliches Vergnügen. Mit Mawra Kusminitschna zusammen bemühte sie sich, möglichst viele Verwundete in ihren Hof aufzunehmen.
»Wir müssen es aber doch dem Papa sagen«, meinte Mawra Kusminitschna.
»Nicht doch, nicht doch. Ist denn nicht alles gleich? Für den einen Tag ziehen wir in den Salon. Unsere Hälfte können wir ihnen überlassen.«
»Aber wo denken Sie hin, gnädiges Fräulein! Auch wenn wir sie im Seitenflügel, in den Fremdenzimmern und Gesindestuben unterbringen, so müssen wir doch auf jeden Fall fragen.«
»Nun, dann frage ich eben.«
Natascha lief ins Haus, schlich auf den Zehen durch die halbgeöffnete Tür ins Diwanzimmer, wo es nach Essig und Hoffmannstropfen roch.
»Schlafen Sie, Mama?«
»Wie könnte ich wohl schlafen?« erwiderte die Gräfin, die soeben eingeschlummert war und nun aufwachte.
»Liebste, beste Mama«, rief Natascha, ließ sich neben der Mutter auf die Knie nieder und näherte ihr Gesicht dem ihrigen. »Seien Sie mir nicht böse, verzeihen Sie, ich will es nicht wieder tun; ich habe Sie geweckt. Mawra Kusminitschna hat mich geschickt, man hat Verwundete gebracht, Offiziere. Sie erlauben es doch? Sie wissen nicht wohin … ich weiß, Sie werden es erlauben …« sagte sie hastig, ohne Atem zu holen.
»Was denn für Offiziere? Wen hat man gebracht? Ich verstehe dich nicht«, sagte die Gräfin.
Natascha lachte, und auch die Gräfin lächelte schwach.
»Ich weiß doch, daß Sie es erlauben … so werde ich es denen auch sagen.«
Und Natascha küßte ihre Mutter, stand auf und lief aus der Tür.
Im Saal stieß sie auf ihren Vater, der mit schlechten Nachrichten nach Hause zurückkehrte.
»Da sind wir nun solange hier sitzengeblieben«, sagte der Graf unwillkürlich ärgerlich. »Und nun ist der Klub geschlossen, und die Polizei rückt ab.«
»Papa, du hast doch nichts dagegen, daß ich Verwundete in unser Haus aufgenommen habe?« fragte ihn Natascha.
»Selbstverständlich, gar nichts«, erwiderte der Graf zerstreut. »Doch das ist Nebensache. Ich bitte mir aus, daß ihr euch jetzt nicht mit solchen Kinkerlitzchen abgebt, sondern beim Einpacken helft, damit wir reisen, reisen, morgen reisen können …«
Denselben Befehl erteilte der Graf dem Haushofmeister und allen seinen Leuten.
Gegen Mittag kehrte auch Petja zurück und erzählte bei Tisch, was er Neues erfahren hatte. Er behauptete, man habe heute im Kreml Waffen an das Volk verteilt, in Rastoptschins Flugblatt sei zwar gesagt, es werde zwei Tage vorher ein Aufruf ergehen, aber es sei doch die feste Bestimmung getroffen worden, daß morgen alles Volk in Waffen auf die Drei Berge ziehen solle, wo dann eine große Schlacht stattfinden werde.
Während er dies erzählte, betrachtete die Gräfin mit scheuem Entsetzen das heitere, begeisterte Gesicht ihres Sohnes. Sie wußte, daß, wenn sie nur ein Wort verlauten ließe, um Petja zu bitten, nicht in diese Schlacht zu ziehen – sie sah ja, wie er sich auf den bevorstehenden Kampf freute –, er etwas von Mannesehre oder Vaterland erwidern werde, etwas Sinnloses, Männliches, Widerspenstiges, auf das sie nichts entgegnen könnte, und daß dann die ganze Sache verfahren wäre. Und deshalb sagte sie in der Hoffnung, es so einrichten zu können, daß sie noch vorher abführen und Petja als Schützer und Begleiter mitnähmen, kein Wort zu ihm, ließ aber nach Tisch den Grafen zu sich rufen und beschwor ihn unter Tränen, sie so bald wie möglich von hier fortzuführen, noch diese Nacht, wenn es irgend ginge. Mit jener unwillkürlichen List, die die Liebe den Frauen eingibt, behauptete sie, die bis jetzt nie Furcht an den Tag gelegt hatte, daß sie vor Angst umkommen werde, wenn sie nicht noch heute nacht abführen. Und wirklich fürchtete sie jetzt, ohne zu übertreiben, das Schlimmste.
Madame Schoß, die ihre Tochter besucht hatte, vermehrte die Angst der Gräfin noch dadurch, daß sie erzählte, was sie bei einem Branntweinladen in der Mjasnizkaja mit angesehen hatte. Als sie nämlich auf dem Rückweg durch diese Straße gekommen war, hatte sie wegen einer betrunkenen Volksmenge, die vor dem Laden herumkrakeelte, nicht an dem Haus vorbeigehen können. Sie hatte einen Wagen genommen und war durch ein Nebengäßchen nach Hause gefahren, und der Kutscher hatte ihr erzählt, das Volk habe in dem Branntweinladen die Fässer zerschlagen, dies sei so befohlen worden.
Nach dem Mittagessen machten sich alle im Hause Rostow mit hastigem Eifer daran, die Sachen einzupacken und alle Vorbereitungen zur Reise zu treffen. Der alte Graf nahm sich auf einmal der Sache an, lief nach dem Mittagessen ununterbrochen vom Haus in den Hof und vom Hof wieder ins Haus zurück und schrie wie ein Wahnsinniger auf die hastenden Leute ein, um sie zu noch größerer Eile anzutreiben. Petja kommandierte auf dem Hof. Sonja wußte unter der Auswirkung der sich widersprechenden Befehle des Grafen gar nicht mehr, was sie tun sollte, und hatte ganz und gar den Kopf verloren. Schreiend, zankend und lärmend liefen die Leute durch die Zimmer und den Hof.
Natascha hatte sich mit der ihr eigenen Leidenschaftlichkeit plötzlich an die Arbeit gemacht. Anfangs kam man ihrer Einmischung in die Geschäfte des Einpackens mit einigem Mißtrauen entgegen. Jeder glaubte, daß sie Spaß mache, und keiner wollte auf sie hören, aber sie erzwang sich den Gehorsam mit Hartnäckigkeit und Leidenschaftlichkeit, wurde böse, fing beinahe an zu weinen, wenn man ihr nicht gehorchte, und erreichte dadurch, daß man sie ernst nahm.
Ihre erste Heldentat, die sie große Mühe kostete, aber auch den Grund zu ihrem Ansehen und ihrer Macht legte, war das Einpacken der Teppiche. Der Graf hatte in seinem Haus kostbare Gobelins und Perserteppiche. Als sich Natascha an die Arbeit machte, standen im Saal zwei offene Kisten: die eine war fast bis oben mit Porzellan vollgepackt, die andere mit Teppichen. Rings auf den Tischen stand noch viel Porzellan herum, und aus den Vorratskammern schleppte man immer noch mehr herbei. Man mußte mit einer neuen, dritten Kiste anfangen, und um diese zu holen, waren die Leute hinausgegangen.
»Warte mal, Sonja, vielleicht bekommen wir es auch so hinein«, sagte Natascha.
»Unmöglich, gnädiges Fräulein, wir haben es schon versucht«, entgegnete der Büfettdiener.
»Nein, wartet mal, bitte!«
Und Natascha fing an, die in Papier gewickelten Schüsseln und Teller aus der Kiste herauszuziehen.
»Die Schüsseln kommen hierhin, zwischen die Teppiche«, sagte sie.
»Wir wollen Gott danken, wenn wir nur die Teppiche allein in drei Kisten unterbringen«, meinte der Büfettdiener.
»Halt, wartet mal, bitte!« Natascha traf rasch und geschickt eine Auswahl. »Die brauchen nicht mit«, sagte sie von den Kiewer Tellern.
»Das, ja, das kommt zwischen die Teppiche«, dabei zeigte sie auf das Meißner Porzellan.
»Laß es doch gut sein, Natascha, wir werden es schon einpacken«, sagte Sonja vorwurfsvoll.
»Ja, ja, gnädiges Fräulein«, bestätigte der Haushofmeister.
Aber Natascha gab nicht nach, packte alle Sachen aus und fing dann rasch an, sie wieder einzupacken, wobei sie entschied, daß die schlechten Hausteppiche und das überflüssige Geschirr überhaupt nicht mitgenommen werden sollten. Und tatsächlich, nachdem man fast alle weniger kostbaren Sachen, die gar nicht des Mitnehmens wert waren, beiseitegelegt hatte, fand alles in den beiden Kisten Platz. Nur der Deckel der Teppichkiste wollte nicht zugehen. Man hätte noch etwas herausnehmen können, aber das wollte Natascha nicht. Sie packte noch einmal alles um, preßte es eng zusammen, ließ den Büfettdiener und Petja, den sie zu ihrer Hilfe beim Packen herangezogen hatte, gegen den Deckel drücken und machte selber die verzweifeltsten Anstrengungen.
»Laß es doch gut sein, Natascha«, sagte Sonja zu ihr. »Ich sehe ja, du hast recht, aber nimm doch den obersten heraus.«
»Das will ich eben nicht«, schrie Natascha, mit der einen Hand das aufgelöste Haar aus der schweißbedeckten Stirn streichend und mit der anderen die Teppiche zusammenpressend. »So drücke doch, Petja, drücke doch! Wassiljewitsch, feste drücken!« schrie sie.
Die Teppiche gaben nach, und der Deckel ging zu. Natascha klatschte in die Hände, juchzte vor Freude, und Tränen traten ihr in die Augen. Aber das dauerte nur einen Augenblick. Sogleich machte sie sich an eine andere Arbeit, und nun hatte man volles Vertrauen zu ihr. Der Graf wurde nicht böse, wenn man ihm sagte, daß Natalja Iljinitschna seine Befehle abgeändert habe; und das Hausgesinde kam zu Natascha und fragte, ob sie die Fuhren verschnüren sollten oder nicht, und ob sie hoch genug aufgeladen hätten. Dank Nataschas Anordnungen ging die Arbeit nun endlich vonstatten, alles Überflüssige wurde zurückgelassen und alles Wertvolle möglichst eng zusammengepackt.
Aber so sehr sich auch alle Leute beeilten, so konnte doch bis spät in die Nacht hinein noch nicht alles fertig eingepackt werden. Die Gräfin schlummerte ein, und der Graf verschob die Abreise bis zum nächsten Morgen und ging ebenfalls schlafen.
Sonja und Natascha schliefen, ohne sich ausgekleidet zu haben, im Diwanzimmer.
In der Nacht kam noch ein Verwundeter durch die Powarskaja gefahren, und Mawra Kusminitschna, die am Tor stand, ließ ihn bei den Rostows einbiegen. Dieser Verwundete war, wie Mawra Kusminitschna glaubte, ein Mann von hohem Ansehen. Man fuhr ihn in einer Kalesche mit hochgeschlagenem Verdeck und völlig geschlossenem Vorderleder. Auf dem Bock saß neben dem Kutscher ein alter, würdiger Kammerdiener. Hinter dem Wagen her fuhren ein Arzt und zwei Soldaten.
»Kommen Sie doch bitte zu uns, bitte kommen Sie nur. Die Herrschaft reist ab, das ganze Haus ist leer«, sagte die Wirtschafterin zu dem alten Diener.
»Was tun?« erwiderte der Kammerdiener und seufzte. »Wir werden ihn kaum hinbringen. Wir haben nämlich unser eignes Haus in Moskau, aber das ist noch weit, und es wohnt jetzt auch niemand drin.«
»Aber dann kommen Sie doch bitte zu uns, bei unserer Herrschaft ist alles in Hülle und Fülle. Bitte kommen Sie nur«, sagte Mawra Kusminitschna. »Er ist wohl sehr krank?« fügte sie hinzu.
Der Kammerdiener machte eine trostlose Handbewegung.
»Wir hoffen kaum, ihn noch lebend heimzubringen. Aber ich muß erst den Arzt fragen.«
Der Kammerdiener stieg vom Bock und ging auf den anderen Wagen zu.
»Schön«, sagte der Arzt.
Der Diener ging wieder zu der Kalesche zurück, warf einen Blick hinein, wiegte bedenklich das Haupt, befahl dem Kutscher, in den Hof einzubiegen, und blieb neben Mawra Kusminitschna stehen.
»Herr Jesus Christus!« murmelte sie.
Mawra Kusminitschna schlug vor, den Verwundeten ins Haus zu schaffen.
»Die Herrschaft wird nichts dagegen haben …« meinte sie.
Doch den Schwerkranken eine Treppe hinaufzutragen, mußte umgangen werden, und deshalb schaffte man ihn in den Seitenflügel und legte ihn in das ehemalige Zimmer der Madame Schoß.
Es war Fürst Andrej Bolkonskij.
Moskaus letzter Tag brach an. Es war ein Sonntag und klares, heiteres Herbstwetter. Wie alle Sonntage, so läuteten auch heute alle Kirchen zur Messe. Es schien, als könne noch niemand begreifen, welches Schicksal der Stadt drohte. Nur zwei Anzeichen im öffentlichen Leben kündeten die Lage, in der sich Moskau befand: die Zusammenrottung der ärmeren Bevölkerung und die Preise verschiedener Gegenstände.
Gewaltige Scharen von Arbeitern, Hofleuten und Bauern, unter die sich Beamte, Seminaristen und Adlige mischten, waren frühmorgens auf die Drei Berge gestiegen. Nachdem sie eine Weile dort gestanden und auf Rastoptschin gewartet hatten, waren sie zu der Überzeugung gelangt, daß Moskau doch kapitulieren werde, und hatten sich in den Speisehäusern und Gaststätten Moskaus zerstreut.
Das zweite Anzeichen, das an diesem Tag auf die Lage der Dinge hinwies, war der veränderte Wert aller Gegenstände. Die Preise für Waffen, Gold, Wagen und Pferde stiegen immer höher, während der Wert des Papiergeldes und aller Luxusgegenstände immer mehr sank, so daß gegen Mittag Fälle eintraten, wo Fuhrleute, die kostbare Waren, wie Tuche, aus der Stadt hinausfuhren, mit der Hälfte des Wertes ihrer Ladung bezahlt wurden, und man für ein Bauernpferd fünfhundert Rubel bot, während man Möbel, Spiegel und Bronzen umsonst hingab.
In dem alten, stillen Rostowschen Hause trat dieser Zerfall der bisherigen Lebensbedingungen nur sehr schwach zutage: bei den Leuten nur darin, daß von dem gewaltigen Bedientenheer in der Nacht drei Mann verschwanden, ohne jedoch etwas gestohlen zu haben, bei den Preisen darin, daß die von den Gütern eingetroffenen dreißig Fuhren einen gewaltigen Reichtum darstellten, um den viele die Rostows beneideten. Und nicht nur, daß man ihnen enorme Summen dafür bot, es kamen auch bereits am Abend und dann am 1. September in aller Frühe die von den verwundeten Offizieren abgesandten Burschen und Diener auf den Rostowschen Hof, oder die in den Nachbarhäusern untergebrachten Verwundeten schleppten sich gar selber herbei und bestürmten die Rostowsche Dienerschaft, ein Wort für sie einzulegen, damit ihnen die Rostows einen Wagen zum Wegfahren aus Moskau überließen. Der Haushofmeister, an den man sich mit solchen Bitten wandte, schlug dies allen rundweg ab, obgleich ihm die Verwundeten leid taten, und sagte, er wage nicht einmal, dies dem Grafen zu melden. Wie sehr er auch die zurückbleibenden Verwundeten bedauerte, so war es doch klar, daß, wenn er einem eine Fuhre hingab, er die zweite einem andern nicht verweigern konnte, und auf diese Art schließlich alle, auch die Equipagen der Herrschaft, hätte hingeben müssen. Mit dreißig Fuhren konnten aber unmöglich alle Verwundeten in Sicherheit gebracht werden, und in der allgemeinen Not mußte man doch auch an sich und seine Familie denken. So dachte der Haushofmeister für seinen Herrn.
Als Graf Ilja Andrejewitsch am Morgen des 1. September aufwachte, schlich er leise aus dem Schlafzimmer, um die Gräfin, die erst gegen Morgen eingeschlummert war, nicht zu wecken, und trat in seinem lilaseidenen Schlafrock auf die Freitreppe hinaus. Die verschnürten Fuhren standen auf dem Hof; vor der Freitreppe hielten die Equipagen. Am Torweg stand der Haushofmeister und sprach mit einem alten Burschen und einem jungen, bleichen Offizier, der den Arm in der Binde trug. Als der Haushofmeister den Grafen sah, machte er dem Offizier und dem Burschen ein bedeutsames, strenges Zeichen, damit sie sich entfernen sollten.
»Nun, wie steht’s? Ist alles bereit, Wassiljewitsch?« fragte der Graf, fuhr sich mit der Hand über die Glatze, sah den Offizier und den Burschen gutmütig an und nickte ihnen zu. Fremde Gesichter mochte der Graf immer gern.
»Es kann sofort angespannt werden, Euer Erlaucht.«
»Nun schön, ausgezeichnet! Sobald die Gräfin aufwacht, dann mit Gott! Was wünschen Sie denn, mein Herr?« wandte er sich an den Offizier. »Wohnen Sie bei mir im Hause?«
Der Offizier trat näher heran. Über sein bleiches Gesicht flammte plötzlich eine grelle Röte.
»Graf, seien Sie so gut, erlauben Sie mir … um Gottes willen … irgendwo auf Ihren Fuhren unterzuschlüpfen. Ich habe nichts bei mir … Ich könnte auf irgendeinem Packwagen … das ist ganz gleich …«
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sich der Bursche mit derselben Bitte für seinen Herrn an den Grafen wandte.
»Ach ja, ja, ja«, erwiderte der Graf eilig. »Freue mich sehr, freue mich sehr. Wassiljewitsch, du nimmst das wohl in die Hand. Mach dort einen Bauernwagen leer oder auch zwei … nun dort … du wirst schon sehen, was nötig ist …« sagte der Graf, seinen Befehl wie immer höchst unbestimmt ausdrückend.
Aber in diesem Augenblick machte schon der Ausdruck glühender Dankbarkeit auf dem Gesicht des Offiziers das, was der Graf befohlen hatte, unumstößlich. Ilja Andrejewitsch sah sich um: auf dem Hof, im Torweg, an den Fenstern des Seitenflügels, überall sah er Verwundete und Burschen. Sie alle blickten den Grafen an und kamen auf die Freitreppe zu.
»Darf ich Euer Erlaucht auf die Galerie bitten? Wie befehlen Sie dort hinsichtlich der Bilder?« fragte der Haushofmeister.
Der Graf ging mit ihm zusammen ins Haus und wiederholte seinen Befehl, die Verwundeten nicht abzuweisen, die darum bäten, mitfahren zu dürfen.
»Warum auch nicht? Man kann doch etwas abladen«, fügte er mit leiser, geheimnisvoller Stimme hinzu, als fürchte er, daß jemand ihn hören könne.
Gegen neun Uhr wachte die Gräfin auf, und ihre frühere Zofe, Matrona Timofjejewna, die jetzt bei der Gräfin das Amt eines Polizeichefs innehatte, kam, um ihrer ehemaligen Herrin zu melden, daß Marja Karlowna höchst beleidigt sei, und daß man die Sommerkleider der jungen Damen unmöglich hierlassen dürfe. Auf die Kreuzund Querfragen der Gräfin, warum Madame Schoß denn beleidigt sei, kam zutage, daß man ihren Koffer wieder abgeladen und alle Fuhren aufgeschnürt habe, um Sachen herunterzunehmen und Verwundete aufsitzen zu lassen, die der Graf in seiner Gutmütigkeit mitzunehmen befohlen habe.
Die Gräfin ließ ihren Mann zu sich bitten.
»Was soll denn das bedeuten, lieber Freund: soeben höre ich, daß die Sachen wieder abgeladen werden?«
»Siehst du, ma chère, gerade wollte ich es dir sagen … meine liebe kleine Frau … Da kam heute ein Offizier zu mir … sie wollen gern, daß ich ihnen ein paar Fuhren für die Verwundeten gebe. Sieh mal, der Plunder läßt sich doch wieder ersetzen, aber wenn sie nun zurückbleiben müßten, stelle dir das einmal vor …! Wir haben da Offiziere auf unserem Hof, die wir noch dazu selber eingeladen haben … Weißt du, ich glaube wirklich, ma chère … siehst du, ma chère … laß sie doch mitfahren … solche Eile haben wir doch nicht?«
Der Graf sagte dies so schüchtern, wie er immer zu sprechen pflegte, wenn es sich um Geldsachen handelte. Die Gräfin kannte diesen Ton recht gut, der immer den Auftakt zu Sachen bildete, die den Ruin ihrer Kinder herbeiführen mußten: wie zum Bau einer Galerie oder eines Gewächshauses, zur Errichtung eines Haustheaters oder einer Hauskapelle. Sie war schon daran gewöhnt und hielt es für ihre Pflicht, sich stets gegen das aufzulehnen, was ihr in diesem schüchternen Ton vorgebracht wurde.
Sie setzte eine weinerlich ergebene Miene auf und sagte zu ihrem Mann: »Höre, Graf, du hast es schon so weit gebracht, daß wir für unser Haus nichts bekommen, und nun willst du auch noch unsere andere Habe, das Gut unserer Kinder, verschleudern. Du hast doch selber gesagt, daß ein Wert von hunderttausend Rubeln in diesen Sachen steckt. Ich bin damit nicht einverstanden, mein Freund, durchaus nicht. Aber du hast ja zu befehlen! Für die Verwundeten ist die Regierung da. Die wird schon einen Ausweg wissen. Siehst du, drüben bei Lopuchins ist schon vorgestern alles, aber rein alles fortgeschafft worden. So machen es andere Leute. Nur wir sind die Dummen. Wenn du dich meiner nicht erbarmst, so solltest du wenigstens Mitleid mit deinen Kindern haben.«
Der Graf winkte nur mit der Hand ab und ging, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Zimmer.
»Papa, worüber spracht ihr denn?« fragte Natascha, die nach ihm in das Zimmer ihrer Mutter getreten war.
»Nichts. Das geht dich nichts an«, brummte der Graf ärgerlich.
»Aber ich habe es doch gehört«, sagte Natascha. »Warum will denn Mama nicht?«
»Das geht dich nichts an!« schrie der Graf.
Natascha lief ans Fenster und dachte nach.
»Papachen, eben kommt Berg zu uns«, rief Natascha, während sie zum Fenster hinaussah.
Berg, der Schwiegersohn der Rostows, war nun schon Oberst mit dem Wladimir- und dem Anna-Orden am Hals, und versah noch immer den ebenso ruhigen wie angenehmen Posten eines Hilfsarbeiters des stellvertretenden Chefs des Stabes der ersten Abteilung des zweiten Armeekorps.
Am 1. September war er von der Armee nach Moskau gekommen. Zu tun gab es hier in der Stadt nichts, aber er hatte die Beobachtung gemacht, daß sich alle Urlaub nach Moskau nahmen und dort irgend etwas taten. So hielt er es ebenfalls für nötig, wegen Haus- und Familienangelegenheiten Urlaub zu erbitten.
In seiner tadellosen Kutsche, bespannt mit zwei wohlgenährten Rotschimmeln, ebensolchen, wie sie Graf Soundso zu fahren pflegte, fuhr Berg vor dem Hause seines Schwiegervaters vor. Aufmerksam betrachtete er die Fuhren auf dem Hof, zog, während er die Freitreppe hinaufstieg, ein blendend weißes Taschentuch aus der Tasche und machte einen Knoten hinein.
Aus dem Vorzimmer eilte Berg mit schwebenden, hastigen Schritten in den Salon, umarmte den Grafen, küßte Natascha und Sonja die Hand und erkundigte sich unverzüglich nach dem Befinden der Mama.
»Wie könnte sie jetzt gesund sein! Aber erzähle doch«, sagte der Graf, »wie steht’s bei der Armee? Gehen die Truppen zurück oder wird es noch zu einer Schlacht kommen?«
»Nur der allewige Gott, Papa«, sagte Berg, »kann das Schicksal des Vaterlandes entscheiden. Die Armee ist von Heldenmut entflammt, und jetzt haben sich die führenden Geister, sozusagen, zu einem Rate versammelt. Was geschehen wird, weiß niemand. Aber ich kann Ihnen ganz im allgemeinen sagen, Papa: ein solcher Heldenmut, eine solch wahrhaft antike Manneszucht im russischen Heer, wie sie … es«, verbesserte er sich, »in den Kämpfen am 26. an den Tag gelegt und bewiesen hat, ist nicht mit Worten zu beschreiben … Ich sage Ihnen, Papa« – dabei schlug er sich vor die Brust, wie es neulich in seiner Gegenwart ein General beim Erzählen getan hatte, allerdings etwas zu spät: er hätte sich schon bei den Worten: »im russischen Heer« vor die Brust schlagen müssen –, »ich sage Ihnen ganz offen, daß wir, die Führer, die Soldaten nicht nur nicht anzufeuern brauchten oder so etwas Ähnliches, sondern sogar Mühe hatten, alle diese … diese mutigen, antiken Heldentaten einzudämmen«, fuhr er in schneller Rede fort. »General Barclay de Tolly hat an der Spitze der Truppen überall sein eignes Leben aufs Spiel gesetzt, das kann ich Ihnen sagen. Unser Korps lag am Abhang eines Berges. Stellen Sie sich das bloß vor …«
Und nun gab Berg alles wieder, was er sich von den verschiedenen Erzählungen, die er seitdem gehört, gemerkt hatte. Natascha sah ihn an, ohne ein Auge von ihm zu verwenden, als suche sie auf seinem Gesicht die Lösung irgendeiner Frage, was Berg etwas in Verwirrung brachte.
»Ganz allgemein gesagt, einen solchen Heldenmut, wie ihn die russischen Truppen gezeigt haben, kann man sich gar nicht vorstellen, und man kann ihn gar nicht würdig genug preisen!« sagte Berg, sah Natascha an und lächelte ihr als Antwort auf ihren hartnäckigen Blick zu, als wollte er sie damit gewinnen.
»Rußland ist nicht in Moskau, es ist im Herzen seiner Söhne! Nicht wahr, Papa?« sagte Berg.
In diesem Augenblick kam mit müdem, unzufriedenem Gesicht die Gräfin aus dem Diwanzimmer herüber. Berg sprang eilig auf, küßte ihr die Hand, erkundigte sich nach ihrem Befinden und blieb neben ihr stehen, indem er sein Mitgefühl durch Hinundherwiegen des Kopfes zum Ausdruck brachte.
»Ja, Mamachen, ich sage es Ihnen ganz offen, es sind schwere, traurige Zeiten für jeden Russen. Aber warum beunruhigen Sie sich so? Noch können Sie ja wegfahren …«
»Ich verstehe gar nicht, was unsere Leute eigentlich machen«, wandte sich die Gräfin an ihren Mann. »Soeben sagt man mir, daß noch nichts fertig ist. Jemand müßte doch hier Anordnungen treffen. Schade, daß Mitenka nicht da ist. So kommen wir ja niemals zum Ziel.«
Der Graf wollte etwas erwidern, schluckte es aber sichtlich hinunter. Er stand von seinem Stuhl auf und ging zur Tür.
In diesem Augenblick zog Berg, um sich zu schneuzen, sein Taschentuch heraus, sah den Knoten darin, dachte nach und wiegte ernst und bedeutsam den Kopf.
»Ich habe eine große Bitte an Sie, Papachen«, fing er an.
»Hm?« machte der Graf und blieb stehen.
»Ich fahre soeben am Jusupowschen Hause vorüber«, sagte Berg lachend, »da kommt der Verwalter, ein Bekannter von mir, auf mich zugelaufen und fragt: ›Kaufen Sie nicht etwas?‹ Ich gehe hinein, nur aus Neugierde, und sehe dort einen kleinen, reizenden Toilettentisch. Nun wissen Sie ja, daß ein solcher schon lange Weras sehnlichster Wunsch ist und wir uns beinahe einmal deswegen gezankt haben.« Als Berg von dem Toilettetischchen zu erzählen anfing, ging er bei dem Gedanken an sein musterhaft eingerichtetes Heim unwillkürlich in einen freudigeren, lebhafteren Ton über. »Ein entzückendes Stück! Zum Herausziehen und mit einem englischen Geheimfach. Und Werotschka wünscht sich solch ein Ding schon so lange. Wie gern möchte ich ihr die Freude bereiten. Nun sehe ich, daß Sie eine Menge Bauern auf dem Hof haben. Geben Sie mir doch bitte einen, ich werde es ihm gut bezahlen und …«
Der Graf zog die Stirn kraus und räusperte sich.
»Wenden Sie sich an die Gräfin, ich habe nicht darüber zu verfügen.«
»Sollte es Schwierigkeiten machen, dann natürlich nicht«, fuhr Berg fort. »Ich hätte es nur wegen Weruschka so gern gehabt.«
»Ach, schert euch alle zum Teufel, zum Teufel!« schrie der alte Graf. »Mir dreht sich alles im Kopf!«
Er ging aus dem Zimmer. Die Gräfin fing an zu weinen.
»Ja, ja, Mamachen, eine sehr schwere Zeit«, sagte Berg.
Natascha lief mit dem Vater zusammen hinaus, ging anfangs, als überlege sie sich mit Mühe etwas, hinter ihm her, lief aber dann hinunter.
Auf der Freitreppe stand Petja, der mit der Bewaffnung der Leute, die mit aus Moskau abfahren sollten, beschäftigt war. Auf dem Hof warteten noch immer die bepackten Fuhren. Zwei von ihnen waren abgeladen, und von der einen kletterte gerade, von seinem Burschen unterstützt, der verwundete Offizier wieder herunter.
»Weißt du warum?« fragte Petja Natascha.
Natascha verstand, was Petja meinte: warum sich Vater und Mutter gezankt hätten. Sie gab keine Antwort.
»Weil Papa alle Fuhren den Verwundeten hat geben wollen«, sagte Petja. »Wassiljewitsch hat es mir erzählt. Meiner Ansicht nach …«
»Meiner Ansicht nach«, fing Natascha an fast zu schreien und wandte Petja ihr zornglühendes Gesicht zu, »meiner Ansicht nach ist das eine solche Gemeinheit, eine solche Abscheulichkeit, eine solche … ich weiß gar kein Wort dafür. Sind wir vielleicht Deutsche oder sonst wer?«
Ihre Kehle zitterte von krampfhaftem Schluchzen, und als habe sie Angst, sich hinreißen und ihren ganzen Zorn umsonst verpuffen zu lassen, machte sie eilig kehrt und stürmte die Treppe hinauf.
Berg saß neben der Gräfin und sprach ihr verwandtschaftlich ergeben Trost zu. Der Graf ging mit der Pfeife in der Hand im Zimmer auf und ab, als Natascha mit zornverzerrtem Gesicht wie der Sturmwind ins Zimmer platzte und mit eiligen Schritten auf die Mutter zulief.
»Das ist eine Gemeinheit, eine Abscheulichkeit!« schrie sie. »Das kann nicht sein, daß Sie das befohlen haben.«
Berg und die Gräfin blickten sie verwundert und erschrocken an. Der Graf blieb am Fenster stehen und stutzte.
»Mamachen, das geht doch nicht. Sehen Sie nur, was auf dem Hof vorgeht!« rief sie. »Sie sollen hier bleiben!«
»Was hast du denn? Wer soll denn hier bleiben? Was willst du?«
»Die Verwundeten meine ich! Das geht nicht, Mamachen, das wäre unerhört … Nein, liebste, beste Mama, das ist unmöglich … seien Sie mir nicht böse, bitte, beste Mama … Was haben wir davon, wenn wir den Plunder mitnehmen? Sehen Sie nur, wie sie auf dem Hof … Mamachen … Das kann nicht sein!«
Der Graf stand am Fenster und hörte, ohne das Gesicht umzuwenden, Nataschas Worten zu. Plötzlich schnaufte er durch die Nase und drehte sein Gesicht ganz dem Fenster zu.
Die Gräfin warf einen Blick auf ihre Tochter, sah, wie sich diese für ihre Mutter schämte, sah ihre Aufregung und verstand, warum ihr Mann sie jetzt nicht anblickte. Mit verlegener Miene schaute sie sich um.
»Ach, so macht doch, was ihr wollt! Habe ich vielleicht jemand gehindert?« sagte sie, um doch nicht gleich klein beizugeben.
»Mamachen, liebstes, bestes Mamachen, verzeihen Sie mir!«
Aber die Gräfin stieß die Tochter zurück und ging auf den Grafen zu.
»Mon cher, ordne du an, was nötig ist … Ich verstehe das doch nicht …« sagte sie und schlug schuldbewußt die Augen nieder.
»Das Ei … das Ei ist klüger als die Henne«, murmelte der Graf unter Freudentränen und umarmte seine Frau, die froh war, ihr beschämtes Gesicht an seiner Brust verbergen zu können.
»Papachen, Mamachen! Darf ich die Anordnungen treffen? Darf ich?« fragte Natascha. »Wir werden trotzdem alles Nötige mitnehmen«, fügte sie hinzu.
Der Graf nickte zustimmend, und Natascha rannte ebenso leichtfüßig, wie sie früher beim Haschenspielen gelaufen war, durch den Saal ins Vorzimmer und die Treppe hinab in den Hof.
Die Leute scharten sich um Natascha, wollten aber dem sonderbaren Befehl, den sie übermittelte, so lange keinen Glauben schenken, bis ihn der Graf selber im Namen seiner Frau bestätigte: nämlich daß alle Fuhren den Verwundeten überlassen und alle Kisten wieder in die Vorratsräume geschafft werden sollten. Doch als sie dann den Befehl verstanden hatten, machten sich die Leute doppelt freudig und eifrig an die neue Arbeit. Der Dienerschaft kam dies durchaus nicht seltsam vor, sondern ihr schien sogar, als müsse das so sein, genauso, wie es ihr vor einer Viertelstunde durchaus nicht seltsam vorgekommen war, daß die Verwundeten zurückbleiben und die Sachen mitgenommen werden sollten, und es allen geschienen hätte, als könne dies gar nicht anders sein.
Wie um wieder gutzumachen, daß dies alles nicht schon früher unternommen worden war, machten sich jetzt alle Hausgenossen eifrig an die neue Aufgabe, die Verwundeten unterzubringen. Die Offiziere und Soldaten schleppten sich aus ihren Zimmern und scharten sich mit glücklichen, bleichen Gesichtern um die Bauernwagen. Auch in den Nachbarhäusern hatte sich das Gerücht verbreitet, daß im Rostowschen Hofe Fuhren bereit ständen, und so kamen auch aus den anderen Häusern Verwundete auf den Hof. Viele von ihnen baten darum, daß man die Sachen nicht ablade und ihnen nur erlaube, oben aufzusitzen. Aber das einmal begonnene Werk des Abladens war nicht mehr aufzuhalten. Es war ja nun auch gleichgültig, ob alles oder nur die Hälfte zurückblieb. Auf dem Hof standen die Kisten mit Bronzen, Geschirr, Bildern und Spiegeln, die man in der vergangenen Nacht so sorgsam eingepackt hatte, wild durcheinander, und immer suchte und fand man noch etwas, das man auch noch abladen und dalassen konnte, um immer noch mehr und mehr Fuhren freimachen zu können.
»Vier Mann können wir noch mitnehmen«, sagte der Verwalter. »Ich gebe meinen eignen Wagen noch her. Aber wohin mit den anderen?«
»Gebt ihnen nur meinen Garderobewagen«, sagte die Gräfin. »Dunjascha kann sich zu mir in die Kutsche setzen.«
Man machte auch noch den Garderobewagen frei und schickte ihn den Verwundeten im Nachbarhaus. Alle Hausgenossen und Dienstleute befanden sich in froher Erregung. Natascha war so feierlich glücklich und aufgeregt, wie sie lange nicht gewesen war.
»Wo sollen wir die festbinden?« fragten ein paar Diener, die eine Kiste auf dem schmalen Wagentritt einer Kutsche zu befestigen suchten. »Einen Bauernwagen hätten wir wenigstens behalten müssen.«
»Was ist denn drin?« fragte Natascha.
»Die Bücher des Grafen.«
»Laßt die nur hier. Wassiljewitsch wird sie wegräumen. Die brauchen wir nicht.«
Auch die Kutsche war voller Menschen, so daß man sich fragte, wo Peter Iljitsch sitzen solle.
»Er setzt sich auf den Bock. Nicht wahr, Petja, du setzt dich auf den Bock«, rief Natascha.
Sonja war ebenfalls ohne Unterlaß beschäftigt, aber sie hatte gerade die entgegengesetzten Sorgen wie Natascha: sie räumte das zusammen, was hier bleiben sollte, schrieb auf Wunsch der Gräfin alles auf und war immer bestrebt, soviel wie möglich mitzunehmen.
Um zwei Uhr standen die vier Rostowschen Kutschwagen bespannt und beladen vor der Einfahrt. Die Fuhren mit den Verwundeten verließen eine nach der anderen den Hof.
Die Kalesche, in der Fürst Andrej fortgefahren wurde, fuhr ebenfalls an der Freitreppe vorüber und lenkte die Aufmerksamkeit Sonjas auf sich, die in dem geräumigen, hohen Kutschwagen, der vor der Einfahrt stand, mit einer Zofe zusammen einen Sitz für die Gräfin zurechtmachte.
»Wem gehört denn diese Kalesche?« fragte Sonja und steckte den Kopf aus dem Wagenfenster.
»Ja, wissen Sie denn das noch nicht, gnädiges Fräulein?« erwiderte die Zofe. »Das ist doch der verwundete Fürst; er hat die Nacht bei uns verbracht und fährt nun auch mit uns weg.«
»Ja wer denn? Wie heißt er denn?«
»Unser gewesener Bräutigam, Fürst Bolkonskij«, sagte die Zofe und seufzte. »Er soll tödlich verwundet sein!«
Sonja sprang aus der Kutsche und lief zur Gräfin. Diese ging, schon reisefertig angezogen, mit Hut und Schal müde im Zimmer auf und ab und wartete auf ihre Hausgenossen, um sich mit ihnen vor der Abreise hinter geschlossenen Türen noch einmal hinzusetzen und zu beten. Natascha war nicht im Zimmer.
»Maman«, rief Sonja. »Fürst Andrej ist hier, tödlich verwundet. Er fährt mit uns.«
Die Gräfin riß erschrocken die Augen auf, faßte Sonjas Hand und starrte sie an.
»Und Natascha?« stammelte sie.
Sowohl für Sonja als auch für die Gräfin hatte diese Nachricht im ersten Augenblick nur die eine Bedeutung. Sie kannten ihre Natascha; und die Angst, wie sie diese Nachricht ertragen werde, erstickte im ersten Augenblick jedes Mitgefühl für diesen Mann, den sie doch beide liebten.
»Natascha weiß es noch nicht, aber er fährt mit uns«, sagte Sonja.
»Tödlich verwundet, sagst du?«
Sonja nickte.
Die Gräfin schloß Sonja in ihre Arme und fing an zu weinen.
Gottes Wege sind unerforschlich, dachte sie und fühlte, daß sich in allem, was jetzt geschah, die sonst den Blicken der Menschheit verborgene Hand des Allmächtigen zu offenbaren begann.
»Nun, Mama, es ist alles bereit. Aber was habt ihr denn?« fragte Natascha, die mit erregtem Gesicht ins Zimmer gelaufen kam.
»O, nichts«, sagte die Gräfin. »Wenn alles fertig ist, können wir abfahren.«
Sie beugte sich über ihren Ridikül, um ihr verlegenes Gesicht zu verbergen.
Sonja umarmte Natascha und küßte sie.
Natascha sah sie fragend an.
»Was hast du denn? Was ist geschehen?«
»Nichts … wirklich nichts …«
»Etwas sehr Schlimmes für mich? Was nur?« fragte Natascha feinfühlig.
Sonja seufzte und gab keine Antwort. Der Graf, Petja, Madame Schoß, Mawra Kusminitschna und Wassiljewitsch traten ins Zimmer. Man schloß die Türen, alle nahmen schweigend, ohne einander anzusehen, Platz und blieben so ein paar Augenblicke sitzen.
Der Graf erhob sich als erster, seufzte tief und fing an, sich vor dem Heiligenbild zu bekreuzigen. Alle folgten seinem Beispiel. Dann umarmte der Graf Mawra Kusminitschna und Wassiljewitsch, die in Moskau zurückblieben, klopfte ihnen, während sie nach seiner Hand haschten und ihn auf die Schulter küßten, leicht auf den Rücken und redete unklar und freundlich beruhigend auf sie ein. Die Gräfin begab sich in das Zimmer, wo die Heiligenbilder hingen, und Sonja fand sie dort vor den vereinzelt an den Wänden zurückgebliebenen Bildern auf den Knien. Die durch Familientradition kostbarsten Gemälde hatte man mitgenommen.
An der Freitreppe und auf dem Hof verabschiedete sich das abreisende Gesinde von denen, die zurückblieben. Alle waren von Petja mit Dolchen und Säbeln ausgerüstet worden, hatten die Hosen fest in die Stiefel gesteckt und sich mit Lederriemen und Binden umgürtet.
Wie immer bei einer Abreise, so hatte man auch diesmal vieles vergessen oder nicht richtig verstaut, und die zwei Heiducken zu beiden Seiten des geöffneten Wagenschlages am Trittbrett der Kutsche standen ziemlich lange da, bereit, der Gräfin beim Einsteigen zu helfen, während die Zofen mit Kissen und Bündeln vom Haus zur Kutsche, zum Landauer und zur Britschka hin und her liefen.
»Immer und ewig wird alles vergessen!« sagte die Gräfin. »Aber du weißt doch, daß ich nicht so sitzen kann.«
Dunjascha biß die Zähne zusammen, gab keine Antwort und stieg mit verdrossenem Ausdruck im Gesicht eilig in die Kutsche, um den Sitz für die Gräfin anders zu richten.
»Ach, diese Leute!« pflichtete der Graf kopfschüttelnd bei.
Der alte Kutscher Jefim, dem allein die Gräfin sich anvertrauen wollte, thronte hoch auf seinem Bock und sah sich nach dem, was hinter seinem Rücken vorging, nicht einmal um. Aus dreißigjähriger Erfahrung wußte er, daß man nicht allzu bald zu ihm sagen werde: Fahr mit Gott!, und daß, wenn man es dann wirklich gesagt hatte, er immer noch ein paarmal anhalten mußte. Dann wurden Leute nach vergessenen Sachen zurückgeschickt, und wenn auch dies vorbei war, ließ ihn die Gräfin doch stets noch einmal anhalten, steckte selbst den Kopf zum Wagenfenster hinaus und bat ihn um Christi willen, bergab ja recht vorsichtig zu fahren. Das wußte er also, und deshalb harrte er geduldiger als seine Pferde – namentlich als das linke, der braune »Falke«, der mit den Hufen stampfte und an der Trense kaute – der Dinge, die da kommen mußten.
Endlich hatten alle Platz genommen, der Wagentritt wurde zusammengeschlagen und hochgeklappt und der Schlag zugemacht. Noch einmal wurde nach einer Schatulle zurückgeschickt, dann beugte sich die Gräfin aus dem Fenster und sagte das, was unvermeidlich war. Darauf nahm Jefim gemessen seinen Hut vom Kopf und fing an, sich zu bekreuzigen. Der Vorreiter und die ganze übrige Dienerschaft taten das gleiche.
»Mit Gott!« sagte Jefim dann und setzte den Hut wieder auf. »Vorwärts!«
Der Vorreiter setzte sich in Bewegung. Das rechte Deichselpferd legte sich ins Kummet, die hohen Federn des Wagens ächzten, und der Kutschkasten fing an zu schwanken. Ein Lakai sprang noch im Fahren auf den Bock. Als die Kutsche aus dem Hof auf das holperige Pflaster hinausfuhr, bekam sie einen tüchtigen Ruck, ebenso ging es auch den anderen Wagen. Dann fuhr der Zug die Straße entlang. Alle in der Kutsche, im Landauer und in der Britschka bekreuzten sich, als sie an der gegenüberliegenden Kirche vorbeikamen. Die in Moskau zurückbleibende Dienerschaft ging zu beiden Seiten neben den Wagen her und gab ihnen das Geleit.
Natascha hatte selten ein solch freudiges Gefühl empfunden wie eben jetzt, als sie im Wagen neben der Gräfin saß und die Mauern der halbverlassenen, unruhig bewegten Stadt langsam an sich vorüberziehen sah. Ab und zu beugte sie sich zum Wagenfenster hinaus und schaute zurück oder nach vorn auf den langen Verwundetenzug, der vor ihnen herfuhr. Fast allen voran erblickte sie das hochgeschlagene Verdeck der Kalesche des Fürsten Andrej. Sie wußte nicht, wer darin lag, doch jedesmal, wenn sie ihren Zug überblickte, suchte sie mit den Augen diesen Wagen, weil sie wußte, daß er allen voran fuhr.
Auf dem Kudrinaplatze[189] strömten aus der Nikitskaja, aus der Presnija und dem Podnowinskij noch mehrere solcher Züge wie der Rostowsche zusammen, und auf der Sadowaja[190] mußten die Equipagen und Packwagen schon in Doppelreihen nebeneinander fahren.
Als sie um den Sucharewturm[191] herumfuhren, rief Natascha, die rasch und neugierig alle zu Fuß und zu Wagen vorbeikommenden Leute musterte, plötzlich freudig verwundert aus: »Väterchen! Mama! Sonja! Seht nur, das ist er!«
»Wer denn? Wer denn?«
»Seht nur, bei Gott, er ist’s! Besuchow!« rief Natascha, steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus und blickte einem großen, dicken Menschen im Kutscherrock nach, dem man in Gang und Haltung den verkleideten Edelmann ansah. Er ging mit einem gelben, bartlosen Alten im Friesmantel im Gewölbe des Sucharewturmes auf und ab.
»Bei Gott, Besuchow, im Kaftan, mit irgendeinem alten Gesellen, wahrhaftig«, rief Natascha. »Seht nur, seht!«
»Aber nein, das ist er doch nicht. Wie kann man nur so dummes Zeug zusammenschwatzen!«
»Mama«, rief Natascha, »ich lasse mir den Kopf abhacken, wenn er es nicht ist. Ich werde Sie überzeugen. Halt! Halt!« rief sie dem Kutscher zu.
Aber der Kutscher konnte nicht anhalten, weil aus der Mjeschtschankaja noch mehr Fuhren und Wagen herausdrängten und man den Rostows schon zuschrie, voranzufahren und die andern nicht aufzuhalten.
Tatsächlich sahen jetzt alle Rostows, obgleich sie nun schon etwas weiter weg waren, Pierre oder einen Menschen, der außerordentliche Ähnlichkeit mit ihm hatte, im Kutscherrock mit gesenktem Kopf und ernstem Gesicht neben einem kleinen, bartlosen Alten, der wie ein Lakai aussah, über die Straße gehen. Der Alte bemerkte das aus dem Wagen auf ihn gerichtete Gesicht, stieß Pierre ehrerbietig mit dem Ellbogen an und sagte etwas zu ihm, indem er auf den Wagen zeigte. Pierre schien lange nicht zu begreifen, was er von ihm wollte, so vertieft war er offenbar in seine Gedanken. Endlich, als er ihn verstanden hatte, blickte er in die angegebene Richtung, erkannte Natascha und lief im selben Augenblick, der ersten Eingebung folgend, auf den Wagen zu. Doch nach etwa zehn Schritten fiel ihm offenbar etwas ein, und er blieb stehen.
Nataschas aus dem Wagen gebeugtes Gesicht strahlte heiter und spöttisch.
»Pjotr Kirillytsch, kommen Sie nur! Wir haben Sie ja doch erkannt. Das ist ja wunderbar!« rief sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Wie kommen Sie hierher? Warum haben Sie sich so angezogen?«
Pierre nahm die ihm entgegengestreckte Hand und küßte sie unbeholfen, da der Wagen dabei immer weiterfuhr.
»Was ist denn mit Ihnen geschehen, Graf?« fragte die Gräfin in erstauntem, mitleidigem Ton.
»Was denn? Wieso denn? Fragen Sie mich nicht«, erwiderte Pierre und sah Natascha an, deren glücklich strahlender Blick – das fühlte er, auch wenn er nicht zu ihr hinschaute – ihn mit seinem ganzen Zauber umfing.
»Wie denn, bleiben Sie etwa in Moskau?«
Pierre gab keine Antwort.
»In Moskau?« wiederholte er fragend. »Ja, in Moskau. Leben Sie wohl.«
»Oh, wenn ich doch ein Mann wäre, dann bliebe ich unbedingt mit Ihnen zusammen hier. Ach, wie schön wäre das!« rief Natascha. »Mama, erlauben Sie, daß ich hierbleibe?«
Pierre sah Natascha zerstreut an und wollte etwas erwidern, aber die Gräfin unterbrach ihn.
»Sie waren mit in der Schlacht, hörten wir?«
»Ja, ich war dabei«, antwortete Pierre. »Morgen werden wir wieder eine Schlacht haben …« wollte er anfangen, doch Natascha unterbrach ihn.
»Aber was haben Sie nur, Graf? Sie sind so ganz anders …«
»Ach, fragen Sie mich nicht, fragen Sie mich nicht. Ich weiß es selber nicht. Morgen … Aber nein! Leben Sie wohl, leben Sie wohl«, sagte er noch einmal. »Eine furchtbare Zeit.«
Er trat vom Wagen zurück und ging auf den Bürgersteig.
Natascha beugte sich lange zum Fenster hinaus, und auf ihrem Gesicht strahlte ein heiteres, glückliches, aber etwas spöttisches Lächeln.
Pierre wohnte, seit er aus seinem Haus verschwunden war, schon den zweiten Tag in der leeren Wohnung des verstorbenen Basdjejew. Und das war so zugegangen:
Als er am Tag nach seiner Rückkehr und dem Besuch beim Grafen Rastoptschin frühmorgens aufwachte, konnte er sich lange nicht darüber klarwerden, wo er sich befand und was man von ihm verlangte. Als man ihm dann meldete, daß sich unter den Personen, die im Vorzimmer auf ihn warteten, auch der Franzose befinde, der den Brief der Gräfin Helena Wassiljewna gebracht habe, überkam ihn plötzlich jenes Gefühl der Verwirrung und Hoffnungslosigkeit, dem er sich so oft und leicht hinzugeben pflegte. Es kam ihm auf einmal vor, als sei nun alles zu Ende, alles durcheinander geworfen und zerstört, als habe niemand recht, niemand unrecht, als liege vor ihm eine endlose Wüste, und als gebe es aus dieser Lage keinen Ausweg mehr.
Bald setzte er sich mit gezwungenem Lächeln und etwas vor sich hinmurmelnd in hilfloser Haltung auf den Diwan, bald stand er wieder auf und ging auf die Tür zu, um durch eine Spalte ins Vorzimmer hineinzuspähen, dann wieder machte er eine abwehrende Handbewegung, drehte sich um und nahm ein Buch zur Hand.
Zum zweitenmal erschien der Haushofmeister und meldete ihm, daß ihn der Franzose, der den Brief der Gräfin überbracht habe, dringend zu sprechen wünsche, und wäre es nur für einen Augenblick, und daß die Witwe Osip Alexejewitsch Basdjejews bitten lasse, die Bücher in Verwahrung zu nehmen, da sie selber aufs Land abgereist sei.
»Ach ja, gleich, warte … oder nein! Nein, nein, geh und sage, ich würde sogleich kommen«, gab Pierre dem Haushofmeister zur Antwort.
Doch kaum war dieser zur Tür hinaus, so nahm Pierre seinen Hut, der auf dem Tisch lag, und verließ sein Zimmer durch die Hintertür. Auf dem Korridor war niemand. Pierre ging den ganzen Korridor entlang bis zur Treppe und stieg, sich mit beiden Händen die Falten aus der Stirn reibend, bis zum ersten Treppenabsatz hinunter. Der Portier stand unten am Herrschaftseingang. Von diesem Treppenabsatz, bis zu dem Pierre hinuntergestiegen war, führte eine andere Treppe zum Hinterausgang hinab. Pierre stieg sie hinunter und kam auf den Hof.
Niemand sah ihn. Doch sobald er durch das Tor auf die Straße hinaustrat, bemerkten ihn die Kutscher und der Hausknecht, die dort neben den Wagen standen, und zogen ihre Mützen vor ihm ab. Als er ihre Blicke auf sich gerichtet fühlte, machte es Pierre wie der Vogel Strauß, der den Kopf versteckt, um nicht gesehen zu werden: er ließ den Kopf hängen und ging beschleunigten Schrittes die Straße entlang.
Von all den Geschäften, die Pierre an diesem Morgen erwarteten, erschien ihm das Ordnen der Bücher und Papiere Osip Alexejewitschs als das wichtigste.
Er nahm den ersten besten Wagen, den er traf, und befahl dem Kutscher, nach den Patriarchenteichen zu fahren, wo das Haus der Witwe Basdjejews lag.
Während er sich immer wieder nach den von allen Seiten herbeirollenden Fuhren der Flüchtlinge umsah und seinen schweren Körper zurechtrückte, um nicht aus der alten, klapprigen Droschke herauszufallen, empfand er ein ähnliches Glücksgefühl wie ein Junge, der aus der Schule davongelaufen ist.
Er knüpfte mit dem Kutscher ein Gespräch an, und dieser erzählte ihm, daß heute im Kreml Waffen verteilt und morgen alle Leute aus dem Dreibergentor hinausgetrieben würden, weil dort die große Schlacht stattfinden solle.
Als sie an den Patriarchenteichen angekommen waren, suchte Pierre Basdjejews Haus, in dem er so lange nicht gewesen war. Er trat an das Gitterpförtchen. Gerassim, derselbe bartlose gelbe Alte, den Pierre schon vor fünf Jahren mit Osip Alexejewitsch in Torschok gesehen hatte, kam auf sein Klopfen heraus.
»Ist Frau Basdjejewa zu Hause?« fragte Pierre.
»Sofja Danilowna ist mit den Kindern wegen der Zustände hier auf ihr Gut bei Torschok gereist, Euer Erlaucht.«
»Ich möchte trotzdem eintreten, ich muß Bücher auswählen«, erwiderte Pierre.
»Bitte, haben Sie die Güte; der Bruder des verstorbenen Herrn – Gott habe ihn selig –, Makar Alexejewitsch, ist hier geblieben, er ist, wie Sie ja wissen, etwas geistesschwach«, fügte der alte Diener hinzu.
Makar Alexejewitsch war, wie Pierre wußte, der halbverrückte, trunksüchtige Bruder Osip Alexejewitschs.
»Ja, ja, ich weiß. Gehen wir hinein, gehen wir …« sagte Pierre und trat ins Haus.
Ein großer alter Mann mit einer Glatze und einer roten Nase stand im Schlafrock und mit Oberschuhen an den bloßen Füßen im Vorzimmer. Als er Pierre erblickte, murmelte er ärgerlich etwas vor sich hin und ging in den Korridor hinaus.
»Ein so kluger Mann ist er gewesen, und jetzt ist er, wie Sie sehen, ganz schwachsinnig geworden«, erzählte Gerassim. »Wünschen Sie ins Arbeitszimmer zu gehen?« Pierre nickte. »Das Arbeitszimmer ist versiegelt worden und ganz so geblieben. Aber Sofja Danilowna hat befohlen, wenn jemand von Ihnen kommen würde, die Bücher herauszugeben.«
Pierre trat ein. Es war dasselbe düstere Kabinett, das er bei Lebzeiten seines Wohltäters immer mit solchem Herzklopfen betreten hatte. Dieses Zimmer, das seit dem Tod Osip Alexejewitschs unberührt geblieben und nun ganz mit Staub bedeckt war, kam ihm jetzt noch düsterer vor.
Gerassim schlug einen Fensterladen zurück und schlich auf den Zehen hinaus. Pierre ging durch das Zimmer, trat an den Schrank, in dem die Handschriften lagen, und zog eines der wichtigsten Heiligtümer des Freimaurerordens heraus. Es waren die schottischen Originalakten[192] mit den Zusätzen und Erläuterungen des Wohltäters.
Pierre setzte sich an den verstaubten Schreibtisch, legte das Manuskript vor sich hin, schlug es auf, klappte es wieder zu und schob es endlich beiseite. Dann stützte er den Kopf auf die Hand und versank in Grübeleien.
Gerassim blickte ein paarmal vorsichtig durch die Tür und sah, daß Pierre immer noch in derselben Stellung dasaß. Es waren schon über zwei Stunden vergangen. Da erlaubte er sich, etwas Geräusch an der Tür zu machen, um Pierres Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Pierre hörte ihn nicht.
»Befehlen Euer Erlaucht, daß ich den Wagen wegschicke?«
»Ach ja, ja«, erwiderte Pierre, zu sich kommend, und stand hastig auf. »Höre«, fuhr er dann fort, indem er Gerassim am Rockknopf festhielt und den Alten von Kopf bis Fuß mit feuchten, leuchtenden, begeisterten Augen ansah, »höre, weißt du, daß morgen eine Schlacht stattfindet?«
»Man sagt es«, erwiderte Gerassim.
»Ich bitte dich, niemandem zu verraten, wer ich bin, und das zu tun, was ich dir sage …«
»Zu Befehl«, erwiderte Gerassim. »Wünschen Sie, hier zu speisen?«
»Nein, ich brauche etwas anderes. Ich brauche einen Bauernrock und eine Pistole«, fuhr Pierre fort und wurde unvermutet rot dabei.
»Zu Befehl«, antwortete Gerassim und überlegte.
Den ganzen übrigen Tag verbrachte Pierre allein im Arbeitszimmer seines Wohltäters, in dem er, wie Gerassim hörte, ruhelos von einer Ecke in die andere ging, wobei er immer etwas vor sich hinsprach. Ebenda übernachtete er auch in einem für ihn dort aufgeschlagenen Bett.
Als langjähriger Diener, der schon viele Absonderlichkeiten in seinem Leben gesehen hatte, nahm Gerassim Pierres Übersiedelung ohne Verwunderung hin und schien sogar ganz zufrieden zu sein, daß er jemanden zu bedienen hatte. Noch am selben Abend verschaffte er Pierre, ohne auch nur sich selber zu fragen, wozu dies nötig sei, einen Kaftan und eine Mütze, und versprach, am nächsten Tag die gewünschte Pistole aufzutreiben.
An diesem Abend kam Makar Alexejewitsch, mit seinen Überschuhen schlürfend, zweimal bis an die Tür des Arbeitszimmers, blieb dort stehen und starrte Pierre an. Doch sobald sich Pierre nur nach ihm umwandte, schlug er ärgerlich und beschämt seinen Schlafrock zusammen und entfernte sich hastig.
Als Pierre dann in diesem Kutscherkaftan, den Gerassim für ihn beschafft und in Dampf gereinigt hatte, mit dem alten Diener zusammen ausgegangen war, um sich am Sucharewturm eine Pistole zu kaufen, hatte er die Rostows getroffen.
In der Nacht vom 1. zum 2. September erteilte Kutusow den russischen Truppen den Befehl zum Rückzuge durch Moskau bis auf die Straße nach Rjasan.
Noch in derselben Nacht setzten sich die ersten Regimenter in Bewegung. Diese ersten Truppenteile hatten es nicht allzu eilig und marschierten langsam und gemessen vorwärts, aber diejenigen, die erst beim Morgengrauen aufgebrochen waren, hatten vor sich, als sie sich der Dorogomilowbrücke näherten, die über die Brücke drängenden und hastenden Scharen, die auf der anderen Seite wieder aufstiegen und alle Straßen und Gassen verstopften, und hinter sich die unendliche Masse nachflutender Truppenteile. Da überkam die Soldaten plötzlich eine grundlose Hast und Unruhe. Alle stürzten auf die Brücke zu, über die Brücke, in die Furten und Kähne. Kutusow ließ sich durch Seitenstraßen führen und gelangte so auf die andere Seite Moskaus.
Am 2. September um zehn Uhr früh waren auf den freien Plätzen der Dorogomilowvorstadt nur noch die Regimenter der Nachhut zurückgeblieben. Die übrige Armee befand sich schon jenseits der Moskwa und hinter der Stadt.
Gerade um diese Zeit, also am 2. September gegen zehn Uhr morgens, stand Napoleon inmitten seiner Truppen auf dem Poklonberg und betrachtete das Bild, das sich seinen Augen darbot. Vom 26. August bis zum 2. September, von der Schlacht bei Borodino bis zum Einzug des Feindes in Moskau, also während dieser ganzen bewegten, denkwürdigen Woche, hatte jenes außerordentlich schöne, alle Menschen begeisternde Herbstwetter angehalten, wo die niedrig stehende Sonne heißer brennt als im Frühling, wo in der dünnen, reinen Luft alles so gleißt und schimmert, daß es dem Auge weh tut, wo die Brust beim Einatmen der würzigen Herbstluft gestärkt und erfrischt wird, wo sogar die Nächte noch warm sind und es vom dunklen, warmen Himmel, dem stummen Betrachter zum Schreck und zur Freude, unaufhörlich goldene Sterne regnet.
Auch am 2. September um zehn Uhr früh war solches Wetter. Zauberhaft strahlte der Morgen. Vor dem Poklonberg dehnte sich Moskau mit seinem Fluß, seinen Gärten und Kirchen weithin aus. Ein eignes Leben schien in dieser Stadt zu wohnen, während ihre Kuppeln wie Sterne in der Sonne funkelten.
Beim Anblick dieser eigentümlichen Stadt mit den noch nie gesehenen Formen einer fremden Architektur empfand Napoleon etwas wie Neid und jene unruhige Neugier, die alle Menschen beim Anblick ihnen unbekannter, fremdartiger Lebensformen ergreift. Es war offensichtlich, daß diese Stadt mit allen Fasern ihres Seins ein anderes, nur ihr eigenes Leben lebte. Aus jenen unbestimmten Anzeichen, an denen man schon von weitem einen lebenden Körper von einem toten unterscheidet, erkannte Napoleon vom Poklonberg aus das Pulsieren des Lebens in dieser Stadt und spürte den Hauch dieses großen, schönen Körpers.
Jeder Russe, der auf Moskau hinblickt, fühlt das Mütterliche, das in dieser Stadt liegt; jeder Fremde, der die Stadt betrachtet, muß, wenn er auch ihre mütterliche Bedeutung nicht verstehen kann, doch auf jeden Fall den weiblichen Charakter dieser Stadt herausfühlen. Und diese Empfindung hatte auch Napoleon.
»Cette ville asiatique aux innombrables églises, Moscou la sainte! La voilà donc enfin, cette fameuse ville! Il est temps«, rief Napoleon aus, stieg vom Pferd, ließ einen Plan der Stadt vor sich ausbreiten und rief seinen Dolmetscher Lelorme d’Ideville.
Une ville occupée par l’ennemi ressemble à une fille, qui a perdu son honneur, dachte er, wie er schon bei Smolensk zu Tutschkow gesagt hatte. Und von diesem Gesichtspunkt aus betrachtete er die vor ihm liegende, noch nie gesehene orientalische Schönheit. Es kam ihm selber merkwürdig vor, daß sich sein lang gehegter Wunsch, der ihm fast unerfüllbar erschienen war, nun doch verwirklichen sollte. Im grellen Morgenlicht blickte er bald auf die Stadt, bald auf den Plan, prüfte alle Einzelheiten nach, und die Gewißheit, sich dieser Stadt bemächtigt zu haben, regte ihn auf und ängstigte ihn.
Hat es denn aber anders kommen können? dachte er. Da liegt sie, diese Hauptstadt, zu meinen Füßen, und wartet auf ihr Schicksal. Wo mag jetzt Alexander sein und was wird er denken? Was für eine seltsame, schöne, majestätische Stadt! Und wie seltsam und majestätisch ist auch dieser Augenblick! In welchem Licht stehe ich nun vor ihnen da, dachte er in bezug auf seine Truppen. Da liegt die Stadt – als Belohnung –, dies allen Kleingläubigen, dachte er und sah sich nach seiner Umgebung und den vorbeiziehenden und sich aufstellenden Truppen um. Ein Wort von mir, eine Bewegung der Hand, und diese alte Hauptstadt der Zaren muß untergehen. Mais ma clémence est toujours prompte à descendre sur les vaincus. Ich muß großmütig sein, wahrhaft majestätisch … Doch nein, es ist wohl gar nicht wahr, daß ich vor Moskau stehe, schoß es ihm plötzlich durch den Kopf. Aber da liegt ja die Stadt zu meinen Füßen, und ihre goldenen Kuppeln und Kreuze glänzen und flimmern im Sonnenlicht. Doch ich werde sie schonen. Auf die alten Denkmäler von Barbarentum und Despotismus werde ich majestätische Worte von Gerechtigkeit und Gnade schreiben … Und dies wird einen peinlicheren Eindruck auf Alexander machen als alles andere, ich kenne ihn doch. Napoleon glaubte, daß die Hauptbedeutung alles dessen, was sich vollzog, in seinem persönlichen Zwist mit Alexander bestand.
Von den Höhen des Kreml – ja, das dort ist der Kreml – werde ich ihnen die Gesetze der Gerechtigkeit vorlesen, werde ihnen den Sinn der wahren Zivilisation offenbaren und die Geschlechter der Bojaren zwingen, in Liebe ihres Eroberers zu gedenken. Ich werde den Abgesandten der Stadt sagen, daß ich den Krieg nicht gewollt habe, auch jetzt nicht will und ihn nur gegen die falsche Politik ihres Hofes geführt habe; daß ich Alexander liebe und achte und auch jetzt in Moskau Friedensbedingungen, die meiner und meiner Völker würdig sind, entgegenzunehmen bereit bin. Ich bin nicht gewillt, mein Kriegsglück auszunutzen, um einen hochgeachteten Kaiser zu demütigen. Bojaren, werde ich zu ihnen sagen, ich will nicht den Krieg, ich will den Frieden und das Wohl meiner Untertanen. Übrigens weiß ich ja, daß ihre Gegenwart mich begeistern wird und ich zu ihnen sprechen werde wie immer: klar, feierlich und majestätisch. Aber ist es denn auch wirklich wahr, daß ich in Moskau bin? Ja, da liegt es ja! »Qu’on m’amène les boyards«, wandte er sich an sein Gefolge.
Ein General mit glänzender Suite sprengte sogleich fort, um die Bojaren zu holen.
Zwei Stunden vergingen. Napoleon hatte sein Frühstück eingenommen und stand nun wieder an derselben Stelle auf dem Poklonberg und wartete auf die Abgesandten. Seine Ansprache an die Bojaren lag schon klipp und klar in seinem Kopf bereit. Diese Rede war voll Würde und Majestät, so wie Napoleon diese Begriffe auffaßte.
Jener großmütige Ton, in dem er mit Moskau verhandeln wollte, riß ihn selber mit fort. Er bestimmte bereits in Gedanken Tage zur Réunion dans le palais des Czars, wo alle hohen russischen Würdenträger mit den Granden des französischen Kaisers zusammenkommen sollten. Auch einen Gouverneur ernannte er in Gedanken, einen Mann, der es verstünde, die Einwohner für den Kaiser der Franzosen einzunehmen. Er hatte erfahren, daß es in Moskau viele Wohltätigkeitsanstalten gebe, und nahm sich nun im stillen vor, alle diese Anstalten mit Gnadenbeweisen zu überhäufen. Wie man in Afrika in einem Burnus in der Moschee sitzen muß, dachte er, so muß man in Moskau freigebig sein wie die Zaren. Und da er sich wie jeder Franzose nichts Herzerweichendes vorstellen konnte, ohne »ma chère, ma tendre, ma pauvre mère« zu erwähnen, beschloß er, über allen diesen Anstalten in großen Lettern anbringen zu lassen: »Etablissement dédié à ma chère Mère«. Oder nein, ganz einfach: Maison de ma Mère, entschied er sich dann im stillen. Aber bin ich denn wirklich in Moskau? Ja, dort liegt es vor mir. Doch warum säumen die Abgesandten der Stadt so lange? dachte er.
Inzwischen fand in den hinteren Reihen des kaiserlichen Gefolges zwischen seinen Generälen und Marschällen im Flüsterton eine erregte Beratung statt. Die berittenen Abgesandten, die die Bojaren hatten herbeiholen sollen, waren mit der Nachricht zurückgekehrt, daß Moskau leer und alle Bewohner fortgefahren oder weggelaufen seien. Die Gesichter der Beratenden waren bleich und erregt. Nicht das schreckte sie, daß Moskau von seinen Bewohnern verlassen worden war – wie wichtig auch dieses Ereignis schien –, sie fürchteten sich vielmehr davor, wie sie dem Kaiser, ohne Seine Majestät in jene furchtbare Lage zu bringen, die die Franzosen mit »ridicule« bezeichnen, klarmachen sollten, daß er umsonst so lange auf die Bojaren gewartet hatte, und daß es in der Stadt nur betrunkene Rotten, aber sonst weiter niemanden gebe. Die einen sagten, man müsse, koste es, was es wolle, eine Deputation zusammenbringen, die anderen zogen gegen diese Ansicht zu Felde und behaupteten, man müsse dem Kaiser klug und behutsam die Wahrheit beibringen.
»Il faudra le lui dire tout de même …« sagten die Herren vom Gefolge. »Mais messieurs …«
Die Situation war um so schwieriger, weil der Kaiser, während er über seine großmütigen Absichten nachdachte, geduldig vor dem Stadtplan auf und ab ging, nur selten unter der Hand hervor den Weg nach Moskau entlang schaute und heiter und stolz lächelte.
»Mais c’est impossible …« sagten die anderen und zuckten die Achseln, konnten sich aber nicht entschließen, das furchtbare Wort: »le ridicule«, das allen vorschwebte, auszusprechen.
Inzwischen war der Kaiser des langen Wartens müde geworden, und da er als guter Schauspieler fühlte, daß ein majestätischer Augenblick, wenn er sich zu lange hinzieht, seiner Erhabenheit verlustig geht, so machte er mit der Hand ein Zeichen. Ein einzelner Schuß der Signalkanone ertönte, und alle Truppen, die rings um Moskau lagen, rückten durch das Twersche, das Kalugasche und das Dorogomilowtor in Moskau ein. Immer schneller und schneller, einander überholend, gingen die Truppen im Laufschritt und im Trabe vor, verschwanden in den Staubwolken, die sie aufwirbelten, und erfüllten die Luft mit ihrem Geschrei, das mit dem allgemeinen Getöse zusammenfloß.
Durch die Bewegung seiner Truppen mit fortgerissen, ritt Napoleon mit ihnen zusammen bis zum Dorogomilowtor. Doch hier machte er abermals halt, stieg vom Pferd und ging lange am Kammerkollegienwall auf und ab und wartete auf die Deputation.
Inzwischen war Moskau verödet. Es waren zwar noch Menschen in der Stadt, denn von allen ehemaligen Bewohnern war doch immerhin noch etwa der fünfzigste Teil zurückgeblieben, aber trotzdem schien alles öde und leer. Es war so öde wie in einem Bienenstock, der keine Königin mehr hat und eingeht.
Denn in einem solch weisellosen Bienenstock ist kein Leben mehr, wenn er auch auf den oberflächlichen Blick hin ebenso lebendig erscheint wie die anderen. Ebenso heiter umschwärmen die Bienen in den heißen Strahlen der Mittagssonne auch diesen weisellosen Stock, ebenso riecht es schon von weitem nach Honig, ebenso fliegen die Bienen hier ein und aus. Aber man braucht nur näher hinzusehen, um zu erkennen, daß es hier kein Leben mehr gibt. Nicht so wie bei gesunden Stöcken fliegen die Bienen hier ein und aus, und einen anderen Geruch, ein anderes Geräusch nimmt der Imker wahr. Klopft er an die Wand eines kranken Bienenstocks, so antwortet ihm statt des früheren augenblicklichen, gemeinsamen Summens von Zehntausenden von Bienen, die mit drohend herabgebogenem Hinterteil durch schnelles Flügelschlagen diesen frischen, lebensvollen Ton hervorbringen, nur ein vereinzeltes Summen, das dumpf an verschiedenen Stellen des öden Stockes ertönt. Aus der Öffnung des Korbes kommt nicht, wie früher, der berauschende, würzige Duft nach Honig und Gift und jener Strom von Wärme, der durch die innere Fülle erzeugt wird, sondern ein Geruch nach Leere und Fäulnis. Am Eingang findet er nicht mehr jene Torwachen, die zum Schutz des Stockes zu sterben bereit sind und bei herannahender Gefahr den Hinterleib hochheben und Alarm schlagen. Er hört nicht mehr das gleichmäßige, leise Geräusch, das Rauschen der Arbeit, das dem Summen beim Sieden des Wassers gleicht, sondern nur ungereimte, vereinzelte Töne, die auf Unordnung schließen lassen. Ein und aus fliegen nur scheu und behend lange, schwarze, mit Honig beladene Raubbienen, die nicht stechen, sondern vor jeder Gefahr fliehen. Früher flogen nur beladene Bienen in den Stock hinein und unbeladene schwärmten aus, jetzt kann man gerade das Gegenteil beobachten.
Der Imker öffnet den unteren Verschluß und sieht in den Boden des Stockes hinein. Statt der früher bis hinunter hängenden schwarzen, mit ruhigem Fleiß arbeitenden Ketten strotzender Immen, die, einander an den Füßen haltend, mit ununterbrochenem, emsigem Summen Wachs auszogen, irren nur hie und da noch schläfrige, halb vertrocknete Bienen zerstreut am Boden und an den Wänden des Stockes umher. Auf dem sonst säuberlich mit Klebstoff übertünchten und durch Flügelwehen reingefegten Fußboden liegen jetzt Wachsreste, Bienenkot, halbtote, kaum noch die Glieder rührende und auch ganz tote Bienen herum, die von den anderen nicht weggeräumt wurden.
Der Imker öffnet den oberen Verschluß und betrachtet den Kopf des Bienenstockes. Statt der zwischen den Waben sich drängenden, ihre Brut wärmenden dichten Haufen von Bienen sieht er nur die künstliche, komplizierte Arbeit der Zellen, und auch diese nicht mehr im Zustand der Unberührtheit, in dem sie sich ehemals befanden. Alles ist vernachlässigt und beschmutzt. Schwarze Raubbienen schlüpfen schnell und verstohlen über die noch Arbeitenden hin, die Bienen des Stockes aber, die kürzer, verschmutzter und älter aussehen, schlendern langsam und faul, ohne die anderen zu hindern, einher, als hätten sie keinen Wunsch mehr und das Bewußtsein des Lebens verloren. Drohnen, Stechfliegen, Hummeln und Schmetterlinge stoßen sinnlos im Flug gegen die Wände des Stockes. Da und dort hört man zwischen den Zellen mit toter Brut und Honig manchmal ein ärgerliches Brummen. Irgendwo suchen zwei Bienen nach alter Gewohnheit und Erinnerung ihr Nest, den Bienenstock, zu reinigen, indem sie sorgsam und über ihre Kräfte eine tote Biene oder Hummel hinausschleppen, ohne zu wissen, wozu. In einer anderen Ecke streiten sich zwei alte Bienen faul herum oder säubern oder füttern einander, ohne sich bewußt zu sein, ob sie es aus Freundschaft oder Feindschaft tun. An einer dritten Stelle stürzt ein Schwarm von Bienen, eine die andere drängend, über irgendein Opfer her, schlägt es und drückt es tot, bis die matte oder erschlagene Biene langsam und leicht wie ein Flaum auf den Haufen der schon toten Bienen am Boden des Korbes niedersinkt.
Der Imker schiebt die zwei mittleren Waben auseinander, um das Nest zu sehen. Statt der früheren dichten, schwarzen Kreise von Tausenden von Bienen, die Rücken an Rücken zusammenhockend das hohe Geheimnis der Arterhaltung hüteten, erblickt er nur noch einige Hunderte elender, halbtoter, schläfriger, zum Skelett abgemagerter Insekten. Fast alle sind gestorben, ohne es zu ahnen, während sie auf dem Heiligtum saßen, das sie hüten wollten, und das nun nicht mehr ist. Ein Geruch nach Tod und Verwesung strömt von ihnen aus. Nur einige rühren sich noch, erheben sich, fliegen träge umher und setzen sich auf die Hand ihres Feindes, ohne jedoch imstande zu sein, ihn zu stechen und dann zu sterben. Die übrigen sind tot und fallen wie Fischschuppen leicht zu Boden. Der Imker macht die Klappe zu, malt mit Kreide ein Zeichen daran, um bei gelegener Zeit die Waben auszubrechen und den Stock auszuräuchern.
So öde und leer war auch Moskau, als Napoleon müde, unruhig und finster am Kammerkollegienwall auf und ab ging und auf die Deputation wartete, die eine zwar äußerliche, aber seiner Ansicht nach unumgängliche Forderung des Anstandes war.
Nur in einigen Winkeln Moskaus tummelten sich noch ebenso sinnlos jene Leute, die nicht von ihren alten Gewohnheiten lassen konnten und kein Verständnis für das hatten, was sie taten.
Als man Napoleon mit der nötigen Vorsicht eröffnet hatte, daß Moskau leer sei, sah er den Überbringer dieser Meldung zornig an, wandte sich ab und fuhr fort, schweigend auf und ab zu gehen.
»Einen Wagen!« sagte er dann.
Er setzte sich mit dem Adjutanten vom Dienst in den Wagen und fuhr in die Vorstadt ein.
Moscou déserte! Quel évènement invraisemblable! sagte er zu sich selbst.
Er fuhr nicht bis in die Stadt hinein, sondern machte bei einem Gasthaus in der Dorogomilowvorstadt halt.
Le coup de théâtre avait raté.
Die russischen Truppen waren von zwei Uhr nachts bis zwei Uhr mittags durch Moskau gezogen und hatten die letzten abreisenden Einwohner und Verwundeten mit fortgerissen. Das größte Gedränge während dieser Truppenbewegung war bei der Kamenny –, der Moskwa- und der Jausabrücke[193] entstanden.
Während sich die Truppenmassen, die sich beim Kreml geteilt hatten, nun an der Moskwa- und Kamennybrücke stauten, benutzte eine große Anzahl Soldaten diesen Aufenthalt und die Finsternis, um still und verstohlen von den Brücken zurückzukehren und an der Wassilij-Blaschenny-Kirche[194] und durch das Borowizkijtor[195] auf den Berg und auf den Roten Platz zurückzuschleichen, wo man sich, wie ihnen ein gewisser Instinkt eingab, fremdes Gut mühelos aneignen konnte. Eine ebenso gewaltige Menschenmasse, wie sie sich stets da zu versammeln pflegt, wo etwas billig zu haben ist, füllte die Kreuzund Quergänge des Basars[196]. Aber es fehlten die freundlich verstellten, lockenden Stimmen der Verkäufer, es fehlten die Hausierer und die bunten Scharen einkaufender Frauen – man sah nur Soldaten in Uniformen und Mänteln und ohne Flinten, die stumm mit Lasten herauskamen oder leer in die Ladenreihen hineingingen. Kaufleute und Butiker[197] – von denen nur wenige da waren – irrten wie verloren unter den Soldaten umher, öffneten und schlossen ihre Läden oder schleppten selber mit den Gehilfen ihre Waren irgendwohin fort.
Auf dem Platz vor dem Basar standen Trommler und schlugen Appell. Doch der Klang der Trommel veranlaßte die plündernden Soldaten nicht wie früher ihrem Ruf zu folgen, sondern brachte sie im Gegenteil dazu, noch weiter von der Trommel fortzulaufen. In den Läden und Gängen sah man zwischen den Soldaten Leute in grauen Kaftanen und mit geschorenen Köpfen.
An der Ecke der Iljinka standen zwei Offiziere und unterhielten sich, der eine mit einer Schärpe über der Uniform auf einem mageren Grauschimmel, der andere im Mantel und zu Fuß. Da sprengte ein dritter Offizier zu ihnen heran.
»Der General hat befohlen, sofort alle von hier fortzujagen, koste es, was es wolle. Das ist ja aber auch unerhört. Die Hälfte der Mannschaft ist fortgelaufen.«
»Wo willst du hin? Wohin, ihr da? …« schrie er drei Infanteristen an, die ohne Gewehre, die Mantelzipfel zusammengenommen, an ihm vorbei in die Läden schlüpfen wollten. »Halt, ihr Canaillen!«
»Ja, haben Sie mal die Güte, die zusammenzubekommen«, erwiderte der andere Offizier. »Die kriegt man nie. Wir müssen schneller marschieren, damit die letzten nicht entwischen können, das ist alles.«
»Schneller marschieren? Wie ist denn das möglich? Dort steht ja alles, versperrt die Brücke und rührt sich nicht. Soll man vielleicht eine Postenkette aufstellen, damit die letzten nicht auf und davon gehen?«
»So gehen Sie doch nur hinein! Jagen Sie sie hinaus!« schrie der ältere Vorgesetzte.
Der Offizier mit der Schärpe stieg vom Pferd, schrie dem Trommler etwas zu und ging mit ihm zusammen unter die Arkaden. Ein Trupp Soldaten suchte eilig das Weite. Ein Kaufmann mit roten Pickeln auf den Backen neben der Nase trat mit einem Ausdruck ruhiger, unerschütterlicher Berechnung auf dem feisten Gesicht hastig und geckenhaft auf den Offizier zu und fuchtelte mit den Händen.
»Euer Wohlgeboren«, sagte er, »haben Sie die Güte und beschützen Sie uns! Auf kleine Posten soll es uns nicht ankommen … mit dem größten Vergnügen … bitte sehr … gleich werde ich Ihnen Tuch bringen … für einen vornehmen Herrn auch zwei Stücke Tuch … mit dem größten Vergnügen. Wir haben doch auch ein Herz im Leib. Aber was soll das hier noch werden? Das ist ja der reine Raub! Ich bitte Sie! Eine Wache sollten Sie aufstellen, damit wir wenigstens die Läden zumachen könnten …«
Noch andere Kaufleute drängten sich um den Offizier.
»Ach was, unnützes Gekläff!« sagte einer von ihnen, ein hagerer Mann mit strengem Gesicht. »Wenn einem der Kopf abgeschlagen wird, weint man nicht um das Haar. Nehmt nur, was euch gefällt!« Und er machte eine energische Geste mit der Hand und wandte sich von dem Offizier ab.
»Du hast gut reden, Iwan Sidorytsch«, fing der erste Kaufmann grimmig wieder an. »Wir bitten sehr darum, Euer Wohlgeboren!«
»Wieso gut reden?« rief der Hagere zurück. »Ich habe drei Läden hier und für über hunderttausend Rubel Waren. Wie soll man die schützen, wenn die Truppen abziehen? Ach, diese Menschen! Gottes Allmacht werdet ihr doch nicht mit den Händen aufhalten!«
»Haben Sie die Güte, Euer Wohlgeboren«, sagte der erste Kaufmann wieder und verbeugte sich.
Der Offizier stand unschlüssig da, und auf seinem Gesicht malten sich Zweifel und Bedenken.
»Was geht mich das an!« rief er plötzlich und ging mit schnellen Schritten die Budenreihen entlang.
Aus einem geöffneten Laden hörte man Schlägerei und Schimpfen, und in dem Augenblick, als der Offizier dort vorbeiging, wurde gerade ein Mann mit grauer Jacke und geschorenem Kopf zur Tür hinausgeworfen.
Dieser Mensch krümmte sich zusammen und schlüpfte an dem Offizier und den Kaufleuten vorüber. Der Offizier schrie die Soldaten an, die sich im Laden befanden. Aber in diesem Augenblick hörte man von der Moskwabrücke her das furchtbare Geschrei einer großen Menschenmenge, und der Offizier lief auf den Platz zurück.
»Was gibt’s? Was ist los?« fragte er, aber sein Kamerad sprengte bereits an der Wassilij-Blaschenny-Kirche vorbei in der Richtung des Geschreis davon.
Der Offizier schwang sich aufs Pferd und ritt ihm nach. Als er sich der Brücke näherte, sah er zwei abgeprotzte Kanonen, Infanterie, die über die Brücke zog, ein paar umgeworfene Bauernwagen, erschrockene Zivilisten und lachende Soldatengesichter. Neben den Kanonen stand eine mit zwei Pferden bespannte Fuhre. Um die Hinterräder dieses Wagens drängten sich vier Windhunde mit Halsbändern zusammen. Die Fuhre war mit einem ganzen Berg von Hausrat beladen; obenauf saß neben einem umgekehrten Kinderstühlchen, das die Beine gen Himmel reckte, eine Frau, die durchdringend und verzweifelt schrie.
Die Kameraden erzählten dem Offizier, daß das Schreien der Menge und das Geheul des Weibes daher komme, weil General Jermolow, der herangeritten sei und erfahren habe, daß Scharen von Einwohnern die Brücke versperrten und die Soldaten inzwischen in die Läden liefen, ein paar Kanonen abzuprotzen befohlen habe, als solle die Brücke beschossen werden. Die Menge habe sich halbtot gedrückt, die Wagen umgeworfen, ein verzweifeltes Geschrei erhoben und endlich die Brücke freigemacht, so daß die Truppen nun vorwärts kommen konnten.
Unterdessen war es in der Stadt ganz leer geworden. Auf den Straßen war fast niemand mehr. Alle Torwege und Läden waren geschlossen. Hie und da hörte man in der Nähe der Schenken vereinzelte Rufe oder trunkenes Singen. Niemand fuhr auf den Straßen, und nur selten hallten noch die Schritte von Fußgängern.
Auch auf der Powarskaja war es ganz still. Auf dem großen Hof des Rostowschen Hauses lagen von den abgefahrenen Fuhrwerken Heureste und Pferdemist herum. Kein Mensch war zu sehen. Im Haus, wo fast das ganze Hab und Gut der Rostows zurückgeblieben war, befanden sich nur zwei Menschen im großen Salon. Dies waren der Hausknecht Ignaz und der Bursche Mischka, ein Enkel Wassiljewitschs, der bei seinem Großvater in Moskau geblieben war. Mischka hatte das Klavier geöffnet und klimperte mit einem Finger darauf herum. Der Hausknecht hielt die Arme in die Seiten gestemmt und stand vergnügt grinsend vor dem großen Spiegel.
»Das ist aber fein! Nicht, Onkel Ignaz?« rief der Bursche und trommelte plötzlich mit beiden Fäusten auf den Tasten herum.
»Sieh mal!« erwiderte Ignaz, der darüber staunte, wie sein Gesicht im Spiegel immer mehr und mehr zu lachen anfing.
»So eine freche Gesellschaft! Wahrhaftig!« ertönte hinter ihnen die Stimme Mawra Kusminitschnas, die leise eingetreten war. »Steht so ein dickfratziger Kerl da und fletscht die Zähne! Bei so was muß man euch also erwischen! Unten ist noch nichts weggeräumt, Wassiljewitsch kann kaum noch auf den Beinen stehen. Na, wartet nur!«
Ignaz zog den Gürtel herunter, hörte auf zu lächeln, senkte gehorsam die Augen und ging aus dem Zimmer.
»Tantchen, ich spiele nur ganz leise«, sagte der Bursche.
»Ich werde dir helfen mit ›nur ganz leise‹, du Taugenichts!« rief Mawra Kusminitschna und hob die Hand gegen ihn auf. »Geh und stelle für den Großvater den Samowar bereit.«
Mawra Kusminitschna wischte den Staub ab, machte das Klavier zu, ging tief aufseufzend aus dem Salon und schloß die Tür hinter sich ab.
Während sie über den Hof schritt, überlegte sie sich, wohin sie jetzt gehen sollte: sollte sie mit Wassiljewitsch im Flügel Tee trinken oder in der Vorratskammer das wegräumen, was dort noch herumstand?
Da hörte man auf der stillen Straße eilige Schritte hallen. Diese Schritte machten am Pförtchen halt, und die Klinke klappte unter einer Hand, die das Tor zu öffnen suchte.
Mawra Kusminitschna ging auf das Pförtchen zu.
»Zu wem möchten Sie?«
»Zum Grafen, zum Grafen Ilja Andrejewitsch Rostow.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Offizier. Ich muß ihn unbedingt sehen«, erwiderte der Fremde mit der angenehmen Stimme eines vornehmen Russen.
Mawra Kusminitschna öffnete das Pförtchen. Auf den Hof trat ein etwa achtzehnjähriger Offizier mit rundem Gesicht, der mit dem Familientypus der Rostows eine gewisse Ähnlichkeit hatte.
»Sie sind abgereist, mein Herr. Gestern abend sind sie weggefahren«, sagte Mawra Kusminitschna freundlich.
Der junge Mann, der unschlüssig am Pförtchen stand und nicht wußte, ob er eintreten sollte oder nicht, schnalzte mit der Zunge.
»Ach, wie ärgerlich!« murmelte er. »Hätte ich nur gestern … Ach, wie schade!«
Inzwischen hatte Mawra Kusminitschna aufmerksam und teilnehmend die ihr bekannten Rostowschen Züge im Gesicht des jungen Mannes sowie seinen abgetragenen Mantel und die schiefgetretenen Stiefel, die er trug, gemustert.
»Warum möchten Sie denn den Grafen so gern sprechen?« fragte sie.
»Je nun … da ist eben nichts zu machen«, murmelte der Offizier und nahm die Klinke in die Hand, als wollte er wieder fortgehen.
Doch dann blieb er wieder unschlüssig stehen.
»Sehen Sie«, sagte er plötzlich, »ich bin ein Verwandter des Grafen, und er war immer sehr gut gegen mich. Nun sehen Sie mich einmal an« – er wies mit gutmütig heiterem Lächeln auf seinen Mantel und seine Stiefel –, »ich bin ganz abgerissen und habe kein Geld mehr. Drum wollte ich den Grafen bitten …«
Mawra Kusminitschna ließ ihn nicht aussprechen.
»Wenn Sie sich ein Augenblickchen gedulden wollten, lieber Herr. Nur ein einziges Augenblickchen«, sagte sie.
Und kaum hatte der Offizier die Klinke des Pförtchens wieder aus der Hand gelassen, als sich Mawra Kusminitschna umwandte und mit ihren kurzen, schnellen Schritten, wie alte Frauen zu laufen pflegen, in den hinteren Hof nach ihrem Flügel ging.
Während sie auf ihr Zimmer gelaufen war, ging der Offizier, mit gesenktem Kopf seine schiefgetretenen Stiefel betrachtend, mit leisem Lächeln im Hof auf und ab. Wie schade, daß ich den Onkel nicht angetroffen habe! Eine prächtige Alte! Wo ist sie nur hingelaufen? Wie könnte ich nur erfahren, durch welche Straßen ich am nächsten wieder zu meinem Regiment komme, das jetzt wohl schon bis zur Rogoschkaja vorgerückt sein wird? dachte unterdessen der junge Offizier.
Da kam Mawra Kusminitschna mit ängstlicher, aber entschlossener Miene um die Ecke; in der Hand trug sie ein zusammengeschlagenes, kariertes Tüchelchen. Schon ein paar Schritte bevor sie den Offizier erreicht hatte, schlug sie das Tüchelchen auseinander, zog eine weiße Fünfundzwanzigrubelnote daraus hervor und steckte sie hastig dem Offizier zu.
»Wenn Seine Erlaucht zu Hause wären, selbstverständlich würden Sie dann als Verwandter … aber vielleicht … weil jetzt …«
Mawra Kusminitschna wurde verlegen und stockte. Doch der Offizier nahm ohne Zögern und ohne Hast die Note entgegen und bedankte sich bei ihr.
»Wenn der Graf zu Hause wäre …« wollte sich Mawra Kusminitschna immer wieder entschuldigen. »Christus sei mit Ihnen, lieber Herr. Gott schütze Sie«, sagte sie und geleitete ihn unter Verbeugungen hinaus.
Der Offizier lächelte und schüttelte den Kopf, als mache er sich über sich selber lustig, und eilte fast im Laufschritt durch die leeren Straßen, um sein Regiment an der Jausabrücke einzuholen.
Mawra Kusminitschna aber stand noch lange mit feuchten Augen an dem geschlossenen Pförtchen und wiegte nachdenklich den Kopf. Sie fühlte, wie plötzlich ein Gefühl mütterlicher Zärtlichkeit und Teilnahme für den ihr unbekannten kleinen Offizier ihr Herz überflutete.
Aus einem noch nicht ganz vollendeten Neubau in der Warwarskaja, in dem sich unten ein Ausschank befand, tönte das Schreien und Grölen Betrunkener. In der kleinen schmutzigen Stube saßen auf Bänken und an Tischen etwa ein Dutzend Fabrikarbeiter. Sie alle waren betrunken, schwitzten, hatten trübe Augen und sangen mit weit aufgerissenem Mund irgendein Lied. Mit großer Mühe und Anstrengung grölten alle durcheinander, nicht etwa aus Lust am Singen, sondern nur um zu zeigen, daß sie betrunken waren und ein flottes Leben führten.
Einer von ihnen, ein großer, blonder Bursche in sauberem, blauem Rock, stand, etwas höher als die anderen, neben ihnen. Sein Gesicht mit der feinen, geraden Nase wäre schön gewesen, wenn er nicht die schmalen, zusammengepreßten, ständig zuckenden Lippen und die finsteren, trüben, starren Augen gehabt hätte. Er stand zu Häupten derer, die sangen, und fuhr mit seinem Arm, den Ärmel bis zum Ellbogen aufgestreift und die schmutzigen Finger auf unnatürliche Weise auseinanderspreizend, feierlich und ungeschickt über ihren Köpfen hin und her, worunter er sich offenbar irgend etwas vorstellte. Sein Rockärmel fiel immer wieder herunter, aber der Bursche streifte ihn mit der linken Hand sorgsam stets wieder hoch, als sei dies von besonderer Wichtigkeit, daß dieser weiße, von Adern durchzogene, hin und her geschwenkte Arm unbedingt entblößt war. Mitten in ihrem Grölen hörte man vom Flur und von der Treppe her Geschrei, Geschimpfe und Schlägerei. Der lange Bursche winkte mit der Hand ab.
»Genug!« schrie er herrisch. »Auf zur Keilerei, Kinder!« Und immer wieder den Ärmel hochstreifend, lief er auf die Treppe hinaus.
Die Fabrikarbeiter stürzten ihm nach. Sie hatten dem Gastwirt Felle aus der Fabrik gebracht, und dafür hatte er ihnen umsonst Branntwein gegeben, und so hatten sie den ganzen Vormittag unter dem Vorsitz des langen Burschen gezecht. Nun wollten die Arbeiter aus der benachbarten Schmiede, die den Lärm in der Schenke gehört und angenommen hatten, daß die Kneipe gestürmt worden sei, mit Gewalt in das Haus eindringen. Auf der Treppe kam es zur Schlägerei.
In der Tür balgte sich der Wirt mit dem Schmied, und gerade als die Fabrikarbeiter heraustraten, rang sich der Schmied von dem Wirt los und fiel mit dem Gesicht aufs Pflaster.
Ein anderer Schmiedegeselle drängte sich in die Tür und stemmte sich mit der Brust gegen den Wirt.
Der Bursche mit dem aufgestreiften Rockärmel schlug im Vorbeigehen dem sich in die Tür drängenden Schmiedegesellen ins Gesicht und schrie wild: »Kinder, man schlägt auf die Unsrigen ein!«
In diesem Augenblick erhob sich der erste Schmied von der Erde, wischte sich mit der Hand das Blut von seinem zerschlagenen Gesicht und schrie mit weinerlicher Stimme: »Hilfe Mörder! Man schlägt einen Menschen tot. Brüder!«
»O je, o je, ihr Leute, sie haben ihn totgeschlagen! Einen Menschen haben sie totgeschlagen!« kreischte ein altes Weib, das aus dem Nachbartor getreten war.
Eine Volksmenge scharte sich um den blutenden Schmied.
»Nicht genug, daß du alle Leute ausgeraubt und ihnen das letzte Hemd vom Leib gezogen hast«, wandte sich eine Stimme an den Wirt, »nun hast du auch noch einen totgeschlagen! Du Schuft!«
Der lange Bursche stand an der Treppe und ließ seine trüben Augen bald über den Wirt, bald über den Schmied hinschweifen, als überlege er, mit wem er sich nun herumschlagen müsse.
»Mörder!« schrie er plötzlich dem Wirt zu. »Bindet ihn, Kinder!«
»Untersteht euch nur, einen wie mich zu binden!« schrie der Wirt, stieß die auf ihn losstürzenden Leute zurück, riß die Mütze vom Kopf und warf sie auf die Erde.
Es war, als habe diese Handlung irgendeine geheimnisvoll drohende Bedeutung: die Fabrikarbeiter traten von dem Wirt zurück und blieben unschlüssig stehen.
»Was Ordnung ist, Freundchen, das weiß ich ganz genau. Und wenn ich bis auf die Polizei gehe! Du denkst wohl, ich gehe nicht hin? Wie die Räuber über andere herzufallen ist auch heute keinem erlaubt!« schrie der Wirt und hob die Mütze wieder auf.
»Gut, gehen wir hin! Gut, gehen wir hin!« wiederholten der Wirt und der lange Bursche abwechselnd immer wieder und gingen zusammen die Straße entlang.
Der blutende Schmied ging neben ihnen her. Die Fabrikarbeiter und fremdes Volk folgten ihnen unter Schreien und Schwatzen.
An der Ecke der Maroseika standen vor einem großen Haus mit geschlossenen Fensterläden und dem Schild eines Schuhmachermeisters gegen zwanzig Schuhmacher mit niedergeschlagenen Gesichtern, magere, abgemattete Gestalten in langen, zerrissenen Röcken.
»Er muß die Leute auszahlen, wie es sich gehört!« sagte ein hagerer Meister mit dünnem Bart und finster zusammengezogenen Augenbrauen. »Das Blut hat er uns ausgesogen, und nun denkt er, wir sind quitt. An der Nase hat er uns herumgeführt, an der Nase – acht Tage lang. Und nachdem es nun bis zum Äußersten gekommen ist, hat er sich aus dem Staube gemacht.«
Als der Meister den blutüberströmten Menschen sah, schwieg er still, und alle Schuhmacher gesellten sich mit hastiger Neugier der vordrängenden Menge bei.
»Wohin gehen denn die Leute?«
»Wohin sollen sie gehen? Zur Obrigkeit gehen sie.«
»Wie denn, haben denn die Genossen nicht mit Recht Gewalt gebraucht?«
»Was du dir denkst? Hör doch, was die Leute sagen!«
Man hörte fragen und antworten. Der Wirt benutzte das Anschwellen der Menge, trat von den Leuten zurück und kehrte in seine Schenke zurück.
Der lange Bursche, der das Verschwinden seines Feindes, des Wirtes, gar nicht bemerkt hatte, hielt ununterbrochen Reden, indem er mit dem nackten Arm hin und her fuchtelte, und zog dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. So drängten sich denn die Leute vorzugsweise um ihn in der Annahme, daß nur er all die Fragen, die sie beschäftigten, aufklären könne.
»Dem werde ich zeigen, was Ordnung, was Gesetz ist! Dazu ist doch die Polizei da. Habe ich es euch nicht gesagt, Rechtgläubige?« rief der lange Bursche mit kaum merklichem Lächeln. »Er denkt wohl, es gibt keine Polizei mehr? Kann man denn ohne Polizei sein? Da würde es nicht wenige geben, die plündern wollten.«
»Was für leeres Gewäsch!« hieß es in der Menge. »Wie denn, soll Moskau wirklich übergeben werden? … Das hat man dir im Spaß gesagt, und du glaubst es nun … Sind unsere Truppen etwa zu schwach, die da kommen … Soweit haben sie ihn nun kommen lassen … Dazu ist die Polizei da … Hört, was die Leute sagen …« klang es durcheinander, und alles zeigte auf den langen Burschen.
An der Mauer von Kitaigorod[198] umringte ein anderer, kleinerer Volkshaufe einen Mann im Friesmantel, der ein Blatt Papier in der Hand hielt.
»Eine Bekanntmachung wird verlesen, eine Bekanntmachung!« hörte man in der Menge, und das Volk drängte zu dem Vorleser hin.
Der Mann im Friesmantel las das Flugblatt vom 31. August vor. Als ihn die Menge umringte, schien er verlegen zu werden, begann aber auf das Begehren des langen Burschen hin, der sich bis zu ihm vorgedrängt hatte, mit leichtem Zittern in der Stimme das Flugblatt von Anfang an vorzulesen.
»Morgen früh fahre ich zum durchlauchtigen Fürsten«, las er – »durchlauchtigen« wiederholte der lange Bursche feierlich mit lächelndem Mund und finster zusammengezogenen Augenbrauen –, »um mit ihm zu beraten, zusammenzuwirken und den Truppen zu helfen, die bösen Feinde zu vernichten. Auch wir werden …« fuhr der Vorleser fort und hielt inne – »Habt ihr’s gehört?« schrie der lange Bursche triumphierend. »Der wird sie schon Mores lehren!« – »ihnen die Seelen aus dem Leib ziehen und diese ungebetenen Gäste zum Teufel jagen. Mittags komme ich zurück, und dann gehen wir an die Arbeit. Wir machen uns dran, machen ein Ende und machen den Bösewichtern den Garaus.«
Als der Mann im Friesmantel die letzten Worte vorlas, war es vollkommen still. Der lange Bursche ließ schwermütig den Kopf hängen. Es war klar, daß das letzte bei niemand Verständnis fand. Hauptsächlich die Worte: »Mittags komme ich zurück« ärgerten den Vorleser sowie seine Hörer sichtlich. Das Volk hatte nur für etwas Höheres Verständnis, dies war zu schlicht und unnötig faßlich, es waren dieselben Worte, die jeder von ihnen hätte im Munde führen können und die deshalb nicht in einer Bekanntmachung, die von der höchsten Behörde ausging, gesagt werden durften. Alle standen stumm und niedergeschlagen da. Der lange Bursche kaute an den Lippen und wand sich hin und her.
»Sollen wir ihn fragen? … Da ist er ja selber! … Ach was, der wird sich durch unsere Fragen bewegen lassen! … Aber warum denn nicht? … Er soll uns beweisen …« ließ sich plötzlich einer aus den hinteren Reihen der Menge vernehmen, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich dem Wagen des Polizeimeisters zu, der, von zwei berittenen Dragonern begleitet, über den Platz fuhr.
Der Polizeimeister war an diesem Morgen auf Befehl des Grafen ausgefahren, um die Barken in Brand zu setzen, und hatte für diesen Auftrag eine große Summe Geldes ausgezahlt bekommen, das er augenblicklich in seiner Tasche bei sich trug. Als er die auf ihn zudrängende Volksmenge sah, befahl er dem Kutscher zu halten.
»Was ist das für Volk?« schrie er den Leuten zu, die einzeln und schüchtern auf den Wagen zukamen.
»Was ist das für Volk? Ich frage Sie«, wiederholte der Polizeimeister, da er keine Antwort erhielt.
»Sie wollen, Euer Wohlgeboren …« sagte der Beamte im Friesmantel, »sie wollen, Euer Wohlgeboren, auf die Erklärung des erlauchtigsten Grafen hin, ohne ihr Leben zu schonen, der guten Sache dienen, nicht daß es irgendein Aufruhr wäre, wie von dem erlauchtigen Grafen gesagt worden ist …«
»Der Graf ist nicht fortgefahren; er ist hier, und über euch wird schon noch verfügt werden«, sagte der Polizeimeister. »Weiter!« rief er dem Kutscher zu.
Die Menge blieb stehen, drängte sich um diejenigen, die gehört hatten, was die Obrigkeit gesagt hatte, und blickten dem fortfahrenden Wagen nach.
Währenddessen sah sich der Polizeimeister ängstlich um, rief dem Kutscher etwas zu, und seine Pferde schlugen ein rascheres Tempo an.
»Das ist Betrug, Kinder! Kommt, gehen wir zu ihm selber!« schrie die Stimme des langen Burschen.
»Laßt ihn nicht fort, Kinder! Mag er uns Rechenschaft geben! Haltet ihn!« riefen einige, und das Volk lief stürmisch dem Wagen nach.
Unter Lärmen und Schreien rannte die Menge hinter dem Polizeimeister her nach der Lubjanka zu.
»Was soll das heißen? Die Herrschaften und die Kaufleute sind weggefahren, dafür können wir wohl zugrunde gehen? Sind wir etwa Hunde? Was?« hörte man immer häufiger und häufiger aus der Menge.
Am 1. September abends kehrte Graf Rastoptschin nach seiner Unterredung mit Kutusow nach Moskau zurück. Er war verärgert und beleidigt, daß man ihn nicht zum Kriegsrat mit herangezogen hatte, daß Kutusow seinem Vorschlag, an der Verteidigung der Hauptstadt teilzunehmen, gar keine Beachtung schenkte, und fühlte sich befremdet durch den neuen Gesichtspunkt, der ihm hier im Lager offenbar geworden war, wonach die Ruhe in der Hauptstadt und die patriotische Gesinnung ihrer Bewohner nicht nur in den Hintergrund gerückt, sondern als etwas völlig Zweckloses und Nebensächliches angesehen wurde.
Nachdem er zu Abend gegessen hatte, legte er sich, ohne sich auszukleiden, aufs Sofa und wurde gegen ein Uhr von einem Kurier geweckt, der ihm einen Brief von Kutusow überbrachte. In diesem Brief hieß es, da sich die Armee nun auf die Rjasansche Straße hinter Moskau zurückziehe, möchte der Graf Polizeibeamte schicken, um die Truppen durch die Stadt zu führen. Diese Nachricht war für Rastoptschin nichts Neues. Nicht nur seit der gestrigen Zusammenkunft mit Kutusow auf dem Poklonberg, sondern schon seit der Schlacht bei Borodino, als alle nach Moskau zurückkehrenden Generäle einstimmig erklärt hatten, daß es unmöglich sei, eine weitere Schlacht zu liefern, und als auf den Befehl des Grafen schon allnächtlich fiskalisches Gut weggeschafft wurde und die Hälfte der Einwohner die Stadt verließ – schon seit jener Zeit wußte Graf Rastoptschin, daß Moskau preisgegeben werden mußte. Als ihm aber jetzt in der Nacht, mitten in seinem ersten Schlaf, diese Tatsache in Form eines einfachen Briefes mit einem Befehl Kutusows mitgeteilt wurde, erregte und reizte ihn diese Nachricht doch.
Als Rastoptschin später über sein Wirken während dieser Zeit in seinen Erinnerungen Aufschluß gab, hat er wiederholt behauptet, damals zwei wichtige Ziele im Auge gehabt zu haben: de maintenir la tranquillité à Moscou et d’en faire partir les habitants. Erkennt man diesen zwiefachen Vorsatz an, so kann gegen keine seiner Handlungen ein Vorwurf erhoben werden. Warum wurden die Heiligtümer, die Waffen, das Pulver, die Brotvorräte nicht aus Moskau fortgeschafft? Warum wurden Tausende von Einwohnern durch die falsche Meldung, Moskau werde nicht kapitulieren, nicht nur getäuscht, sondern auch zugrunde gerichtet? Um die Ruhe in der Hauptstadt aufrechtzuerhalten, antwortet Rastoptschins Erklärung. Wozu wurden ganze Berge unnützer Akten von den Behörden und Leppichs Luftballon und noch andere Dinge aus der Stadt fortgeschafft? Um Moskau leer zu machen, antwortet Rastoptschins Erklärung. Man braucht nur zuzugeben, daß etwas die Ruhe des Volkes zu stören gedroht habe – und gleich erscheint jeder Schritt als gerechtfertigt.
Alle Greuel seiner Schreckensherrschaft finden so in seiner Sorge um die Ruhe im Volk ihre Begründung.
Doch worauf fußte Rastoptschins Besorgnis um die Ruhe im Volk in Moskau im Jahre 1812? Welcher Grund ließ auf eine Neigung zum Aufruhr im Volk schließen? Die Bewohner waren abgereist, die Stadt war voller Truppen, die sich auf dem Rückzug befanden. Warum sollte demnach das Volk revoltieren?
Nicht nur in Moskau, auch in ganz Rußland hatte sich während des Eindringens der Feinde nicht das geringste ereignet, was wie ein Aufstand auch nur ausgesehen hätte. Am 1. und 2. September befanden sich noch über zehntausend Menschen in Moskau, aber außer dem Volkshaufen, der sich auf dem Hof des Oberbefehlshabers, durch ihn selbst herbeigezogen, versammelt hatte, fanden keine Zusammenrottungen statt. Noch weniger wäre offenbar eine Empörung im Volk zu erwarten gewesen, wenn Rastoptschin gleich nach der Schlacht bei Borodino, als die Preisgabe Moskaus offensichtlich oder wenigstens wahrscheinlich geworden war, statt das Volk durch Waffenausgabe und Flugblätter aufzuregen, Maßnahmen zum Abtransport aller Heiligtümer, des Pulvers, der Munition und des Geldes getroffen und dem Volk geradeheraus gesagt hätte, daß man die Stadt nicht halten könne.
Rastoptschin, ein hitziger, sanguinischer Mensch, der sich nur immer in den höchsten Verwaltungskreisen bewegt hatte, besaß, wenn er auch patriotisch gesinnt war, doch nicht das geringste Verständnis für jenes Volk, das er zu lenken und zu leiten wähnte. Von allem Anfang an, seit der Feind in Smolensk eingerückt war, hatte er sich in Gedanken die Rolle eines Mannes zugeteilt, der im »Herzen Rußlands« das Nationalgefühl des Volkes in die rechten Bahnen leitet. Ihm schien wie jedem Verwaltungsbeamten, daß er die Bewohner Moskaus nicht nur durch äußere Maßnahmen leite, sondern auch ihre Gesinnung lenke, und zwar durch seine Aufrufe und Flugblätter, die in jener läppischen Sprache geschrieben waren, die das Volk unter sich schon gering schätzt und, wenn es sie nun gar von obenher vernimmt, überhaupt nicht versteht. Die schöne Rolle eines Hüters des Nationalbewußtsseins im Volk gefiel Rastoptschin so sehr und er hatte sich so in sie hineingelebt, daß ihn die Notwendigkeit, diese Rolle aufzugeben, die Notwendigkeit, Moskau ohne jeden heroischen Knalleffekt dem Feind zu überlassen, unerwartet schwer traf, so daß er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und tatsächlich nicht wußte, was er tun sollte. Obgleich ihm alles bekannt gewesen war, hatte er doch bis zum letzten Augenblick im innersten Herzen nicht an eine Preisgabe Moskaus geglaubt und auch nichts dafür unternommen. Die Einwohner waren gegen seinen Willen aus der Stadt gezogen. Wenn er die Behörden hatte fortschaffen lassen, so war dies nur auf den dringenden Wunsch der Beamten geschehen, dem der Graf nur ungern beigestimmt hatte. Er selbst war in jener Rolle aufgegangen, die er für sich selber zurechtgemacht hatte. Wie es Leuten, die mit lebhafter Einbildungskraft begabt sind, häufig zu gehen pflegt, wußte er zwar schon lange, daß Moskau hingegeben werden mußte, begriff es aber nur mit dem Verstand, während er im Innersten seines Herzens nicht daran glaubte und sich in Gedanken nicht in diese neue Lage versetzte.
Sein ganzes Wirken, so eifrig und energisch es war – inwieweit es sich als nützlich erwies und auf das Volk Einfluß hatte, ist eine andere Frage –, sein ganzes Wirken war nur darauf gerichtet, in den Einwohnern Moskaus jenes Gefühl zu erwecken, das er selber empfand: patriotischen Haß gegen die Franzosen und Selbstvertrauen.
Doch als die Ereignisse ihr wahres, historisches Ausmaß annahmen, als es nicht mehr hinreichte, nur durch Worte seinen Haß gegen die Franzosen zu bekunden, und es zur Unmöglichkeit geworden war, diesen Haß durch eine Schlacht zu zeigen, als sich alles Selbstvertrauen gerade hinsichtlich der einen Frage »Moskau« als zwecklos erwies, als die ganze Bevölkerung wie ein Mann ihr Hab und Gut im Stich ließ und aus der Stadt flutete und gerade durch diese negative Handlung die ganze Kraft ihres nationalen Empfindens offenbarte – da stellte sich die Rolle, die Rastoptschin erwählt hatte, auf einmal als sinnlos heraus. Er fühlte sich plötzlich vereinsamt, schwach und lächerlich; der Boden wankte ihm unter den Füßen.
Als er aus dem Schlaf geweckt wurde und den kalten und befehlenden Brief Kutusows erhielt, fühlte er sich um so gereizter, je mehr er sich der eignen Schuld bewußt wurde. In Moskau war alles das zurückgeblieben, was ihm gerade anvertraut worden war, lauter Staatseigentum, das er hätte fortschaffen müssen. Jetzt noch alles wegzubringen war unmöglich.
Wer ist schuld daran, wer hat es so weit kommen lassen? dachte er. Ich selbstverständlich nicht. Bei mir war alles bereit, ich hätte Moskau gehalten. So weit haben sie also die Karre in den Dreck gefahren. Diese Schurken! Diese Verräter! dachte er, ohne sich recht darüber klar zu sein, wen er unter diesen Schurken und Verrätern verstand, nur aus dem Gefühl eines notwendigen Hasses gegen irgendwelche Übeltäter heraus, die an der schiefen und lächerlichen Lage, in der er sich befand, schuld waren.
In dieser Nacht erteilte Graf Rastoptschin viele Befehle, die entgegenzunehmen man aus allen Ecken und Enden Moskaus zu ihm kam. Noch nie hatte ihn seine Umgebung so finster und gereizt gesehen wie in dieser Nacht.
»Euer Erlaucht, jemand aus der Erbgüterverwaltung, vom Direktor, um Befehle einzuholen … vom Konsistorium, vom Senat, von der Universität, vom Findelhaus … der Vikar schickt her … läßt fragen … Wie soll sich die Feuerwehr verhalten? Der Inspektor aus dem Gefängnis … aus dem Irrenhaus …« so meldete man dem Grafen ununterbrochen die ganze Nacht über.
Auf alle diese Fragen erteilte der Graf kurze und grimmige Antworten, die durchblicken ließen, daß seine Anordnungen nun ganz zwecklos seien, daß alles, was er sorgsam vorbereitet habe, jetzt durch irgend jemanden verfahren worden sei, und daß nun auch dieser Jemand die ganze Verantwortung für das, was nun geschehen werde, tragen möge.
»Sage diesem alten Esel«, erwiderte er auf die Anfrage aus der Erbgüterverwaltung, »er solle nur ruhig dableiben und seine Akten hüten. Und was fragst du da für Unsinn wegen der Feuerwehr? Wenn sie noch Pferde haben, mögen sie doch nach Wladimir fahren. Nur nichts den Franzosen lassen!«
»Euer Erlaucht, der Aufseher aus dem Irrenhaus ist da; was befehlen Sie?«
»Was ich befehle? Mögen sie alle davonlaufen, was ist denn dabei? Laßt doch die Verrückten in die Stadt. Wenn bei uns Verrückte Armeen kommandieren, so wird der liebe Gott auch nichts dagegen haben, wenn die andern frei herumlaufen.«
Auf die Anfrage betreffs der Sträflinge, die im Loch saßen, schrie der Graf den Aufseher wütend an: »Was? Soll ich dir etwa zwei von den Bataillonen, die ich nicht habe, zum Schutz geben? Laß sie doch laufen! Alle miteinander!«
»Euer Erlaucht, es sind auch politische Verbrecher dabei: Mjeschkow, Wereschtschagin.«
»Wereschtschagin? Der ist immer noch nicht gehängt?« schrie Rastoptschin. »Bring ihn her!«
Morgens um die neunte Stunde, als die Truppen bereits durch Moskau marschierten, kam niemand mehr zum Grafen, um dessen Befehle einzuholen. Alle, die abfahren konnten, fuhren von selber fort, und die, welche zurückblieben, trafen aus sich selbst heraus die Entscheidung, was sie zu tun hatten,
Der Graf hatte seinen Wagen anzuspannen befohlen, um nach Sokolniki zu fahren, und saß nun finster, gelb und schweigsam mit gefalteten Händen in seinem Arbeitszimmer.
In ruhigen, nicht stürmischen Zeiten glaubt jeder Verwaltungsbeamte, daß er alle Schritte der Bevölkerung seines Bezirkes nur seinen eignen Anregungen zu danken habe, und empfindet dieses Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit als den Hauptlohn für seine Mühe und Arbeit. Man kann verstehen, daß, solange das Meer der Weltgeschichte ruhig daliegt, der steuernde Verwaltungsbeamte, der sich von seinem lecken Boot aus mit einer Stange gegen das Schiff des Volkes lehnt und dadurch mitgetrieben wird, die Vorstellung haben muß, das Schiff, gegen das er sich lehnt, werde durch seine Anstrengungen fortbewegt. Aber es braucht sich nur ein Sturm zu erheben, das Meer in Aufruhr zu geraten und das Schiff sich allein zu bewegen, und dieser Irrtum ist nicht mehr möglich. Das Schiff schwimmt unabhängig und mit Riesenkraft dahin, die Stange reicht nicht mehr bis zu ihm heran und der vermeintliche Lenker und Leiter sieht sich auf einmal aus der Rolle eines Machthabers, die die Quelle seiner Kraft war, in die eines nichtigen, unnützen und ohnmächtigen Menschen versetzt. Rastoptschin fühlte dies, und das war es, was ihn so reizte.
Da traten der Polizeimeister, den die Menge angehalten hatte, und der Adjutant, der melden wollte, daß der Wagen bereit sei, gleichzeitig beim Grafen ein. Sie sahen beide bleich aus, und der Polizeimeister teilte, nachdem er über die Ausführung seines Befehls Bericht erstattet hatte, dem Grafen mit, daß sich unten im Hof eine gewaltige Volksmenge angesammelt habe, die ihn zu sehen wünsche.
Rastoptschin erwiderte kein Wort, stand auf, ging mit schnellen Schritten durch seinen üppigen, hellen Salon, trat auf die Balkontür zu und hatte schon die Klinke in der Hand, als er es sich doch wieder anders überlegte und ans Fenster trat, von wo aus er die Menge besser überblicken konnte. Der lange Bursche stand mit ernstem Gesicht in den vordersten Reihen, fuchtelte mit den Armen und hielt Reden. Der blutige Schmied stand mit finsterer Miene neben ihm. Durch die geschlossenen Fenster hörte man das Getöse vieler Stimmen.
»Ist der Wagen bereit?« fragte Rastoptschin und trat vom Fenster zurück.
»Zu Befehl, Euer Erlaucht«, antwortete der Adjutant.
Rastoptschin trat wieder auf die Balkontür zu.
»Was wollen die denn eigentlich?« fragte er den Polizeimeister.
»Euer Erlaucht, sie sagen, sie hätten sich versammelt, um auf Ihren Befehl hin gegen die Franzosen zu ziehen. Sie brüllen etwas von Verrat. Die Menge ist roh und zügellos, Euer Erlaucht. Mit Mühe bin ich ihr entronnen. Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf, Euer Erlaucht …«
»Machen Sie gefälligst, daß Sie fortkommen! Ich weiß ohne Sie, was ich zu tun habe«, schrie Rastoptschin wütend.
Er stand an der Balkontür und blickte auf die Menge. Das haben sie aus Rußland gemacht! Das haben sie aus mir gemacht! dachte er und fühlte in seinem Herzen einen unaufhaltsamen Zorn gegen jemanden aufsteigen, dem man die Schuld an allem, was geschah, hätte zuschreiben können. Wie es hitzigen Leuten oft geht, hatte auch ihn der Zorn bereits überwältigt, während er noch immer nach einem Gegenstand dafür suchte. La voilà la populace, la lie du peuple, dachte er, indem er über die Menge hinblickte, la plèbe qu’ils ont soulevée par leur sottise. Il leur faut une victime, schoß es ihm durch den Kopf, als er den langen Burschen erblickte, der mit den Armen fuchtelte. Und dieser Gedanke kam ihm deshalb, weil er ein solches Opfer brauchte, einen Gegenstand, an dem er seinen Zorn auslassen konnte.
»Ist der Wagen bereit?« fragte er zum zweitenmal.
»Jawohl, Euer Erlaucht. Was befehlen Sie betreffs Wereschtschagins? Er wartet an der Treppe«, erwiderte der Adjutant.
»Ah!« rief Rastoptschin, wie von einer plötzlichen Erinnerung befallen.
Dann riß er hastig die Tür auf und trat mit entschiedenen Schritten auf den Balkon. Das Stimmengewirr verstummte mit einemmal, man nahm die Hüte und Mützen ab, und aller Augen erhoben sich zu dem heraustretenden Grafen.
»Guten Tag, Kinder!« sagte der Graf schnell und laut. »Ich danke euch, daß ihr gekommen seid. Gleich werde ich zu euch hinunterkommen, aber vor allem müssen wir mit einem Bösewicht fertig werden. Wir müssen den Bösewicht bestrafen, der Moskau ins Verderben gestürzt hat. Wartet auf mich!«
Und ebenso hastig ging der Graf wieder in sein Zimmer zurück und schlug laut die Tür hinter sich zu.
Ein beifälliges Murmeln der Befriedigung lief durch die Menge. »Das heißt, der wird schon mit allen Bösewichten fertig werden! Und du hast gesagt, er sei ein Franzose … Er wird schon allen Ordnung beibringen!« sagten die Leute, als wollte einer dem anderen seinen Mangel an Vertrauen zum Vorwurf machen.
Einige Augenblicke später trat aus dem Hauptportal eilig ein Offizier, erteilte einen Befehl, und die Dragoner standen stramm. Gierig drängte die Menge vom Balkon auf die Freitreppe zu. Da trat Rastoptschin mit hastigen, erregten Schritten auf die Treppe hinaus und sah sich unruhig um, als suche er jemanden.
»Wo ist er?« fragte der Graf.
Doch im selben Augenblick, als er dies sagte, sah er, wie zwischen zwei Dragonern ein junger Mann mit langem, dünnem Hals um die Hausecke kam, dessen Kopf zur Hälfte mit Haaren bewachsen, zur Hälfte kahl geschoren war. Dieser junge Mann trug eine früher elegant gewesene, mit blauem Tuch überzogene, abgeschabte Fuchspelzjacke und schmutzige, hanfleinene Sträflingshosen, die in ungeputzten, abgetretenen, feinen Stiefeln steckten. An seinen dünnen, schwachen Beinen hingen schwere Fesseln, die den schwankenden Gang des jungen Menschen noch unsicherer machten.
»Ah!« sagte Rastoptschin, wandte hastig seinen Blick wieder von dem jungen Mann im Fuchspelz ab und zeigte auf die unterste Treppenstufe: »Stellt ihn hierher!«
Der junge Mann schritt, mit den Fesseln klirrend, schwerfällig auf die bezeichnete Stufe zu, hielt mit dem Finger den beengenden Kragen seiner Pelzjacke nieder, reckte zweimal den langen Hals, seufzte und legte mit ergebener Gebärde seine feinen, arbeitsungewohnten Hände vor dem Leib zusammen.
Während der Gefesselte seinen Platz auf der Stufe einnahm, herrschte ein sekundenlanges Schweigen. Nur in den hinteren Reihen der auf die eine Stelle zudrängenden Menge hörte man Krächzen, Stöhnen, Stoßen und das Geräusch von hin und her tretenden Füßen.
Auch Rastoptschin wartete, bis der junge Mann den ihm angewiesenen Platz eingenommen hatte, dann zog er finster die Brauen zusammen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
»Kinder!« sagte Rastoptschin mit metallisch klangvoller Stimme. »Dieser Mensch ist Wereschtschagin und jener Schurke, der Moskaus Untergang verschuldet hat.«
Der junge Mann im Fuchspelz stand in ergebener Haltung da, die Fäuste vor dem Leib zusammengelegt und den Rücken ein wenig gebeugt. Sein abgemagertes, durch den halbrasierten Kopf entstelltes, jugendliches Gesicht war mit einem Ausdruck der Hoffnungslosigkeit zu Boden gesenkt. Bei den ersten Worten des Grafen hob er langsam den Kopf und sah diesen von unten her an, als wollte er etwas zu ihm sagen oder auch nur seinem Blick begegnen. Aber Rastoptschin sah ihn nicht an. An dem langen, dünnen Hals des jungen Mannes schwoll die Ader hinter dem Ohr wie ein Strick an und schimmerte bläulich, und plötzlich wurde sein Gesicht rot.
Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er blickte auf die Menge, und als hätte ihm der Ausdruck, den er auf den Gesichtern des Volkes las, ein wenig Hoffnung gemacht, lächelte er traurig und scheu, senkte wieder den Kopf und stellte seine Füße auf der Stufe zurecht.
»Er hat seinen Zaren und sein Vaterland verraten, er hat sich Bonaparte ergeben, er allein unter allen Russen hat den Namen eines Russen geschändet, er hat Moskau zugrunde gerichtet«, sagte Rastoptschin mit gleichmäßiger, schneidender Stimme und warf plötzlich einen schnellen Blick zu Wereschtschagin hinunter, der immer noch in derselben ergebenen Haltung dastand. Und als habe ihn dieser Blick in grimmige Erregung versetzt, hob er die Hand auf und sagte fast schreiend, zum Volk gewandt: »Richtet ihn nach eurem Urteil! Ich übergebe ihn euch.«
Das Volk schwieg und drängte nur noch dichter und dichter zusammen. So aneinandergepreßt zu stehen, diese schwüle, verpestete Luft zu atmen, nicht die Kraft zu haben, sich zu bewegen, und etwas Unbekanntes, Unfaßliches und Furchtbares zu erwarten, wurde nach und nach unerträglich. Die in den vordersten Reihen standen und alles hörten und sahen, was sich vor ihnen abspielte, boten mit erschrocken weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern alle Kraft auf, um den Andrang der hinter ihnen Stehenden mit ihren Rücken aufzuhalten.
»Schlagt ihn nieder! Möge der Verräter zugrundegehen, damit er den Namen eines Russen nicht mehr schändet!« schrie Rastoptschin. »Schlagt ihn nieder! Ich befehle es!«
Als die Menge zwar nicht die Worte, aber den wütenden Klang der Stimme Rastoptschins hörte, stöhnte sie auf und drängte vorwärts, blieb aber dann wieder stehen.
»Graf«, ertönte mitten in diesem erneuten, minutenlangen Schweigen die schüchterne und zugleich theatralische Stimme Wereschtschagins. »Graf, nur Gott allein, der über uns ist …« rief er mit erhobenem Kopf, und wieder füllte sich die breite Ader an seinem dünnen Hals mit Blut, und eine jähe Röte trat auf sein Gesicht, verflog aber sogleich wieder.
Aber er kam mit dem, was er aussprechen wollte, nicht zu Ende.
»Schlagt ihn nieder! Ich befehle es! …« schrie Rastoptschin, der plötzlich ebenso bleich geworden war wie Wereschtschagin.
»Die Säbel heraus!« schrie ein Offizier den Dragonern zu und zog selbst den Säbel aus der Scheide.
Eine zweite, noch stärkere Welle glitt über das Volk hin, drang bis zu den vordersten Reihen, setzte sie in Bewegung und trug sie schwankend bis an die Stufen der Freitreppe vor. Der lange Bursche mit versteinerter Miene und immer noch hochgerecktem Arm stand dicht neben Wereschtschagin.
»Schlagt zu!« sagte der Offizier beinahe flüsternd zu den Dragonern.
Mit wutentstelltem Gesicht schlug einer der Soldaten Wereschtschagin plötzlich mit der flachen Klinge über den Kopf.
»Ah!« schrie Wereschtschagin kurz und erschrocken auf und sah sich entsetzt um, als begriffe er nicht, warum man ihm dies antat. Derselbe erschrockene und entsetzte Schrei lief auch durch die Menge. »O Gott!« rief jemand klagend aus.
Aber gleich nach dem Ausruf des Erstaunens, der Wereschtschagin entschlüpft war, schrie er jammernd vor Schmerz laut auf, und dieser Aufschrei war sein Verderben. Die bis zum äußersten gespannte Schranke menschlichen Gefühles, die die Menge noch zurückgehalten hatte, wurde augenblicklich durchbrochen. Das Verbrechen war begonnen, nun mußte es unweigerlich zu Ende geführt werden. Das klägliche, vorwurfsvolle Stöhnen des Opfers wurde betäubt durch das drohende, wütende Geheul der Menge. Wie eine letzte und stärkste Flut die Schiffe zerschlägt, so wälzte sich diese letzte unaufhaltsame Woge aus den hinteren Reihen hervor, pflanzte sich bis zu den vorderen fort, schlug sie nieder und verschlang alles. Der Dragoner, der den Hieb versetzt hatte, wollte zum zweitenmal zuschlagen. Wereschtschagin warf zum Schutz die Arme hoch und stürzte mit einem Aufschrei des Entsetzens dem Volk entgegen. Der lange Bursche, an den er anrannte, krallte seine Hände um Wereschtschagins dünnen Hals und fiel mit einem wilden Schrei mit ihm zusammen unter die Füße der heulenden, sich heranwälzenden Menge.
Die einen schlugen und zerrten Wereschtschagin, die anderen den langen Burschen. Und das Geschrei der gequetschten Menschen und der anderen, die den Langen zu retten suchten, entfachte die Wut der Masse nur noch mehr. Lange konnten die Dragoner den blutüberströmten, halbtotgeschlagenen Fabrikarbeiter nicht frei bekommen. Und trotz der heißen Geschwindigkeit, mit der die Menge das einmal begonnene Werk zu Ende zu führen suchte, konnten doch jene Leute, die Wereschtschagin schlugen, würgten und zerrten, ihn lange nicht töten. Aber der Volkshaufe umdrängte sie von allen Seiten, schwankte, sie in die Mitte nehmend, wie eine einzige Masse von einer Seite zur anderen und ließ ihnen weder die Möglichkeit, ihn totzuschlagen, noch von ihm abzulassen.
»Haut zu mit dem Beil, feste! … Ist er erwürgt? … Der Verräter, hat Christus verraten … Lebt er noch? … Nicht tot zu kriegen! … Gebt ihm den Lohn für seine Taten … Das Beil müßt ihr nehmen! … Immer noch nicht tot? …«
Erst als das Opfer keinen Widerstand mehr leistete und sein Schreien zu einem gleichmäßigen, langgezogenen Röcheln geworden war, begann man in der Menge um den am Boden liegenden, blutüberströmten Leichnam herum hastig einander Platz zu machen. Jeder kam heran, sah sich das vollbrachte Werk an und trat entsetzt, vorwurfsvoll und erstaunt wieder zurück.
»O Gott, das Volk ist wie ein wildes Tier! Ist ein Mensch je vor ihm sicher?« hörte man jemanden sagen. »Und ein noch so junger Bursche … Muß wohl ein Kaufmann gewesen sein … Ja das Volk, das Volk! … Sie sagen, es ist gar nicht der … Wieso nicht der? … O Gott! … Sie haben noch einen anderen mit niedergeschlagen; der soll kaum noch leben … Ach das Volk, das Volk! … Daß sie die Sünde nicht scheuen …« sagten jetzt dieselben Leute, während sie mit schmerzlichkläglichem Ausdruck den toten Körper mit dem blau gewordenen, mit Blut und Schmutz befleckten Gesicht und dem zerschlagenen, langen, dünnen Hals betrachteten.
Ein emsiger Polizeibeamter, der die Anwesenheit einer Leiche auf dem Hof Seiner Erlaucht für ungehörig erachtete, befahl den Soldaten, den toten Körper auf die Straße zu schleppen. Zwei Dragoner packten ihn an den verstümmelten Beinen und zogen ihn hinaus. Der blutüberströmte, schmutzbefleckte, abrasierte Kopf des Toten an dem langen Hals schleifte baumelnd an der Erde nach. Das Volk drängte von dem Leichnam weg.
In dem Augenblick, als Wereschtschagin zu Boden gestürzt war und ihn die Menge mit wildem Geheul umdrängt und umwogt hatte, war Rastoptschin plötzlich erbleicht, und anstatt sich nach der Hintertreppe zu begeben, wo sein Wagen auf ihn wartete, ging er mit gesenktem Kopf, ohne selber zu wissen wohin und wozu, mit hastigen Schritten den Korridor entlang, der zu den Zimmern des unteren Stockwerks führte. Das Gesicht des Grafen war bleich, und er konnte ein fieberhaftes Zittern seines Unterkiefers nicht zurückhalten.
»Euer Erlaucht, hier … Wohin wünschen Sie? Bitte hier«, sagte hinter ihm eine zitternde, erschrockene Stimme.
Graf Rastoptschin war nicht imstande, etwas zu erwidern, kehrte aber gehorsam um und ging nach der Seite, wohin man ihn gewiesen hatte. Vor der Hintertreppe stand sein Wagen. Auch hier war das ferne Tosen der heulenden Menge zu hören. Eilig stieg Rastoptschin ein und befahl, nach seinem Landhaus in Sokolniki zu fahren.
Als er auf die Mjasnizkaja hinausbog und das Geschrei des Volkes nicht mehr vernahm, packte ihn der Ärger. Mit Mißvergnügen erinnerte er sich jetzt an die Aufregung und Angst, die er vor seinen Untergebenen gezeigt hatte. La populace est terrible, elle est hideuse, dachte er. Ils sont comme les loups qu’on ne peut apaiser qu’avec de la chair. – Graf, nur Gott allein, der über uns ist … fuhren ihm plötzlich Wereschtschagins Worte durch den Kopf, und ein unangenehmes Gefühl rieselte ihm wie ein kalter Schauer über den Rücken. Aber das währte nur einen Augenblick, dann lächelte er wieder verächtlich über sich selbst. J’avais d’autres devoirs, dachte er. Il fallait apaiser le peuple. Bien d’autres victimes ont péri et périssent pour le bien public, und er begann an die allgemeinen Pflichten zu denken, die er gegen seine Familie, gegen die, wie er glaubte, ihm anvertraute Hauptstadt und gegen sich selber hatte – nicht gegen Fjodor Wassiljewitsch Rastoptschin als solchen – dieser Fjodor Wassiljewitsch Rastoptschin opferte sich ja seiner Ansicht nach für le bien public auf –, sondern gegen sich selber als Oberkommandierenden der Stadt, als Vertreter der Macht, als Bevollmächtigten des Zaren. Wäre ich nur Fjodor Wassiljewitsch gewesen, ma ligne de conduite aurait été tout autrement tracée, aber ich hatte nicht nur mein Leben, sondern auch die Würde eines Stadtkommandanten zu wahren.
Während er sich auf den weichen Federn des Wagens leicht wiegte und das furchtbare Toben der Menge nicht mehr hörte, kam die physische Ruhe wieder über ihn, und wie das immer der Fall zu sein pflegt, schob ihm im selben Augenblick, als diese physische Ruhe eintrat, auch der Verstand die Gründe für eine moralische Beruhigung unter. Der Gedanke, der Rastoptschin beruhigte, war nicht neu. Seit die Welt besteht und die Leute einander totschlagen, hat es noch nie einen Menschen gegeben, der ein ähnliches Verbrechen an seinesgleichen verübt und sich dann nicht mit eben dem selben Gedanken beruhigt hätte. Dieser Gedanke ist das vermeintliche Wohl der anderen, le bien public.
Einem Menschen, der nicht an schädlichen Trieben krankt, ist dieses Allgemeinwohl nie bekannt; wer aber ein Verbrechen begeht, weiß immer ganz genau, worin dieses Allgemeinwohl besteht. Und das wußte auch Rastoptschin jetzt.
Er machte sich über die von ihm begangene Tat in Gedanken nicht nur keine Vorwürfe, sondern fand sogar noch einen Grund zur Selbstzufriedenheit darin, daß er es so geschickt verstanden hatte, einen Zufall auszunutzen, indem er einen Verbrecher bestraft und gleichzeitig die Menge beruhigt hatte.
Wereschtschagin war gerichtet und zum Tod verurteilt, dachte er, obwohl Wereschtschagin vom Senat nur zur Zwangsarbeit verurteilt worden war. Er war ein Spion und Verräter, ich konnte ihn nicht unbestraft lassen, et ainsi je faisais d’une pierre deux coups: ich gab dem Volk ein Opfer zu seiner Beruhigung und bestrafte einen Bösewicht.
Als der Graf dann auf seinem Landsitz angekommen war und sich mit häuslichen Anordnungen beschäftigt hatte, fühlte er sich völlig beruhigt.
Eine halbe Stunde später fuhr er mit flinken Pferden über die Flur von Sokolniki und dachte bereits nicht mehr an das, was geschehen war, sondern überlegte und bedachte nur das, was bevorstand. Er fuhr jetzt zur Jausabrücke, wo, wie man ihm gesagt hatte, Kutusow sein sollte.
In Gedanken legte sich Graf Rastoptschin alle die grimmigen und spitzen Vorwürfe zurecht, die er Kutusow wegen seiner Täuschung zu machen beabsichtigte. Er wollte es diesen alten höfischen Fuchs schon fühlen lassen, daß die ganze Verantwortung für alles Unglück, das aus der Preisgabe Moskaus und dem Untergang Rußlands, wie Rastoptschin meinte, entstehen mußte, allein auf seinem alten Haupt ruhte, dem das Alter den Verstand geraubt zu haben schien. Während er sich so alles, was er Kutusow sagen wollte, im voraus zurechtlegte, rückte er grimmig im Wagen hin und her und sah sich wütend nach allen Seiten um.
Die Flur von Sokolniki war öde und leer. Nur ganz hinten, wo das Armenasyl und das Irrenhaus standen, sah man Gruppen von Menschen in weißen Kleidern und auch einzelne, die über die Felder liefen und schreiend mit den Armen fuchtelten.
Einer von ihnen rannte schräg auf den Wagen des Grafen Rastoptschin zu. Sowohl der Graf selber als auch sein Kutscher und die Dragoner beobachteten mit einem dunklen Gefühl des Entsetzens und der Neugier diese freigelassenen Wahnsinnigen und insonderheit den, der auf sie zulief.
Auf seinen langen, hageren Beinen schwankend lief dieser Irre in seinem wehenden Anstaltskittel in höchster Eile herbei, ohne Rastoptschin aus den Augen zu lassen, schrie ihm mit heiserer Stimme etwas zu und machte ihm Zeichen, daß er anhalten solle. Das mit einem Stoppelbart umwachsene Gesicht des Wahnsinnigen war mager und gelb und sah finster und feierlich aus. Seine tiefen und unstet hin und her laufenden Pupillen hoben sich schwarz und achatartig von den safrangelben Augäpfeln ab.
»Warte! Halt an! sage ich!« rief er mit durchdringender Stimme und schrie dann, fast erstickend und mit den Armen fuchtelnd, in eindringlichem Ton noch etwas hinterher.
Er war jetzt bis dicht an den Wagen herangekommen und lief neben ihm her.
»Dreimal haben sie mich totgeschlagen, dreimal bin ich von den Toten auferstanden. Sie haben mich gesteinigt, gekreuzigt … aber ich werde auferstehen … auferstehen … auferstehen … Sie haben meinen Leib zerfleischt. Das Reich Gottes wird vernichtet werden … Dreimal werde ich es vernichten und dreimal wieder aufbauen!« schrie er, die Stimme immer mehr hebend.
Rastoptschin wurde plötzlich wieder so bleich wie in dem Augenblick, als sich die Menge auf Wereschtschagin gestürzt hatte. Er wandte sich ab.
»Fa-fahr schneller!« schrie er dem Kutscher mit zitternder Stimme zu.
Der Wagen raste dahin, was die Pferde nur laufen konnten, aber noch lange hörte Rastoptschin hinter sich das immer ferner werdende, wahnsinnige, verzweifelte Schreien und sah das verwundert erschrockene, blutüberströmte Gesicht des Verräters in der Pelzjacke vor Augen.
Wie frisch auch diese Erinnerung war, so wußte Rastoptschin doch, daß sie sich tief, bis aufs Blut, in seine Seele eingegraben hatte. Er fühlte deutlich, daß sich die Blutspur dieser Erinnerung niemals verwischen, sondern bis an sein Lebensende in seinem Herzen fortbestehen, und, je länger sich sein Leben hinzöge, um so schlimmer und quälender für ihn werden würde. Ihm war, als höre er wieder den Klang seiner eignen Worte: »Schlagt ihn nieder! Mit eurem Kopf steht ihr mir für ihn ein!« – Warum habe ich diese Worte gesprochen? Sie sind mir zufällig entschlüpft. Ich hätte sie auch nicht sagen können, dachte er, und dann wäre nichts gewesen. Und er sah das erschrockene und dann plötzlich wutentstellte Gesicht des zuschlagenden Dragoners vor sich und den Blick stummen, scheuen Vorwurfs, den der junge Mensch im Fuchspelz auf ihn geworfen hatte. Aber ich habe es doch nicht für mich getan. Ich mußte so handeln. La plèbe, le traître … le bien public, dachte er.
An der Jausabrücke drängten sich immer noch die Truppen. Es war heiß. Kutusow saß finster und niedergeschlagen auf einer Bank an der Brücke und spielte mit seiner Peitsche im Sand, als ein Wagen mit viel Geräusch zu ihm herangefahren kam. Ein Mann in Generalsuniform und Federhut mit unruhigen, halb zornigen, halb erschrockenen Augen trat auf Kutusow zu und sagte etwas auf französisch zu ihm. Es war Graf Rastoptschin. Er sagte zu Kutusow, er komme hierher, weil es ein Moskau und eine Residenz nicht mehr gebe, sondern nur noch eine Armee.
»Etwas anderes wäre es gewesen, wenn Euer Durchlaucht nicht zu mir gesagt hätten, daß Sie Moskau nicht ohne Schlacht hingeben würden. Dann wäre alles anders gekommen!« sagte er.
Kutusow sah Rastoptschin an; und als verstünde er den Sinn der an ihn gerichteten Worte nicht, bemühte er sich emsig, den besonderen Ausdruck zu entziffern, der in diesem Augenblick auf dem Gesicht des Mannes lag, der mit ihm sprach. Rastoptschin wurde verwirrt und schwieg. Kutusow wiegte den Kopf leicht hin und her, ohne seinen forschenden Blick von Rastoptschin abzuwenden, und sagte dann leise: »Ja, ich werde Moskau nicht ohne Schlacht hingeben.«
Dachte Kutusow an etwas ganz anderes, als er diese Worte sprach, oder sagte er sie, ihre Sinnlosigkeit einsehend, absichtlich – Rastoptschin gab keine Antwort und ging hastig von Kutusow weg. Und merkwürdig: der Stadtkommandant von Moskau, der stolze Graf Rastoptschin, nahm selber eine Peitsche zur Hand, ging auf die Brücke und fing laut schreiend an, die sich wieder dort stauenden Fuhrwerke auseinanderzutreiben.
Um vier Uhr nachmittags rückten Murats Truppen in Moskau ein. Voran ritt eine Abteilung württembergischer Husaren, dann kam, ebenfalls zu Pferd und mit großem Gefolge, der König von Neapel selbst.
In der Mitte des Arbatplatzes, bei der Nikolaj-Jawlenny-Kirche, machte Murat halt, da er auf eine Meldung der Vorhut wartete, in welchem Zustand sich die städtische Festung »le Kremlin« befinde.
Um Murat hatte sich ein kleines Häuflein zurückgebliebener Einwohner gesammelt. Sie alle betrachteten mit scheuer Verwunderung den seltsamen, mit Gold und Federn geschmückten Feldherrn mit dem langen Haar.
»Wie denn, ist das er selber? Ist das denen ihr Zar? Nichts dagegen zu sagen!« hörte man leise Stimmen.
Ein Dolmetscher ritt zu dem Volkshaufen hin.
»Nehmt die Mützen ab … die Mützen ab!« raunte in der Menge einer dem anderen zu.
Der Dolmetscher wandte sich an einen alten Hausdiener und fragte ihn, ob es noch weit bis zum Kreml sei. Der Hausdiener, der erstaunt der ihm fremd klingenden Betonung lauschte und die Sprache des Dolmetschers nicht als russisch erkannte, verstand nicht, was dieser zu ihm sagte, und versteckte sich hinter den anderen.
Murat ritt näher an den Dolmetscher heran und befahl ihm Zu fragen, wo sich die russische Armee befinde. Einer der Russen verstand, wonach gefragt wurde, und plötzlich fingen mehrere Stimmen an, dem Dolmetscher zu antworten. Da sprengte ein französischer Offizier der Vorhut auf Murat zu und meldete, das Festungstor sei verrammelt, wahrscheinlich liege dort ein Hinterhalt.
»Schön«, sagte Murat, wandte sich an einen Herrn seines Gefolges und befahl, vier leichte Geschütze vorziehen und das Tor beschießen zu lassen.
Die Artillerie kam im Trab hinter den Kolonnen, die Murat folgten, hervor und fuhr über den Arbatplatz. Nachdem sie bis ans Ende der Wosdwishenka gelangt war, machte sie halt und nahm auf dem Platz Aufstellung. Einige französische Offiziere erteilten bei den Kanonen Befehle, ließen sie in bestimmten Entfernungen aufstellen und sahen sich den Kreml durchs Fernrohr an.
Vom Kreml her drang Vespergeläut, und diese Klänge machten die Franzosen irre. Sie glaubten, dies sei ein Aufruf zu den Waffen. Ein Trupp Infanterie lief auf das Kutafjewtor zu. Vor dem Tor lagen Balken und Schanzwerk. Als der Offizier mit seinem Kommando näher kam, knallten zwei Flintenschüsse unter dem Tor hervor. Der General, der neben den Kanonen stand, rief dem Offizier ein Kommandowort zu, worauf dieser mit seinen Soldaten zurücklief.
Aus dem Tor hörte man noch drei Schüsse.
Der eine streifte einen französischen Soldaten am Bein, und gleichzeitig ertönte hinter der Verschanzung das Geschrei weniger Stimmen. Der frühere Ausdruck der Heiterkeit und Ruhe auf den Gesichtern des französischen Generals, der Offiziere und Soldaten ging augenblicklich wie auf Kommando in einen Ausdruck hartnäckiger und gesammelter Kampf- und Leidensbereitschaft über. Vom Marschall bis zum letzten Mann war dies für sie nicht die Wosdwishenka oder Mochowaja, nicht das Kutafjew- oder Troizkijtor, sondern nur eine Stelle eines neuen, wahrscheinlich sehr blutigen Schlachtfeldes. Und auf diese Schlacht bereiteten sich alle vor.
Das Geschrei hinter dem Tor war wieder verstummt. Die Geschütze wurden gerichtet. Die Artilleristen bliesen die angezündeten Lunten an. Ein Offizier kommandierte: $»feu!«, und zwei pfeifende Geräusche ertönten nacheinander. Die Kartätschenkugeln prallten gegen die Steine des Tores, gegen die Balken und das Schanzwerk und zwei Rauchwolken verbreiteten sich über dem Platz.
Ein paar Augenblicke später, als das Anprallen der Schüsse gegen den steinernen Kreml wieder verstummt war, hörten die Franzosen über ihren Häuptern ein seltsames Geräusch. Ein riesiger Dohlenschwarm stieg von den Mauern auf und kreiste krächzend und mit tausend Flügeln schlagend in der Luft. Mit diesem Geräusch zusammen ertönte der vereinzelte Schrei eines Menschen im Tor, und aus dem Rauch trat eine menschliche Gestalt im Kaftan und ohne Mütze. Sie hielt eine Flinte in der Hand und zielte auf die Franzosen. $»Feu!« wiederholte der Artillerieoffizier, und zu gleicher Zeit knatterte eine Flinte und donnerten zwei Kanonen. Wieder war das Tor in Rauch gehüllt.
Hinter der Verschanzung rührte sich nichts mehr. Französische Infanteristen liefen mit ihren Offizieren auf das Tor zu. Dort lagen drei Verwundete und vier Gefallene. Zwei Männer in Kaftanen flohen unten an der Mauer entlang nach der Snamenka zu.
»Enlevez-moi ça«, sagte ein Offizier und zeigte auf die Balken und Leichen, und die Soldaten warfen, nachdem sie die Verwundeten noch vollends totgeschlagen hatten, die Toten und das Holz über die Mauer hinab.
Wer diese Menschen waren, wußte niemand. »Enlevez-moi ça«, wurde nur über sie gesagt, und dann wurden sie fortgeschafft und über die Mauer geworfen, damit sie nicht die Luft verpesteten. Nur Thiers hat ihrem Andenken ein paar beredte Zeilen gewidmet: »Diese klägliche Schar war in die heilige Feste eingedrungen, hatte sich im Arsenal Flinten angeeignet und schoß nun auf die Franzosen. Einige von ihnen machte man nieder und reinigte so den Kreml von ihrer Anwesenheit.«
Murat wurde gemeldet, der Weg sei frei. Die Franzosen zogen durch das Tor ein und lagerten sich auf dem Senatsplatz. Aus den Fenstern des Senatsgebäudes warfen die Soldaten Stühle auf den Platz und zündeten sie zu Lagerfeuern an.
Andere Abteilungen zogen durch den Kreml und schlugen in der Maroseika, Lubjanka und Pokrowka[199] ihr Lager auf. Wieder andere bezogen die Wosdwishenka, Snamenka, Nikolskaja und Twerskaja[200]. Da die Franzosen nirgends Hauswirte vorfanden, zogen sie überall nicht wie in eine Stadt mit Quartieren ein, sondern wie in ein Lager, das man in einer Stadt aufgeschlagen hatte.
Obgleich die französischen Truppen abgerissen, hungrig, erschöpft und bis auf die Hälfte ihrer früheren Stärke zusammengeschmolzen waren, so rückten sie doch in strenger Ordnung in Moskau ein. Es war eine zwar ermattete und erschöpfte, aber immer noch kampffähige, drohende Streitkraft. Doch eine Armee waren sie nur bis zu dem Augenblick, als die Mannschaften in ihre Quartiere auseinandergegangen waren. Sobald sich die Leute in den leeren, reichen Häusern verteilt hatten, war die Armee für immer vernichtet: es gab weder Einwohner noch Soldaten mehr, sondern nur jenes Mittelding zwischen beiden, das man Marodeure nennt. Als dieselben Leute dann fünf Wochen später wieder aus Moskau auszogen, bildeten sie keine Armee mehr. Das war dann nur noch ein Haufen Marodeure, von denen jeder einen Berg Sachen, die ihm als kostbar und nützlich erschienen waren, mit sich fortfuhr oder – trug. Als sie aus Moskau fortzogen, bestand das Ziel eines jeden nicht wie früher darin, zu erobern, sondern nur darin, das Erbeutete festzuhalten. Wie jener Affe zugrunde ging, der seine Hand in den engen Hals eines Kruges gesteckt, eine Faust voll Nüsse ergriffen hatte und, um seiner Beute nicht verlustig zu gehen, die Faust nicht wieder aufmachen wollte, so mußte der Untergang der Franzosen nach ihrem Auszug aus Moskau zweifellos dadurch herbeigeführt werden, daß sie ihren Raub mit sich führten und ihnen ein Ablassen von diesem gestohlenen Gut ebenso unmöglich war wie jenem Affen, seine Faust mit Nüssen zu öffnen. Was für ein französisches Regiment in welchen Stadtteil Moskaus auch immer eingerückt sein mochte – zehn Minuten später gab es keinen Soldaten und keinen Offizier mehr. Durch die Fenster der Häuser sah man diese Leute in Mänteln und Stiefeletten, wie sie lachend durch die Zimmer spazierten. Dieselben Leute wirtschafteten in den Kellern und Speichern unter den Vorräten, öffneten und erbrachen in den Höfen die Tore der Schuppen und Ställe, zündeten in den Küchen Feuer an, kneteten, buken und kochten mit aufgestreiften Ärmeln und erschreckten, neckten und liebkosten Frauen und Kinder. Und solcher Leute gab es in den Läden und in den Häusern überall unzählige, aber ein Heer existierte nicht mehr.
Noch am selben Tag erließen die französischen Heerführer Befehl auf Befehl, um den Truppen streng zu verbieten, sich in der Stadt zu zerstreuen und den Einwohnern Gewalt anzutun oder zu marodieren, und noch am selben Abend sollte ein Generalappell stattfinden. Jedoch was für Maßnahmen auch getroffen wurden, die Leute, die ehemals ein Heer gebildet hatten, überfluteten dennoch die üppige, an Luxusgegenständen und Vorräten so reiche, verlassene Stadt. Wie eine hungrige Herde zusammengedrängt über ein kahles Feld zieht, aber unhaltbar auseinanderläuft, sobald sie auf eine fette Weide gerät, ebenso unhaltbar zerstreuten sich auch die Truppen über die reiche Stadt.
Einwohner gab es in Moskau nicht mehr, und die Soldaten ergossen sich vom Kreml aus, wohin sie zuerst kamen, wie unaufhaltsame Strahlen nach allen Seiten in die Stadt und verliefen sich dort wie Wasser im Sand. Kamen Kavalleristen in ein verlassenes Kaufmannshaus, wo alle Habe zurückgeblieben war, und fanden dort nicht nur Ställe für ihre Pferde, sondern auch alles übrige, so gingen sie trotzdem auch noch ins Nachbarhaus, das ihnen vielleicht noch besser schien, und nahmen auch das noch in Besitz. Viele eigneten sich mehrere Häuser an, schrieben mit Kreide daran, von wem es eingenommen worden war, und zankten und schlugen sich sogar darum mit anderen Truppenteilen. Soldaten, die noch kein Quartier gefunden hatten, liefen umher, sich die Stadt anzusehen, und als sie hörten, daß alles verlassen sei, strömten sie dorthin, wo man Kostbarkeiten umsonst ergattern konnte.
Die Offiziere gingen hin, um die Soldaten zurückzuhalten, wurden aber selber unwillkürlich mit in dieses Treiben hineingezogen. In den Wagenständen waren einige Equipagen zurückgeblieben, und dort drängten sich die Generäle zusammen, um sich Kutschen und Landauer auszusuchen. Zurückgebliebene Einwohner luden Offiziere zu sich ein in der Hoffnung, dadurch vor Raub geschützt zu sein. Reichtümer waren im Überfluß da. Es war kein Ende abzusehen. Rings um die Viertel herum, die von den Franzosen eingenommen waren, gab es noch undurchsuchte, unbesetzte Stadtteile, wo, wie die Franzosen glaubten, immer noch mehr Reichtümer zu holen waren. Und so sog Moskau die fremden Truppen immer weiter und weiter in sich ein. Wie Wasser und trockenes Land gleichzeitig verschwinden, wenn das eine das andere überflutet, so wurde in gleicher Weise dadurch, daß die hungrigen Truppen in die üppige, verlassene Stadt drangen, sowohl die Armee als auch die reiche Stadt vernichtet, und es entstand Schmutz, Feuersbrunst und Räuberei.
Die Franzosen schreiben den Brand Moskaus dem patriotisme féroce de Rastopchine zu, die Russen dem Fanatismus der Franzosen. In Wirklichkeit hat es Ursachen für den Brand Moskaus in dem Sinn, daß die Verantwortung dafür einer oder mehreren Personen zur Last zu legen sei, nicht gegeben und auch nicht geben können. Moskau brannte ab, weil es in Lebensbedingungen geraten war, bei denen jede hölzerne Stadt abbrennen muß, ganz gleich, ob hundertdreißig schlechte Feuerspritzen da sind oder nicht. Moskau mußte niederbrennen, weil seine Einwohner es verlassen hatten, mußte ebenso sicher niederbrennen wie ein Berg Holzspäne, auf den es mehrere Tage lang Feuerfunken regnet. Eine hölzerne Stadt, wo selbst bei Anwesenheit ihrer Bewohner und Hausbesitzer sowie der Polizei fast alle Tage Feuersbrünste entstehen, kann gar nicht anders als niederbrennen, wenn in ihr keine Bewohner, sondern Truppen hausen, die Pfeifen rauchen, auf dem Senatsplatz aus Senatsstühlen Lagerfeuer anzünden und zweimal am Tag Essen kochen. Schon wenn in Friedenszeiten in gewissen Gegenden Truppen in den Dörfern Quartiere beziehen, schwillt die Zahl der Feuersbrünste dort sogleich an. Um wieviel größer muß deshalb die Wahrscheinlichkeit für solche Feuersbrünste in einer verlassenen Holzstadt sein, in der sich fremde Truppen breitmachen. Le patriotisme féroce de Rastopchine und der Fanatismus der Franzosen sind beide nicht schuld daran. Moskau geriet in Brand durch die Tabakspfeifen, die Küchen, die Lagerfeuer und die Fahrlässigkeit der feindlichen Soldaten, die fremde Häuser bewohnten und nicht deren Besitzer waren. Wenn wirklich Brandstiftung stattgefunden hat, was äußerst zweifelhaft ist, weil für niemanden Grund dazu vorlag und es auf jeden Fall mühsam und gefährlich war, so darf man dennoch eine Brandstiftung nicht als Ursache gelten lassen, weil auch ohne sie dasselbe geschehen wäre.
Wie verlockend es auch für die Franzosen sein mag, Rastoptschin der Barbarei zu beschuldigen, oder für die Russen, den Bösewicht Bonaparte anzuklagen und dann die heroische Brandfackel in die Hand des eignen Volks zu drücken, so darf man doch nicht übersehen, daß der Brand eine solch unmittelbare Ursache gar nicht gehabt haben kann, denn Moskau mußte einfach niederbrennen, wie jedes Dorf, jede Fabrik, jedes Haus niederbrennen muß, wo die Bewohner fortgezogen sind und fremde Leute ihre Suppe kochen. Daß Moskau von seinen Bewohnern in Brand gesteckt worden ist, ist schon wahr, aber nicht von denen, die zurückgeblieben, sondern von denen, die fortgezogen waren. Das vom Feind besetzte Moskau blieb darum nicht heil wie Berlin, Wien und andere Städte, weil seine Bewohner den Franzosen nicht Brot und Salz und die Schlüssel entgegengebracht, sondern die Stadt verlassen hatten.
Die sich am 2. September strahlenförmig über Moskau verbreitenden Franzosen drangen erst am Abend bis zu dem Stadtviertel vor, in dem Besuchow jetzt wohnte.
Nach den beiden letzten einsam und ungewöhnlich verlebten Tagen befand sich Pierre in einem Zustand, der an Wahnsinn grenzte. Sein ganzes Sein wurde nur von einem Gedanken beherrscht, von dem er sich nicht wieder losmachen konnte. Er wußte selber nicht, wie und wann, aber dieser Gedanke hatte sich seiner jetzt dermaßen bemächtigt, daß er nichts von dem, was geschehen war und sich augenblicklich ereignete, verstand. Alles, was er hörte und sah, spielte sich vor ihm wie in einem Traum ab.
Pierre hatte sein Heim nur deshalb verlassen, um jenem wirren Knäuel von Lebensforderungen aus dem Weg zu gehen, die sich vor ihm aufgetürmt hatten, und die zu entwirren er in seiner jetzigen Verfassung nicht imstande war. Unter dem Vorwand, Bücher und Schriftstücke des verstorbenen Meisters auszuwählen, hatte er sich nur deshalb in Osip Alexejewitschs Wohnung begeben, um vor dem Getümmel des Lebens Ruhe zu finden. Die Erinnerung an Osip Alexejewitsch verknüpfte sich in seiner Seele mit einer ganzen Welt ewiger, ruhiger und feierlicher Gedanken, die jenem wilden Strudel, in den er sich jetzt hineingezogen fühlte, völlig zuwiderliefen. Er suchte einen stillen Hafen und hatte einen solchen im Arbeitszimmer Osip Alexejewitschs auch wirklich gefunden.
Als er sich in der Totenstille des Arbeitszimmers, den Kopf auf die Hände gestützt, an den verstaubten Schreibtisch des Verstorbenen gesetzt hatte, waren die Erinnerungen der letzten Tage ruhig und bedeutsam eine nach der anderen an seiner Seele vorübergezogen. Besonders gedachte er der Schlacht bei Borodino und jenes für ihn unüberwindbaren Bewußtseins eigner Nichtigkeit und Verlogenheit im Vergleich zu der Echtheit, Schlichtheit und Kraft jener Kategorie von Menschen, die sich unter der Bezeichnung »sie« so tief seiner Seele eingeprägt hatte.
Als ihn Gerassim aus seiner Gedankenversunkenheit aufgeschreckt hatte, war Pierre der Gedanke gekommen, an der, wie er wußte, beabsichtigten Volksverteidigung Moskaus teilzunehmen. Zu diesem Zweck hatte er Gerassim gebeten, ihm einen Kaftan und eine Pistole zu verschaffen, und ihm erklärt, daß er im Hause Osip Alexejewitchs zu bleiben und seinen Namen geheimzuhalten beabsichtige. Im Lauf des ersten einsam und müßig verbrachten Tages – Pierre hatte mehrmals vergeblich versucht, seine Aufmerksamkeit auf die Freimaurerschriften zu lenken – war dann wiederholt der ihm schon früher gekommene Gedanke über die kabbalistische Bedeutung seines Namens in Verbindung mit dem Namen Bonapartes trübe vor seiner Seele aufgetaucht. Aber dieser Gedanke, daß er, l’Russe Besuhof, dazu vorausbestimmt sei, der Macht »des Tieres« eine Grenze zu setzen, erschien ihm jetzt nur wie eine jener Träumereien, die einem grundlos und spurlos über die Seele hinziehen.
Als sich Pierre den Kaftan gekauft hatte, um an der Volksverteidigung Moskaus teilzunehmen, als er den Rostows begegnet war und Natascha zu ihm gesagt hatte: »Sie bleiben in Moskau? Ach, wie schön das ist!«, war ihm der Gedanke durch den Kopf geschossen, daß es, auch wenn die Stadt genommen würde, tatsächlich schön wäre, hier zu bleiben und das zu vollbringen, wozu er sich bestimmt glaubte.
Am folgenden Tag ging er, nur von dem einen Gedanken beseelt, sich nicht zu schonen und nicht hinter »ihnen« zurückzubleiben, aus dem Drei-Berge-Tor hinaus. Aber als er dann mit der Überzeugung nach Hause zurückkehrte, daß Moskau nicht verteidigt werde, fühlte er plötzlich, daß alles, was ihm früher nur möglich schien, für ihn jetzt unvermeidlich und unumgänglich geworden war. Er mußte seinen Namen geheimhalten, mußte in Moskau bleiben, mußte mit Napoleon zusammentreffen und ihn töten, um entweder zugrunde zu gehen oder dem Unglück ganz Europas ein Ende zu machen, das seiner Ansicht nach allein in Napoleon seinen Ursprung hatte.
Pierre kannte alle Einzelheiten des Attentates, das ein deutscher Student im Jahre 1809[201] in Wien auf Napoleon ausgeführt hatte, und wußte auch, daß dieser Student erschossen worden war. Doch diese Gefahr, der er sein Leben bei Ausführung seiner Absicht aussetzte, trieb ihn nur noch mehr dazu an.
Zwei gleich starke Gefühle zogen Pierre unwiderruflich zu dieser seiner Absicht hin. Das erste war das Gefühl, im Bewußtsein des allgemeinen Unglücks unbedingt ein Opfer bringen und mitleiden zu müssen, was auch die Ursache gewesen war, warum er sich nach Moshaisk und bis in den Pulverdampf der Schlacht begeben hatte, aus seinem Haus geflohen war, statt der gewohnten Üppigkeit und Lebensbequemlichkeiten unausgekleidet auf einem harten Sofa schlief und dasselbe aß, was Gerassim für sich kochte. Das andere Gefühl war jene schwer zu bestimmende, ausschließlich russische Empfindung der Verachtung gegen alles Konventionelle und Künstliche, gegen das, was die meisten Menschen für das größte Erdenglück halten. Dieses sonderbare, bestrickende Gefühl hatte Pierre zum erstenmal im Slobodskijpalast empfunden, als ihm plötzlich die Erkenntnis gekommen war, daß Reichtum, Macht und Leben und alles, was die Menschen mit solcher Mühe aufbauen und festhalten, nur insofern Wert hat – wenn von einem solchen überhaupt zu reden ist –, als man es als Wonne empfindet, wenn man dies alles einmal von sich werfen kann.
Es ist dies das Gefühl, aus dem der freiwillige Rekrut seine letzte Kopeke vertrinkt, der Betrunkene ohne augenscheinliche Ursache Spiegel und Fensterscheiben einschlägt, obwohl er weiß, daß ihn dieser Spaß sein letztes Geld kosten wird, jenes Gefühl, aus dem ein Mensch Taten vollbringt, die gewöhnlich für sinnlos gelten, als wolle er seine persönliche Macht und Kraft versuchen und gleichzeitig vom Vorhandensein eines höheren, außerhalb aller menschlichen Lebensverhältnisse stehenden Gerichtes über Leben und Tod Zeugnis ablegen.
Von dem Tag an, als Pierre im Slobodskijpalast zum erstenmal dieses Gefühl empfunden hatte, war er ununterbrochen unter dessen Einfluß gewesen, aber erst jetzt gewährte es ihm volle Befriedigung. Außerdem bestätigte ihn alles, was er auf diesem Weg nun schon unternommen hatte, in diesem Augenblick nur noch mehr in seiner Absicht und raubte ihm die Möglichkeit, wieder davon abzulassen. Sowohl seine Flucht aus dem Haus wie auch der Kaftan, die Pistole und seine Erklärung den Rostows gegenüber, daß er in Moskau bleiben werde – dies alles hätte nicht nur keinen Sinn gehabt, sondern wäre sogar töricht und lächerlich gewesen, wofür Pierre besonders empfindlich war, wenn er nach alledem nun noch ebenso wie die anderen aus Moskau weggefahren wäre.
Pierres körperlicher Zustand entsprach ganz seinem seelischen, wie das immer der Fall zu sein pflegt. Die ungewohnte, derbe Kost, der Branntwein, den er diese Tage über getrunken hatte, das Fehlen von Wein und Zigarren, die schmutzige Wäsche, die beiden ohne Bett, nur auf dem kurzen Sofa verbrachten, halb schlaflosen Nächte, dies alles erhielt Pierre in einem Zustand der Reizbarkeit, der an Wahnsinn grenzte.
Es war schon zwei Uhr nachmittags. Die Franzosen waren bereits in Moskau eingezogen. Pierre wußte es, aber statt zu handeln, dachte er nur an sein Vorhaben und überlegte sich die kleinsten Einzelheiten, die sich dabei ereignen könnten. Doch immer stellte er sich in seinen Träumereien nicht den eigentlichen Vorgang des Attentates oder den Tod Napoleons vor, sondern malte sich nur mit ungewöhnlicher Klarheit und schwermütiger Wollust seinen eignen Untergang und Heldenmut dabei aus.
Ja, ich allein für alle muß diese Tat vollbringen oder untergehen! dachte er. Ja, ich werde hingehen … und dann mit einem Schlag … mit der Pistole oder mit dem Dolch? überlegte er. Übrigens ist das ganz gleich. Nicht ich, sondern die Hand der Vorsehung richtet dich, werde ich sagen, legte sich Pierre die Worte zurecht, die er bei der Niederstreckung Napoleons sprechen wollte. Nun, und was weiter? Ergreift mich und führt mich auf die Richtstatt! fuhr er zu sich selber mit wehmütigem, aber fahlem Gesichtsausdruck fort und ließ den Kopf hängen.
In dem Augenblick, als Pierre, mitten im Zimmer stehend, dies alles im stillen überlegte, tat sich die Tür des Arbeitszimmers auf, und auf der Schwelle erschien die sonst immer schüchterne, jetzt aber ganz veränderte Gestalt Makar Alexejewitschs.
Sein Schlafrock war aufgerissen, sein Gesicht rot und entstellt. Er war offenbar betrunken. Als er Pierre erblickte, wurde er im ersten Augenblick verlegen, doch als er dann die Verwirrung auf Pierres Gesicht bemerkte, wurde er kühner und ging, auf seinen dünnen Beinen schwankend, bis in die Mitte des Zimmers.
»Sie haben keinen Mut mehr«, sagte er mit heiserer, vertraulicher Stimme. »Ich aber sage, ich werde mich nicht ergeben. Das sage ich … nicht wahr, mein Herr?«
Er dachte einen Augenblick nach, plötzlich aber, als er die Pistole auf dem Tisch sah, griff er jäh und hastig danach und lief auf den Korridor hinaus.
Gerassim und der Hausdiener, die hinter Makar Alexejewitsch herliefen, hielten ihn an der Treppe auf und suchten ihm die Pistole abzunehmen. Pierre trat ebenfalls auf den Korridor hinaus und betrachtete mit Widerwillen und Mitleid den halbwahnsinnigen Alten. Makar Alexejewitsch zog vor Anstrengung die Stirne kraus, hielt die Pistole fest und schrie, offenbar in dem Wahn eines feierlichen Augenblicks, mit heiserer Stimme: »Zu den Waffen! Zum Angriff vor! Du irrst, du wirst sie mir nicht nehmen!«
»Beruhigen Sie sich, bitte, beruhigen Sie sich! Seien Sie so gut, bitte, lassen Sie! Aber, gnädiger Herr, ich bitte Sie …« sagte Gerassim immer wieder und suchte vorsichtig Makar Alexejewitsch am Ellbogen nach der Tür zu ziehen.
»Wer bist du? Bonaparte?« schrie Makar Alexejewitsch.
»Das ist nicht gut, gnädiger Herr. Gehen Sie bitte ins Zimmer und ruhen Sie sich aus. Geben Sie mir doch die Pistole.«
»Hinweg, elender Sklave! Rühr mich nicht an! Siehst du nicht?« schrie Makar Alexejewitsch und schüttelte die Waffe. »Zum Angriff vor!«
»Pack an!« flüsterte Gerassim dem Hausdiener zu.
Sie faßten Makar Alexejewitsch an den Armen und schleppten ihn zur Tür.
Das wirre Geräusch dieses Streites und die fast erstickenden Laute der trunkenen, heiseren Stimme des Irren erfüllten den Flur.
Plötzlich ertönte ein neuer, durchdringender Schrei von der Treppe her, der Schrei einer Frauenstimme, und die Köchin kam in den Korridor gelaufen.
»Sie sind da! All ihr Heiligen! … Großer Gott, sie sind da! Vier Mann zu Pferde!« schrie sie.
Gerassim und der Hausdiener ließen Makar Alexejewitsch los. Im Korridor wurde es plötzlich still, und deutlich hörte man das Pochen mehrerer Hände an der Eingangstür.
Pierre, der den Entschluß gefaßt hatte, vor Ausführung seiner Tat weder seinen Namen noch seine Kenntnis der französischen Sprache zu verraten, stand in der halbgeöffneten Korridortür in der Absicht, sich sogleich zurückzuziehen, sobald die Franzosen hereinkommen würden. Aber die Franzosen traten ein, und Pierre ging doch nicht von der Tür weg: eine unbezwingliche Neugier hielt ihn zurück.
Es waren ihrer zwei: der eine ein Offizier, ein großer, stattlicher, hübscher Mann, der andere offenbar ein Soldat oder Bursche, ein untersetzter, hagerer, sonnengebräunter Mensch mit eingefallenen Backen und stumpfsinnigem Gesichtsausdruck. Der Offizier lahmte etwas und ging, auf einen Stock gestützt, voran. Er kam ein paar Schritte näher, blieb dann, als wäre er zu der Überzeugung gekommen, daß dieses Quartier gut sei, wieder stehen, wandte sich nach dem an der Tür wartenden Soldaten um und schrie ihm mit lauter Befehlshaberstimme zu, er solle die Pferde in den Hof führen. Nachdem so das Dienstliche erledigt war, strich sich der Offizier mit heldenhafter Gebärde, den Ellbogen hoch aufhebend, über den Bart und legte die Hand an die Mütze.
»Guten Tag, Herrschaften«, sagte er heiter lächelnd und sah sich rings um.
Niemand antwortete.
»Sie sind der Hausherr?« wandte er sich an Gerassim.
Gerassim sah den Offizier erschrocken und fragend an.
»Quartier, quartier, logement«, sagte der Offizier und besah sich mit herablassendem, gutmütigem Lächeln den kleinen Mann von oben bis unten. »Die Franzosen sind gute Jungen. Que diable! Voyons! Wir werden schon miteinander auskommen, mon vieux«, sagte er, trat näher und klopfte dem erschrockenen, stummen Gerassim auf die Schulter.
»A ça! Dites donc, spricht denn niemand französisch in dieser Bude hier?« fuhr er dann fort, sah sich rings um und begegnete Pierres Blicken. Dieser trat von der Tür zurück.
Wieder wandte sich der Offizier an Gerassim. Er verlangte, dieser solle ihm die Zimmer im Hause zeigen.
»Der Herr nicht zu Hause … verstehe nicht … ich Ihr …« sagte Gerassim, in dem Bemühen, seine Worte dadurch verständlicher zu machen, daß er sie anders aussprach und verdrehte.
Der französische Offizier öffnete lächelnd die Hände vor Gerassims Nase zum Zeichen, daß auch er ihn nicht verstand, und schritt hinkend auf die Tür zu, in der Pierre stand. Pierre wollte weggehen, um sich vor ihm zu verbergen, erblickte aber im selben Augenblick Makar Alexejewitsch, der sich, die Pistole in der Hand, aus der halboffenen Küchentür bog. Mit der allen Irren eignen Durchtriebenheit betrachtete Makar Alexejewitsch den Franzosen, hob die Pistole hoch und zielte.
»Zum Angriff vor!« schrie der Betrunkene und fingerte nach dem Hahn der Pistole.
Der französische Offizier drehte sich bei diesem Aufschrei um. Gleichzeitig stürzte Pierre auf den Betrunkenen los, und im selben Augenblick, als es ihm noch gelang, die Pistole zu ergreifen und nach oben zu richten, hatte Makar Alexejewitschs Finger gerade den Hahn gefunden: ein betäubender, alles in Pulverdampf hüllender Schuß ertönte. Der Franzose erbleichte und stürzte zur Tür zurück.
Pierre entriß dem Irren die Pistole und warf sie beiseite, eilte auf den Offizier zu und wandte sich, uneingedenk des Vorsatzes, seine Kenntnis der französischen Sprache geheimzuhalten, auf französisch an ihn.
»Sie sind doch nicht verwundet?« sagte er zu ihm.
»Ich glaube nicht«, erwiderte der Offizier und befühlte sich. »Dieses Mal bin ich noch mit heiler Haut davongekommen«, fügte er hinzu und wies auf den abgesprungenen Bewurf der Wand. »Wer ist der Mann?« fragte er, Pierre streng anblickend.
»Ach, ich bin wirklich ganz verzweifelt über das, was geschehen ist«, sagte Pierre hastig und vergaß seine Rolle vollends.
»Es ist ein Wahnsinniger, ein Unglücklicher, der nicht weiß, was er tut.«
Der Offizier trat auf Makar Alexejewitsch zu und faßte ihn am Kragen.
Makar Alexejewitsch machte den Mund auf, als wollte er einschlafen, schwankte und lehnte sich an die Wand.
»Brigant, das sollst du mir büßen!« sagte der Franzose und zog die Hand zurück. »Wir Franzosen sind zwar nachsichtig nach dem Sieg, aber Verrätern verzeihen wir dennoch nicht«, fügte er mit finsterer Feierlichkeit im Gesicht und einer schönen, energischen Handbewegung hinzu.
Pierre fuhr fort, den Offizier auf französisch zu überreden, diesen betrunkenen, irren Menschen nicht zur Verantwortung zu ziehen. Der Franzose hörte schweigend zu, ohne seine finstere Miene zu verändern, plötzlich aber wandte er sich mit einem Lächeln an Pierre. Ein paar Augenblicke sah er ihn schweigend an. Sein hübsches Gesicht nahm einen tragisch zärtlichen Ausdruck an, und er streckte ihm seine Hand entgegen.
»Sie haben mir das Leben gerettet. Sie sind ein Franzose«, sagte er.
Für einen Franzosen unterlag diese Schlußfolgerung keinem Zweifel. Eine große Tat vollbringen konnte nur ein Franzose, und ihm, Monsieur Remballe, Capitaine du 13ième leger, das Leben zu retten, war zweifellos die allergrößte Tat.
Doch wie unerschütterlich auch dieser Schluß und die auf ihn gegründete Überzeugung des Offiziers sein mochte, so hielt es Pierre doch für nötig, ihm die Enttäuschung nicht vorzuenthalten.
»Ich bin Russe«, erwiderte Pierre schnell.
»Ach, ach, ach! Machen Sie das anderen weis«, sagte der Franzose lächelnd und fuhr mit dem Finger vor seiner Nase hin und her. »Jetzt gleich sollen Sie mir das erzählen«, fuhr er fort. »Ich bin entzückt, einen Landsmann zu treffen. Eh bien, was machen wir nun mit diesem Menschen da?« fuhr er fort und wandte sich an Pierre bereits wie an einen Bruder.
Gesichtsausdruck und Ton des französischen Offiziers besagten deutlich, daß Pierre diese höchste Bezeichnung auf der Welt, wenn er sie einmal erhalten habe, nicht zurückweisen könne, auch wenn er wirklich kein Franzose sei. Auf die letzte Frage erklärte ihm Pierre noch einmal, wer Makar Alexejewitsch war, und setzte ihm auseinander, daß gerade vor seiner Ankunft dieser betrunkene, wahnsinnige Mensch eine geladene Pistole fortgeschleppt habe, die ihm zu entreißen man noch nicht Zeit gefunden habe, und bat ihn, diesen Fehler ohne Strafe hingehen zu lassen.
Der Franzose warf sich in die Brust und machte eine königliche Handbewegung.
»Sie haben mir das Leben gerettet. Sie sind Franzose. Sie bitten für ihn um Gnade? Ich gewähre sie ihm. Man führe diesen Mann fort«, sagte er dann schnell und energisch, faßte Pierre, den er für seine Lebensrettung zum Franzosen befördert hatte, unter den Arm und ging mit ihm ins Zimmer.
Die Soldaten, die im Hof gewesen waren und den Schuß gehört hatten, kamen in den Hausflur gelaufen, fragten, was geschehen sei, und bekundeten ihre Bereitschaft, den Schuldigen zu bestrafen, aber der Offizier hielt sie streng zurück.
»Ich werde euch rufen lassen, wenn ich euch brauche«, sagte er.
Die Soldaten gingen hinaus. Da trat der Bursche, der inzwischen die Küche inspiziert hatte, auf seinen Offizier zu.
»Herr Hauptmann, es gibt Suppe und Hammelbraten in der Küche«, sagte er. »Soll ich davon hereinbringen?«
»Ja, und auch Wein«, erwiderte der Hauptmann.
Als der französische Offizier mit Pierre zusammen ins Zimmer gegangen war, hielt es Pierre für seine Pflicht, dem Hauptmann noch einmal zu versichern, daß er kein Franzose sei, und wollte sich zurückziehen, aber davon wollte der französische Offizier nichts wissen. Er war so höflich, liebenswürdig, gutmütig und aufrichtig dankbar für die Lebensrettung, daß Pierre es nicht übers Herz bringen konnte, es ihm abzuschlagen, und so nahm er mit ihm zusammen im ersten Zimmer, in das sie eingetreten waren, Platz. Auf Pierres Versicherung, daß er kein Franzose sei, zuckte der Hauptmann die Achseln und sagte, obwohl er offenbar nicht begriff, wie man von einer so schmeichelhaften Bezeichnung freiwillig zurücktreten könne, daß, wenn Pierre eben unbedingt für einen Russen gelten wolle, die Sache in Gottes Namen abgetan sein solle, er aber bleibe ihm trotz alledem durch das Gefühl der Dankbarkeit für die Lebensrettung auf ewig verbunden.
Hätte dieser Mensch nur einigermaßen die Fähigkeit besessen, sich in die Gefühle anderer zu versetzen und Pierres Empfindungen zu erraten, so wäre Pierre wahrscheinlich von ihm fortgegangen, aber die robuste Verständnislosigkeit dieses Menschen für alles, was nicht ihn selber anging, wirkte auf Pierre überwältigend.
»Franzose oder russischer Fürst inkognito«, sagte der Hauptmann und musterte Pierres zwar schmutzige, aber feine Wäsche und den Ring an seinem Finger. »Ich verdanke Ihnen mein Leben und biete Ihnen dafür meine Freundschaft an. Ein Franzose vergißt weder eine Beleidigung noch einen Liebesdienst. Ich biete Ihnen meine Freundschaft an. Das ist alles, was ich Ihnen sage.«
In Stimme, Gesichtsausdruck und Gesten dieses Offiziers lag soviel Gutmütigkeit und edler Anstand – im Sinn eines Franzosen –, daß Pierre unwillkürlich sein Lächeln erwidern und die ihm entgegengestreckte Hand drücken mußte.
»Capitaine Remballe du 13ième leger, décoré pour l’affaire du sept«, stellte er sich vor und konnte ein selbstzufriedenes Lächeln nicht unterdrücken, das unter dem Schnurrbart über seine Lippen huschte. »Wollen Sie nicht auch die Güte haben, mir zu sagen, mit wem ich die Ehre habe, mich jetzt so angenehm zu unterhalten, statt mit der Kugel dieses Wahnsinnigen im Leib im Lazarett zu liegen?«
Pierre erwiderte, er könne sich ihm nicht vorstellen, wurde rot und fing an, von den Gründen zu reden, warum er seinen Namen nicht nennen könne, wobei er versuchte, sich einen andern auszudenken, aber der Franzose unterbrach ihn hastig.
»Ich bitte Sie«, sagte er, »ich verstehe Ihre Gründe, Sie sind Offizier … vielleicht ein höherer Offizier. Sie haben die Waffen gegen uns geführt … Aber das geht mich nichts an. Ich verdanke Ihnen mein Leben. Das genügt mir. Sind Sie von Adel?« fügte er in fragendem Ton hinzu. Pierre nickte. »Ihren Vornamen, wenn ich bitten darf? Mehr verlange ich gar nicht. Monsieur Pierre, sagen Sie … Ausgezeichnet. Mehr wünsche ich gar nicht zu wissen.«
Als der Hammelbraten, die Rühreier, der Samowar, der Branntwein und noch ein paar Flaschen Wein aus einem russischen Keller, die die Franzosen mitgebracht hatten, aufgetragen waren, lud Remballe Pierre ein, an dem Mahl teilzunehmen, und machte sich selber sogleich schnell und gierig wie ein gesunder Mensch, der Hunger hat, über das Essen her. Hastig kaute er mit seinen starken Zähnen, schnalzte ununterbrochen und sagte immer wieder: »Excellent, exquis!« Sein Gesicht wurde rot, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Pierre war ebenfalls hungrig und nahm mit Vergnügen an der Mahlzeit teil. Morel, der Bursche, brachte eine Kasserolle mit warmem Wasser und stellte eine Flasche Rotwein hinein. Außerdem hatte er noch eine Flasche Kwas mitgebracht, die er zur Probe aus der Küche geholt hatte. Dieses Getränk war den Franzosen schon bekannt und hatte von ihnen bereits einen Spitznamen erhalten: sie nannten es limonade de cochon, Schweinelimonade. Morel lobte diese limonade de cochon, die er in der Küche entdeckt hatte, sehr. Da aber der Hauptmann Wein besaß, den er bei seinem Durchzug durch Moskau irgendwo ergattert hatte, überließ er den Kwas Morel und hielt sich an den Bordeaux. Er wickelte die Flasche bis an den Hals in eine Serviette und schenkte sich und Pierre ein. Der gestillte Hunger und der Wein machten den Hauptmann noch lebhafter, und er redete während des Essens ununterbrochen.
»Oui, mon cher monsieur Pierre, ich müßte für Sie eine stolze Kerze in der Kirche aufstellen, weil Sie mich vor diesem Tobsüchtigen gerettet haben … Ich habe solcher Kugeln schon genug im Leibe, wissen Sie. Da haben Sie gleich eine« – er zeigte auf seine Seite –, »die ist von Wagram, und die zweite hier« – er wies auf die Schramme, die sich über seine Backe zog – »ist von Smolensk. Und dann dieses Bein hier, comme vous voyez, das nicht mehr ordentlich laufen will. Das habe ich mir in der großen Schlacht an der Moskwa am 7. geholt. Sacre Dieu, ç’était beau! Das muß man gesehen haben, das war wie eine flammende Hölle. Sie haben uns ein schweres Stück Arbeit gemacht, dessen können Sie sich rühmen, nom d’un petit bon homme! Et ma parole, trotz dem Husten, den ich mir dort geholt habe, wäre ich doch sofort bereit, das Ganze noch einmal von Anfang an mitzumachen. Ich kann nur alle die bedauern, die das nicht gesehen haben.«
»Ich war dort«, sagte Pierre.
»Bah, vraiment? Eh bien, um so besser«, fuhr der Franzose fort. »Sie sind stolze Feinde, tout de même. Die große Schanze wurde hartnäckig gehalten, nom d’une pipe! Die haben Sie uns teuer genug bezahlen lassen. Dreimal habe ich sie stürmen müssen, tel que vous me voyez. Dreimal waren wir schon bei den Kanonen, und dreimal hat man uns über den Haufen geworfen comme des capucins de cartes. Oh, ç’était beau, monsieur Pierre! Ihre Grenadiere waren prächtig, tonnerre de Dieu! Ich habe gesehen, wie sie sechsmal hintereinander ihre Reihen immer wieder schlossen und wie auf einer Parade marschierten. De beaux hommes! Unser König von Neapel, der sich doch in solchen Dingen auskennt, schrie ihnen zu: Bravo! Ah, ah! soldat comme nous autres!« sagte er lächelnd, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Tant mieux, tant mieux, monsieur Pierre. Furchtbar in der Schlacht und …« – er kniff lächelnd die Augen zusammen – »liebenswürdig gegen die Schönen, so ist der Franzose, nicht wahr, Monsieur Pierre?«
Der Hauptmann war so naiv, gutmütig heiter, selbstzufrieden und ein ganzer Kerl, daß Pierre beinahe mitzwinkern und ihn vergnügt ansehen mußte. Wahrscheinlich hatten die Worte: »liebenswürdig gegen die Schönen« die Gedanken des Hauptmanns auf Moskaus jetzige Lage gelenkt.
»A propos, dites donc, ist es wahr, daß alle Frauen Moskau verlassen haben? Welch komischer Einfall! Was hätten sie denn zu fürchten?«
»Hätten denn die Französinnen Paris nicht ebenso verlassen, wenn die Russen dort einzögen?« fragte Pierre.
»Ha-ha-ha!« Der Franzose brach in ein lustiges, sanguinisches Gelächter aus und klopfte Pierre auf die Schulter. »Das ist eine unbezwingliche Schöne, diese Stadt!« sagte er. »Paris? Ja, Paris, Paris …«
»Paris ist die Hauptstadt der Welt«, fügte Pierre ergänzend hinzu.
Der Hauptmann sah Pierre an. Er hatte die Gewohnheit, mitten im Gespräch innezuhalten und mit lachenden, freundlichen Augen sein Gegenüber anzusehen.
»Eh bien, wenn Sie mir nicht gesagt hätten, Sie seien Russe, hätte ich gewettet, daß Sie Pariser seien. Sie haben, ich weiß nicht was …« und nachdem er Pierre dieses Kompliment gemacht hatte, sah er ihn schweigend an.
»Ich war in Paris, ich habe Jahre dort verlebt«, erwiderte Pierre.
»Oh, das merkt man Ihnen gleich an. Ein Mensch, der Paris nicht kennt, ist ein Barbar. Einen Pariser fühlt man meilenweit heraus. Paris ist Talma, die Duchesnois, Potier[202], die Sorbonne, die Boulevards«, und da er merkte, daß der Schluß schwächer war als das Vorhergehende, fügte er hastig hinzu: »Es gibt nur ein Paris in der ganzen Welt. Sie sind in Paris gewesen und Russe geblieben. Eh bien, ich schätze Sie darum nicht weniger hoch.«
Nach dem genossenen Wein und den mit seinen finsteren Gedanken in völliger Einsamkeit verlebten Tagen empfand Pierre die Unterhaltung mit diesem lustigen, gutmütigen Menschen als Vergnügen.
»Um auf Ihre Damen zurückzukommen: sie sollen sehr schön sein. Was für eine abgeschmackte Idee, sich in den Steppen zu vergraben, während die französische Armee in Moskau ist! Sie verscherzen sich doch ein großes Glück, Ihre Damen. Bei den Bauern ist das etwas anderes, aber die anderen, die gebildete Bevölkerung sollte uns doch besser kennen. Wir haben Wien, Berlin, Madrid, Neapel, Rom, Warschau genommen, alle Hauptstädte der Welt … Man fürchtet uns, aber man liebt uns auch. Es lohnt sich schon, unsere Bekanntschaft zu machen. Und dann der Kaiser …« wollte er anfangen, aber Pierre unterbrach ihn.
»Der Kaiser«, wiederholte Pierre, und sein Gesicht nahm plötzlich einen traurigen und verlegenen Ausdruck an. »Ist denn der Kaiser …«
»Der Kaiser? Der Kaiser ist die verkörperte Hochherzigkeit, Gnade, Gerechtigkeit, Ordnung, er ist ein Genie. Das sage ich Ihnen, Remballe … Tel que vous me voyez war ich vor acht Jahren noch sein Feind. Mein Vater war Graf und Emigrant … Aber er hat mich besiegt, dieser Mann. Er hat mich überwältigt. Ich konnte dem Anblick der Größe und des Ruhmes, mit denen er Frankreich überschüttet hat, nicht widerstehen. Als ich begriff, was er wollte, und gesehen hatte, wie er uns auf Lorbeeren bettete, voyez-vous, da habe ich mir gesagt: Das ist ein wahrer Herrscher, und habe mich ihm ergeben. Eh voilà! Oh oui, mon cher, er ist der größte Mann der vergangenen Jahrhunderte und der Zukunft!«
»Ist er in Moskau?« fragte Pierre stockend und mit dem Gesicht eines Verbrechers.
Der Franzose sah Pierre in das Verbrechergesicht und lachte.
»Nein, er zieht erst morgen ein«, sagte er und fuhr dann fort, zu erzählen.
Ihre Unterhaltung wurde durch das Geschrei mehrerer Stimmen an der Eingangstür und durch das Eintreten Morels unterbrochen, der seinem Hauptmann meldete, daß Württemberger Husaren gekommen seien und ihre Pferde in demselben Hof unterstellen wollten, in dem bereits die Pferde des Hauptmanns standen. Die Sache sei deshalb so schwierig, weil die Husaren das, was man ihnen sage, nicht verstünden.
Der Hauptmann ließ den ältesten Unteroffizier zu sich hereinrufen und fragte ihn mit strenger Stimme, zu welchem Regiment er gehöre, wer sein Vorgesetzter sei und wie er darauf komme, sich zu erlauben, ein Quartier einzunehmen, das bereits besetzt sei. Auf die ersten beiden Fragen nannte der Deutsche, der schlecht Französisch verstand, sein Regiment und seinen Kommandeur, während er auf die letzte Frage, die er nicht verstanden hatte, in deutscher, mit französischen Brocken untermischter Sprache erwiderte, er sei der Quartiermacher des Regimentes und habe von seinem Vorgesetzten den Befehl erhalten, alle Häuser der Reihe nach zu belegen. Pierre verstand Deutsch, übersetzte dem Hauptmann, was der Unteroffizier gesagt hatte, und verdolmetschte dann dem Württemberger Husaren die Antwort des Hauptmanns. Als der Deutsche verstanden hatte, was man zu ihm sagte, gab er nach und führte seine Pferde fort. Der Hauptmann trat auf die Freitreppe hinaus und erteilte mit lauter Stimme mehrere Befehle.
Als er ins Zimmer zurückkehrte, saß Pierre immer noch auf demselben Platz wie vorher und hatte den Kopf auf die Hände gestützt. Sein Gesicht drückte Leiden aus. Und wirklich litt er auch in diesem Augenblick. Als der Hauptmann hinausgegangen und Pierre allein zurückgeblieben war, hatte er auf einmal die Besinnung wiedererlangt und war sich der Lage bewußt geworden, in der er sich befand. Was ihn in diesem Augenblick quälte, war nicht die Einnahme Moskaus, nicht, daß die glücklichen Sieger jetzt in der Stadt schalteten und walteten und sich als seine Gönner aufspielten, so schwer das auch auf ihm lastete. Ihn quälte das Bewußtsein seiner eignen Schwäche. Die wenigen Gläser Wein, die er getrunken hatte, und die Unterhaltung mit diesem gutmütigen Menschen hatten die gesammelte, finstere Gemütsstimmung zunichte gemacht, in der Pierre die letzten Tage verbracht hatte und die zur Ausführung seiner Absicht unumgänglich notwendig war. Die Pistole, der Dolch und der Kittel lagen bereit, Napoleon zog morgen ein. Pierre hielt es noch für ebenso nützlich und verdienstvoll, diesen Bösewicht zu töten, aber er fühlte, daß er es jetzt nicht mehr tun könne. Warum – das wußte er nicht, aber er fühlte es gewissermaßen voraus, daß er seine Absicht nicht ausführen werde. Er kämpfte gegen das Bewußtsein seiner eignen Schwäche an, aber er fühlte dunkel, daß er nicht mit ihr fertig werden würde, und daß seine früheren finsteren Gedanken an Rache, Tod und Selbstaufopferung bei der Berührung mit dem ersten besten Menschen wie Spreu im Winde zerstoben.
Leicht hinkend und leise vor sich hinpfeifend trat der Hauptmann ins Zimmer.
Sein Plaudern, das Pierre vorhin so unterhaltend erschienen war, kam ihm jetzt widerlich vor. Und auch das Liedchen, das er pfiff, sein Gang und die Gebärde, mit der er sich den Bart drehte – dies alles wirkte jetzt auf Pierre wie eine Beleidigung. Ich werde gleich fortgehen, werde nicht ein Wort mehr mit ihm reden, dachte er. Doch während er dies dachte, blieb er immer noch auf derselben Stelle sitzen. Ein eigentümliches Gefühl der Schwäche schmiedete ihn auf seinem Platz fest, er wollte aufstehen und fortgehen, konnte es aber nicht.
Der Hauptmann dagegen schien sehr vergnügt zu sein. Er ging zweimal durchs Zimmer. Seine Augen glänzten und sein Schnurrbart zitterte leicht, als lächle er im stillen über einen unterhaltenden Einfall.
»Charmant«, sagte er plötzlich, »dieser Oberst der Württemberger. Ein Deutscher, aber ein guter Kerl trotz allem. Allerdings ein Deutscher.« Er setzte sich Pierre gegenüber. »à propos, Sie können Deutsch?«
Pierre sah ihn schweigend an.
»Was heißt asile auf deutsch?«
»Asile?« wiederholte Pierre. »Asile heißt auf deutsch Unterkunft.«
»Wie sagen Sie?« fragte der Hauptmann schnell und ungläubig.
»Unterkunft«, sagte Pierre noch einmal.
»Onterkoff«, wiederholte der Hauptmann und sah Pierre ein paar Augenblicke mit lachenden Augen an. »Die Deutschen sind tüchtige Einfaltspinsel, nicht wahr, Monsieur Pierre?« schloß er.
»Eh bien, noch einen Moskauer Bordeaux, wie war’s? Morel, stell uns noch ein Fläschchen warm! Morel!« rief der Hauptmann heiter.
Morel brachte Kerzen und noch eine Flasche Wein. Bei dieser Beleuchtung betrachtete der Hauptmann jetzt Pierre und war sichtlich bestürzt über dessen verstimmtes Gesicht. Aufrichtig betrübt und teilnehmend trat Remballe auf Pierre zu und beugte sich über ihn.
»Eh bien, Sie sind traurig?« fragte er und berührte Pierres Hand. »Habe ich Ihnen diesen Kummer bereitet? Nein, wirklich, haben Sie etwas gegen mich?« fragte er noch einmal. »Oder vielleicht wegen der Lage? …«
Pierre gab keine Antwort und sah dem Franzosen freundlich in die Augen. Der Ausdruck seiner Teilnahme war ihm angenehm.
»Parole d’honneur, ohne davon zu reden, was ich Ihnen verdanke, ich fühle Freundschaft für Sie. Kann ich etwas für Sie tun? Verfügen Sie über mich. Auf Leben und Tod. Das sage ich Ihnen, Hand aufs Herz«, rief er und schlug sich vor die Brust.
»Merci«, entgegnete Pierre.
Der Hauptmann sah Pierre aufmerksam an wie in dem Augenblick, als er von ihm gelernt hatte, was asile auf deutsch heißt, und sein Gesicht fing plötzlich an zu leuchten.
»Nun, wenn es so steht, trinke ich auf unsere Freundschaft«, rief er lustig und schenkte zwei Gläser ein.
Pierre nahm eines der Gläser und trank es aus. Remballe trank das andere aus, drückte Pierre noch einmal die Hand und blieb, in nachdenklich melancholischer Pose auf den Tisch gestützt, stehen.
»Oui, mon ami, voilà les caprices de la fortune«, fing er an. »Wer hätte mir das vorausgesagt, daß ich einmal Soldat und Dragoneroffizier unter Bonaparte, wie wir ihn damals nannten, werden würde. Und nun bin ich mit ihm in Moskau. Il faut vous dire, mon cher«, fuhr er mit der wehmütig langsamen Stimme eines Menschen, der sich anschickt, eine lange Geschichte zu erzählen, fort: »Mein Name ist einer der ältesten in ganz Frankreich.«
Und mit der leichten, harmlosen Offenheit der Franzosen erzählte der Hauptmann Pierre die ganze Geschichte seiner Vorfahren, seiner Kindheit, Jugend und Mannesjahre, sprach von seinen Verwandten und weihte ihn in alle Vermögens- und Familienverhältnisse ein. »Ma pauvre mère« spielte in dieser Erzählung natürlich eine große Rolle.
»Aber das alles ist nur die äußere Aufmachung des Lebens, der wahre Kern ist doch nur die Liebe! L’amour! Nicht wahr, Monsieur Pierre?« sagte er, wieder lebhafter werdend. »Trinken wir noch ein Gläschen!«
Pierre trank wieder aus und schenkte sich das dritte ein.
»Oh! les femmes! les femmes!« seufzte der Hauptmann und fing an, von der Liebe und seinen eignen Liebesabenteuern zu sprechen, während er Pierre mit glänzenden Augen anblickte.
Der Abenteuer waren es viele, was man gern glauben konnte, wenn man das hübsche, selbstgefällige Gesicht des Offiziers und die lebhafte Begeisterung, mit der er von den Frauen sprach, in Betracht zog. Obgleich die Liebesgeschichten Remballes alle jenen obszönen Zug aufwiesen, in dem die Franzosen ausschließlich den Reiz und die Poesie der Liebe erblicken, erzählte der Hauptmann seine Abenteuer doch mit so aufrichtiger Überzeugung, daß nur er alle Wonnen der Liebe erfahren und kennen gelernt habe, und entwarf ein so verführerisches Bild der Frauen, daß Pierre ihm neugierig zuhörte.
Es war klar, daß die Liebe, für die der Franzose so schwärmte, nicht jenes niedrige, einfache Gefühl war, das Pierre ehemals für seine Frau empfunden hatte, noch jene von ihm selber aufgebauschte, romantische Liebe, die er Natascha entgegenbrachte. Diese beiden Arten von Liebe verachtete Remballe eine wie die andere: die erste nannte er »Fuhrmannsliebe«, die andere »Narrenliebe«. L’amour, vor der der Franzose auf den Knien lag, bestand ausschließlich in außergewöhnlichen Beziehungen zum Weibe und aus einer Häufung perverser Empfindungen, die für ihn den Hauptreiz dieses Gefühls ausmachten.
So erzählte der Franzose die rührende Geschichte seiner Liebe zu einer bezaubernden fünfunddreißigjährigen Marquise und gleichzeitig zu einem reizenden, unschuldigen siebzehnjährigen Kind, der Tochter dieser Marquise. Der Kampf der Großmut zwischen Mutter und Tochter, der damit endete, daß die Mutter sich selber zum Opfer brachte und ihrem Liebhaber die Tochter zur Frau anbot, rührte den Hauptmann noch jetzt, obgleich diese Erinnerung schon weit zurücklag. Dann gedachte er einer Episode, wo der Gatte die Rolle eines Liebhabers und er, der Liebhaber, die Rolle des Gatten gespielt hatte, und dann noch einiger komischer Szenen aus seinen Souvenirs d’Allemagne, wo asile Unterkunft heißt und wo les maris mangent de la choucroute et où les jeunes filles sont trop blondes.
Sein letztes Abenteuer endlich in Polen, das dem Hauptmann noch ganz frisch im Gedächtnis war und das er unter lebhaften Gesten und mit glühendem Gesicht erzählte, bestand darin, daß er einem Polen das Leben gerettet hatte – überhaupt kamen in seinen Erzählungen Lebensrettungen immer wieder vor. Dieser Pole hatte ihm, während er selber in französische Dienste getreten war, seine entzückende Frau, une Parisienne de cœur, anvertraut. Der Hauptmann hatte bei ihr Glück gehabt: die entzückende Polin wollte mit ihm davonlaufen, er aber, von Hochherzigkeit getrieben, hatte die Frau dem Gatten zurückgebracht und dabei zu ihm gesagt: »Ich habe Ihnen das Leben gerettet, nun rette ich Ihnen noch die Ehre!« Als der Franzose diese Worte wiederholte, wischte er sich die Augen und schüttelte sich, wie um bei dieser rührenden Erinnerung eine Schwäche zu verscheuchen, die ihn zu übermannen drohte.
Wie das zu später Abendstunde und unter der Einwirkung des Weines oft zu geschehen pflegt, folgte Pierre, während er den Geschichten des Hauptmanns zuhörte, allem, was dieser ihm erzählte, verstand alles, ging aber dabei gleichzeitig einer Reihe persönlicher Erinnerungen nach, die plötzlich aus irgendeinem Grund vor seinem geistigen Auge auftauchten. Während er diesen Liebesgeschichten lauschte, kam ihm seine eigne Liebe zu Natascha unversehens ins Gedächtnis, und während er die Bilder dieser Liebe an seiner Seele vorüberziehen ließ, verglich er sie in Gedanken mit Remballes Erzählungen. Indem er der Schilderung eines Kampfes zwischen Liebe und Pflicht folgte, traten ihm alle kleinen, kleinsten Einzelheiten seiner letzten Begegnung mit dem Gegenstand seiner Liebe beim Sucharewturm vor Augen. Damals hatte ihm diese Begegnung weiter keinen Eindruck gemacht, ja er hatte nicht ein einziges Mal wieder daran gedacht. Jetzt aber kam ihm dieses Wiedersehen sehr bedeutsam und poetisch vor.
»Pjotr Kirillytsch, kommen Sie doch her, ich habe Sie erkannt«, hörte er wieder die Worte, die sie zu ihm gesagt hatte, sah ihre Augen, ihr Lächeln, das Reisehäubchen und die sich darunter hervorringelnden Locken vor sich … und in alledem lag für ihn etwas Rührendes, Weiches.
Als der Hauptmann seine Geschichte von der bezaubernden Polin zu Ende erzählt hatte, wandte er sich an Pierre mit der Frage, ob er nicht ein ähnliches Gefühl der Selbstaufopferung in der Liebe und eine Regung des Neides gegen den angetrauten Gatten auch schon empfunden habe.
Durch diese Frage aufgefordert, hob Pierre den Kopf und empfand das Bedürfnis, die Gedanken, die ihn beschäftigten, auszusprechen. Er fing damit an, dem Hauptmann auseinanderzusetzen, daß er die Liebe zu den Frauen etwas anders auffasse. Er sagte, sein ganzes Leben lang habe er nur eine einzige Frau geliebt und werde auch immer nur die eine lieben, doch diese könne ihm nie gehören.
»Tiens!« rief der Hauptmann aus.
Pierre erzählte weiter, daß er dieses Mädchen bereits seit frühester Jugend geliebt, aber später nicht an sie zu denken gewagt habe, da sie zu jung und er ein uneheliches Kind ohne Namen gewesen sei. Und später, als ihm Name und Reichtum zugefallen seien, habe er deshalb nicht an sie zu denken gewagt, weil er sie zu sehr geliebt und zu hoch über alle Welt und um so mehr auch über sich selber gestellt habe.
Als Pierre in seiner Erzählung bis hierher gekommen war, wandte er sich an den Hauptmann mit der Frage, ob er dies wohl verstehen könne.
Der Hauptmann machte eine Handbewegung, die besagte, daß, wenn er ihn auch nicht verstehe, er ihn dennoch bitte, fortzufahren.
»Platonische Liebe, über den Wolken …« murmelte er.
Der genossene Wein oder ein Bedürfnis, sich auszusprechen, oder auch der Gedanke, daß dieser Mensch die handelnden Personen seiner Geschichte nicht kannte und nie kennen werde, oder auch alle diese Gründe zusammen lösten Pierres Zunge. Und mit unsicherer Sprache, die glänzenden Augen irgendwohin in die Ferne gerichtet, erzählte er dem Franzosen seine ganze Geschichte: von seiner Ehe, von Nataschas Liebe zu seinem besten Freund, von ihrem Treubruch und von all seinen einfachen Beziehungen zu ihr. Durch Remballes Fragen aufgefordert, verriet er schließlich auch alles, was er anfänglich verborgen hatte: seine Stellung in der Gesellschaft und sogar seinen Namen.
Mehr als alles andere aus Pierres Erzählung verblüffte den Hauptmann der Umstand, daß Pierre schwer reich war, zwei Paläste in Moskau besaß, aber dies alles im Stich gelassen hatte und nicht aus Moskau fortgefahren, sondern in der Stadt geblieben war und seinen Namen und Stand geheimhielt.
Es war schon spät in der Nacht, als sie zusammen auf die Straße traten. Die Nacht war warm und hell. Links vom Hause leuchtete der Feuerschein des ersten in Moskau entstandenen Brandes in der Petrowka[203] auf. Rechts hoch am Himmel zeigte sich die zarte Sichel des zunehmenden Mondes, und auf der gegenüberliegenden Seite stand jener helle Komet, den Pierre im Geiste mit seiner Liebe in Verbindung gebracht hatte. Vor dem Tor standen Gerassim, die Köchin und zwei Franzosen. Man hörte, wie sie lachten und sich in gegenseitig unverständlichen Sprachen unterhielten. Auch sie blickten nach dem Feuerschein, der über der Stadt sichtbar war.
Dieser ferne, kleine Brand in der gewaltigen Stadt hatte weiter nichts Furchtbares.
Während Pierre den hohen Sternenhimmel, den Mond, den Kometen und den Feuerschein betrachtete, empfand er eine freudige Rührung. Oh, wie schön das ist! Was braucht man noch mehr? dachte er. Plötzlich aber, als ihm sein Vorhaben wieder einfiel, fing sein Kopf an, sich zu drehen, ein Schwindel überkam ihn, und er mußte sich an den Zaun lehnen, um nicht umzufallen.
Ohne sich von seinem neuen Freund zu verabschieden, ging Pierre mit unsicheren Schritten vom Tor fort, kehrte in sein Zimmer zurück, legte sich aufs Sofa und schlief sogleich ein.
Diesen Feuerschein jenes ersten, am 2. September ausgebrochenen Brandes beobachteten auch die aus Moskau flüchtenden Einwohner und die sich zurückziehenden Truppen von verschiedenen Wegen aus mit den verschiedensten Empfindungen.
Der Wagenzug der Rostows stand in dieser Nacht in Mytischtschi, zwanzig Werst von Moskau entfernt. Sie waren am 1. September so spät weggefahren, der Weg war mit Fuhrwerken und Truppen so versperrt gewesen, es waren so viele Sachen vergessen worden, nach denen man erst wieder Leute zurückschicken mußte, daß sie sich entschlossen hatten, fünf Werst von Moskau entfernt zu übernachten. Am nächsten Morgen waren sie spät aufgewacht, und wieder hatten sich so viele Hindernisse in den Weg gestellt, daß sie nur bis GroßMytischtschi gekommen waren. Um zehn Uhr abends hatten die Rostowschen Herrschaften und die Verwundeten, die mit ihnen fuhren, alle in den Gutshöfen und Hütten des großen Dorfes Unterkunft gefunden. Die Rostowsche Dienerschaft, die Kutscher und die Burschen der Verwundeten aßen, nachdem sie ihre Herrschaft versorgt hatten, zu Abend, fütterten die Pferde und gingen dann vor die Tür des von der Familie Rostow belegten Hauses.
In der Nachbarhütte lag ein verwundeter Adjutant Rajewskijs mit zerschmetterter Hand, der infolge des furchtbaren Schmerzes, den er ausstehen mußte, ununterbrochen kläglich stöhnte. Dieses Stöhnen klang in der dunklen Herbstnacht entsetzlich. Das erstemal hatte dieser Adjutant in demselben Haus übernachtet, in dem auch die Rostows abgestiegen waren, doch die Gräfin hatte erklärt, sie habe wegen dieses Stöhnens kein Auge zutun können, und war in GroßMytischtschi in die elendeste Hütte gezogen, nur um etwas weiter von diesem Verwundeten entfernt zu sein.
Einer der Leute bemerkte im Dunkel der Nacht hinter einer hohen, vor der Einfahrt stehenden Kutsche einen zweiten kleinen Feuerschein. Den anderen hatten sie schon lange gesehen und wußten alle, daß dort Klein-Mytischtschi brannte, das die Mamonowschen Kosaken angezündet hatten.
»Seht mal, Kameraden, dort noch ein zweiter Brand«, rief einer der Burschen.
Alle sahen nach diesem Feuerschein hin.
»Es wurde doch schon erzählt, die Mamonowschen Kosaken hätten Klein-Mytischtschi in Brand gesteckt.«
»Klein-Mytischtschi? Nein, das ist dort nicht, das ist weiter.«
»Sieh mal, fast wie wenn’s in Moskau wäre.«
Zwei der Leute stiegen die Außentreppe hinunter, gingen um die Kutsche herum und setzten sich auf das Trittbrett.
»Das ist mehr links. Wie denn, Mytischtschi liegt ja dort, aber das ist doch auf einer ganz anderen Seite.«
Es gesellten sich noch mehr Leute zu ihnen.
»Seht mal, wie das auflodert«, sagte der eine. »Der Brand ist in Moskau, Leute, entweder in der Suschtschewskaja[204] oder in der Rogoshskaja[205].«
Keiner antwortete auf diese Bemerkung. Und ziemlich lange beobachteten die Leute schweigend die in der Ferne auflodernde Flamme des neuen Brandes.
Der alte gräfliche Kammerdiener, wie man ihn nannte, Danilo Terentjytsch, trat auf das Häuflein zu und rief Mischka.
»Was hast du hier zu gaffen, Stromer! … Der Graf ruft, und niemand ist da. Geh und bring die Sachen in Ordnung!«
»Ich bin nur nach Wasser gelaufen«, entschuldigte sich Mischka.
»Was glauben Sie, Danilo Terentjytsch, ist der Brand wohl in Moskau?« fragte einer der Lakaien.
Danilo Terentjytsch gab keine Antwort, und wieder schwiegen alle lang. Der Brand wogte hin und her und griff weiter und weiter um sich.
»Gott sei uns gnädig! … Der Wind, die Trockenheit …« sagten ein paar Stimmen.
»Seht nur, wie sich das ausbreitet. Großer Gott, schon sieht man die Dohlen! Herrgott, erbarme dich über uns Sünder!«
»Sie werden es doch wohl löschen!«
»Wer soll es denn löschen?« hörte man die Stimme Danilo Terentjytschs, der bis jetzt geschwiegen hatte. Er sprach ruhig und gemessen. »Es ist Moskau, ihr Leute«, sagte er. »Unser weißes Mütterchen …« Die Stimme versagte ihm, und er brach plötzlich in greisenhaftes Schluchzen aus.
Und es war, als hätten alle nur darauf gewartet, um den Sinn des Feuerscheins, den sie sahen, zu verstehen: ringsum hörte man Seufzen, Worte des Gebets und das Schluchzen des alten gräflichen Kammerdieners.
Der Kammerdiener kehrte ins Haus zurück und meldete dem Grafen, Moskau stehe in Flammen. Der Graf zog den Schlafrock an und ging hinaus, um zu sehen. Sonja und Madame Schoß, die sich noch nicht ausgezogen hatten, folgten ihm. Natascha und die Gräfin blieben allein im Zimmer zurück. Petja war nicht mehr bei ihnen, er war mit seinem Regiment vorausgeeilt, das nach Troiza marschierte.
Als die Gräfin die Nachricht vom Brand Moskaus hörte, fing sie an zu weinen. Natascha saß bleich und mit starren Augen auf der Bank unter den Heiligenbildern, auf derselben Stelle, wohin sie sich gesetzt hatte, als sie gekommen waren, und schenkte den Worten ihres Vaters nicht die geringste Aufmerksamkeit. Sie lauschte dem nie verstummenden Stöhnen des Adjutanten, das man Häuser weit hörte.
»Ach, wie grauenhaft!« sagte Sonja, die durchfroren und verängstigt vom Hof zurückkam. »Ich glaube, ganz Moskau steht in Flammen. Ein furchtbarer Brand! Natascha, sieh doch mal! Jetzt kann man es auch hier vom Fenster aus sehen«, sagte sie zu ihrer Cousine in dem sichtlichen Bemühen, sie durch irgend etwas abzulenken.
Aber Natascha sah sie an, als verstünde sie gar nicht, was man zu ihr sagte, und richtete ihre Augen wieder auf die Ofenecke. In diesem Zustand der Betäubung befand sie sich seit heute morgen, von dem Augenblick an, da es Sonja zur Verwunderung und zum Ärger der Gräfin und ohne selber zu wissen warum, für nötig befunden hatte, Natascha darüber aufzuklären, daß Fürst Andrej verwundet war und mit ihnen zusammen fuhr. Die Gräfin war auf Sonja so ernstlich böse gewesen wie nur selten. Sonja hatte geweint und um Verzeihung gebeten und war nun, als wenn sie sich Mühe gäbe, ihre Schuld wieder gutzumachen, ununterbrochen liebevoll um ihre Cousine besorgt.
»Sieh nur, Natascha, wie furchtbar es brennt!« sagte Sonja.
»Was brennt denn?« fragte Natascha. »Ach ja, Moskau.«
Wie um Sonja nicht durch eine Weigerung zu kränken oder auch um sie loszuwerden, drehte sie den Kopf nach dem Fenster und schaute hinaus, aber sichtlich so, daß sie gar nichts erkennen konnte, und nahm dann ihre frühere Stellung wieder ein.
»Aber du hast ja gar nichts gesehen?«
»Doch, wirklich, ich habe es gesehen«, erwiderte Natascha mit einer Stimme, in der die Bitte lag, sie in Ruhe zu lassen.
Und die Gräfin und auch Sonja verstanden, daß weder Moskau noch Moskaus Brand noch was immer es auch sei Bedeutung für Natascha haben könne.
Der Graf ging wieder hinter seinen Wandschirm und legte sich schlafen. Die Gräfin trat auf Natascha zu, befühlte mit dem Handrücken den Kopf, wie sie es immer tat, wenn ihre Tochter krank war, dann berührte sie ihre Stirn mit den Lippen, wie um zu erkennen, ob sie Fieber habe, und küßte sie.
»Du bist ja ganz kalt? Du zitterst ja am ganzen Körper. Leg dich doch hin«, sagte sie.
»Hinlegen? Ja, gut, ich werde mich hinlegen. Ich werde mich gleich hinlegen«, erwiderte Natascha.
Als man Natascha an diesem Morgen gesagt hatte, daß Fürst Andrej schwerverwundet sei und mit ihnen fahre, hatte sie im ersten Augenblick viele Fragen gestellt: wohin er fahre, wo er verwundet sei, ob schwer, und ob sie ihn sehen dürfe. Doch nachdem man ihr gesagt hatte, sie könne ihn nicht sehen, er sei schwer verwundet, aber sein Leben sei außer Gefahr, hatte sie offenbar dem, was man ihr berichtete, keinen Glauben geschenkt und die Überzeugung gewonnen, daß, soviel sie auch frage, man ihr doch nur immer diese eine Antwort erteilen werde, und so hatte sie mit Fragen aufgehört und nicht mehr gesprochen.
Den ganzen Weg über hatte Natascha mit großen Augen, die die Gräfin so gut an ihr kannte und deren Ausdruck sie so sehr beängstigte, ohne sich zu rühren, in einer Wagenecke gesessen, und ebenso saß sie nun auf der Bank, auf der sie sich niedergelassen hatte. Die Gräfin wußte, daß sich Natascha jetzt etwas ausdachte, irgendeinen Entschluß faßte oder vielleicht gar schon gefaßt hatte. Was für ein Entschluß das aber war, wußte die Gräfin nicht, und das ängstigte und quälte sie.
»Natascha, zieh dich aus, Herzchen, und lege dich auf mein Bett.« Nur für die Gräfin war ein Bett aufgeschlagen worden, Madame Schoß und die beiden jungen Mädchen sollten auf einem Heulager auf dem Fußboden schlafen.
»Nein, Mama, ich lege mich dort auf die Erde«, sagte Natascha ärgerlich, trat ans Fenster und öffnete es.
Durch das geöffnete Fenster hörte man das Stöhnen des Adjutanten deutlicher. Sie beugte den Kopf in die feuchte Nachtluft hinaus, und die Gräfin sah, wie ihr dünner Hals vor Schluchzen zuckte und zitternd den Fensterrahmen berührte. Natascha wußte, daß es nicht Fürst Andrej war, der so stöhnte. Sie wußte, daß sich Fürst Andrej im selben Anwesen befand, wo auch sie waren, in einer Nachbarhütte, die durch den Hausflur mit der ihren verbunden war, aber dieses furchtbare, nie verstummende Gestöhn machte sie schluchzen. Die Gräfin wechselte mit Sonja einen Blick.
»Leg dich hin, mein Täubchen, leg dich hin, mein Herzchen«, sagte die Gräfin und berührte mit ihrer Hand leicht Nataschas Schulter. »Komm, leg dich hin.«
»Ach ja … gleich, gleich lege ich mich hin«, sagte Natascha und zog sich so hastig aus, daß ihre Rockbänder rissen. Sie warf das Kleid ab, streifte ihr Nachtgewand über und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das am Fußboden bereitete Lager, nahm ihren langen, dünnen Zopf über die Schulter nach vorn und fing an, ihn umzuflechten. Ihre feinen, langen, geübten Finger lösten das Haare schnell und geschickt auf, flochten es wieder zusammen und banden es zu. Wie immer drehte Natascha dabei den Kopf bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, aber ihre fieberhaft weitaufgerissenen Augen blickten starr geradeaus. Als sie ihre Nachttoilette beendet hatte, legte sie sich ruhig auf das äußerste Ende des über das Heu gebreiteten Bettuches, dicht neben die Tür.
»Natascha, lege dich doch in die Mitte«, sagte Sonja.
»Ich liege nun einmal hier«, erwiderte Natascha. »Legt ihr euch doch auch hin«, fügte sie ärgerlich hinzu und verbarg ihr Gesicht im Kissen.
Die Gräfin, Madame Schoß und Sonja zogen sich eilig aus und legten sich hin. Nur das Lämpchen vor den Heiligenbildern blieb im Zimmer brennen. Aber auf dem Hof draußen war es hell vom Feuerschein des brennenden Klein-Mytischtschi, das zwei Werst entfernt lag. Von der Straße her drang dumpf der Krakeel des Volkes aus der gegenüberliegenden Schenke, die die Mamonowschen Kosaken kurz und klein geschlagen hatten, und immer noch hörte man das ununterbrochene Stöhnen des Adjutanten.
Lange lauschte Natascha auf alle Geräusche drinnen und draußen, die zu ihr drangen, und rührte sich nicht. Zuerst hörte sie, wie ihre Mutter betete und seufzte und wie das Bett unter ihr krachte, hörte das pfeifende Schnarchen der Madame Schoß und Sonjas ruhige Atemzüge. Dann rief die Gräfin noch einmal nach Natascha. Diese gab keine Antwort.
»Ich glaube, sie schläft, Mama«, sagte Sonja leise.
Die Gräfin war eine Weile still, dann rief sie noch einmal, aber wieder erhielt sie keine Antwort.
Bald darauf vernahm Natascha die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Mutter. Natascha rührte sich nicht, obgleich ihr kleiner nackter Fuß, der unter der Decke hervorgerutscht war, auf dem bloßen Fußboden ganz kalt wurde.
In einer Ritze zirpte eine Grille, als feiere sie einen Sieg über alle. Ein Hahn krähte in der Ferne, ein zweiter antwortete ihm ganz nahe. Auch in der Schenke war es still geworden. Man hörte nur noch das Stöhnen des Adjutanten. Natascha richtete sich auf.
»Sonja, schläfst du? Mama?« flüsterte sie.
Niemand antwortete. Leise und vorsichtig erhob sie sich, bekreuzigte sich und trat behutsam mit ihren schmalen, biegsamen, nackten Füßen auf den kalten, schmutzigen Fußboden. Die Dielenbretter knarrten. Mit flinken, kleinen Schritten lief sie wie ein Kätzchen zur Tür und ergriff die kalte Klinke.
Ihr war, als ob schwere, gleichmäßige Schläge gegen alle Wände der Hütte pochten: es war ihr vor Angst vergehendes Herz, das vor Grauen und Liebe zu springen drohte.
Sie öffnete die Tür, ging über die Schwelle und trat auf den kalten, feuchten Erdfußboden des Flurs hinaus. Kalt wehte es ihr entgegen, aber das erfrischte sie. Mit ihrem bloßen Fuß berührte sie einen schlafenden Menschen, schritt über ihn hinweg und öffnete die Tür zu der Hütte, in der Fürst Andrej lag.
Hier war es finster. Hinten in der Ecke neben einem Bett, in dem etwas lag, stand auf der Bank ein Talglicht mit langem, abgebranntem Docht.
Schon am Morgen, als ihr die Verwundung und Anwesenheit des Fürsten Andrej mitgeteilt worden war, hatte Natascha beschlossen, daß sie ihn sehen müsse. Sie wußte nicht, wozu dies nötig war, und war sich sogar bewußt, daß dieses Wiedersehen eine Qual für sie sein werde, um so mehr aber war sie überzeugt, daß es notwendig war.
Den ganzen Tag über hatte sie nur die Hoffnung aufrechterhalten, daß es ihr in der Nacht gelingen werde, zu ihm zu gehen. Jetzt aber, als dieser Augenblick gekommen war, packte sie ein Grauen vor dem, was sie sehen werde. Wie entstellt mochte er aussehen? Was mochte von ihm übriggeblieben sein? War er so wie dieser Adjutant, der ununterbrochen stöhnte? Ja, ganz so. Er war für sie die Verkörperung dieses entsetzlichen Stöhnens. Als sie die verschwommene Masse in der Ecke sah und seine unter der Decke erhobenen Knie für seine Schultern hielt, stellte sie sich einen entsetzlichen Körper vor, und das Grauen bannte sie fest.
Doch eine unwiderstehliche Kraft trieb sie vorwärts. Behutsam ging sie einen Schritt weiter, dann noch einen zweiten und sah sich schon in der Mitte des kleinen, vollgestopften Raumes. Auf der Bank unter den Heiligenbildern lag noch ein Mensch – es war Timochin – und am Fußboden noch zwei andre: der Arzt und der Kammerdiener.
Der Kammerdiener richtete sich auf und sagte flüsternd etwas. Timochin, den sein verwundetes Bein arg schmerzte, schlief nicht und betrachtete mit weit offenen Augen die seltsame Erscheinung des Mädchens im weißen Hemd mit Nachtjacke und Nachthäubchen. Die verschlafene und ängstliche Anrede des Kammerdieners: »Was wünschen Sie? Warum?« ließen Natascha nur noch schneller auf das zuschreiten, was in der Ecke lag. Wie furchtbar und menschenunähnlich dieser Körper auch sein mochte, sie mußte ihn sehen. Sie ging am Kammerdiener vorüber. Der abgebrannte Docht des Lichtes fiel ab, und nun sah sie den Fürsten Andrej deutlich. Er lag, die Arme über die Decke gestreckt, da und sah genauso aus wie immer.
Er war wie immer. Aber die glühende Röte seines Gesichtes, die glänzenden Augen, die er entzückt auf sie gerichtet hielt, besonders aber sein zarter, kindlicher Hals, der aus dem aufgeschlagenen Hemdkragen sah, gaben ihm ein besonders unschuldiges, kindliches Aussehen, das sie an ihm noch nie gesehen hatte. Sie trat auf ihn zu und sank mit schneller, weicher und jugendlicher Bewegung auf die Knie.
Er lächelte und streckte ihr die Hand entgegen.
Sieben Tage waren verstrichen, seit Fürst Andrej auf dem Verbandplatz bei Borodino zu sich gekommen war. Diese ganze Zeit über hatte er sich fast ständig in Bewußtlosigkeit befunden. Das andauernde Fieber und eine Entzündung der verwundeten Därme mußten nach Ansicht des Arztes, der den Fürsten begleitete, sein Ende herbeiführen. Aber am siebenten Tag fing er an, mit Genuß ein Stück Brot und Tee zu verzehren, und der Arzt beobachtete, wie das Fieber abnahm.
An diesem Morgen hatte Fürst Andrej das Bewußtsein wiedererlangt. Die erste Nacht nach seiner Abreise aus Moskau war ziemlich warm gewesen, und man hatte ihn die Nacht im Wagen verbringen lassen. Doch in Mytischtschi hatte der Verwundete selber verlangt, man solle ihn aus dem Wagen nehmen und ihm Tee geben. Der Schmerz beim Transport in die Hütte hatte ihn laut aufstöhnen und wieder das Bewußtsein verlieren lassen. Als man ihn dann auf das Feldbett gelegt hatte, war er lange mit geschlossenen Augen regungslos so liegen geblieben. Dann hatte er die Augen aufgeschlagen und leise geflüstert: »Nun und der Tee?« Dieses Denken an die kleinsten Lebensbedürfnisse setzte den Arzt in Erstaunen. Er fühlte ihm den Puls und stellte befremdet und verwundert fest, daß der Herzschlag besser war. Er war durchaus nicht damit zufrieden, weil er auf Grund seiner Erfahrung überzeugt war, daß Fürst Andrej nicht weiterleben könne, und daß, wenn er nicht sogleich stürbe, der Tod kurze Zeit darauf mit noch größeren Schmerzen eintreten werde.
Mit dem Fürsten Andrej zusammen wurde jetzt noch ein Major seines Regimentes gefahren, der in Moskau zu ihm gestoßen war. Es war jener Timochin mit der roten Nase, der, ebenfalls in der Schlacht bei Borodino, eine Verwundung am Fuß erlitten hatte. Außerdem fuhren noch der Arzt, der Kammerdiener des Fürsten, sein Kutscher und zwei Burschen mit.
Man gab dem Fürsten Andrej Tee. Gierig trank er ihn, wobei er mit fiebernden Augen vor sich nach der Tür starrte, als sei er bemüht, irgend etwas zu fassen und sich ins Gedächtnis zurückzurufen.
»Mehr will ich nicht. Ist Timochin hier?« fragte er.
Timochin kroch auf der Bank zu ihm hin.
»Ich bin hier, Durchlaucht.«
»Wie ist die Wunde?«
»Meine? Geht an. Aber Ihre?«
Fürst Andrej dachte wieder nach, als wolle er sich an etwas erinnern.
»Kann ich ein Buch haben?« fragte er.
»Was für ein Buch?«
»Das Evangelium. Ich habe keins.«
Der Arzt versprach, ihm eines zu verschaffen, und fing an, ihn zu befragen, wie er sich fühle. Fürst Andrej antwortete ungern, aber vernünftig auf alle seine Fragen und sagte dann, man solle ihm ein Kissen unterschieben, so sei es unbequem und tue sehr weh. Der Arzt und der Kammerdiener hoben den Mantel auf, mit dem er zugedeckt war, zogen bei dem durchdringenden Geruch des faulen Fleisches, der von der Wunde ausging, das Gesicht in Falten und fingen an, die furchtbare Stelle näher zu untersuchen. Der Arzt war mit irgend etwas unzufrieden, machte etwas anders und drehte den Verwundeten, so daß dieser wieder aufstöhnte, vor Schmerz bei dieser Bewegung abermals das Bewußtsein verlor und zu phantasieren anfing. Immer sprach er davon, man solle ihm so bald wie möglich dieses Buch verschaffen und dort unterlegen.
»Was macht das euch aus?« rief er. »Ich habe keins, verschafft es mir, bitte. Legt es nur einen Augenblick hier unter«, flehte er mit kläglicher Stimme.
Der Arzt ging auf den Hausflur, um sich die Hände zu waschen.
»Ach, diese gewissenlose Gesellschaft, wirklich«, bemerkte der Arzt zum Kammerdiener, der ihm Wasser über die Hände goß. »Nur einen Augenblick habe ich nicht hingesehen. Das muß ja ein solcher Schmerz sein, daß ich mich wundere, wie er ihn ertragen kann.«
»Wir hatten ihm aber doch wohl etwas untergelegt? Herr Jesus Christus«, jammerte der Kammerdiener.
Zum erstenmal war sich Fürst Andrej darüber klar geworden, wo er sich befand und was mit ihm geschehen war. Er hatte sich daran erinnert, daß er verwundet war und in dem Augenblick, als der Wagen in Mytischtschi stehen geblieben war, darum gebeten hatte, ins Haus geschafft zu werden. Dann hatte er vor Schmerzen wieder die Besinnung verloren und war erst in der Hütte zum zweitenmal zu sich gekommen, hatte Tee getrunken und sich dann, indem er nochmals alles, was mit ihm geschehen war, in Gedanken vorüberziehen ließ, besonders lebhaft an jenen Augenblick auf dem Verbandplatz erinnert, als ihm beim Anblick der Leiden eines gehaßten Menschen diese neuen, glückverheißenden Gedanken gekommen waren. Und diese Gedanken obgleich verschwommen und unbestimmt, bemächtigten sich seiner Seele nun ganz. Es fiel ihm ein, daß es jetzt ein neues Glück für ihn gab, und daß dieses Glück etwas mit dem Evangelium gemeinsam hatte. Deshalb hatte er um dieses Buch gebeten. Aber die schlechte Lage, die man seiner Wunde gegeben hatte, und das wiederholte Drehen hatten seine Gedanken von neuem in Verwirrung gebracht, und so erlangte er erst in der vollkommenen Stille der Nacht das Bewußtsein zum drittenmal wieder. Alle um ihn herum schliefen. Eine Grille zirpte hinterm Flur, auf der Straße schrie und sang jemand, Schaben raschelten über den Tisch, die Wände und die Heiligenbilder, eine dicke Fliege flog ab und zu gegen sein Kopfkissen und um das Talglicht, das mit tief abgebranntem Docht neben ihm stand.
Sein Geist war nicht in normalem Zustand. Ein gesunder Mensch denkt, fühlt und erinnert sich gewöhnlich an eine zahllose Menge von Dingen gleichzeitig und hat die Kraft und Gewalt, eine einzelne Kette dieser Gedanken oder Erscheinungen herauszugreifen und ihr seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Ein gesunder Mensch kann sich aus tiefsten Grübeleien für einen Augenblick losreißen, um einem Eintretenden ein höfliches Wort zu sagen, dann aber sogleich wieder zu seinen Gedanken zurückkehren. Doch Fürst Andrejs Kopf war in dieser Beziehung nicht in normalem Zustand. Alle seine geistigen Kräfte waren reger und klarer denn je, aber sie arbeiteten ohne sein Zutun. Die allerverschiedensten Gedanken und Vorstellungen kamen gleichzeitig über ihn. Manchmal fing sein Hirn plötzlich mit solcher Kraft, Klarheit und Tiefe zu arbeiten an, wie es in gesundem Zustand niemals zu denken imstande gewesen war, plötzlich aber wurde es mitten in seiner Arbeit von irgendeiner unerwarteten Vorstellung unterbrochen und war nun nicht mehr imstande, zu den ersten Gedankengängen zurückzukehren.
Ja, ein neues Glück hat sich mir erschlossen, das dem Menschen nicht wieder genommen werden kann, dachte er, während er in der halbdunklen, stillen Hütte lag und mit fieberhaft offenen, starren Augen vor sich hinsah. Ein Glück, das außerhalb aller materiellen Kräfte liegt, außerhalb aller äußeren Einflüsse auf den Menschen, ein Glück der Seele allein: das Glück der Liebe. Jeder Mensch kann es begreifen, doch sich dessen bewußt werden und es vorschreiben konnte nur Gott. Aber wie hat Gott dieses Gesetz vorgeschrieben? Und warum hat sein Sohn …
Da riß dieser Gedankengang plötzlich ab, und Fürst Andrej hörte – er wußte nicht, ob es Wirklichkeit oder Fieberphantasie war –, wie etwas wie eine leise, flüsternde Stimme immer wieder gleichmäßig wiederholte: »i-piti-piti-piti« und dann: »i-titi« und wieder: »i-pitipiti-piti« und dann: »titi«. Und gleichzeitig mit den Geräuschen dieser flüsternden Musik hatte Fürst Andrej die Empfindung, als ob mitten auf seinem Gesicht ein merkwürdig luftiger Bau aus feinen kleinen Nadeln und Stäbchen errichtet würde. Er fühlte, daß er, so schwer ihm das auch fiel, ganz vorsichtig das Gleichgewicht halten mußte, damit das im Entstehen begriffene Gebäude nicht zusammenfiele, und doch stürzte es zusammen und wurde dann bei der gleichmäßig flüsternden Musik wieder aufgebaut.
Es dehnt sich, dehnt sich aus! Alles wächst und dehnt sich, sagte sich Fürst Andrej. Und während er dem Flüstern lauschte und fühlte, wie das Gebäude aus winzigen Nadeln wuchs und sich dehnte, sah er ab und zu den roten Lichtschein rings um die Kerze, hörte das Rascheln der Schaben und das Summen einer Fliege, die sich bald auf dem Kopfkissen, bald auf seinem Gesicht niederließ. Und jedesmal, wenn die Fliege sein Gesicht berührte, verursachte sie dort ein kitzelndes Gefühl, gleichzeitig aber wunderte er sich, daß die Fliege, die mitten in den Bereich des Baus auf seinem Gesicht hineinflog, diesen nicht zerstörte. Und dann gab es da noch etwas Bedeutsames. Das war etwas Weißes an der Tür, eine Sphinxgestalt, die ihn wie ein schwerer Druck beunruhigte.
Vielleicht ist es ein Hemd von mir, das auf dem Tisch liegt, dachte Fürst Andrej. Das hier sind meine Beine, das ist die Tür; aber warum dehnt sich alles aus und tritt hervor? – »I piti-piti-piti i titi« und »pitipiti-piti …«
»Genug, hör auf! Ich bitte dich, laß das!« bat Fürst Andrej jemanden mit schwerer Zunge. Und wieder tauchten jener Gedanke und jenes Gefühl mit außergewöhnlicher Klarheit und Kraft vor ihm auf.
Ja, die Liebe, dachte er wieder vollkommen deutlich, aber nicht jene Liebe, die man aus irgendeiner Absicht, zu irgendeinem Ziel oder aus irgendeinem Grund empfindet, sondern jenes Gefühl, wie ich es zum erstenmal empfand, als ich, dem Tode nah, meinen Feind erblickte und plötzlich Liebe für ihn fühlte. Das, was ich in jenem Augenblick empfunden habe, war eine Liebe, die den wahren Kern der Seele bildet und keines Gegenstandes bedarf. Und auch jetzt noch empfinde ich dieses beseligende Gefühl. Liebe deinen Nächsten, liebe deine Feinde, liebe alle, liebe Gott in allen seinen Offenbarungen. Um einen teuren Menschen zu lieben, dazu bedarf es nur menschlicher Liebe, doch seine Feinde kann man nur mit göttlicher Liebe lieben. Deshalb freute ich mich auch so, als ich fühlte, daß ich diesen Menschen liebte. Wie mag es ihm gehen? Ob er wohl noch am Leben ist? …
Liebt man jemanden mit menschlicher Liebe, so kann sich diese Liebe in Haß verwandeln, göttliche Liebe aber ist unwandelbar. Nichts in der Welt, nicht einmal der Tod, kann sie zunichte machen. Sie ist das eigentliche Wesen der Seele. Wie viele Menschen habe ich in meinem Leben gehaßt! Und von allen Menschen habe ich keinen mehr geliebt und keinen mehr gehaßt als sie!
Lebhaft sah er Natascha vor sich, nicht so, wie er sie sich früher immer vorgestellt hatte: im Schmuck all der Reize, die ihn so entzückt hatten, sondern er stellte sich zum erstenmal ihre Seele vor. Und auf einmal hatte er Verständnis für ihre Gefühle, ihre Leiden, ihre Scham und ihre Reue. Zum erstenmal begriff er die ganze Härte seiner Absage, sah ein, wie grausam sein Bruch mit ihr war.
Wenn es mir nur möglich wäre, sie noch einmal zu sehen. Nur ein einziges Mal möchte ich noch in diese Augen sehen und ihr sagen …
I piti-piti-piti i titi i piti-piti … bum! machte die Fliege. Wieder wurde seine Aufmerksamkeit in eine andre Welt der Wirklichkeit und Phantasie hinübergelenkt, in der etwas Besonderes vor sich ging. Auch in dieser Welt wuchs immer noch, ohne einzustürzen, jenes luftige Gebäude, ganz ebenso dehnte sich alles aus, wie immer brannte die Kerze in demselben roten Lichtkreis, wie immer lag die Sphinx oder das Hemd an der Tür, doch außer diesem allen knarrte auf einmal etwas, es roch nach frischer Luft, und eine neue weiße Sphinx, eine stehende, erschien in der Tür. Und der Kopf dieser Sphinx hatte dasselbe bleiche Gesicht, dieselben glänzenden Augen wie jene Natascha, an die er soeben gedacht hatte.
Ach, wie schwer zu ertragen sind doch diese ununterbrochenen Fieberphantasien! dachte Fürst Andrej, bemüht, dieses Gesicht aus seiner Einbildung zu verscheuchen. Aber es stand mit aller Kraft der Wirklichkeit vor ihm und kam näher auf ihn zu. Fürst Andrej wollte in seine frühere Welt des reinen Denkens zurückkehren, doch er konnte es nicht, der Fiebertraum zog ihn in seinen Bann. Die leise bebende Stimme fuhr in ihrem gleichmäßigen Geflüster fort, etwas legte sich lastend auf ihn, dehnte sich aus, aber das seltsame Gesicht verschwand nicht. Fürst Andrej raffte alle seine Kräfte zusammen, um zu sich zu kommen: er machte eine Bewegung, aber plötzlich fing es in seinen Ohren an zu singen, es wurde ihm dunkel vor den Augen, und wie ein Mensch, der im Wasser untergeht, verlor er die Besinnung.
Als er wieder zu sich kam, lag Natascha, jene selbe lebendige Natascha, die er vor allen Menschen auf der Welt am meisten mit jener neuen, reinen, göttlichen, ihm jetzt erst offenbar gewordenen Liebe zu umfassen strebte, vor ihm auf den Knien. Er begriff, daß dies die lebendige, wirkliche Natascha war, und wunderte sich nicht, sondern freute sich nur im stillen. Natascha lag vor ihm auf den Knien, blickte erschrocken und wie festgebannt – sie konnte sich nicht rühren – zu ihm empor und hielt den Atem an. Ihr Gesicht war bleich und starr. Nur die untere Hälfte zitterte leise.
Fürst Andrej seufzte erleichtert auf, lächelte und streckte ihr die Hand entgegen.
»Sie?« sagte er. »Welch ein Glück!«
Mit einer raschen, vorsichtigen Bewegung kam ihm Natascha auf den Knien näher, ergriff behutsam seine Hand, beugte ihr Gesicht darüber und küßte sie, wobei sie sie kaum mit den Lippen berührte.
»Verzeihen Sie!« sagte sie flüsternd, hob den Kopf und sah ihn an. »Verzeihen Sie mir!«
»Ich liebe Sie«, erwiderte Fürst Andrej.
»Verzeihen Sie …«
»Was hätte ich Ihnen zu verzeihen?« fragte er.
»Verzeihen Sie mir … das … was ich … tat«, stammelte Natascha mit kaum hörbarem, abgerissenem Flüstern und küßte dabei immer wieder, fast ohne sie mit den Lippen zu berühren, seine Hand.
»Ich liebe dich mehr und besser als früher«, erwiderte Fürst Andrej und hob mit seiner Hand ihr Gesicht so, daß er ihr in die Augen sehen konnte.
Diese Augen waren mit Tränen des Glückes gefüllt und sahen schüchtern mitleidig und freudig liebend zu ihm empor. Nataschas mageres, bleiches Gesicht mit den gedunsenen Lippen war nichts weniger als schön, es sah furchterregend aus. Doch Fürst Andrej sah dieses Gesicht nicht, er sah nur die strahlenden Augen, und die waren schön.
Hinten im Zimmer hörte man reden. Pjotr, der Kammerdiener, der jetzt aus dem Schlaf ganz zu sich gekommen war, hatte den Arzt geweckt. Timochin, der vor Schmerzen die ganze Zeit über nicht geschlafen hatte, hatte schon lange alles, was da vorging, beobachtet, seinen unbekleideten Körper ängstlich in die Decke gehüllt und sich auf der Bank so klein wie nur möglich gemacht.
»Was ist denn das?« fragte der Doktor, indem er sich von seinem Lager erhob. »Bitte gehen Sie hinaus, Fräulein!«
In diesem Augenblick klopfte an die Tür eine Zofe, die die Gräfin geschickt hatte, um die Tochter zu holen.
Wie eine Nachtwandlerin, die mitten aus ihren Träumen aufgeschreckt wird, ging Natascha aus dem Zimmer, kehrte in ihre Hütte zurück und sank schluchzend auf ihr Bett nieder.
Seit jenem Tag wich Natascha während der ganzen weiteren Reise der Rostows bei allen Rast- und Nachtlagern nicht von der Seite des verwundeten Bolkonskij, und der Arzt mußte zugeben, daß er solche Beständigkeit und Geschicklichkeit in der Krankenpflege von einem so jungen Mädchen nicht erwartet hätte.
Wie furchtbar der Gräfin auch der Gedanke schien, daß Fürst Andrej unterwegs in den Armen ihrer Tochter sterben könne, was nach den Worten des Arztes sehr wahrscheinlich war, so konnte sie Natascha doch nicht zurückhalten. Obgleich bei den jetzt wiederhergestellten nahen Beziehungen zwischen dem verwundeten Fürsten und Natascha der Gedanke nahe lag, daß im Fall einer Genesung das frühere Verhältnis von Bräutigam und Braut erneuert werde, so sprach doch kein Mensch davon, am wenigsten Natascha und Fürst Andrej selbst. Die Frage über Leben und Tod, die nicht nur über Bolkonskij, sondern auch über ganz Rußland noch unentschieden schwebte, rückte alle übrigen Pläne in den Hintergrund.
Pierre wachte am 3. September spät auf. Der Kopf tat ihm weh, die Kleider, die er beim Schlafen nicht abgelegt hatte, beengten ihm den Körper, und auf seiner Seele lastete das trübe Bewußtsein von etwas Beschämendem, das sich am Tag vorher ereignet hatte. Dieser beschämende Vorfall war sein gestriges Gespräch mit Hauptmann Remballe.
Die Uhr zeigte elf, doch schien es draußen noch auffallend düster zu sein. Pierre stand auf, rieb sich die Augen, und als er die Pistole mit dem geschnitzten Schaft sah, die Gerassim wieder auf den Schreibtisch gelegt hatte, fiel ihm endlich ein, wo er sich befand und was ihm gerade heute bevorstand.
Komme ich etwa schon zu spät? dachte Pierre. Nein. Wahrscheinlich hält er seinen Einzug in Moskau nicht vor zwölf Uhr.
Pierre nahm sich nicht Zeit, darüber nachzudenken, was ihm bevorstand, sondern beeilte sich, so bald wie möglich zu handeln.
Nachdem er seinen Anzug geordnet hatte, nahm er die Pistole zur Hand und schickte sich an fortzugehen. Doch da kam ihm zum erstenmal der Gedanke, wie er denn diese Waffe auf der Straße tragen solle, er konnte sie doch wohl nicht offen in die Hand nehmen. Sogar unter dem weiten Kaftan war es schwierig, die große Pistole zu verbergen. Weder im Gürtel noch unter dem Arm konnte er sie unterbringen, ohne daß man sie bemerkt hätte. Außerdem war die Pistole jetzt abgeschossen, und Pierre hatte noch keine Zeit gehabt, sie wieder zu laden. Auch gut, dann nehme ich eben den Dolch, sagte sich Pierre, obgleich er wiederholt, während er die Ausführung seiner Absicht überdacht hatte, zu der Überzeugung gekommen war, daß der Hauptfehler des Studenten im Jahre 1809 darin bestanden hatte, daß er Napoleon mit einem Dolch hatte ermorden wollen. Doch als bestünde Pierres Hauptziel nicht darin, die beabsichtigte Tat auszuführen, sondern darin, sich selber zu zeigen, daß er vor seiner Absicht nicht zurückschrecke und alles zu deren Ausführung tue, nahm er eilig den am Sucharewturm zusammen mit der Pistole gekauften, stumpfen, schartigen Dolch in grüner Scheide und verbarg ihn unter der Weste.
Nachdem Pierre seinen Kaftan umgürtet und eine Mütze aufgesetzt hatte, ging er, bemüht, keinen Lärm zu machen und dem Hauptmann nicht zu begegnen, den Korridor entlang und trat auf die Straße hinaus.
Jene Feuersbrunst, die er am Abend vorher so gleichgültig beobachtet hatte, war über Nacht bedeutend größer geworden. Moskau brannte bereits an mehreren Enden. Es brannte gleichzeitig in den Wagenmagazinen, in Samoskworetschje[206], im Basar, in der Powarskaja[207], in den Barken auf der Moskwa, auf dem Holzmarkt und in der Nähe der Dorogomilowbrücke.
Pierres Weg führte durch Nebenstraßen in die Powarskaja, von hier nach dem Arbat[208] zur Nikolaj-Jawlenny-Kirche, in deren Nähe er schon lange den Platz bestimmt hatte, wo er seine Tat ausführen wollte. An den meisten Häusern waren die Tore und Fensterläden geschlossen. Alle Straßen und Gassen waren leer. Die Luft roch nach Brand und Rauch. Mitunter begegnete er Russen mit unruhigen, scheuen Gesichtern und Franzosen, die mitten auf den Straßen gingen, als befänden sie sich in einem Lager, nicht in einer Stadt. Doch sowohl die einen als auch die anderen sahen Pierre mit Verwunderung an. Die Russen staunten ihn an, nicht nur, weil er so groß und dick war und sein Gesicht und seine ganze Gestalt einen so eigentümlich finster gesammelten und leidenden Ausdruck zeigte, sondern auch weil sie sich darüber nicht klar werden konnten, welchem Stand dieser Mann angehören mochte. Die Franzosen dagegen verfolgten Pierre besonders deshalb mit den Augen, weil er ihnen im Gegensatz zu allen anderen Russen, die die Franzosen erschrocken und neugierig anstarrten, nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Bei dem Tor eines Hauses hielten drei Franzosen, die dort mit russischem Gesinde verhandelten, das sie nicht verstand, Pierre an und fragten ihn, ob er Französisch verstehe.
Pierre schüttelte verneinend den Kopf und ging weiter. In einer anderen Seitengasse rief ihn eine Wache an, die neben einem Munitionswagen stand, und Pierre begriff erst nach wiederholtem, drohendem Anruf und beim Klirren des Gewehrs, das der Posten in die Hand nahm, daß er auf die andere Seite der Straße hinübergehen sollte. Er hörte und sah nichts von dem, was um ihn vorging. Wie etwas Furchtbares und ihm selber Fremdes trug er seine Absicht in Hast und Grauen mit sich herum, immer in Angst, sie könne ihm noch einmal irgendwie abhanden kommen, wie ihn die Erfahrung der vergangenen Nacht gelehrt hatte. Aber es sollte Pierre nicht beschieden sein, seine Stimmung unversehrt bis an den Ort zu bringen, wohin er sich begab. Wenn er auch durch nichts unterwegs aufgehalten worden wäre, hätte er seine Absicht doch schon deshalb nicht ausführen können, weil Napoleon schon vier Stunden vorher durch die Dorogomilowvorstadt über den Arbatsplatz in den Kreml eingezogen war und augenblicklich in höchst finsterer Laune im Arbeitszimmer des Zaren im Kremlpalast saß und eingehende, umständliche Befehle über die Maßnahmen erteilte, die unverzüglich zur Löschung des Brandes, zur Beruhigung der Einwohner und gegen das Marodieren der Soldaten getroffen werden sollten. Doch Pierre wußte das nicht. Ganz eingenommen von dem, was ihm bevorstand, quälte er sich, wie sich eben Menschen quälen, die hartnäckig eine unmögliche Tat vollbringen wollen, unmöglich nicht wegen der Schwierigkeiten, sondern weil diese Tat ihrer ganzen Natur zuwiderläuft, quälte sich mit der Angst, daß er im entscheidenden Augenblick schwach werden und infolgedessen die Achtung vor sich selbst verlieren werde.
Doch obgleich er um sich herum nichts hörte und sah, wählte er instinktiv den richtigen Weg und irrte sich nicht in den Nebengäßchen, die ihn nach der Powarskaja führten.
Je näher Pierre der Powarskaja kam, um so dichter und dichter wurde der Rauch, und sogar die Hitze der Feuersbrunst war zu spüren. Ab und zu züngelte eine Flamme über die Hausdächer hinweg. Eine große Volksmenge hatte sich in den Straßen versammelt, alle befanden sich in äußerster Erregung. Wenn Pierre auch fühlte, daß etwas Außergewöhnliches um ihn herum vorging, so legte er sich doch keine Rechenschaft davon ab, daß er sich dem Brand näherte. Während er einen Fußweg entlang über einen großen, unbebauten Platz ging, der an der einen Seite bis an die Powarskaja, an der anderen bis zu den Gärten am Haus des Fürsten Grusinskij reichte, hörte Pierre plötzlich neben sich das verzweifelte Weinen einer Frau. Er blieb stehen, wie wenn er aus tiefem Schlaf zu sich käme, und hob den Kopf.
Neben dem Fußweg, auf dem vertrockneten, staubigen Gras waren Haufen von Hausrat aufgetürmt: Federbetten, Samoware, Heiligenbilder und Kisten und Kasten. Auf der Erde neben den Kisten und Kasten saß eine nicht mehr junge, hagere Frau mit langen, vorstehenden Oberzähnen, bekleidet mit einem schwarzen Umhang und einem Häubchen. Diese Frau sprach immer etwas vor sich hin, schüttelte den Kopf und weinte bitterlich. Zwei Mädchen von zehn bis zwölf Jahren in schmutzigen kurzen Kleidern und Saloppen sahen die Mutter mit blassen, erschrockenen Gesichtern ratlos an. Ein kleinerer Knabe von etwa sieben Jahren in weiter Jacke und großer Mütze, die ihm gar nicht zu gehören schienen, weinte in den Armen einer alten Kindermuhme. Eine barfüßige, schmutzige Magd saß auf einem Koffer, hatte ihren blonden Zopf aufgelöst, zupfte die angebrannten Haare heraus und roch daran. Der Mann, ein kleiner, etwas verwachsener Mensch in Vizeuniform mit radförmigem Backenbart und glatt gestrichenem Schläfenhaar, das unter der gerade aufgesetzten Mütze sichtbar war, rückte mit starrer Miene die Kisten auseinander, die eine auf der anderen standen, und zog ein paar Kleidungsstücke darunter hervor.
Als die Frau Pierre erblickte, warf sie sich ihm fast zu Füßen. »Ach, ihr lieben Leute, ihr rechtgläubigen Christen, rettet doch, helft doch, ihr Lieben! … Wenn doch einer helfen wollte! …« fügte sie unter Schluchzen hinzu. »Mein Kindchen! … Mein Töchterchen! … Mein kleinstes Mädchen ist zurückgeblieben! … Es verbrennt! Oh! Habe ich sie dazu großge … Oh!«
»Hör doch auf, Marja Nikolajewna«, wandte sich der Mann mit sanfter Stimme an die Frau, offenbar nur, um sich vor dem Fremden zu rechtfertigen. »Die Schwester muß ja das Kind mitgenommen haben, wo sollte es denn sonst sein?« fügte er hinzu.
»Du roher Patron, du Bösewicht!« schrie die Frau grimmig und hörte plötzlich auf zu weinen. »Du hast kein Herz im Leibe, nicht einmal mit deinem eignen Kindchen hast du Mitleid. Ein andrer hätte es schon lange aus dem Feuer geholt. Aber du bist eben ein roher Patron und kein Mensch, kein Vater. Sie sind ein edler Herr«, wandte sich die Frau in hastiger Rede und schluchzend an Pierre. »Es brannte nebenan und griff dann zu uns über. Auf einmal schreit die Magd: ›Es brennt!‹ Wir raffen zusammen, was wir können. So wie wir sind, stürzen wir davon … Das ist alles, was wir mitschleppen konnten … Die Heiligenbilder und das Bett, das meine Mitgift war, alles andere ist verloren. Ich greife nach den Kindern, meine kleine Katja fehlt. Ooo! O großer Gott!…« Und wieder fing sie an zu schluchzen. »Mein Kindchen, mein Kindchen, es verbrennt, verbrennt!«
»Aber wo ist es denn? Wo ist es denn geblieben?« fragte Pierre.
Als die Frau sah, wie Pierres Gesicht lebhafter wurde, begriff sie, daß dieser Mensch ihr helfen könne.
»Lieber Herr! Väterchen!« rief sie und umfaßte seine Knie. »Mein Wohltäter, geben Sie meinem Herzen die Ruhe wieder … Aniska, du abscheuliches Ding, geh, zeig ihm den Weg!« rief sie der Magd zu und riß im Zorn den Mund so weit auf, daß ihre langen Zähne noch sichtbarer wurden.
»Führ mich hin, führ mich hin, ich … ich … ich will es tun«, sagte Pierre hastig mit stockender Stimme.
Die schmutzige Magd kam hinter den Kisten hervor, steckte den Zopf auf, seufzte und ging mit ihren plumpen, nackten Füßen auf dem Fußweg voran. Pierre hatte das Gefühl, als wäre er plötzlich aus schwerer Betäubung wieder zum Leben erwacht. Er hob den Kopf höher, aus seinen Augen strahlte lebensvoller Glanz. Mit schnellen Schritten ging er hinter dem Mädchen her, holte sie ein und trat auf die Powarskaja.
Die ganze Straße war in eine dichte, schwarze Rauchwolke gehüllt, aus der hier und da eine grelle Flamme züngelte. Ein dichter Volkshaufe umdrängte die Brandstätte. Mitten auf der Straße stand ein französischer General und sprach auf die ihn umgebende Menge ein. Pierre wollte, von dem Dienstmädchen geleitet, auf die Stelle zugehen, wo der General stand, aber französische Soldaten hielten ihn an.
»On ne passe pas!« schrie ihm eine Stimme zu.
»Hierher, Onkelchen«, rief ihm das Mädchen zu. »Wir gehen durch die Gasse bei Nikolins durch.«
Pierre kehrte um und folgte dem Mädchen, mitunter im Laufschritt, um ihr nachzukommen. Das Mädchen lief quer über die Straße, schlug links eine Seitengasse ein, rannte an drei Häusern vorüber und bog dann rechts in einen Torweg.
»Hier ist es gleich«, sagte sie.
Sie lief über den Hof, öffnete das Pförtchen eines Lattenzaunes, blieb stehen und zeigte Pierre ein kleines, hölzernes Seitengebäude, das lichterloh brannte. Die eine Seite dieses Häuschens war eingestürzt, die andere brannte, und grell schlugen die Flammen aus den Fensterhöhlen und unter dem Dach hervor.
Als Pierre durch das Pförtchen getreten war, schlug ihm eine solche Glut entgegen, daß er unwillkürlich stehenblieb.
»Welches … welches ist euer Haus?« fragte er.
»O-o-och!« heulte das Mädchen und zeigte auf das Seitengebäude.
»Dieses dort, das war unsere Wohnung. Es ist verbrannt, unser Goldkind. Katja, mein süßes Herzchen, o-o-och!« heulte Aniska, die beim Anblick des Feuers das Bedürfnis empfand, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
Pierre eilte auf das Seitengebäude zu, aber die Hitze war so groß, daß er unwillkürlich einen Bogen machte und an ein großes Haus kam, das erst auf einer Seite vom Dach aus brannte. Rundherum wimmelte es von Franzosen. Anfänglich begriff Pierre gar nicht, was diese Franzosen hier machten, die sich mit etwas herumschleppten, als er aber dann einen von ihnen dicht vor sich sah, der mit stumpfem Seitengewehr auf einen Bauern einhieb und ihm einen Fuchspelz wegnahm, kam es Pierre dunkel zum Bewußtsein, daß die Franzosen hier plünderten. Aber er hatte keine Zeit, sich bei diesem Gedanken aufzuhalten.
Das Krachen und Knacken der einstürzenden Wände und Decken, das Zischen und Prasseln der Flammen, das aufgeregte Schreien der Menge, der Anblick der Rauchwolken, die bald schwarz und dicht geballt, bald hell auseinanderfließend hin und her wogten, des leuchtenden Funkensprühens, der bald in dichten roten Garben, bald in goldenen Schuppen an den Wänden empor laufenden Flammen, der Eindruck der Glut, des Rauches und der Schnelligkeit aller dieser Vorgänge – dies alles übte auf Pierre dieselbe aufregende Wirkung aus, die eine Feuersbrunst auszulösen pflegt, und wirkte auf Pierre noch deshalb so besonders stark, weil er sich beim Anblick dieser Feuersbrunst von seinen schweren Gedanken befreit fühlte. Er fühlte sich jung, heiter, gewandt und entschlossen. Von dem großen Haus her war er an das Seitengebäude herangekommen und wollte eben in den Teil, der noch stand, eindringen, als er gerade über seinem Kopf das Schreien einiger Stimmen hörte und gleich darauf das Krachen und Poltern eines schweren Gegenstandes, der neben ihm niederfiel.
Pierre sah sich um und erblickte in den Fenstern des Hauses Franzosen, die einen Kommodenkasten herausgeworfen hatten, der mit lauter Metallgegenständen angefüllt war. Andere französische Soldaten, die unten standen, traten auf den Kasten zu.
»Eh bien, was will denn der noch hier?« schrie einer der Franzosen Pierre an.
»Es ist noch ein Kind im Haus. Haben Sie nicht ein Kind gesehen?« fragte Pierre auf französisch.
»Tiens, was fabuliert der da? Pack dich!« antwortete ihm eine Stimme, und einer der Soldaten, der offenbar Angst hatte, Pierre könne auf den Gedanken kommen, ihnen das Silber und die Bronzen, die in dem Kasten waren, wegzunehmen, schritt drohend auf ihn zu.
»Ein Kind?« schrie von oben ein Franzose. »Ich habe im Garten etwas wimmern hören. Vielleicht ist das dem guten Mann sein Bengel. Da muß man menschlich sein, voyez-vous …«
»Wo ist es? Wo ist es?« fragte Pierre.
»Dort! Dort!« schrie ihm der Franzose aus dem Fenster zu und zeigte auf einen Garten, der hinter dem Haus lag. »Warten Sie, ich komme herunter.«
Und wirklich sprang einen Augenblick darauf der Franzose, ein schwarzer Bursche mit einem Fleck auf der Backe, nur mit einem Hemd bekleidet, aus einem Fenster des unteren Stockwerkes, klopfte Pierre auf die Schulter und lief mit ihm in den Garten.
»Macht schnell, ihr andern!« rief der Franzose seinen Kameraden zu. »Es fängt an, schwül zu werden.«
Der Franzose lief auf einem sandbestreuten Weg hinter das Haus, zog Pierre an der Hand hinter sich her und zeigte auf einen runden Platz. Unter einer steinernen Bank saß dort, ein etwa dreijähriges Mädchen in einem rosa Kleidchen.
»Da ist ja ihr kleiner Bengel. Ah, ein Mädel, um so besser«, rief der Franzose. »Au revoir, mon gros. Man muß menschlich sein. Wir müssen ja alle einmal sterben, voyez-vous«, und damit lief der Soldat mit dem Fleck auf der Backe zu seinen Kameraden zurück.
Vor Freude ganz außer Atem rannte Pierre auf die Kleine zu und wollte sie auf den Arm nehmen. Doch als das skrofulöse, wenig hübsche Kind, das der Mutter ähnlich sah, den fremden Mann erblickte, fing es an zu schreien und wollte weglaufen. Aber Pierre ergriff es und nahm es auf den Arm. Die Kleine kreischte zornig und verzweifelt auf und suchte sich mit ihren kleinen Händen aus Pierres Armen loszureißen und ihn mit ihrem rotzigen Mund zu beißen. Pierre überkam ein Gefühl des Entsetzens und Ekels, wie er es ähnlich bei der Berührung mancher kleiner Tiere empfand. Er mußte sich Gewalt antun, um das Kind nicht wieder von sich zu lassen, und lief mit ihm auf das große Haus zu. Doch schon war es nicht mehr möglich, auf demselben Weg zurückzugelangen; das Dienstmädchen Aniska war nicht mehr da, und so preßte Pierre mit einem aus Mitleid und Abscheu gemischten Gefühl das jämmerlich schluchzende Kind, das sich naß gemacht hatte, so zart wie möglich an sich und lief mit ihm durch den Garten, um einen andern Ausgang zu suchen.
Nachdem Pierre um Höfe und Gassen herumgelaufen und mit seiner Last wieder bis zum Garten des Fürsten Grusinskij an der Ecke der Powarskaja zurückgekehrt war, erkannte er im ersten Augenblick die Stelle, von wo aus er nach dem Kind gelaufen war, nicht wieder, so dicht war alles mit Menschen und aus den Häusern herausgeschlepptem Hausrat vollgestopft.
Außer den russischen Familien, die sich mit all ihrer Habe vor der Feuersbrunst gerettet hatten, befanden sich hier auch verschiedene französische Soldaten in den verschiedensten Umformen. Pierre achtete nicht auf sie. Er suchte in aller Hast die Beamtenfamilie, um der Mutter das Kind wiederzugeben und dann noch andere retten zu können. Ihm war, als müsse er noch viel mehr und alles so schnell wie möglich tun. Von der Glut und vom Laufen erhitzt, empfand er jetzt noch stärker jenes Gefühl des Jugendmutes, der Lebensfrische und Entschlossenheit, das in dem Augenblick, als er fortlief, um das Kind zu retten, über ihn gekommen war. Das kleine Mädchen war jetzt still geworden, hielt sich mit seinen Händchen an Pierres Kaftan fest, saß auf seinem Arm und sah sich wie ein scheues Tierchen um. Pierre sah die Kleine ab und zu an und lächelte leicht. Ihm war, als sähe er etwas rührend Unschuldiges in diesem erschrockenen, kranken Gesichtchen.
Doch weder der Beamte noch seine Frau befanden sich an der alten Stelle. Mit hastigen Schritten ging Pierre zwischen der Volksmenge durch und sah sich die verschiedenen Gesichter an, auf die er stieß. Unwillkürlich fiel ihm eine grusinische oder armenische Familie auf: ein schöner alter Mann von orientalischem Gesichtstypus, der eine neubezogene Pelzjacke und neue Stiefel trug, ein altes Weib vom selben Typus und eine junge Frau. Dieses noch sehr junge Weib erschien Pierre als vollkommene orientalische Schönheit mit ihren kühn geschwungenen, bogenförmigen, schwarzen Brauen und dem auffallend zart rot gefärbten, schönen, ovalen und ausdruckslosen Gesicht. Auf diesem Platz, mitten in der Menge und dem wirren Hausrat, erinnerte sie in ihrer reichen Atlassaloppe und dem grell lila Kopftuch an eine zarte Treibhauspflanze, die man auf den Schnee hinausgeworfen hat. Sie saß auf einem Bündel dicht hinter der Alten und hielt ihre starren, großen, schwarzen, von langen Wimpern beschatteten Augen zu Boden gerichtet. Sie wußte offenbar, daß sie schön war, und fürchtete sich aus diesem Grund. Ihr Gesicht fiel Pierre auf, und während er in aller Eile am Zaun entlang ging, sah er sich mehrmals nach ihr um.
Als Pierre bis ans Ende des Zaunes gekommen war und doch die, die er suchte, nicht gefunden hatte, blieb er stehen und sah sich um. Die große Gestalt mit dem Kind auf dem Arme trat hier mehr hervor als bisher, und verschiedene Russen, Männer und Frauen, versammelten sich um ihn.
»Sie haben wohl jemanden verloren, lieber Herr? Sie sind wohl selbst von Adel, nicht wahr? Wem gehört denn das Kind?« fragten sie ihn.
Pierre erwiderte, das Kind gehöre einer Frau in schwarzer Saloppe, die mit ihren Kindern an dieser Stelle gesessen habe, und fragte, ob niemand wisse, wohin sie gegangen sei.
»Das können nur die Anferows gewesen sein«, sagte ein alter Diakon zu einem pockennarbigen Weib. »Herr, erbarme dich unser, erbarme dich unser!« fügte er in gewohntem Baß hinzu.
»Ach wo, die Anferows«, entgegnete das Weib. »Die Anferows sind schon heute morgen weggefahren. Das ist entweder der Marja Nikolajewna oder der Iwanowa ihrs.«
»Er spricht doch von einer Frau, Marja Nikolajewna aber ist eine Dame«, wandte ein Hausdiener ein.
»Sie kennen sie sicher, sie hat lange Zähne und ist sehr mager«, erklärte Pierre.
»Dann ist es Marja Nikolajewna. Die sind in den Garten gegangen, als diese Wölfe hier einfielen«, erzählte, auf die Franzosen zeigend, das alte Weib.
»Großer Gott, erbarme dich unser«, fügte wieder der Diakon hinzu.
»Gehen Sie nur dort durch, da sind sie. Da ist auch die Frau. Halbtot hat sie sich geweint«, rief wieder die Alte. »Da ist sie. Dort herum müssen Sie gehen!«
Aber Pierre hörte nicht mehr auf sie. Schon seit einigen Augenblicken beobachtete er, ohne ein Auge abzuwenden, das, was einige Schritte von ihm entfernt vor sich ging. Er beobachtete die armenische Familie und zwei französische Soldaten, die auf sie zugingen. Einer der Soldaten, ein kleiner, gewandter Bursche, trug einen blauen Mantel, um den er einen Strick geschlungen hatte; auf dem Kopf hatte er eine Zipfelmütze, seine Füße waren nackt. Der andere, der Pierre besonders auffiel, war ein langer, dünner, krummer, blonder Mensch mit langsamen Bewegungen und idiotischem Gesichtsausdruck. Er trug einen Friesmantel, blaue Hosen und große, zerrissene Schaftstiefel. Der kleinere Franzose im blauen Mantel, der keine Stiefel anhatte, ging auf die Armenier zu, faßte, indem er irgend etwas sagte, den Alten am Bein, und der Greis schickte sich sogleich hastig an, seine Stiefel auszuziehen. Der andere im Friesmantel blieb, die Hände in den Hosentaschen, vor der schönen Armenierin stehen und sah sie stumm und unbeweglich an.
»Nimm das Kind, nimm es«, sagte Pierre hastig und befehlend zu dem alten Weib und gab ihr die Kleine hin. »Gib es ihnen, gib es ihnen!« schrie er die Alte fast an, setzte das kleine Mädchen, das wieder zu schreien anfing, auf die Erde und blickte sich wieder nach den Franzosen und der armenischen Familie um.
Der Greis saß nun schon barfuß da. Der kleine Franzose hatte ihm beide Stiefel ausgezogen und klopfte diese eben gegeneinander. Der Alte sagte mit heiserer Stimme etwas, aber Pierre warf ihm nur einen kurzen Blick zu: seine ganze Aufmerksamkeit war jetzt auf den Franzosen im Friesmantel gerichtet, der sich indessen langsam und schwankend der jungen Frau genähert hatte, die Hand aus der Tasche zog und ihr an den Hals griff.
Die schöne Armenierin saß immer noch in derselben starren Haltung da und hielt die langen Wimpern gesenkt, als sähe und fühlte sie nicht, was der Franzose ihr antat.
Während Pierre die wenigen Schritte durcheilte, die ihn von den Soldaten trennten, hatte der lange Marodeur im Friesmantel schon der Armenierin das Geschmeide entrissen, das sie am Halse trug. Die junge Frau fuhr mit den Händen hoch und schrie durchdringend auf.
»Laß diese Frau!« schrie Pierre mit heiserer, wütender Stimme, faßte den langen, krummen Soldaten an der Schulter und stieß ihn beiseite.
Der Soldat fiel hin, stand wieder auf und riß aus. Doch sein Kamerad warf die Stiefel beiseite, legte die Hand an das Seitengewehr und ging drohend auf Pierre zu.
»Voyons, pas de betises!« schrie er ihm zu.
Pierre befand sich in einem wahren Taumel der Wut, der ihn alles vergessen machte und seine Kräfte verzehnfachte. Er stürzte auf den Soldaten ohne Stiefel zu, und ehe dieser Zeit gehabt hatte, sein Seitengewehr zu ziehen, hatte er ihn bereits zu Boden geworfen und trommelte mit den Fäusten auf ihn los. Beifällige Zurufe ertönten aus der umstehenden Menge. Doch im selben Augenblick kam eine reitende Patrouille französischer Ulanen um die Ecke. Sie ritten im Trab auf Pierre und den Franzosen zu und umringten die beiden. Von alldem, was weiter geschah, wußte Pierre später nichts mehr. Er erinnerte sich nur, daß er auf jemanden eingeschlagen hatte, wieder geschlagen worden war und zuletzt gefühlt hatte, wie ihm die Hände gebunden worden waren und der Trupp französischer Soldaten um ihn herumgestanden und seine Kleider durchsucht hatte.
»Er hat einen Dolch, Herr Leutnant«, waren die ersten Worte, die Pierre wieder verstand.
»Ah, eine Waffe«, sagte der Offizier und wandte sich dann an den barfüßigen Soldaten, der mit Pierre zusammen festgenommen worden war. »C’est bon, du wirst das alles vor dem Kriegsgericht aussagen.« Darauf drehte er sich wieder nach Pierre um: »Sprechen Sie Französisch?«
Pierre sah sich mit blutunterlaufenen Augen rings um und gab keine Antwort. Offenbar machte sein Gesicht einen furchtbaren Eindruck, denn der Offizier gab flüsternd einen Befehl, worauf sich noch vier Ulanen von dem Trupp loslösten und rechts und links von Pierre aufstellten.
»Sprechen Sie Französisch?« fragte der Offizier noch einmal, hielt sich aber etwas abseits von ihm. »Ruft den Dolmetscher.«
Aus den Reihen trat ein kleiner Mann in russischem Zivilanzug. An Kleidung und Sprache erkannte Pierre in ihm sofort einen Franzosen aus einem Moskauer Geschäft.
»Er sieht nicht aus wie ein Mann aus dem Volk«, sagte der Dolmetscher, nachdem er sich Pierre angesehen hatte.
»Oh, oh, er kommt mir ganz wie ein Brandstifter vor«, erwiderte der Offizier. »Fragen Sie ihn, was er ist«, fügte er hinzu.
»Wer bist du?« fragte der Dolmetscher. »Du mußt der Obrigkeit antworten.«
»Ich werde euch nicht sagen, wer ich bin«, antwortete Pierre plötzlich auf französisch. »Ich bin euer Gefangener. Führt mich fort.«
»Ah! Ah!« machte der Offizier und zog die Stirn kraus. »Märchens!«
Eine dichte Menge hatte sich um die Ulanen versammelt. In Pierres nächster Nähe stand das pockennarbige alte Weib mit dem kleinen Mädchen, und als sich der Trupp in Bewegung setzte, lief diese mit.
»Wohin führen sie dich denn, mein Täubchen?« sagte sie zu Pierre. »Und die Kleine, was soll ich mit der machen, wenn es nun nicht denen ihre ist?«
»Was will denn die Frau?« fragte der Offizier.
Pierre war wie trunken. Seine taumelnde Begeisterung wurde beim Anblick dieses Kindes, das er gerettet hatte, noch größer.
»Was sie sagt?« wiederholte er. »Sie bringt mir mein Töchterchen, das ich aus den Flammen gerettet habe«, fuhr er fort. »Leb wohl!« und ohne selber zu wissen, warum ihm diese zwecklose Lüge entschlüpft war, ging er mit entschlossenen, feierlichen Schritten zwischen den Franzosen her.
Diese französische Patrouille war eine von denen, die auf Duroneis Befehl durch verschiedene Straßen Moskaus ausgeschickt worden waren, um Plündereien zu verhindern, vor allem aber um die Brandstifter abzufassen, die nach einer an diesem Tag bei den höchsten französischen Offizieren allgemein verbreiteten Ansicht die Ursache der Feuersbrunst waren. Die Patrouille durchritt noch einige andere Straßen und fing dabei noch etwa fünf verdächtige Russen ab: einen Kaufmann, zwei Seminaristen, einen Bauer und einen Hausknecht und noch ein paar Plünderer. Doch von allen diesen unsicheren Kunden kam ihnen Pierre am verdächtigsten vor. Als man sie alle für die Nacht in ein großes Haus am Subowskijwall gebracht hatte, wo die Hauptwache untergebracht war, wurde Pierre unter strenger Bewachung gesondert eingesperrt.