Sieben Jahre waren vergangen. Das erregte Meer der Geschichte Europas war wieder in seine Ufer zurückgetreten. Es schien still geworden zu sein, aber die geheimnisvollen Kräfte, die die Menschheit antreiben – geheimnisvoll deshalb, weil alle Gesetze, die jene Bewegungen bestimmen, uns noch unbekannt sind –, fuhren fort zu leben und zu weben.
Wenn auch die Oberfläche des geschichtlichen Meeres jetzt regungslos schien, so bewegte sich die Menschheit dennoch ebenso rastlos weiter, wie die Zeit vorwärts schreitet. Mancherlei Menschengruppen traten zusammen und lösten sich wieder; Ursachen zur Gründung und zum Verfall von Staaten und zu Verschiebungen ganzer Völker bereiteten sich vor.
Das Meer der Geschichte brauste nicht mehr wie früher mit heftigem Anprall von einem Ufer zum anderen: es wogte nur noch in der Tiefe. Die geschichtlichen Persönlichkeiten wurden nicht mehr wie früher durch die Wellen der Ereignisse von einem Ufer zum anderen geworfen, sie schienen immer nur an einem Fleck zu kreisen. Dieselben Persönlichkeiten, die früher an der Spitze ihrer Truppen die Bewegungen der Masse durch Befehle zu Kriegen, Feldzügen und Schlachten widergespiegelt hatten, warfen jetzt diese stürmischen Bewegungen nur noch durch politische und diplomatische Verhandlungen, durch Gesetze und Traktate zurück.
Diese Tätigkeit der historischen Größen nennen die Geschichtsschreiber Reaktion.
Wenn uns Historiker die Tätigkeit dieser geschichtlichen Persönlichkeiten schildern, die ihrer Ansicht nach die Ursache dessen waren, was sie Reaktion nennen, so verdammen sie diese Persönlichkeiten in Grund und Boden. Alle berühmten Leute jener Zeit, von Alexander und Napoleon bis zu Frau von Stael, Photius[233], Schelling, Fichte, Chateaubriand und andern, müssen an ihrem Richterstuhl vorüberziehen und werden verdammt oder freigesprochen, je nachdem sie zum »Fortschritt« oder zur »Reaktion« beigetragen haben.
Auch in Rußland machte sich, wie jene Historiker erzählen, in dieser Zeit eine Reaktion bemerkbar, als deren Haupturheber Alexander I. bezeichnet wird, jener selbe Alexander I., der bei seinem Regierungsantritt nach ihren eignen Schilderungen der Haupturheber der liberalen Bewegungen und dann der Haupturheber der Rettung Rußlands gewesen war.
Es gibt in der russischen Literatur der Gegenwart, vom dichtenden Gymnasiasten bis zum gelehrten Historiker, keinen Menschen, der nicht sein Steinchen auf Alexander wegen unrichtiger Handlungen in dieser Zeit seiner Regierung geworfen hätte.
Er hätte soundso vorgehen müssen. In dem und dem Fall hat er gut, in jenem schlecht gehandelt. Zu Anfang seiner Regierung und während des Jahres 1812 hat er sich vortrefflich gezeigt, aber er hat falsch gehandelt, als er Polen eine Verfassung[234] gab, als er in die Heilige Allianz[235] eintrat, als er Araktschejew die Macht in die Hände gab, als er Golizyn und dem Mystizismus[236] und später Schischkow und Photius seine Gunst schenkte, hat unrichtig gehandelt, als er sich in den Frontdienst der Armee mischte, das Semjonower Regiment kassierte[237]… und so weiter, und so weiter.
Man müßte zehn Bogen vollschreiben, um alle die Vorwürfe aufzuzählen, die die Historiker Alexander I. machen auf Grund jener Kenntnis vom Heil der Menschheit, die sie ihr eigen nennen.
Welchen Sinn haben diese Vorwürfe?
Gerade die Handlungen Alexanders I. die den Beifall der Historiker finden, als da sind: die liberalen Anfänge seiner Regierung, sein Kampf mit Napoleon, die Festigkeit, die er im Jahre 1812 gezeigt hat, der Feldzug von 1813, entspringen sie nicht alle denselben Quellen: den Bedingungen des Blutes, der Erziehung, des Lebens, kurz allem, was die Persönlichkeit Alexanders gerade so hervorgebracht hat, wie sie eben war, denselben Quellen, aus denen auch jene Handlungen entspringen, die die Historiker an ihm auszusetzen haben, als da sind: die Heilige Allianz, die Wiederaufrichtung Polens, die Reaktion der zwanziger Jahre?
Worin besteht aber der Kern dieser Vorwürfe?
Darin, daß eine solche geschichtliche Persönlichkeit wie Alexander I, die auf der höchsten nur möglichen Stufe menschlicher Macht wie im Brennpunkt des blendenden Lichtes aller auf sie vereinten Strahlen der Geschichte stand, eine Persönlichkeit, die dem stärksten Einfluß von Intrigen, Täuschungen, Schmeicheleien und Selbstüberhebung, wie sie nun einmal von jeder Machtstellung untrennbar sind, ausgesetzt war, eine Persönlichkeit, die jeden Augenblick in ihrem Leben die Verantwortung für das, was in Europa geschah, auf sich lasten fühlte, eine Persönlichkeit, die bei alledem keine Phantasiegestalt, sondern ein Mann von Fleisch und Blut war wie andere Menschen auch, mit eignen Gewohnheiten, Leidenschaften und eignem Streben zum Guten, Schönen und Wahren – daß eine solche Persönlichkeit vor fünfzig Jahren nicht etwa ohne Tugenden war – das werfen ihm die Historiker nicht vor –, sondern daß sie nur nicht jene Anschauungen vom Wohl der Menschheit hatte, wie sie jetzt ein Professor vertritt, der sich von Kindesbeinen an mit der Wissenschaft beschäftigt, das heißt mit dem Lesen von Büchern, dem Anhören von Vorlesungen und dem Abschreiben dieser Bücher und Vorlesungen in ein zusammenfassendes Heftchen.
Doch selbst wenn man annimmt, daß sich Alexander I. in seiner Ansicht von dem, was das Wohl der Völker ausmacht, geirrt habe, muß man, ob man will oder nicht, in gleicher Weise zugeben, daß auch die Historiker, die über Alexander zu Gericht sitzen, sich nach Verlauf einiger Zeit in ihren Ansichten über das Wohl der Menschheit als ebenso unzuverlässig erweisen werden. Die Annahme ist um so natürlicher und unvermeidlicher, als wir beim Verfolgen der geschichtlichen Entwicklung sehen, daß sich die Aussichten über das Wohl der Menschheit mit jedem Jahr, mit jedem neuen Schriftsteller ändern, so daß das, was früher als Glück angesehen wurde, nach zehn Jahren als Unglück erscheint, und umgekehrt. Und nicht genug damit, sogar schon zu ein und derselben Zeit finden wir in der Geschichte vollständig entgegengesetzte Ansichten darüber, was zum Heil und zum Unheil war: die einen rechnen Alexander die Verfassung Polens und die Heilige Allianz als Verdienst an, die anderen machen ihm einen Vorwurf daraus.
Über das Wirken Alexanders und Napoleons läßt sich unmöglich sagen, ob es nützlich oder schädlich gewesen ist, denn wir können nicht erklären, wofür es nützlich oder schädlich war. Wenn ihr Wirken jemandem mißfällt, so nur deshalb, weil es mit der beschränkten Auffassung jener Menschen vom Heil der Menschheit nicht übereinstimmt. Was immer ich auch als Glück ansehen mag: die Erhaltung meines Vaterhauses in Moskau im Jahre 1812, den Ruhm der russischen Truppen, das Aufblühen der Petersburger und anderer Universitäten, die Befreiung Polens, die Machtstellung Rußlands, das europäische Gleichgewicht, die berühmte westeuropäische Aufklärung, Fortschritt genannt – in jedem Fall muß ich anerkennen, daß das Wirken jeder historischen Persönlichkeit außer diesem einen ja auch noch anderen, allgemeineren, mir unfaßbaren Zwecken gedient hat.
Doch nehmen wir an, die sogenannte Wissenschaft besäße die Möglichkeit, alle sich widersprechenden Parteien zu versöhnen, und hätte für geschichtliche Persönlichkeiten und Ereignisse einen unveränderlichen Maßstab des Guten und Bösen. Nehmen wir an, Alexander hätte in allen Dingen anders handeln können. Nehmen wir an, er hätte ganz nach der Vorschrift derer, die ihn jetzt beschuldigen und vom grünen Tisch aus die unendlichen Ziele der Menschheitsbewegung zu kennen behaupten, nach jenem Programm der Nationalität, Freiheit und Gleichheit und des Fortschrittes – ein anderes scheint es ja nicht zu geben – gehandelt, das ihm die in die Hand gedrückt hätten, die ihn jetzt beschuldigen; nehmen wir an, dieses Programm wäre möglich gewesen, ausgearbeitet worden, und Alexander wäre nach ihm verfahren – was wäre da aus der Tätigkeit all jener Leute geworden, die der damaligen Regierungsrichtung entgegenwirkten, einer Tätigkeit, die nach der Ansicht der Historiker doch gut und nützlich war? Diese Tätigkeit wäre nicht gewesen, es hätte kein Leben gegeben, nichts wäre gewesen.
Sobald man annimmt, das Leben der Menschheit könne durch Vernunft gelenkt und geleitet werden, macht man das Leben als solches unmöglich.
Nimmt man an, wie das die Historiker tun, daß die großen Männer der Weltgeschichte die Menschheit zu gewissen Zielen hinleiten, Zielen wie die Größe Rußlands oder Frankreichs, das europäische Gleichgewicht, die Verbreitung von Revolutionsideen, der allgemeine Fortschritt, oder was auch immer es sei, so kann man für manche Erscheinungen der Weltgeschichte ohne die Begriffe »Zufall« und »Genie« keine Erklärung finden.
Wäre das Ziel der europäischen Kriege zu Anfang unseres Jahrhunderts die Größe Rußlands gewesen, so hätte dies auch ohne jeden vorhergehenden Krieg und ohne jeden feindlichen Einfall ins Land erreicht werden können. Wäre Frankreichs Größe der Endzweck gewesen, so wäre es auch ohne Revolution und ohne Kaiserreich dazu gekommen. Sollte die Verbreitung von Ideen erreicht werden, so hätte das Drucken von Büchern diese Aufgabe viel besser erfüllt als die Soldaten. Sollten der Fortschritt, die Zivilisation angestrebt werden, so kann man wohl nicht zu Unrecht behaupten, daß es neben der Vernichtung von Menschen und Reichtümern noch andere, zweckmäßigere Mittel und Wege zur Verbreitung unserer Zivilisation gebe.
Warum kam es nun so und nicht anders? Nun, eben deshalb, weil es so kam.
»Der Zufall« schuf eine solche Lage, »das Genie« nutzte sie, sagt die Geschichte. Aber was ist ein »Zufall«? Was ist ein »Genie«?
Die Worte »Zufall« und »Genie« bezeichnen nichts tatsächlich Vorhandenes und können deshalb nicht begrifflich bestimmt werden. Sie bezeichnen nur einen bestimmten Grad im Verstehen einer Erscheinung. Ich weiß nicht, warum dieses oder jenes geschah, ich glaube es nicht wissen zu können, will es deshalb auch gar nicht wissen und sage: Es ist ein Zufall. Ich sehe eine Kraft, die eine Wirkung hervorbringt, die zu den allgemein menschlichen Eigenschaften in keinem Verhältnis steht, begreife nicht, woher dies kommt, und sage: Das ist ein Genie.
Einer Hammelherde muß der Hammel, den der Hirt jeden Abend an eine besondere Futterkrippe treibt und der aus diesem Grund doppelt so fett wird wie die anderen, als Genie erscheinen. Und der Umstand, daß Abend für Abend gerade dieser Hammel nicht in den gemeinsamen Stall gerät, sondern an eine besondere Futterkrippe mit Hafer, und daß dieser, gerade dieser fette Hammel dann zum Essen geschlachtet wird, muß ihnen als erstaunliche Verbindung von Genialität mit einer ganzen Reihe außerordentlicher Zufälle erscheinen.
Aber die Hammel brauchen nur den Gedanken aufzugeben, daß alles, was mit ihnen vorgeht, nur zur Erreichung ihrer eigenen Hammelziele geschieht, brauchen nur anzuerkennen, daß die ihnen zustoßenden Ereignisse noch andere Zwecke haben können, die sie nicht verstehen, und sogleich werden sie in allem, was mit dem gemästeten Hammel vorgeht, eine Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit erkennen. Wenn sie auch nicht begreifen werden, wozu er gemästet wird, so werden sie doch wenigstens begreifen, daß alles, was mit ihm geschieht, nicht ziellos vorgeht, und werden infolgedessen sowohl den Begriff »Zufall« als auch den Begriff »Genie« über Bord werfen.
Erst wenn wir auf das Einsehen wollen eines nahen, begreiflichen Zieles verzichten und zugeben, daß das Endziel für uns unfaßbar ist, werden wir die folgerichtige Entwicklung und Zweckmäßigkeit im Leben historischer Persönlichkeiten erkennen, wird sich uns der Grund der von ihnen hervorgebrachten Wirkungen offenbaren, die zu den allgemein menschlichen Fähigkeiten in keinem Verhältnis stehen, und wir werden die Worte Zufall und Genie nicht mehr anwenden.
Wir brauchen nur zuzugeben, daß uns der Zweck des Auf und niederwallens der Völker Europas unbekannt ist und daß wir nur die Tatsachen kennen, die in einem allgemeinen Morden zuerst in Frankreich, dann in Italien, in Afrika, in Preußen, in Österreich, in Spanien und in Rußland bestanden, und daß der Zug der Völker von Westen nach Osten und von Osten nach Westen das Wesen und Ziel dieser Ereignisse war: dann werden wir in Napoleons und Alexanders Charakter nicht nur keine Ausnahmeerscheinung und »Genialität« mehr sehen, sondern uns diese Persönlichkeiten gar nicht mehr anders als andere Menschen vorstellen können. Und jene kleinen Ereignisse, die diese Männer zu dem, was sie waren, gemacht haben, werden wir nicht mehr als »Zufälle« zu erklären brauchen, sondern deutlich erkennen, daß sie alle notwendig waren.
Haben wir aber darauf verzichtet, den Endzweck erkennen zu wollen, so wird uns auf einmal klar werden: wie man sich für eine Pflanze keine Blüten oder Samenkörner ausdenken kann, die zweckentsprechender wären als die, welche sie selber hervorbringt, ebenso ist man außerstande, sich zwei andere Männer vorzustellen, die mit allem, was sie durchlebt haben, bis zu einem solchen Grad und bis in so winzige Einzelheiten jener Bestimmung entsprochen hätten, die zu erfüllen ihnen vorausbestimmt war.
Kern und Grundidee aller europäischen Ereignisse zu Anfang unseres Jahrhunderts ist die kriegerische Massenbewegung der Völker Europas von Westen nach Osten und von Osten nach Westen. Den ersten Anstoß für diese Bewegung bildete der Zug von Westen nach Osten. Damit die Völker des Westens einen solchen Kriegszug wie den nach Moskau, den sie wirklich zustande brachten, ausführen konnten, war unbedingt nötig: erstens daß sie sich zu einer Kriegsschar von solcher Größe zusammenschlossen, die einem Anprall gegen die Kriegsschar des Ostens standhalten konnte; zweitens daß sie mit allen althergebrachten Überlieferungen und Gewohnheiten brachen, und drittens, daß sie bei der Ausführung ihres Kriegszuges an ihrer Spitze einen Mann hatten, der sowohl für sich selber als auch für sie alle vorkommenden Betrügereien, Plünderungen und Mordtaten, wie sie diesen Feldzug begleiteten, zu rechtfertigen verstand.
Mit der Französischen Revolution beginnt sich die ehemalige, nicht mehr genügend große Kriegsschar zu zersetzen, die alten Gewohnheiten und Überlieferungen gehen zugrunde, Schritt für Schritt bilden sich neue Maßstäbe, neue Eigenheiten und Gebräuche heraus, und jener Mann steigt allmählich empor, der an der Spitze der künftigen Bewegungen stehen und die Verantwortung für alle Ereignisse tragen sollte.
Ein Mann ohne Überzeugungen, ohne Gewohnheiten, ohne Überlieferungen, ohne Namen, der nicht einmal ein Franzose war, wird durch die, wie es scheinen könnte, seltsamsten Zufälle zwischen allen Frankreich aufwühlenden Parteien hindurchgeschoben und, ohne sich einer von ihnen anzuschließen, zu dieser weithin sichtbaren Stellung empor getragen.
Die Unwissenheit seiner Kameraden, die Schwäche und Ohnmacht der Gegner, sein eignes offenkundiges Lügen und seine glänzende, selbstbewußte Beschränktheit befördern diesen Menschen an die Spitze einer Armee. Die glänzende Verfassung der Soldaten des italienischen Heeres, die Unlust seiner Feinde, Krieg zu führen, seine eigne knabenhafte Keckheit und Selbstsicherheit erringen ihm kriegerischen Ruhm. Zahllose sogenannte Zufälligkeiten geben ihm bei seinem Aufstieg das Geleit. Die Ungnade, in die er bei Frankreichs führenden Männern fällt, wird ihm zum Segen. All seine Versuche, dem Weg untreu zu werden, der für ihn vorausbestimmt war, schlagen fehl: er wird nicht für den Dienst in Rußland angenommen, auch das Kommando nach der Türkei bekommt er nicht. Während der Kriege in Italien schwebt er zu wiederholten Malen am Rande des Abgrunds, wird aber immer wieder auf unerwartete Weise gerettet. Die russischen Truppen, eben jene, die seinen Ruhm zunichte machen konnten, betreten infolge diplomatischer Verhandlungen Europa nicht, solange er dort weilt.
Bei seiner Rückkehr aus Italien findet er die Regierung in Paris in jenem Zustand der Zersetzung vor, in dem alle Männer, die in eine solche Regierung geraten, unwiderruflich aufgerieben werden und zugrunde gehen. Doch auch aus dieser gefährlichen Lage eröffnet sich wie von selber für ihn ein Ausweg: die sinnlose Expedition nach Afrika, die jedes Grundes entbehrt. Und wieder geben ihm dabei jene sogenannten Zufälle das Geleit. Das uneinnehmbare Malta ergibt sich ohne einen Schuß, seine unvorsichtigsten Anordnungen werden von Erfolg gekrönt. Die feindliche Flotte, die in der Folge nicht ein einziges Boot mehr übersieht, läßt eine ganze Armee durch. In Afrika wird gegen die fast unbewaffneten Einwohner eine ganze Kette von Schandtaten verübt. Und die Menschen, die solche Schandtaten vollbringen, und vor allem ihr Führer reden sich ein, dies sei schön, ruhmvoll und herrlich und den Taten Cäsars und Alexanders des Großen an die Seite zu stellen.
Jenes Ideal von Ruhm und Größe, das darin besteht, daß man alles, was man tut, nicht nur nicht schlecht findet, sondern sich sogar noch jedes Verbrechens rühmt, indem man ihm eine dunkle, übernatürliche Bedeutung zuschreibt – dieses Ideal, das diesen Menschen und seine Verbündeten zeitlebens leiten sollte, gelangt in Afrika zu uneingeschränkter Entfaltung. Alles, was er nur unternimmt, glückt ihm. Sogar die Pest macht vor seiner Person halt. Das grausame Totschlagen der Gefangenen wird ihm nicht als Schuld angekreidet. Seine knabenhaft unvorsichtige, grundlose Abreise aus Afrika, wo er seine Kameraden in Not zurückläßt, wird ihm als Verdienst angerechnet, und wieder läßt ihn die feindliche Flotte zweimal entwischen. Und in dem Augenblick, da er, von den ihm geglückten Verbrechen schon völlig betäubt und auf seine Rolle vorbereitet, ohne jeden Grund nach Paris kommt, ist jene Zersetzung der republikanischen Regierung, die ihm noch vor einem Jahr zum Verderben hätte werden können, nun auf ihrem Höhepunkt angelangt, und so kann ihm, einem Mann, der außerhalb der Parteien steht, diese Anwesenheit jetzt nur von Nutzen sein.
Er hat keinen Plan, fürchtet alles, aber die Parteien drängen sich ihm auf und verlangen seine Teilnahme.
Er allein mit seinem in Italien und Ägypten zur Entfaltung gelangten Ideal von Ruhm und Größe, mit seiner unsinnigen Selbstvergötterung, seiner Dreistigkeit im Verbrechen, seiner offenkundigen Lügerei – er allein ist imstande, das zu rechtfertigen, was sich vollziehen muß.
Er ist für diesen Platz, der ihn erwartet, notwendig und wird deshalb fast gegen seinen Willen und trotz seiner Unentschiedenheit, Planlosigkeit und aller Fehler, die er macht, in eine Verschwörung verwickelt, deren Zweck es ist, die höchste Macht an sich zu reißen, und diese Verschwörung wird von Erfolg gekrönt.
Man drängt ihn in eine Sitzung der führenden Männer. Erschrocken will er fliehen, hält sich für verloren, verstellt sich, fällt in Ohnmacht, redet sinnlose Dinge, die seinen Untergang hätten herbeiführen müssen. Aber die führenden Männer von Frankreich, früher so klug und stolz, verlieren in dem Gefühl, daß ihre Rolle ausgespielt ist, jetzt noch mehr den Kopf als er und sagen nicht das, was sie hätten sagen müssen, um die Macht in Händen zu behalten und ihn zu verderben.
Ein »Zufall«, Millionen von »Zufällen« geben ihm die Macht in die Hand, und wie auf Verabredung wirken alle Menschen mit, diese Macht zu befestigen. »Zufälle« geben den führenden Männern von Frankreich damals Charaktere, die sich ihm unterordnen können, »Zufälle« bilden den Charakter Pauls I. so, daß er Napoleons Macht anerkennt, »Zufälle« führen eine Verschwörung gegen ihn herbei, die ihm nicht nur nicht schadet, sondern seine Macht nur noch verstärkt. Ein »Zufall« liefert ihm Enghien in die Hände und zwingt ihn plötzlich, diesen zu töten, und gerade dadurch überzeugt er wieder, stärker als durch andere Mittel, die Menge davon, daß er recht hat, da ja die Macht in seinen Händen liegt. Ein »Zufall« will es, daß er alle seine Kräfte zu einem Zug nach England rüstet, der ihn sicherlich ins Verderben gestürzt hätte, aber dennoch diese Absicht nie ausführt, sondern unversehens Mack und die Österreicher überfällt, die sich ohne Schwertstreich ergeben. »Zufall« und »Genialität« verleihen ihm den Sieg bei Austerlitz, und »zufällig« anerkennen nun alle Leute, nicht nur die Franzosen, sondern ganz Europa – ausgenommen England, das an den Ereignissen, die sich vollziehen sollen, keinerlei Anteil nimmt –, obgleich sich früher alle mit Grauen und Abscheu von Napoleons Verbrechen abgewendet haben, seine Macht und den Titel, den er sich selber gegeben hat, sowie sein Ideal von Größe und Ruhm, das ihnen aus irgendeinem Grund herrlich und vernünftig scheint.
Wie zum Versuch und zur Vorbereitung auf den bevorstehenden Zug streben die Westmächte bereits in den Jahren 1805 bis 1809, immer stärker und zahlreicher werdend, wiederholt nach Osten. Im Jahre 1811 vereint sich jene Kriegsschar, die sich in Frankreich zusammengeschlossen hat, mit den Völkern Mitteleuropas zu einer einzigen gewaltigen Masse. Und mit dem Anwachsen der Masse entwickelt sich auch die Verantwortungskraft des Menschen, der an ihrer Spitze steht, immer schrankenloser. In der zehnjährigen Vorbereitungszeit, die diesem gewaltigen Zug vorangeht, kommt dieser Mann mit allen gekrönten Häuptern Europas zusammen. Die entthronten Herrscher der Welt können dem unsinnigen Napoleonischen Ideal von Größe und Ruhm kein vernünftigeres Ideal entgegenstellen. Einer nach dem anderen bemühen sie sich, ihm ihre Nichtigkeit zu zeigen. Der König von Preußen schickt seine Gemahlin[238], damit sie die Gewogenheit des großen Mannes erschmeichle, der Kaiser von Österreich hält es für eine Gnade, daß dieser Mensch die Tochter des Kaiserhauses ins Ehebett nimmt, und selbst der Papst, der Hüter des Heiligtums der Völker, dient mit seiner Religion dazu, diesen großen Mann nur noch größer zu machen.
Und nicht Napoleon allein ist es, der sich so auf die Durchführung seiner Rolle vorbereitet, sondern noch mehr bringt ihn seine Umgebung dazu, die Verantwortung für alles, was sich vollzieht und noch vollziehen soll, auf sich zu nehmen. Keinen Schritt, keine Schandtat, keinen kleinlichen Betrug kann er verüben, der nicht sogleich im Mund seiner Umgebung zur Heldentat gestempelt würde. Das schönste Fest, das sich die Deutschen für ihn ausdenken können, wird für ihn der Triumph von Jena und Auerstedt. Und nicht er allein ist groß, groß sind auch seine Ahnen, Brüder, Stiefsöhne und Schwäger. Alles geschieht, um ihm den letzten Rest von Verstand zu rauben und ihn auf seine furchtbare Rolle vorzubereiten. Und in dem Augenblick, in dem er bereit ist, sind auch die Kräfte bereit.
Der einfallende Feind strebt nach Osten und erreicht sein Endziel: Moskau. Die Hauptstadt wird eingenommen; die russischen Truppen sind schwerer geschlagen, als in allen früheren Kriegen von Austerlitz bis Wagram je ein feindliches Heer geschlagen worden ist. Da aber tauchen auf einmal statt jener »Zufälle« und jener »Genialität«, die ihn bisher durch eine ununterbrochene Reihe von Erfolgen so beharrlich bis zum vorbestimmten Ziel geführt haben, eine Unmenge entgegengesetzter »Zufälle« auf, vom Schnupfen bei Borodino bis zu den Frösten und dem Funken, der Moskau in Flammen setzt, und statt der »Genialität« tritt eine Dummheit und Gemeinheit hervor, die keine Beispiele kennt.
Das Einfallsheer flieht, kommt wieder zurück, flieht von neuem, und alle Zufälle sind jetzt auf einmal nicht mehr für, sondern immer nur gegen ihn.
Nun folgt ein Gegenzug von Osten nach Westen, der mit dem vorhergegangenen Zug von Westen nach Osten auffallende Ähnlichkeit hat. Dieselben Versuche wie beim ersten Kriegszug, in den Jahren 1805 bis 1809, gehen auch diesem großen Zug voran, dieselbe Bildung einer Kriegsschar von gewaltigem Ausmaß, dasselbe Anschließen der Völker Mitteleuropas, dasselbe Schwanken auf halbem Weg und dieselbe Hast, je näher das Ziel rückt.
Paris, das äußerste Ziel, ist erreicht. Napoleons Herrschaft und sein Heer sind zugrunde gerichtet. Er selber hat keine Bedeutung mehr. Alle seine Handlungen sind sichtlich jämmerlich und ekelhaft. Da tritt abermals ein unerklärlicher Zufall ein. Die Verbündeten hassen Napoleon, weil sie in ihm den Urheber ihrer Not sehen. Seiner Macht und Kraft beraubt, seiner Schandtaten und Ränke überführt, hätte er ihnen als derselbe außerhalb der Gesetze stehende Räuber erscheinen müssen, wie er ihnen zehn Jahre früher und ein Jahr später erschien. Doch infolge eines merkwürdigen Zufalls sieht dies niemand. Seine Rolle ist noch nicht zu Ende. Den Mann, der zehn Jahre vorher und ein Jahr nachher als ein außerhalb der Gesetze stehender Raubgeselle angesehen wird, schickt man auf eine nur zwei Tagereisen von Frankreich entfernte Insel, die man ihm als Eigentum überläßt, gibt ihm eine Leibwache mit und zahlt ihm, kein Mensch weiß wofür, Millionen aus.
Die Flut der Völker tritt allmählich in ihre Ufer zurück. Die Wellen der großen Bewegung verebben, und auf dem ruhig gewordenen Meer bilden sich Strudel, in denen die Diplomaten herumgewirbelt werden, wobei sie sich immer noch einbilden, daß gerade sie den Stillstand der Bewegung hervorgerufen haben.
Doch das ruhig gewordene Meer erhebt sich plötzlich abermals. Die Diplomaten glauben, daß sie, ihre Uneinigkeiten, die Ursache zu diesem neuen Ansturm der Kräfte sind. Sie erwarten einen Krieg zwischen ihren Herrschern. Die Lage scheint ihnen unentwirrbar. Aber die Woge, deren Heranbrausen sie fühlen, kommt nicht von der Seite, von der sie sie erwarten. Es ist die alte Woge, die sich noch einmal erhebt, und zwar von demselben Ausgangspunkt aus: von Paris. Das letzte Zurückfluten der Bewegung von Westen her vollzieht sich, ein Zurückfluten, das alle unentwirrbar scheinenden diplomatischen Verwickelungen lösen und der kriegerischen Bewegung dieser Periode ein Ende machen soll.
Der Mann, der Frankreich verheert hat, kommt allein, ohne Verschwörung und ohne Soldaten, nach Frankreich zurück. Jeder Wachtposten kann ihn verhaften, aber durch einen seltsamen Zufall nimmt ihn nicht nur kein Mensch fest, sondern alle empfangen mit wahrer Begeisterung einen Mann, dem sie tags zuvor geflucht haben und in vier Wochen wieder fluchen werden.
Denn dieser Mensch ist nötig, um auch noch den letzten gemeinsamen Akt zu rechtfertigen.
Der Akt ist zu Ende.
Die letzte Rolle ist ausgespielt. Den Schauspieler bedeutet man, das Flittergewand abzulegen und Schminke und Puder abzuwaschen. Man braucht ihn nun nicht mehr.
Und im Verlauf mehrerer Jahre spielt nun dieser Mensch auf seiner einsamen Insel vor sich selber eine klägliche Komödie, ersinnt Intrigen und Lügen, um seine Taten zu rechtfertigen, wo eine Rechtfertigung doch schon gar nicht mehr nötig ist, und zeigt so der ganzen Welt, wie das beschaffen gewesen ist, was sie für eine Kraft gehalten hat, während es doch eine unsichtbare Hand war, die sie geleitet hat. Nachdem das Drama zu Ende ist und der Schauspieler seine Flitter abgelegt hat, zeigt ihn der Regisseur dem Publikum: Seht her, an wen ihr geglaubt habt! So sieht er aus! Seht ihr jetzt, daß nicht er euch bewegt hat, sondern ich?
Doch die durch die Kraft der Bewegung geblendeten Leute vermögen das lange nicht zu fassen.
Noch größere Folgerichtigkeit und Notwendigkeit tritt im Leben Alexanders I. in Erscheinung, der an der Spitze der Gegenbewegung von Osten nach Westen stand.
Was für Eigenschaften brauchte ein Mann, der, alle anderen überragend, an der Spitze dieser Bewegung stand?
Er brauchte Gerechtigkeitsgefühl, Interesse an europäischen Angelegenheiten, das nicht durch kleinliche Einflüsse getrübt und abgezogen wurde, brauchte geistige Überlegenheit über seinesgleichen, über die Herrscher jener Zeit, brauchte milde und anziehende Charaktereigenschaften, brauchte persönlichen Haß gegen Napoleon.
Und dies alles besitzt Alexander I. Dies alles hat sich durch unzählige sogenannte Zufälle während seines ganzen vorhergegangenen Lebens bei ihm entfaltet: durch seine Erziehung wie durch die liberalen Anfänge seiner Regierung, durch die Räte seiner Umgebung und durch Austerlitz, Tilsit und Erfurt.
Während des Volkskrieges tritt diese Persönlichkeit nicht in Aktion, denn da ist sie nicht nötig. Aber sobald sich die Notwendigkeit eines allgemeinen europäischen Krieges zeigt, tritt dieser Mann im gegebenen Augenblick auf seinen Platz, vereint die Völker Europas und führt sie zum Ziel.
Das Ziel ist erreicht. Nach dem letzten Krieg von 1815 steht Alexander auf der höchsten Höhe menschlicher Macht. Und wie verwendet er sie?
Alexander I. der in Europa Frieden stiftet, der von Jugend an nur nach dem Heil seiner Völker strebt, der erste Urheber liberaler Verbesserungen in seinem Vaterland, erkennt jetzt, da er scheinbar die größte Macht und daher auch die größte Möglichkeit besitzt, alles zum Heil seiner Völker zu unternehmen, während Napoleon in der Verbannung kindische und lügenhafte Pläne entwirft, wie er die Menschheit beglücken würde, wenn er die Macht in Händen hätte – Alexander I. erkennt plötzlich, nachdem er seine Berufung erfüllt und die Hand Gottes über sich gefühlt hat, die Eitelkeit dieser vermeintlichen Macht, wendet sich von ihr ab, legt sie in die Hände minderwertiger Leute, die er verachtet, und sagt nur: »Nicht uns, nicht uns, sondern deinem Namen[239] wohnt die Macht inne. Ich bin auch nur ein Mensch wie ihr; laßt mich wie ein Mensch leben und an meine Seele und an Gott denken.«
Wie die Sonne und jedes Atom im Äther ein in sich abgeschlossener runder Körper und zugleich nur ein Teilchen in dem durch seine gewaltigen Ausmaße für den Menschen unfaßbaren All ist, so trägt auch jede Persönlichkeit ihr eigenes Ziel und ihre eigene Bestimmung in sich, um dadurch den allgemeinen Zielen zu dienen, die für den Menschenverstand unerreichbar sind.
Eine Biene, die auf einer Blume gesessen hatte, sticht ein Kind. Darum hat nun das Kind Angst vor allen Bienen und denkt, der Zweck der Bienen sei, die Menschen zu stechen. Der Dichter labt sich am Anblick der Biene, wie sie an einem Blütenkelch saugt, und denkt, der Zweck der Biene sei, den Duft der Blumen einzusaugen. Der Bienenzüchter beobachtet, wie die Biene den Blütenstaub sammelt und in den Korb trägt, und sagt nun, der Zweck der Biene sei das Einsammeln von Honig. Ein zweiter Imker, der sich das Leben im Bienenkorb noch näher angesehen hat, behauptet, die Biene sammle den Blütenstaub, um die jungen Bienen zu füttern und eine Königin hervorzubringen, und folglich sei ihr Zweck die Fortpflanzung der Art. Der Botaniker sieht, wie die Biene mit dem Blütenstaub einer zweihäusigen Pflanze zu einem Stempel hinfliegt und diesen befruchtet, und erblickt darin den Zweck der Biene. Ein anderer beobachtet das Wandern der Pflanzen, sieht, wie die Biene bei diesem Wandern mithilft, und dieser neue Beobachter kann denken, daß darin der Zweck der Biene bestehe. Doch der Endzweck der Biene wird weder durch den einen noch durch den anderen noch durch einen dritten Zweck erschöpft, den der Mensch zu entdecken imstande ist. Und je höher sich der Menschengeist bei der Entdeckung solcher Ziele emporschwingt, um so deutlicher wird er erkennen, daß ihm das Endziel unfaßbar ist.
Der Mensch bringt es nur bis zur Beobachtung der Verbindungslinien zwischen dem Leben der Biene und anderen Lebenserscheinungen. Und das gleiche gilt von den Zwecken historischer Persönlichkeiten und Völker.
Die Hochzeit Nataschas mit Besuchow, die im Jahre 1813 stattfand, war das letzte frohe Ereignis in der alten Familie Rostow. Im selben Jahr starb Graf Ilja Andrejewitsch, und wie das häufig der Fall zu sein pflegt, zerfiel mit seinem Tod die frühere Familie.
Die Ereignisse des letzten Jahres: der Brand Moskaus und die Flucht aus der Stadt, das Hinsiechen des Fürsten Andrej und Nataschas Verzweiflung, der Heldentod Petjas, das tiefe Leid der Gräfin – dies alles hatte Schlag auf Schlag das Haupt des alten Grafen getroffen. Er schien nicht mehr die Kraft in sich zu fühlen, alle diese Ereignisse zu begreifen, und begriff sie auch nicht, sondern senkte nur sein graues Haupt, als erwarte und erbäte er immer neue Schläge, die sein Ende herbeiführen möchten. Bald zeigte er sich verängstigt und zerstreut, bald unnatürlich lebhaft und unternehmend.
Eine Zeitlang nahmen ihn die äußeren Vorbereitungen zu Nataschas Hochzeit in Anspruch. Er bestellte Diners und Soupers und wollte offenbar lustig scheinen, aber seine Heiterkeit teilte sich nicht wie früher den anderen mit, sondern erweckte im Gegenteil das Mitleid aller, die ihn kannten und liebten.
Nachdem Pierre mit seiner Frau abgereist war, zeigte er sich stiller und fing an, über trübe Stimmungen zu klagen. Nach ein paar Tagen wurde er krank und mußte sich zu Bett legen. Obgleich die Ärzte ihm tröstlich zuredeten, war es ihm doch vom ersten Tag seiner Krankheit an klar, daß er nicht wieder aufstehen werde. Die Gräfin brachte vierzehn Tage, ohne sich auszukleiden, in einem Lehnstuhl neben seinem Bett zu. Jedesmal, wenn sie ihm die Medizin reichte, fing er an zu schluchzen und küßte ihr stumm die Hand. Am letzten Tag bat er unter Tränen seine Frau und seinen Sohn, der zwar nicht anwesend war, um Verzeihung, daß er mit ihrem Vermögen so schlecht gewirtschaftet hatte. Dies war die Hauptschuld, die er auf sich lasten fühlte. Nachdem er das Abendmahl genommen und die letzte Ölung empfangen hatte, starb er sanft und still. Am nächsten Tag war die kleine Rostowsche Mietswohnung voll von Bekannten, die dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen wollten. Und alle diese Bekannten, die so oft bei ihm gegessen und getanzt und so oft über ihn gelacht hatten, sagten jetzt wie aus einem einstimmigen Gefühl der Rührung und des inneren Vorwurfs, und als wollten sie sich vor jemandem rechtfertigen: Ja, wie dem auch immer gewesen sein mag, ein prächtiger Mensch war er doch! Solche Leute trifft man heutzutage gar nicht mehr … Wer hätte nicht auch seine Schwächen?
Und gerade zu einer Zeit, als sich die Verhältnisse des Grafen dermaßen verwirrt hatten, daß nicht auszudenken war, was für ein Ende dies nehmen werde, wenn es nur noch ein Jahr so fortginge, war er nun plötzlich gestorben.
Nikolaj befand sich mit den russischen Truppen in Paris, als ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters traf. Er reichte sogleich seinen Abschied ein, wartete aber die Antwort nicht ab, nahm Urlaub und fuhr nach Moskau. Vier Wochen nach dem Tod des alten Grafen war der Stand des Vermögens klargestellt, und alle staunten über die Riesensumme der verschiedenen kleinen Schulden, von denen niemand auch nur eine Ahnung gehabt hatte. Seine Schulden waren noch einmal so groß wie das Vermögen.
Verwandte und Freunde rieten Nikolaj, auf die Erbschaft zu verzichten. Aber Nikolaj erblickte in einer solchen Ablehnung der Erbschaft einen Ausdruck des Vorwurfs gegen das ihm heilige Andenken seines Vaters, wollte von einem Verzicht nichts wissen und nahm die Erbschaft und mit ihr die Verpflichtung zum Bezahlen der Schulden an.
Die Gläubiger, die solange geschwiegen hatten, weil sie bei Lebzeiten des Grafen durch jenen unbestimmbaren, aber mächtigen Einfluß gebunden waren, den seine haltlose Güte auf sie ausübte, kamen plötzlich alle mit ihren Forderungen an. Und wie das immer so geht, wetteiferten sie nun förmlich, wer zuerst Geld bekomme, und jene selben Leute, die, wie der Sekretär Mitenka und andere, Wechsel ohne Gegenleistung als Geschenk erhalten hatten, zeigten sich nun als die erbittertsten Gläubiger. Sie gönnten Nikolaj weder Frist noch Erholung, und jene, die scheinbar mit dem Alten, der doch schuld an ihrem Verlust war, soweit man von einem solchen überhaupt sprechen konnte, noch Mitleid gehabt hatten, fielen nun ohne Erbarmen über den jungen Erben her, der doch zweifellos ihnen gegenüber unschuldig war und nur die Bezahlung gutmütig auf sich genommen hatte.
Nicht einer der Schachzüge Nikolajs gelang. Das Gut wurde für den halben Preis gerichtlich versteigert, und dennoch blieb die Hälfte der Schulden unbezahlt. Nikolaj nahm die ihm von seinem Schwager angebotenen dreißigtausend Rubel an und bezahlte damit jene Schulden, die er als wirkliche Geldschulden anerkannte. Um für den noch verbleibenden Rest nicht ins Gefängnis gesteckt zu werden, womit die Gläubiger ihm drohten, trat er wieder in den Dienst ein.
Sich wieder zur Armee zu begeben, wo er bei der ersten Vakanz Regimentskommandeur geworden wäre, war deshalb nicht möglich, weil sich die Mutter jetzt an den Sohn wie an das letzte, was ihr das Leben noch lebenswert machte, klammerte. Und obgleich er lieber nicht in Moskau im Kreis jener Leute, die ihn früher gekannt hatten, geblieben wäre und eine Abneigung gegen den Zivildienst besaß, zog er dennoch seine geliebte Uniform aus, nahm in Moskau eine Stelle im Staatsdienst an und siedelte mit der Mutter und Sonja in eine kleine Wohnung am Siwzewi-Wraschek über.
Natascha und Pierre lebten zu dieser Zeit in Petersburg und hatten von Nikolajs Verhältnissen keine klare Vorstellung. Nikolaj, der von seinem Schwager Geld geliehen hatte, suchte seine ärmliche Lage vor ihm geheim zu halten. Er befand sich deshalb in einer so besonders schwierigen Lage, weil er von seinen zwölfhundert Rubeln Gehalt nicht nur sich, Sonja und die Mutter erhalten mußte, sondern diese auch so erhalten mußte, daß sie nicht merkte, wie arm sie geworden waren. Die Gräfin konnte sich ein Leben ohne den ihr von Kindheit an zur Gewohnheit gewordenen Luxus nicht denken und verlangte ununterbrochen und ohne Verständnis dafür, wie schwer es dem Sohne wurde, bald einen Wagen, den sie nicht mehr besaßen, um eine Bekannte holen zu lassen, bald ein teures Gericht für sich selber oder Wein für den Sohn, und bald Geld, um Natascha, Sonja und Nikolaj selbst mit Geschenken zu überraschen.
Sonja führte den Haushalt, pflegte die Tante, las ihr vor, ertrug ihre Launen und ihre versteckte Abneigung und half Nikolaj, die dürftige Lage, in der sie sich befanden, vor der alten Gräfin geheim zu halten. Nikolaj fühlte eine nie abzutragende Schuld der Dankbarkeit gegen Sonja für alles, was sie an seiner Mutter tat, bewunderte ihre Geduld und Hingabe, suchte sich aber doch von ihr fernzuhalten.
Es war, als mache er es ihr im Grund seines Herzens zum Vorwurf, daß sie zu vollkommen war und nichts an sich hatte, was man hätte tadeln können. Sie besaß alles, wofür man Menschen schätzt, aber wenig von dem, weswegen man sie liebt. Und er fühlte: je mehr er sie hochschätzen mußte, um so weniger liebte er sie. Er nahm sie beim Wort, da sie ihm durch ihren Brief die Freiheit wiedergegeben hatte, und begegnete ihr jetzt so, als sei alles, was zwischen ihnen gewesen war, lang, lang vergessen und könne auf keinen Fall wiederkehren.
Nikolajs Lage gestaltete sich immer schwieriger. Der Gedanke, von seinem Gehalt etwas zurückzulegen, erwies sich als Trugbild. Er konnte nicht nur nichts zurücklegen, sondern geriet dadurch, daß er alle Wünsche seiner Mutter befriedigte, nach und nach in kleine Schulden. Nirgends zeigte sich ihm ein Ausweg aus dieser Lage. Der Gedanke an eine Heirat mit einer reichen Erbin, wie sie ihm die Damen seiner Verwandtschaft vorschlugen, war ihm zuwider. Der zweite Ausweg, der Tod seiner Mutter, kam ihm niemals in den Sinn. Er hatte keinen Wunsch, keine Hoffnung und weidete sich in tiefster Seele an dem finsteren, herben Genuß, seine Lage ohne Murren zu ertragen. Nur gab er sich Mühe, allen seinen früheren Bekannten, die ihn immer bloß bemitleideten und ihm Hilfe anboten, was ihn verletzte, aus dem Weg zu gehen, mied alle Zerstreuungen und Unterhaltungen, und beschäftigte sich sogar zu Hause mit nichts anderem, als daß er mit seiner Mutter Karten legte oder schweigend im Zimmer auf und ab ging und eine Pfeife nach der andern rauchte. Es war, als gehe sein ganzes Bestreben nur dahin, diese düstere Gemütsstimmung zu wahren, in der allein er sich imstande fühlte, seine jetzige Lage zu ertragen.
Zu Anfang des Winters kam Prinzessin Marja nach Moskau. Aus den Gerüchten, die in der Stadt umliefen, erfuhr sie von der Lage der Rostows und wie der Sohn sich für die Mutter aufopfere, was man überall in der Stadt erzählte.
Ich habe von ihm nichts anderes erwartet, sagte sich Prinzessin Marja und fühlte mit Freuden ihre Liebe zu ihm gerechtfertigt. Sie dachte an ihre freundschaftlichen, fast verwandtschaftlichen Beziehungen zur ganzen Familie und hielt es für ihre Pflicht, diese aufzusuchen. Doch wenn sie sich an ihre Beziehungen zu Nikolaj in Woronesch erinnerte, scheute sie sich doch auch wieder, hinzugehen. Endlich überwand sie sich mit großer Anstrengung, und ein paar Wochen nach ihrer Ankunft in der Stadt fuhr sie zu den Rostows.
Nikolaj war der erste, der ihr entgegenkam, da man in das Zimmer der Gräfin nur durch sein Zimmer gelangen konnte.
Beim ersten Blick auf Prinzessin Marja nahm Nikolajs Gesicht statt des Ausdrucks der Freude, den sie bei ihm zu sehen gehofft hatte, einen von ihr früher nie an ihm wahrgenommenen Ausdruck der Kälte, Trockenheit und des Stolzes an. Nikolaj erkundigte sich nach ihrer Gesundheit, geleitete sie zu seiner Mutter, blieb fünf Minuten sitzen und zog sich dann in sein Zimmer zurück.
Als die Prinzessin dann von der Gräfin herauskam, trat Nikolaj wieder auf sie zu und brachte sie besonders feierlich und förmlich ins Vorzimmer. Auf ihre Bemerkungen über die Gesundheit der Gräfin erwiderte er kein Wort. Was geht Sie das an? Lassen Sie mich in Ruhe, sagte sein Blick.
»Wozu kriecht sie überall herum? Was will sie nur? Ich kann diese Damen und alle diese liebenswürdigen Reden nicht ausstehen!« sagte er, da er seinen Ärger sichtlich nicht zurückhalten konnte, laut zu Sonja, als der Wagen der Prinzessin vom Hause fortfuhr.
»Ach, wie können Sie nur so etwas sagen, Nicolas«, erwiderte Sonja, die kaum ihre Freude verbergen konnte. »Sie ist so gut, und maman hat sie so gern.«
Nikolaj gab keine Antwort und wollte nun überhaupt nicht mehr von der Prinzessin reden. Doch seit sie diesen Besuch gemacht hatte, fing die alte Gräfin jeden Tag immer wieder von ihr an.
Sie lobte sie, verlangte, daß der Sohn zu ihr hinfahre, äußerte den Wunsch, sie öfter zu sehen, bekam dabei aber immer schlechte Laune, wenn sie von ihr sprach.
Nikolaj sagte absichtlich kein Wort, wenn seine Mutter von der Prinzessin sprach, aber sein Schweigen reizte die Gräfin nur noch mehr.
»Sie ist ein prächtiges Mädchen von innerem Wert«, sagte sie, »du mußt ihren Besuch erwidern. Dann wirst du doch einmal Menschen sehen; denn mit uns, denke ich, mußt du dich langweilen.«
»Ich habe nicht das mindeste Verlangen danach, Mama.«
»Früher wolltest du immer gern Menschen sehen, und jetzt willst du es auf einmal nicht mehr. Ich verstehe dich wirklich nicht, mein Junge. Bald langweilst du dich, bald willst du plötzlich niemanden mehr sehen.«
»Aber ich habe doch gar nicht gesagt, daß ich mich langweile.«
»Ja, aber du hast selber gesagt, daß du sie nicht sehen willst. Sie ist ein sehr wertvolles Mädchen und hat dir immer gefallen, und jetzt auf einmal diese sonderbaren Ideen! Doch vor mir wird ja immer alles geheimgehalten.«
»Aber nicht das geringste, Mama.«
»Wenn ich dich noch um etwas Unangenehmes gebeten hätte, aber ich verlange doch von dir bloß, daß du einen Gegenbesuch machst. Ich glaube, das erfordert schon die Höflichkeit … Ich habe dich darum gebeten, werde mich aber von nun an in nichts mehr einmischen, wenn du Geheimnisse vor deiner Mutter hast.«
»Aber ich werde ja auch hingehen, wenn Sie es durchaus wollen.«
»Mir ist es einerlei, ich will es ja nur deinetwegen.«
Nikolaj seufzte, biß sich auf die Lippen, legte die Karten auf und suchte die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf etwas anderes zu lenken.
Am folgenden, am dritten und am vierten Tag wiederholte sich dasselbe Gespräch.
Nach ihrem Besuch bei den Rostows und dem unerwartet kalten Empfang, der ihr von Nikolaj bereitet worden war, gestand sich Prinzessin Marja ein, daß sie recht gehabt hatte, als sie nicht zu den Rostows hatte gehen wollen.
Ich habe gar nichts anderes erwartet, sagte sie sich, ihren Stolz zu Hilfe rufend. Ich habe mit ihm nicht das geringste zu schaffen und wollte nur die alte Dame sehen, die immer so gut gegen mich war und der ich mich in vielem verpflichtet fühle.
Aber sie konnte sich mit diesen Erwägungen nicht zufrieden geben. Ein Gefühl, ähnlich dem der Reue, quälte sie, wenn sie an diesen Besuch dachte. Obgleich sie fest entschlossen war, die Rostows nie wieder zu besuchen und dies alles zu vergessen, befand sie sich dennoch ständig in einem Zustand, den sie sich nicht zu erklären vermochte. Und wenn sie sich fragte, was es nun eigentlich war, was sie immer quälte, so mußte sie sich eingestehen, daß es ihr Verhältnis zu Nikolaj war. Sein kalter, höflicher Ton entsprang nicht seinen Gefühlen für sie – das wußte sie –, sondern verbarg irgend etwas. Und dieses Etwas mußte sie aufklären, eher fand sie keine Ruhe, das fühlte sie.
Um die Mitte des Winters saß sie einmal im Schulzimmer und wohnte den Unterrichtsstunden ihres Neffen bei, als ihr Rostows Besuch gemeldet wurde. Fest entschlossen, ihr Geheimnis nicht preiszugeben und ihre Verwirrung nicht zu zeigen, rief sie Mademoiselle Bourienne und ging mit ihr zusammen ins Empfangszimmer.
Beim ersten Blick auf Nikolajs Gesicht erkannte sie, daß er nur gekommen war, um der Pflicht der Höflichkeit zu genügen, und faßte den festen Entschluß, denselben Ton beizubehalten, den er gegen sie anwenden werde.
Sie sprachen von der Gesundheit der Gräfin, von gemeinsamen Bekannten, von den letzten Kriegsneuigkeiten, und als die vom Anstand geforderten zehn Minuten um waren, nach denen sich der Gast erheben darf, stand Nikolaj auf und verabschiedete sich.
Die Prinzessin hatte mit Hilfe Mademoiselle Bouriennes das Gespräch sehr gut in Fluß gehalten, aber im letzten Augenblick, gerade als sich Nikolaj erhob, war sie des Redens über Dinge, an denen sie gar keinen Anteil nahm, so müde, und der Gedanke, warum ihr allein so wenig Freude im Leben beschieden war, beschäftigte sie so sehr, daß sie in einer Anwandlung von Zerstreutheit, die leuchtenden Augen starr vor sich hin gerichtet, unbeweglich sitzen blieb und gar nicht merkte, daß er aufgestanden war.
Nikolaj sah sie an, wollte sich aber den Anschein geben, als bemerke er ihre Zerstreutheit nicht, und sprach ein paar Worte mit Mademoiselle Bourienne. Dann blickte er wieder zur Prinzessin hinüber. Sie saß noch ebenso unbeweglich und mit einem Ausdruck des Kummers auf ihrem zarten Gesicht da. Sie tat ihm plötzlich leid, und eine dunkle Vorstellung, daß vielleicht er der Grund dieses Kummers war, der auf ihrem Gesicht zum Ausdruck kam, bemächtigte sich seiner. Er wollte ihr helfen, ihr etwas Angenehmes sagen, aber es fiel ihm nichts ein, was er ihr hätte sagen können.
»Leben Sie wohl, Prinzessin«, sagte er endlich.
Sie kam zu sich, wurde rot und seufzte tief.
»Ach, entschuldigen Sie«, entgegnete sie, wie aus einer Betäubung erwachend. »Sie wollen schon gehen, Graf? Nun, leben Sie wohl! Aber das Kissen für die Gräfin?«
»Warten Sie, ich werde es sogleich holen«, rief Mademoiselle Bourienne und lief aus dem Zimmer.
Beide schwiegen und sahen einander nur ab und zu an.
»Ja, Prinzessin«, fing Nikolaj endlich mit traurigem Lächeln an, »es scheint eine kurze Zeit und doch, wieviel Wasser ist seither den Berg hinuntergeflossen, seit wir uns in Bogutscharowo zum erstenmal sahen. Wie glaubten wir uns damals alle im Unglück, und doch gäbe ich viel darum, diese Zeit zurückrufen zu können … aber sie kommt nicht wieder.«
Die Prinzessin sah ihm mit ihrem leuchtenden Blick aufmerksam in die Augen, während er dies sagte. Es schien, als gebe sie sich Mühe, den geheimen Sinn dieser Worte zu verstehen, damit sie ihr über seine Gefühle gegen sie Aufschluß geben könnten.
»Ja, ja«, sagte sie. »Aber Sie brauchen nicht um Vergangenes zu trauern, Graf. Wie ich Ihr Leben jetzt verstehe, werden Sie auch daran immer mit Freuden zurückdenken können, weil die Selbstaufopferung, der sie jetzt Ihr Leben weihen …«
»Ich kann Ihr Lob nicht annehmen«, unterbrach er sie hastig. »Im Gegenteil, ich mache mir ständig Vorwürfe … Aber das ist keine interessanter, kein erfreulicher Gesprächsstoff.«
Und wieder nahm sein Blick den früheren trockenen und kalten Ausdruck an. Aber die Prinzessin sah in ihm nun wieder jenen Mann, den sie gekannt und geliebt hatte, und sprach nur noch mit diesem Mann.
»Ich dachte, Sie würden mir erlauben, Ihnen das zu sagen«, fuhr sie fort. »Ich bin Ihnen … Ihnen und Ihrer Familie so nahe gewesen, daß ich glaubte, Sie würden meine Teilnahme nicht für unangebracht halten, aber ich habe mich geirrt.« Ihre Stimme fing plötzlich an zu zittern. »Ich weiß nicht, warum«, fuhr sie fort, nachdem sie sich etwas gefaßt hatte, »aber Sie waren früher ganz anders und …«
»Für dieses Warum gibt es tausend Gründe.« Er betonte das Wort Warum ganz besonders. »Ich danke Ihnen, Prinzessin«, sagte er leise. »Es fällt mir manchmal schwer …«
Das ist es also! Das ist es also! sagte eine innere Stimme in Prinzessin Marjas Herzen. Nein, ich habe nicht nur diesen heiteren, guten und offenen Blick, nicht nur dieses hübsche Äußere an ihm geliebt, ich habe auch sein edles, festes, aufopferndes Herz erraten, sagte sie sich. Ja, er ist jetzt arm, ich aber bin reich … und nur deshalb … Und wenn das nicht wäre … Sie dachte an seine frühere Feinfühligkeit, sah in sein gutes, trauriges Gesicht und begriff auf einmal die Ursache seiner Kälte.
»Warum nur, Graf? Warum?« stieß sie plötzlich fast aufschreiend aus und trat unwillkürlich auf ihn zu. »Warum? Sagen Sie es mir. Sie müssen es mir sagen.« Er schwieg. »Ich kenne Ihre Gründe nicht, Graf«, fuhr sie fort. »Aber es bedrückt mich, es ist mir … Ich gestehe Ihnen das ein. Sie wollen mir aus irgendeinem Grund Ihre frühere Freundschaft entziehn. Das tut mir weh.« Ihr traten die Tränen in die Augen und in die Kehle. »Ich habe so wenig Glück im Leben gehabt, daß mich jeder Verlust schwer trifft … Entschuldigen Sie mich, leben Sie wohl.« Sie brach plötzlich in Tränen aus und lief aus dem Zimmer.
»Prinzessin! Bleiben Sie, um Gottes willen!« rief er und suchte sie zurückzuhalten. »Prinzessin!«
Sie wandte sich um. Einige Sekunden blickten sie einander stumm in die Augen, und was sie erst für so fern, so unmöglich angesehen hatten, wurde auf einmal etwas Näheres, Mögliches, auf das man mit Sicherheit hoffen durfte.
Im Herbst des Jahres 1814 heiratete Nikolaj Prinzessin Marja und siedelte mit seiner jungen Frau, seiner Mutter und Sonja nach LysyjaGory über.
Nach vier Jahren hatte er, ohne das Gut seiner Frau zu verkaufen, den Rest seiner Schulden bezahlt und, da ihm von einer verstorbenen Cousine eine kleine Erbschaft zugefallen war, auch Pierre das Geld zurückgeben können.
Nach ferneren zwei Jahren, im Jahre 1820, hatte Nikolaj seine Vermögensverhältnisse so weit gebessert, daß er ein kleines Gut bei Lysya-Gory hinzukaufen und Verhandlungen über den Rückkauf des väterlichen Gutes Otradnoje einleiten konnte, was immer ein Lieblingstraum von ihm gewesen war.
Der Not gehorchend hatte er angefangen, Landwirtschaft zu treiben, war aber bald von solcher Leidenschaft für diese Tätigkeit erfaßt worden, daß sie ihm zur geliebten und fast ausschließlichen Beschäftigung wurde. Nikolaj war ein einfacher Landwirt. Neuerungen, besonders die englischen, die damals Mode wurden, liebte er nicht. Über theoretische Abhandlungen machte er sich lustig. Auch von Fabriken, kostspieligen Betrieben, teuren Aussaaten hielt er nicht viel und gab sich überhaupt nicht gern mit nur einem Teil der Landwirtschaft im einzelnen ab. Er hatte immer nur das ganze Gut im Auge und nicht nur einen Ausschnitt davon. Auf dem Gut aber war für ihn die Hauptsache nicht der Stickstoff und Sauerstoff, der sich im Boden oder in der Luft befand, nicht ein besonderer Pflug oder Dünger, sondern das Hauptwerkzeug, durch das Stickstoff und Sauerstoff, Pflug und Dünger erst in Tätigkeit gesetzt werden: das heißt der Arbeiter, der Bauer.
Als sich Nikolaj mit der Landwirtschaft zu beschäftigen anfing und in ihre einzelnen Zweige einzudringen begann, fesselte der Bauer ganz besonders seine Aufmerksamkeit. Er erschien ihm nicht nur als Werkzeug, sondern auch als Zweck und als Richter. Von Anfang an beobachtete er den Bauern, bemühte sich zu verstehn, wessen er bedurfte und was er für gut und für schlecht hielt, und stellte sich nur so, als ob er Anordnungen träfe und Befehle erteilte, in Wirklichkeit aber lernte er nur von den Bauern aus ihren Handgriffen, ihren Reden und ihrem Urteil über das, was gut und was schlecht war. Und erst als er ihren Geschmack und ihr Streben verstanden und ihre Sprache sprechen und den geheimen Sinn ihrer Worte verstehen gelernt hatte, als er eine gewisse Verwandtschaft mit ihnen herausfühlte, erst dann begann er sie beherzt zu regieren, das heißt, er erfüllte seinen Bauern gegenüber gerade jene Pflicht, deren Erfüllung von ihm verlangt wurde. Und Nikolajs Wirtschaft trug die glänzendsten Früchte.
Als er die Verwaltung des Gutes in die Hand nahm, ernannte er sogleich, ohne dabei einen Fehlgriff zu tun, auf Grund einer gewissen Begabung, die Menschen zu durchschauen, zu Ältesten, Schulzen und Schreibern gerade diejenigen Leute, die die Bauern selber gewählt haben würden, wenn sie hätten wählen können, und seine Beamten wechselten niemals. Bevor er die chemischen Eigenschaften des Düngers untersuchte, bevor er sich mit Debet und Kredit abgab, wie er spöttisch zu sagen pflegte, unterrichtete er sich über den Viehstand seiner Bauern und suchte ihn mit allen nur möglichen Mitteln zu heben. Die Bauernfamilien unterstützte er in der großzügigsten Weise, erlaubte aber nicht, daß sie sich in verschiedene Zweige teilten. Die Faulen, Liederlichen und Schwachen verfolgte er und suchte sie aus der Gemeinde zu vertreiben.
Bei Saat und Ernte von Heu und Getreide kümmerte er sich ebenso um die Felder seiner Bauern wie um seine eigenen. Und bei wenigen Landwirten waren die Felder so rechtzeitig bestellt und so früh und mit solchem Ertrag abgeerntet wie bei Nikolaj.
Mit den Gutsleuten gab er sich nicht gern ab, nannte sie Krippenreiter, hielt sie zu locker und verwöhnte sie, wie alle sagten. Wenn über einen der Gutsleute verfügt werden sollte, und vor allem, wenn eine Strafe verhängt werden mußte, befand sich Nikolaj immer in solcher Unentschlossenheit, daß er das ganze Haus um Rat fragen mußte, und nur, wenn er einen Gutsknecht statt eines Bauern zu den Soldaten geben konnte, tat er dies, ohne einen Augenblick zu schwanken. Doch bei allen Anordnungen, die seine Bauern betrafen, regte sich bei ihm nie der geringste Zweifel. Alles, was er in dieser Hinsicht bestimmte – das wußte er –, würde bis auf eine oder einige wenige Stimmen den Beifall aller finden.
In gleicher Weise erlaubte er sich niemals, einen Mann mit Arbeit zu belasten oder zu bestrafen, nur weil ihm gerade der Sinn danach stand, wie er ebenso wenig jemand von Arbeit befreite oder belohnte, nur weil dies sein persönlicher Wunsch war. Er hätte nicht mit Worten sagen können, worin dieser Maßstab, was er tun und was er nicht tun mußte, eigentlich bestand, aber er trug ihn fest und unerschütterlich in seinem Herzen.
Oft, wenn ihm etwas quer gegangen war, oder wenn er eine Unordnung aufgedeckt hatte, pflegte er ärgerlich zu sagen: »Ja, mit diesem Volk hier in Rußland …« und bildete sich ein, er könne den Bauer nicht leiden.
Und doch liebte er mit der ganzen Kraft seines Herzens dieses »Volk hier in Rußland« und seine Lebensart, und nur deshalb verstand er diesen einzigen Weg und machte sich dieses einzige Verfahren, das gute Früchte tragen kann, zu eigen.
Prinzessin Marja war eifersüchtig auf diese Liebe ihres Mannes zu den Bauern, und es tat ihr leid, daß sie sie nicht teilen konnte. Aber sie hatte kein Verständnis für Freuden und Leiden, die ihm aus dieser ihr fernliegenden, fremden Welt erwuchsen. Sie konnte nicht begreifen, warum er immer so besonders angeregt und glücklich war, wenn er morgens zeitig aufgestanden war, den ganzen Vormittag auf dem Feld oder in der Scheune verbracht hatte, und dann von der Saat, vom Mähen oder von der Ernte zu ihr zum Tee heimkam. Sie begriff nicht, worüber er so entzückt war, wenn er mit Begeisterung von dem reichen, rührigen Bauern Matwjej Jermischin erzählte, der die ganze Nacht mit seiner Familie Garben eingefahren habe, so daß bei ihm nun schon die Scheune voll war, während noch bei keinem anderen das Getreide abgeerntet sei.
Sie begriff nicht, warum er vom Fenster auf den Balkon und vom Balkon wieder ans Fenster lief, vergnügt in seinen Schnurrbart hineinlächelte und mit den Augen blinkte, wenn auf die trockene Hafersaat ein warmer, feiner Regen fiel, oder wenn während der Erntezeit der Wind eine drohende Wolke verjagte, und er mit rotem, glühendem, schweißtriefendem Gesicht, den Duft von Wermut und Bitterwurz im Haar, von der Scheune herüberkam, sich vergnügt die Hände rieb und ausrief: »Na, noch ein einziger Tag mit solchem Wetterchen, und meine Bauern und ich haben alles herein!«
Und noch weniger konnte sie verstehen, warum er mit seinem guten Herzen, er, der immer bereit war, all ihren Wünschen zuvorzukommen, fast in Verzweiflung geriet, wenn sie ihm die Bitte um Arbeitsbefreiung irgendeines Weibes oder Bauern übermittelte, die sich an sie gewandt hatten, und warum er, der gute Nicolas, ihr dies stets hartnäckig abschlug und sie ärgerlich bat, sich nicht in seine Angelegenheiten zu mischen. Sie fühlte, daß er eine Welt für sich hatte, die er leidenschaftlich liebte, eine Welt, in der es Gesetze gab, die sie nicht begreifen konnte.
Und wenn sie dann manchmal in dem Bestreben, ihn zu verstehen, von dem Verdienst zu reden anfing, das er sich erwerbe, wenn er an seinen Untergebenen so viel Gutes tue, ärgerte er sich und antwortete: »Nicht im geringsten; daran denke ich überhaupt nicht. Zu ihrem Wohl tue ich nicht das mindeste. Das ist alles nur Phantasie und Weibergeschwätz, das mit dem Wohl des Nächsten. Ich will, daß meine Kinder einmal nicht zu betteln brauchen, will einen sicheren Grund zu unserem Vermögen legen, solange ich lebe, und weiter nichts. Und dazu brauche ich Ordnung, brauche Strenge … das ist alles!« sagte er und ballte seine Sanguinikerfaust. »Und Gerechtigkeit natürlich auch …«, fügte er hinzu, »denn wenn ein Bauer nackt und hungrig ist und nur einen einzigen Schinder besitzt, so kommt dabei weder für ihn selber noch für mich etwas heraus.«
Und vielleicht gerade weil sich Nikolaj nicht den Gedanken erlaubte, daß er etwas für andere und aus Tugend tue, trug alles, was er anfing, gute Früchte. Sein Vermögen vergrößerte sich schnell. Bauern aus der Nachbarschaft kamen zu ihm und baten, er möchte sie kaufen, und noch lang nach seinem Tod erhielt sich das ehrerbietige Andenken an seine Verwaltung im Volk: »Das war ein Herr! … Zuerst kamen seine Bauern und dann er selber. Na, und viel Federlesens machte er auch nicht. Kurz: ein Herr, wie man ihn sich nur wünschen kann!«
Das einzige, was Nikolaj bei seiner Wirtschaftsführung ab und zu quälte, war sein rasch hochfahrender Zorn, verbunden mit seiner alten Husarengewohnheit, ein lockeres Handgelenk zu haben. In der ersten Zeit hatte er darin nichts Arges gesehen, aber im zweiten Jahr seiner Ehe änderte sich plötzlich seine Ansicht über diese Art der Zurechtweisung.
Eines Tages im Sommer war der Dorfschulze aus Bogutscharowo, der jetzt die Stelle des verstorbenen Dron einnahm, herbeigerufen worden, weil er verschiedener Betrügereien und Verstöße gegen die Ordnung bezichtigt worden war. Nikolaj ging zu ihm auf die Freitreppe hinunter, und schon nach den ersten Antworten des Schulzen hörte man im Flur Schreien und Schlagen. Als Nikolaj dann zum Frühstück nach Hause zurückkehrte, trat er auf seine Frau zu, die, den Kopf tief über ihren Stickrahmen gebeugt, dasaß, und fing wie gewöhnlich an, ihr alles zu erzählen, was ihn an diesem Morgen beschäftigt hatte, unter anderem auch sein Erlebnis mit dem Schulzen von Bogutscharowo. Gräfin Marja saß mit gesenktem Kopf regungslos da, wurde bald rot, bald blaß, preßte die Lippen aufeinander und erwiderte auf die Worte ihres Mannes kein Wort.
»So ein schamloser Patron«, sagte Nikolaj, bei der bloßen Erinnerung in Hitze geratend. »Wenn er mir nur gesagt hätte, daß er betrunken war, ich habe es nicht einmal gesehen … Aber was hast du, Marie?« fragte er plötzlich.
Gräfin Marja hob den Kopf und wollte etwas sagen, aber sie ließ ihn schnell wieder sinken und preßte die Lippen zusammen.
»Was ist dir? Was hast du, mein Herz?«
Die häßliche Gräfin Marja wurde immer hübsch, wenn sie weinte. Sie weinte niemals aus Schmerz oder Ärger, sondern immer nur aus Traurigkeit und Mitleid, und wenn sie weinte, erhielten ihre leuchtenden Augen einen unwiderstehlichen Reiz.
Als Nikolaj nur ihre Hand nahm, war sie nicht mehr imstande, ihre Tränen zurückzuhalten, und fing an zu weinen.
»Ich habe es gesehen, Nicolas … es war ja nicht recht von ihm, aber warum mußtest du … Nicolas!« Und wieder verbarg sie ihr Gesicht in beiden Händen.
Nikolaj schwieg, wurde dunkelrot, ging von ihr fort und fing an, schweigend im Zimmer auf und ab zu gehen. Er verstand, warum sie weinte, konnte ihr aber im Grund seines Herzens im ersten Augenblick nicht recht geben, daß das, woran er von Kind auf gewöhnt war und was er für einen allgemeinen Brauch hielt, etwas Schlechtes sein sollte. Das ist Überempfindlichkeit, Weibergerede … oder hat sie doch recht? fragte er sich. Ehe er bei sich selbst diese Frage entschieden hatte, blickte er noch einmal auf ihr liebes, leidendes Gesicht und sah plötzlich ein, daß sie im Recht war, und daß er sich schon lange vor sich selber schuldig gefühlt hatte. »Marie«, sagte er leise und trat auf sie zu. »Das soll nicht wieder vorkommen, ich verspreche es dir. Nie wieder«, sagte er noch einmal mit zitternder Stimme wie ein Schuljunge, der um Verzeihung bittet.
Die Tränen strömten nur noch heftiger aus Gräfin Marjas Augen. Sie nahm die Hand ihres Mannes und küßte sie.
»Nicolas, wann hast du denn deine Kamee zerschlagen?« fragte sie, um das Gespräch abzulenken, und betrachtete seine Hand, an der er einen Ring mit einem Laokoonskopf trug.
»Heute, eben dabei. Ach, Marie, erinnere mich nicht daran!« Er wurde wieder rot. »Ich gebe dir mein Ehrenwort, es kommt nicht wieder vor. Dies mag mich immer daran erinnern«, sagte er und zeigte auf den zerbrochenen Ring.
Von dieser Zeit an drehte Nikolaj, sobald ihm bei Auseinandersetzungen mit Starosten und Angestellten das Blut zu Kopf stieg und seine Hände sich zu Fäusten ballten, den zerschlagenen Ring am Finger und senkte den Kopf vor dem Menschen, der ihn in Zorn gebracht hatte. Trotz alledem vergaß er sich aber doch noch einige Male im Jahr. Dann ging er zu seiner Frau, gestand ihr alles und legte wieder das Versprechen ab, daß es diesmal nun wirklich das letztemal gewesen sein sollte.
»Marie, du verachtest mich sicher«, sagte er zu ihr. »Ich verdiene es auch.«
»Geh doch aus dem Zimmer, so schnell wie möglich aus dem Zimmer, wenn du fühlst, daß du dich nicht mehr beherrschen kannst«, riet Prinzessin Marja traurig, bemüht, ihren Mann zu trösten.
In der Adelsgesellschaft des Gouvernements war Nikolaj zwar geachtet, aber unbeliebt. Um die Interessen des Adels kümmerte er sich nicht. Deshalb hielten ihn die einen für einen eingebildeten, die anderen für einen dummen Menschen. Im Sommer brachte er seine ganze Zeit, von der Frühlingsaussaat bis zur Ernte, mit landwirtschaftlichen Geschäften hin. Im Herbst widmete er sich mit derselben ernsten Geschäftigkeit, mit der er die Gutswirtschaft betrieb, der Jagd und kam mit seinen Jägern und seiner Meute oft ein bis zwei Monate nicht nach Hause. Im Winter besuchte er die anderen Dörfer oder vertiefte sich in Bücher, und zwar las er mit Vorliebe geschichtliche Werke, die er sich jährlich für eine bestimmte Summe anschaffte. Er wollte sich, wie er sagte, eine ernste Bibliothek zusammenstellen und hatte es sich zum Grundsatz gemacht, die Bücher, die er kaufte, auch wirklich zu lesen. Mit wichtiger Miene saß er in seinem Arbeitszimmer bei dieser Lektüre, die er sich anfänglich als Pflicht auferlegte, die ihm aber dann später zur gewohnten Beschäftigung geworden war und ihm ein besonderes Vergnügen und das Bewußtsein verlieh, sich mit ernsten Dingen zu beschäftigen. Wenn er nicht geschäftlich verreisen mußte, verbrachte er im Winter die meiste Zeit zu Hause im engsten Kreis seiner Familie, von all den kleinen Beziehungen zwischen Mutter und Kindern ganz in Anspruch genommen. Seiner Frau trat er immer näher und entdeckte täglich in ihr neue Herzensschätze.
Sonja lebte seit Nikolajs Verheiratung bei ihnen im Haus. Schon vor seiner Hochzeit hatte Nikolaj seiner Frau alles erzählt, was zwischen ihm und Sonja gewesen war, hatte alle Schuld auf sich genommen, Sonja gelobt und Prinzessin Marja gebeten, lieb und gut gegen die Cousine zu sein. Gräfin Marja war sich der Schuld ihres Mannes bewußt und fühlte sich auch selber vor Sonja schuldig, wenn sie daran dachte, daß ihr Vermögen die Wahl Nikolajs doch vielleicht beeinflußt hatte. Sie konnte Sonja in keiner Beziehung einen Vorwurf machen und hatte den aufrichtigen Wunsch, sie zu lieben, aber dennoch konnte sie sie nicht nur nicht liebgewinnen, sondern entdeckte sogar häufig in ihrem Herzen feindselige Gefühle gegen sie, über die sie nicht Herr zu werden vermochte.
Einmal sprach sie mit ihrer Freundin Natascha über Sonja und über ihre eigene Ungerechtigkeit gegen diese.
»Weißt du«, sagte Natascha, »du liest doch so viel in der Heiligen Schrift, da ist eine Stelle, die gerade auf Sonja paßt.«
»Welche wäre denn das?« fragte Gräfin Marja erstaunt.
»Wer hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, dem wird genommen. Erinnerst du dich? Sie ist eine, die nicht hat; warum, weiß ich nicht. Vielleicht ist sie nicht Egoistin genug, ich weiß es nicht. Aber es wird ihr genommen, und so geht sie denn immer leer aus. Sie tut mir manchmal schrecklich leid, und ich wollte früher durchaus, daß Nikolaj sie heirate, und doch hatte ich immer so eine Ahnung, daß dies nie werden würde. Sie ist eine taube Blüte, weiß du, wie an einer Erdbeerpflanze. Manchmal tut sie mir leid, manchmal aber denke ich wieder, daß sie es gar nicht so fühlt, wie du und ich es empfänden.«
Obgleich Gräfin Marja Natascha klarzumachen suchte, daß man diese Worte der Heiligen Schrift anders auffassen müsse, stimmte sie doch, wenn sie Sonja ansah, der von Natascha gegebenen Erklärung zu. Es schien wirklich, als ob sich Sonja durch ihre Lage nicht bedrückt fühle und sich mit ihrer Bestimmung als taube Blüte ganz ausgesöhnt habe. Sie schätzte anscheinend weniger die einzelnen Menschen als vielmehr die ganze Familie. Wie ein Kätzchen hatte sie sich nicht in die Personen, sondern ins Haus eingelebt. Sie pflegte die alte Gräfin, streichelte und verwöhnte die Kinder und war immer bereit, all die kleinen Hilfsdienste zu leisten, deren sie fähig war, obgleich dies alles unwillkürlich immer nur mit geringer Dankbarkeit hingenommen wurde.
Das Herrenhaus von Lysyja-Gory war neu aufgebaut worden, aber nicht in dem großen Stil, wie es beim verstorbenen Fürsten gewesen war.
Die Gebäude, noch in der Zeit der Not begonnen, waren mehr als einfach. Das gewaltige Herrenhaus, das auf dem alten Steinfundament ruhte, war von Holz und nur von innen mit Kalk beworfen. Das große, geräumige Gebäude mit den rohen Holzdielen war mit den einfachsten Möbeln ausgestattet. Die Sofas und Sessel waren hart, die Tische und Stühle aus eignen Birken von einheimischen Tischlern gearbeitet. Platz gab es genug im Haus, auch Zimmer für die Dienerschaft und ganze Flügel für Gäste, denn Verwandte der Rostows und Bolkonskijs kamen öfters nach Lysyja-Gory zu Besuch mit ihren ganzen Familien, sechzehn Pferden und Dutzenden von Dienern und blieben oft monatelang da. Außerdem fanden sich viermal im Jahr, zu den Geburts- und Namenstagen des Hausherrn und der Hausfrau, gegen hundert Gäste ein, die auch mehr als einen Tag dablieben. Während der übrigen Zeit des Jahres ging das Leben seinen ungestörten, regelmäßigen Gang: man ging seinen gewohnten Beschäftigungen nach, trank seinen Tee, frühstückte und aß zu Mittag und zu Abend aus den häuslichen Vorräten.
Es war im Winter, am Vorabend des Nikolaustages, am 5. Dezember 1820. In diesem Jahr war Natascha mit Mann und Kindern seit Beginn des Herbstes bei ihrem Bruder zu Besuch. Pierre war in Petersburg, wohin er in besonderen Angelegenheiten auf drei Wochen, wie er gesagt hatte, gefahren war, war aber nun schon die siebente Woche fort und wurde jeden Augenblick zurückerwartet.
Außer der Familie Besuchow war am 5. Dezember bei den Rostows noch ein alter Freund Nikolajs zu Besuch, der General außer Dienst Wassilij Fjodorowitsch Denissow.
Am 6. zur Feier seines Namenstages, wenn die Gäste kamen, mußte Nikolaj – das wußte er – seinen bequemen Hausrock ablegen, den langen Frack und die engen Stiefel mit den schmalen Spitzen anziehen, in die neue, von ihm selbst erbaute Kirche fahren, dann die Glückwünsche entgegennehmen, den Gästen ein Frühstück vorsetzen und sich über die Adelswahlen und die Ernte unterhalten. Den Vorabend jedoch wollte er noch wie immer verleben, dazu glaubte er das Recht zu haben.
Bis zum Mittagessen sah Nikolaj die Abrechnungen des Amtmanns vom Rjasanschen Dorf über das Gut des Neffen seiner Frau durch, schrieb zwei geschäftliche Briefe und ging dann nach dem Dreschboden und dem Vieh- und Pferdehof. Er traf Maßnahmen gegen die allgemeine Betrunkenheit, auf die er anläßlich des hohen Feiertags für morgen gefaßt war, kam dann zum Mittagessen und setzte sich, ohne vorher noch ein paar Worte mit seiner Frau unter vier Augen gewechselt zu haben, an die lange Tafel mit den zwanzig Gedecken, an der schon alle Hausgenossen versammelt waren. Am Tisch saßen seine Mutter, die mit ihr zusammen lebende alte Bjelowa, seine Frau, seine drei Kinder mit ihrer Gouvernante und ihrem Erzieher, der Neffe mit seinem Hauslehrer, Sonja, Denissow, Natascha mit ihren drei Kindern und deren Gouvernante und der alte Michail Iwanytsch, der Baumeister des alten Fürsten, der sich in Lysyja-Gory zur Ruhe gesetzt hatte.
Gräfin Marja saß am entgegengesetzten Ende des Tisches. Sowie sich ihr Mann nur an seinen Platz gesetzt hatte, ersah sie genau aus der Handbewegung, wie er zur Serviette griff und die vor ihm stehenden Gläser auseinanderschob, daß er nicht bei Laune war, was bei ihm manchmal der Fall war, besonders vor der Suppe und wenn er unmittelbar aus der Wirtschaft zum Essen kam. Sie kannte diese Stimmung an ihm sehr gut und wartete, wenn sie selber nicht verstimmt war, ganz ruhig, bis er seine Suppe gegessen hatte, fing erst dann an, mit ihm zu reden, und veranlaßte ihn schließlich zu dem Geständnis, daß für seine schlechte Laune eigentlich gar kein Grund vorhanden sei. Heute aber vergaß sie ihre sonstige Vorsicht vollkommen: es tat ihr weh, daß er ohne Grund auf sie böse war. Sie fühlte sich unglücklich. Sie fragte, wo er gewesen sei. Er gab eine Antwort. Sie fragte weiter, ob er alles in der Wirtschaft in Ordnung gefunden habe. Er runzelte über ihren gezwungenen Ton unfreundlich die Stirn und gab hastig irgendeine Antwort.
Also habe ich mich nicht getäuscht, dachte Gräfin Marja. Aber warum ist er nur auf mich böse? Aus dem Ton, mit dem er ihr geantwortet hatte, hörte sie Feindschaft gegen sich heraus und den Wunsch, dem Gespräch ein Ende zu machen. Sie fühlte, daß ihre Worte nicht echt waren, konnte sich aber nicht enthalten, noch mehr Fragen zu stellen.
Die Unterhaltung bei Tisch wurde, dank Denissows Eifer, bald allgemein und lebhaft, und Gräfin Marja sprach nicht mehr mit ihrem Mann. Als alle vom Tisch aufstanden und zur alten Gräfin hingingen, um ihr zu danken, reichte Gräfin Marja ihrem Gatten die Hand, küßte ihn und fragte, warum er ihr böse sei.
»Du hast immer so sonderbare Einfalle. Ich denke gar nicht daran, auf dich böse zu sein«, erwiderte er.
Doch Gräfin Marja hörte aus dem Worte »immer« die Antwort heraus: Ja, ich bin böse auf dich, will es dir nur nicht sagen.
Nikolaj lebte mit seiner Frau in so gutem Einvernehmen, daß selbst Sonja und die alte Gräfin, die aus Eifersucht gern einmal eine Verstimmung zwischen ihnen beobachtet hätten, keinen Grund zu einem Vorwurf finden konnten. Und doch gab es auch zwischen ihnen Augenblicke der Feindseligkeit. Manchmal, und gerade nach den glücklichsten Zeitabschnitten, kam plötzlich ein Gefühl der Entfremdung und Feindschaft über sie. Dieses Gefühl hatte sich am häufigsten während der Schwangerschaften der Gräfin Marja gezeigt. Auch jetzt befand sie sich wieder in diesem Zustand.
»Nun, messieurs et mesdames«, sagte Nikolaj laut und anscheinend heiter – Gräfin Marja glaubte, er stelle sich absichtlich so, um sie zu kränken –, »ich bin seit sechs Uhr auf den Beinen. Morgen muß ich manches über mich ergehen lassen, aber heute darf ich mir noch ein Mittagsschläfchen gönnen.«
Und ohne noch ein Wort zu Gräfin Marja zu sagen, zog er sich in das kleine Sofazimmer zurück und legte sich dort auf den Diwan.
So ist er nun immer, dachte Gräfin Marja. Mit allen spricht er, nur mit mir nicht. Ich sehe, sehe ein, daß ich ihm zuwider bin. Besonders in diesem Zustand.
Sie blickte auf ihren gewölbten Leib und betrachtete im Spiegel ihr gelbblasses, mageres Gesicht mit den Augen, die größer erschienen denn je.
Und auf einmal wurde ihr alles zuwider: das Schreien und Lachen Denissows, Nataschas Unterhaltung und besonders jener Blick, mit dem Sonja sie flüchtig streifte.
Immer war Sonja der erste Vorwand, den Gräfin Marja für ihre gereizte Stimmung herausfand.
Nachdem sie noch eine Weile mit den Gästen zusammengesessen hatte, ohne etwas von dem, worüber sie sprachen, zu verstehen, ging sie leise hinaus und begab sich ins Kinderzimmer.
Die Kinder kutschierten auf Stühlen nach Moskau und luden sie ein, mitzufahren. Sie setzte sich hin und spielte mit ihnen, aber der Gedanke an ihren Mann und seinen grundlosen Ärger ließ ihr keine Ruhe. Sie stand auf, ging hinaus und schlich mühselig auf den Zehenspitzen nach dem kleinen Sofazimmer.
Vielleicht schläft er nicht, und ich kann mich mit ihm aussprechen, sagte sie sich.
Andrjuscha, ihr ältestes Söhnchen, machte es ihr nach und ging auf den Fußspitzen hinter ihr her. Gräfin Marja bemerkte ihn nicht.
»Chère Marie, il dort, je crois; il est si fatigué«, sagte im großen Sofazimmer Sonja zu ihr, die, wie es Gräfin Marja schien, ihr überall begegnen mußte. »Daß Andrjuscha ihn nicht aufweckt.«
Gräfin Marja sah sich um, erblickte ihren Andrjuscha hinter sich und fühlte, daß Sonja recht hatte, aber gerade das ließ ihr die Röte ins Gesicht schießen, und sie hielt sichtlich nur mit Mühe ein hartes Wort zurück. Sie erwiderte nichts, machte, nur um ihr nicht den Willen zu tun, ein Zeichen mit der Hand, daß Andrjuscha keinen Lärm machen, aber ihr doch folgen dürfe, und ging auf die Tür zu. Sonja ging durch die andere Tür hinaus.
Aus dem Zimmer, in dem Nikolaj schlief, hörte man seine gleichmäßigen Atemzüge, die seiner Frau bis zu den kleinsten Eigenheiten bekannt waren. Als sie diese Atemzüge hörte, sah sie seine glatte, schöne Stirn vor sich, seinen Bart und das ganze Gesicht, das sie so oft in der Stille der Nacht, während er schlief, lang betrachtet hatte.
Plötzlich rührte sich Nikolaj und räusperte sich. Im selben Augenblick rief Andrjuscha vor der Tür: »Papachen, Mammi steht hier!«
Gräfin Marja wurde ganz blaß vor Schreck und machte dem Jungen ein Zeichen. Er schwieg, und für einen Augenblick trat ein Schweigen ein, das Gräfin Marja entsetzlich war. Sie wußte, wie wenig Nikolaj es schätzte, wenn er aufgeweckt wurde. Plötzlich hörte sie hinter der Tür ein neues Räuspern, Bewegung und Nikolajs unfreundliche Stimme: »Nicht einen Augenblick gönnt man mir Ruhe. Marie, bist du es? Warum hast du ihn hergebracht?«
»Ich wollte nur nachsehen … ich habe ihn gar nicht bemerkt … entschuldige …«
Nikolaj hustete und schwieg. Gräfin Marja ging von der Tür weg und brachte den Jungen ins Kinderzimmer. Fünf Minuten später kam Vaters Liebling, die kleine dreijährige Natascha mit den schwarzen Augen, die vom Bruder erfahren hatte, daß Pappi schlafe und Mammi im Sofazimmer sei, ohne daß die Mutter sie bemerkt hatte, zum Vater hereingelaufen. Das schwarzäugige kleine Ding knarrte unverfroren mit der Tür, trippelte mit ihren dicken Beinchen mit energischen Schritten auf den Diwan zu, sah sich an, wie der Vater dalag, der ihr den Rücken zuwendend schlief, hob sich auf die Zehenspitzen und küßte des Vaters Hand, die unter seinem Kopf lag. Nikolaj drehte sich mit einem zärtlichen Lächeln um.
»Natascha, Natascha«, hörte man hinter der Tür Gräfin Marja erschrocken und flüsternd rufen. »Pappi will doch schlafen.«
»Nein, Mammi, er will gar nicht schlafen«, antwortete die kleine Natascha mit dem Brustton der Überzeugung. »Er lacht ja.«
Nikolaj nahm die Beine herunter, richtete sich auf und nahm sein Töchterchen auf den Arm.
»Komm doch herein, Mascha«, sagte er zu seiner Frau.
Gräfin Marja trat ins Zimmer und setzte sich neben ihren Mann.
»Ich hatte gar nicht gesehen, daß er mir nachgelaufen kam«, sagte sie schüchtern. »Ich kam nur so her.«
Nikolaj, der mit dem einen Arm sein Töchterchen hielt, sah seine Frau an, und als er den schuldbewußten Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkte, umschlang er sie mit dem anderen Arm und küßte sie aufs Haar.
»Darf ich der Mammi einen Kuß geben?« fragte er Natascha.
Natascha lächelte schämig.
»Nochmal!« sagte sie mit befehlender Gebärde und zeigte mit ihrem Fingerchen auf die Stelle, wohin Nikolaj seine Frau geküßt hatte.
»Ich weiß gar nicht, warum du denkst, daß ich verstimmt sein soll«, sagte Nikolaj, auf die Frage antwortend, die – das wußte er – seine Frau auf dem Herzen hatte.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglücklich, wie einsam ich dann immer bin, wenn du so bist. Dann denke ich immer …«
»Aber hör doch auf, Marie, das ist doch dummes Zeug! Schämst du dich denn nicht?« sagte er heiter.
»Ich denke manchmal, du könntest mich gar nicht lieben, weil ich so häßlich bin … schon immer … und nun gar jetzt … in diesem Zu …«
»Ach, wie komisch du bist! Man liebt doch jemanden nicht, weil er schön ist; sondern weil man ihn liebt, ist er für einen eben schön. Und Malwinen[240] und andere von dieser Sorte liebt man, weil sie schön sind. Aber meine Frau, liebe ich die denn überhaupt? Das ist nicht Liebe, sondern etwas, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Ohne dich, oder wenn manchmal etwas zwischen uns liegt, bin ich immer wie verloren und vermag nichts. Siehst du, liebe ich etwa meinen Finger? Ich liebe ihn nicht, aber probiere einmal, ihn abzuschneiden.«
»Nein, bei mir ist das nicht so, aber ich verstehe dich. Du bist mir also nicht böse?«
»Fürchterlich böse bin ich auf dich«, sagte er lachend, stand auf, strich sich das Haar glatt und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Weißt du, Marie, woran ich eben gedacht habe?« sagte er und fing jetzt, wo der Friede geschlossen war, sogleich wieder an, in Gegenwart seiner Frau laut zu denken.
Er fragte nicht danach, ob sie bereit war, ihn anzuhören, das war ihm ganz gleich. Ein Gedanke war ihm gekommen, folglich mußte auch sie daran teilhaben. Und er erzählte ihr von seiner Absicht, Pierre zu überreden, bis zum Frühling bei ihnen zu bleiben.
Gräfin Marja hörte ihm zu, warf ein paar Bemerkungen ein und fing nun ebenfalls an, laut zu denken. Ihre Gedanken waren bei den Kindern.
»Wie sich schon die Frau bei ihr zeigt«, sagte sie auf französisch und wies auf die kleine Natascha. »Ihr werft uns Frauen immer vor, daß wir nicht logisch denken. Da hast du sie gleich, unsere Logik. Ich sage: Pappi möchte schlafen, und sie gibt mir zur Antwort: Nein, er lacht. Und doch hat sie recht«, sagte Gräfin Marja und lächelte glücklich.
»Ja, ja.«
Nikolaj nahm das Töchterchen auf seinen starken Arm, hob sie hoch empor, setzte sie auf seine Schulter, hielt sie an den Beinchen fest und ging so mit ihr im Zimmer auf und ab. Vater und Kind zeigten denselben unbewußt glücklichen Gesichtsausdruck.
»Aber weißt du, du bist ungerecht. Du liebst diese zu sehr«, sagte Gräfin Marja flüsternd auf französisch.
»Ja, aber was kann man da machen?… Ich gebe mir Mühe, es nicht zu zeigen …«
In diesem Augenblick hörte man im Hausflur und im Vorzimmer ein Geräusch, als wenn schwere Gegenstände hereingebracht würden, und den Klang von Schritten, wie man sie bei einer Ankunft zu vernehmen pflegt.
»Es kommt jemand.«
»Das ist sicher Pierre. Ich werde mal nachsehen«, sagte Gräfin Marja und ging aus dem Zimmer.
Als sie hinausgegangen war, erlaubte sich Nikolaj, mit seinem Töchterchen im Galopp im Zimmer herumzutollen. Dann schwenkte er ganz außer Atem die lachende Kleine von seinen Schultern und drückte sie an seine Brust. Sein Herumspringen erinnerte ihn an das Tanzen, und er blickte in das kleine, runde, glückselige Kindergesichtchen und dachte daran, wie es wohl einmal aussehen würde, wenn er als alter Mann sie auf Bälle ausführen und – wie sein seliger Vater einst mit seiner Tochter den Danilo Kuper getanzt hatte – mit ihr eine Masurka tanzen werde.
»Er ist es, Nicolas, er ist es!« rief Gräfin Marja ein paar Augenblicke später und kam ins Zimmer zurück. »Nun wird unsere Natascha wieder aufleben. Du hättest nur ihr Entzücken sehen sollen, und wie sie gleich ein Hühnchen mit ihm rupfte, weil er so lange weggeblieben war. Aber komm nur schnell, komm! So laßt euch doch nun endlich einmal los«, sagte sie und blickte lächelnd auf die Kleine, die sich an den Vater schmiegte.
Nikolaj ging mit seinem Töchterchen an der Hand hinaus. Gräfin Marja blieb im Sofazimmer zurück.
Niemals, niemals hätte ich geglaubt, flüsterte sie vor sich hin, daß ich so glücklich werden könnte. Auf ihrem Gesicht lag ein strahlendes Lächeln, aber gleichzeitig seufzte sie auch, und eine stille Traurigkeit sprach aus ihrem tiefen Blick. Es war, als schwebe ihr außer diesem Glück, das sie jetzt empfand, noch eine andere, in diesem Leben unerreichbare Seligkeit vor, an die sie in diesem Augenblick denken mußte.
Natascha hatte im zeitigen Frühling des Jahres 1813 geheiratet und besaß im Jahre 1820 schon drei Töchter und einen Sohn, den sie sich brennend gewünscht hatte und jetzt selber nährte. Sie war voller und breiter geworden, so daß man in dieser kraftstrotzenden Mutter nur schwer die früher so schlanke, biegsame Natascha wiedererkennen konnte. Ihre Gesichtszüge waren bestimmter geworden und zeigten nun den Ausdruck ruhiger Milde und Klarheit. In ihren Zügen lag nicht mehr wie früher das ständig flackernde Feuer der Lebhaftigkeit, das ihr einen eignen Reiz verliehen hatte. Jetzt sah man an ihr meist nur das Gesicht und die Gestalt, aber von ihrer Seele war nichts mehr zu sehen. Man sah nur das starke, schöne und fruchtbare Weib. Das frühere Feuer flammte nur noch selten in ihr auf. Dies geschah nur dann, wenn, wie zum Beispiel jetzt, ihr Mann zurückkehrte oder wenn eins der Kinder wieder der Genesung entgegenging oder wenn sie sich mit Gräfin Marja an den Fürsten Andrej erinnerte – mit ihrem Mann sprach sie nie von ihm, da sie bei ihm Eifersucht auf das Andenken des Fürsten Andrej vermutete – und dann noch in jenen seltenen Fällen, wenn irgend etwas sie zufällig zum Singen verleitete, was sie seit ihrer Verheiratung nicht mehr oft getan hatte. Und in jenen seltenen Augenblicken, wenn das frühere Feuer wieder in ihrem nun erblühten, schönen Körper aufloderte, war sie noch anziehender als einst.
Seit ihrer Verheiratung lebte Natascha mit ihrem Mann bald in Moskau, bald in Petersburg, bald auf den Gütern bei Moskau, bald bei der Mutter, das heißt bei Nikolaj. In Gesellschaft sah man die junge Gräfin Besuchowa selten, und die sie einmal gesehen hatten, waren durchaus nicht von ihr begeistert. Sie war weder nett noch liebenswürdig. Nicht daß Natascha die Einsamkeit geliebt hätte, sie wußte nicht einmal, ob sie sie liebte oder nicht, und ihr schien sogar, daß dies nicht der Fall sei; aber sie konnte den Anforderungen, die das Tragen, Gebären und Nähren der Kinder und die stete Anteilnahme am Leben ihres Mannes an sie stellten, nicht anders gerecht werden, als indem sie der Welt entsagte. Alle, die Natascha vor ihrer Verheiratung gekannt hatten, wunderten sich über die mit ihr vorgegangene Veränderung wie über etwas Ungewöhnliches. Die alte Gräfin hingegen, die in ihrem Mutterinstinkt immer begriffen hatte, daß nur das Verlangen, einen Mann und eine Familie zu besitzen, der Grund zu Nataschas triebhaftem Ungestüm gewesen war, wie sie es einmal selbst weniger im Scherz als im vollen Ernst in Otradnoje ausgerufen hatte – die Mutter staunte wiederum über die Verwunderung der Leute, die Natascha nicht verstanden, und sagte immer wieder, sie habe stets gewußt, daß Natascha das Muster einer Frau und Mutter werden würde.
»Nur geht sie in ihrer Liebe zu ihrem Mann und ihren Kindern zu weit«, sagte die Gräfin, »so weit, daß es beinahe an Unvernunft grenzt.«
Natascha befolgte nicht jene goldene Regel, die von klugen Leuten, besonders von Franzosen, gepredigt wird: daß ein Mädchen, wenn es verheiratet ist, sich nicht gehen lassen und ihre Talente nicht vernachlässigen dürfe, daß sie sich noch mehr als früher mit ihrem Äußeren beschäftigen und ihren Mann ebenso anlocken solle wie zu der Zeit, als er noch nicht ihr Gatte war.
Im Gegenteil, Natascha hatte mit einem Schlag alle ihre Lockmittel von sich geworfen, in erster Linie das stärkste von allen: ihren Gesang. Und gerade deshalb gab sie ihn auf, weil er ein solches Lockmittel war. Sie kümmerte sich nicht um ihre Manieren, nicht um ihre Ausdrucksweise, strebte nicht danach, sich ihrem Mann in den vorteilhaftesten Stellungen zu zeigen, dachte nicht an ihre Toilette oder auch nur daran, ihrem Gatten nicht durch ihre Ansprüche lästig zu fallen. Sie tat gerade das Gegenteil dieser Regel. Sie fühlte, daß diese Künste, die sie der Instinkt früher anzuwenden gelehrt hatte, jetzt in den Augen ihres Mannes nur lächerlich wären, dem sie sich vom ersten Augenblick an ganz hingegeben hatte, das heißt mit ganzer Seele, so daß ihm auch nicht ein Winkelchen ihres Herzens verborgen war. Sie wußte, daß das Band, das sie mit ihrem Mann verknüpfte, nicht aus jenen poetischen Gefühlen bestand, die ihn zu ihr hingezogen hatten, sondern aus etwas anderem, das man nicht mit Worten erklären konnte, das aber doch so fest war wie das, was ihre eigne Seele an ihren Körper band.
Sich Locken zu brennen, elegante Kleider anzuziehen und Romanzen zu singen, um ihren Mann an sich zu fesseln, wäre ihr ebenso sonderbar vorgekommen, wie wenn sie sich geschmückt hätte, um von sich selber befriedigt zu sein. Sich selber zu schmücken, um anderen zu gefallen, hätte ihr vielleicht noch Spaß gemacht – sie wußte es nicht –, doch dazu hatte sie jetzt gar keine Zeit. Der Hauptgrund, warum sie sich nun weder mit Gesang noch mit ihrer Toilette noch mit wohlüberlegter Redeweise abgab, bestand eben darin, daß sie jetzt nicht mehr Zeit hatte, sich mit alledem zu beschäftigen.
Bekanntlich besitzt der Mensch die Fähigkeit, sich ganz in einen Gegenstand zu versenken, wie nichtig dieser auch scheinen mag. Und wie man weiß, gibt es keinen noch so nichtigen Gegenstand, der, wenn man alle Aufmerksamkeit auf ihn lenkt, nicht bis zur Unendlichkeit anwüchse.
Das, worin sich Natascha ganz versenkte, war die Familie, das heißt ihr Mann, den sie so festhalten wollte, daß er ihr und dem Haus ungeteilt angehörte, und dann ihre Kinder, die sie tragen, gebären, nähren und erziehen mußte.
Und je mehr sie, nicht mit dem Verstand, aber mit ihrer ganzen Seele und ihrem ganzen Sein, in dieses eine, das sie beschäftigte, eindrang, um so mehr wuchs dieses eine unter ihrer Aufmerksamkeit, und um so schwächer und nichtiger erschienen ihr die Kräfte, so daß sie sie alle nur zu dem einen Zweck anspannte und doch nicht alles scharfen konnte, was sie für notwendig hielt.
Streit und Erörterungen über Frauenrechte, über das Verhältnis der Ehegatten, über ihre Freiheit und Pflichten gab es damals ebenso wie heute, nur daß man sie zu der Zeit noch nicht »Fragen« nannte, aber alles dies fesselte Natascha nicht nur ganz und gar nicht, sondern sie hatte dafür entschieden überhaupt kein Verständnis.
Diese Fragen waren schon damals, wie auch jetzt noch, nur für jene Leute da, die in der Ehe nur den Genuß sehen, den die Gatten einander bereiten, das heißt nur die Grundlage der Ehe, nicht aber ihre ganze Bedeutung, die in der Familie besteht.
All diese Erörterungen und Fragen, die ebenso sind, als wollte man untersuchen, auf welche Weise man vom Mittagessen den größten Genuß erziele, hat es für alle die Menschen, die als Zweck des Mittagessens die Ernährung und als Zweck der Ehe die Familie betrachten, nie gegeben und gibt es in Wirklichkeit auch nicht.
Wenn der Zweck des Mittagessens die Ernährung des Körpers ist, so wird einer, der an einem Tag zweimal zu Mittag ißt, vielleicht den größeren Genuß haben, aber den eigentlichen Zweck wird er damit nicht erreichen, denn zwei Mahlzeiten auf einmal kann der Magen nicht verdauen.
Wenn der Zweck der Ehe die Familie ist, so wird einer, der viele Frauen, oder eine, die viele Männer besitzen möchte, vielleicht den größeren Genuß haben, aber beide werden es keinesfalls zu einer Familie bringen.
Ist also der Zweck des Mittagessens die Ernährung und der Zweck der Ehe die Familie, so findet die ganze Frage nur darin ihre Lösung, daß man nicht mehr essen darf, als der Magen verdauen kann, und nicht mehr Männer oder Frauen haben soll, als für die Familie nötig sind: also eine Frau oder einen Mann. Natascha mußte einen Mann haben. Dieser ward ihr zuteil. Er schenkte ihr eine Familie. Nach einem anderen, besseren Mann hatte sie nicht nur kein Verlangen, sondern konnte sich, da alle ihre Seelenkräfte nur darauf gerichtet waren, diesem Mann und ihrer Familie zu dienen, nicht einmal vorstellen, und hatte auch keinerlei Interesse daran, wie es anders sein könnte.
Natascha liebte Gesellschaften im allgemeinen nicht allzu sehr, um so mehr aber schätzte sie das Zusammensein mit ihren Angehörigen: mit der Gräfin Marja, ihrem Bruder, ihrer Mutter und Sonja. Sie liebte die Gesellschaft all derer, zu denen sie mit unfrisiertem Haar und im Schlafrock mit glücklichem Gesicht aus dem Kinderzimmer hinüberlaufen konnte, um ihnen eine Windel zu zeigen, die jetzt einen gelben Fleck statt eines grünen hatte, und von ihnen die tröstende Bestätigung zu hören, daß es dem Kindchen nun weit besser gehe.
Natascha ließ sich soweit gehen, daß ihr Anzug, ihre Frisur, ihre unüberlegt hingeworfenen Worte, ihre Eifersucht – sie war auf Sonja, auf die Gouvernante, kurz auf jedes hübsche oder häßliche weibliche Wesen eifersüchtig – für die, die ihr nahestanden, zum gewohnten Gegenstand der Neckerei geworden waren. Die allgemeine Ansicht ging dahin, daß Pierre unter dem Pantoffel seiner Frau stand, und es war auch wirklich so. Schon in den ersten Tagen ihrer Ehe hatte Natascha ihre Forderungen festgelegt. Pierre wunderte sich zwar über diese ihm völlig neuen Ansichten seiner Frau, daß jede Minute seines Lebens ihr und der Familie gehören solle, wunderte sich über ihre Ansprüche, fühlte sich aber dadurch geschmeichelt und fügte sich.
Pierres Untergebenheit bestand darin, daß er sich nicht nur nicht erlaubte, einer anderen Frau den Hof zu machen, sondern nicht einmal wagte, sich lächelnd mit einer anderen zu unterhalten, nicht wagte, ohne besondere Ursache, nur um die Zeit totzuschlagen, im Klub zu Mittag zu essen, nicht wagte, Geld für Spielereien auszugeben, nicht wagte, lang auf Reisen zu gehen, außer in Geschäften, zu denen seine Frau auch die Beschäftigung mit den Wissenschaften rechnete, von denen sie zwar nichts verstand, denen sie aber doch Wert zuschrieb. Zur Entschädigung hatte Pierre dafür das Recht, bei sich zu Hause nicht nur über sich selbst, sondern auch über die ganze Familie zu bestimmen, wie er wollte. Natascha hatte sich im Haus auf die Stufe einer Sklavin ihres Gatten gestellt, und das ganze Haus schlich auf den Fußspitzen, wenn Pierre in seinem Zimmer arbeitete, las oder schrieb. Er brauchte nur eine Vorliebe für etwas merken zu lassen, und sogleich wurde das, was er gern wollte, für immer so gehalten, brauchte nur einen Wunsch zu äußern, und Natascha sprang auf, um ihn zu erfüllen.
Das ganze Haus wurde von den vermeintlichen Befehlen des Hausherrn geleitet, in Wirklichkeit aber waren es nur Pierres Wünsche, die Natascha zu erraten suchte. Die Lebensweise, der Wohnort, die Bekannten, die Verbindungen, Nataschas Beschäftigung, die Erziehung der Kinder, dies alles vollzog sich nicht nur nach Pierres ausgesprochenem Willen, sondern Natascha bemühte sich auch noch, zu erraten, welche weiteren Folgerungen aus den Gedanken, die er ab und zu in der Unterhaltung äußerte, abzuleiten waren. Und sie erriet immer unfehlbar, worin der Kern seiner Wünsche bestand, und wenn sie es einmal erraten hatte, hielt sie auch getreulich an dem einmal Erwählten fest. Wollte Pierre dann selber einmal seinem Streben untreu werden, so bekämpfte sie ihn mit seinen eignen Waffen.
So hatte Pierre in jener schweren, ihm für immer unvergeßlichen Zeit nach der Geburt ihres ersten, schwächlichen Kindes, als sie dreimal hintereinander die Amme hatten wechseln müssen und Natascha vor Verzweiflung krank geworden war, seiner Frau eines Tages von den Ansichten Rousseaus[241] über das Unnatürliche und Schädliche der Ammen erzählt, denen er völlig zustimmte. Beim nächsten Kind bestand nun Natascha auf ihrem Willen und nährte seit der Zeit alle ihre Kinder selbst, obgleich ihre Mutter, die Ärzte und sogar ihr Mann selber Einspruch erhoben und sich gegen dieses Stillen wie gegen ein unerhörtes, schädliches Unterfangen auflehnten.
Ziemlich oft kam es vor, daß sich Mann und Frau in Augenblicken der Erregung stritten, aber noch lange nach einem solchen Streit fand dann Pierre zu seiner Freude und Verwunderung nicht nur in den Worten, sondern auch in den Handlungen seiner Frau jenen selben Gedanken wieder, gegen den sie anfänglich gewesen war. Und nicht nur, daß er ihn wiederfand, er fand ihn auch gereinigt von all dem Zuviel, mit dem er selber, veranlaßt durch Aufregung und Streit, diesen Gedanken zum Ausdruck gebracht hatte.
Nach siebenjähriger Ehe empfand Pierre das frohe, sichere Bewußtsein, daß er kein schlechter Mensch war, empfand es deshalb, weil er in seiner Frau sein eignes Spiegelbild sah. In sich selber fühlte er Gutes und Böses vermischt, das eine vom andern in den Schatten gestellt. In seiner Frau spiegelte sich aber nur das wider, was wahrhaft gut war, alles nicht völlig Gute schied aus. Und diese Widerspiegelung vollzog sich nicht auf dem Weg logischen Denkens, sondern durch eine geheimnisvolle, unmittelbare Reflexbewegung.
Pierre hatte vor zwei Monaten, als er schon bei den Rostows zu Gast war, einen Brief vom Fürsten Fjodor erhalten, der ihn nach Petersburg zur Beratung wichtiger Fragen rief, die die Mitglieder einer Gesellschaft, zu deren Hauptgründern Pierre gehörte, damals in Petersburg beschäftigten.
Nachdem Natascha diesen Brief gelesen hatte, wie sie alle Briefe ihres Mannes zu lesen pflegte, schlug sie ihm selber vor, nach Petersburg zu fahren, wenn es ihr auch schwer wurde, ihn so lang zu missen. Aller geistigen, abstrakten Tätigkeit ihres Mannes maß sie, ohne Verständnis dafür zu haben, ungeheure Wichtigkeit bei und fürchtete beständig, ihm bei dieser Tätigkeit ein Hindernis zu sein. Auf Pierres schüchternen, fragenden Blick nach Durchlesen des Briefes antwortete sie mit der Bitte, doch ja zu reisen, ihr aber nur die Zeit seiner Rückkehr genau zu bestimmen. Und so wurde sein Urlaub denn auf vier Wochen festgesetzt.
Als nun aber die Frist seines Urlaubs verstrichen war – es waren bereits vierzehn Tage darüber vergangen –, befand sich Natascha dauernd in einem Zustand der Angst, Traurigkeit und Aufregung.
Denissow, der, mit der gegenwärtigen Regierung unzufrieden, als General in den Ruhestand getreten war, hatte sich in diesen letzten Tagen bei den Rostows als Gast eingestellt und beobachtete Natascha erstaunt und bekümmert, wie man das unähnliche Bild eines einst geliebten Menschen betrachtet. Ein niedergeschlagener, gelangweilter Blick, ungereimte Antworten und Kinderstubengespräche – das war alles, was er von seiner früheren Fee sah und hörte.
Natascha war die ganze Zeit über traurig und gereizt, besonders dann, wenn Mutter, Sonja oder Gräfin Marja ihr zum Trost Pierre zu entschuldigen suchten und sich allerlei Gründe für sein Zögern ausdachten.
»Das ist alles Unsinn, alles dummes Zeug«, sagte Natascha, »all diese hohen Gedanken, die zu nichts führen, und alle diese dummen Gesellschaften«, urteilte sie jetzt über dieselben Dinge, von deren großer Wichtigkeit sie früher so fest überzeugt gewesen war.
Und sie ging ins Kinderzimmer, um ihren einzigen Sohn, den kleinen Petja, zu stillen. Niemand konnte ihr so viel Beruhigendes und Vernünftiges sagen wie dieses kleine, drei Monate alte Geschöpf, wenn es an ihrer Brust lag und sie die Bewegungen seines Mundes und das Schnaufen seines Näschens fühlte. Dieses kleine Wesen sagte zu ihr: Du ärgerst dich, bist eifersüchtig und möchtest dich am liebsten rächen, du hast Angst, aber ich bin doch hier und bin er. Ich bin doch hier und bin er … Und darauf war nichts zu entgegnen. Es war mehr als die Wahrheit.
Natascha flüchtete in diesen vierzehn Tagen der Unruhe so oft zu ihrem Kindchen, um Trost zu finden, gab sich so viel mit ihm ab, daß sie es übernährte. Es wurde krank. Sie erschrak sehr über diese Krankheit, und doch war sie gerade das, was ihr fehlte. Denn während sie nun das Kindchen pflegte, ertrug sie die Unruhe um ihren Mann leichter.
Sie stillte gerade, als Pierres Schlitten geräuschvoll an der Einfahrt vorfuhr und die Wärterin, die wußte, was allein ihrer Herrin jetzt Freude machen konnte, schnell und leise mit strahlendem Gesicht in die Tür trat.
»Ist er gekommen?« fragte Natascha hastig flüsternd und voll Angst, sich zu bewegen, um den Kleinen, der eingeschlafen war, nicht aufzuwecken.
»Ja, Mütterchen«, gab die Wärterin flüsternd zurück.
Das Blut schoß Natascha ins Gesicht, und ihre Füße zuckten unwillkürlich, aber sie durfte doch nicht aufspringen und hinunterlaufen. Der Kleine schlug wieder die Augen auf und sah sie an. Bist du da? schien er zu fragen, und dann schmatzte er wieder faul mit den Lippen.
Natascha entzog ihm sanft ihre Brust, wiegte ihn hin und her, übergab ihn der Wärterin und eilte dann mit schnellen Schritten zur Tür. Doch hier blieb sie noch einmal stehen, als fühlte sie Gewissensbisse, daß sie in ihrer Freude den Kleinen so schnell im Stich gelassen habe, und sah sich noch einmal um. Die Wärterin hob gerade mit hocherhobenen Ellbogen den Kleinen über das Gitter des Bettes.
»Gehen Sie, gehen Sie nur, Mütterchen, Sie können ganz ruhig sein«, flüsterte sie lächelnd und mit all der Vertraulichkeit, die sich zwischen ihr und ihrer Herrin herausgebildet hatte.
Natascha lief mit leichten Schritten ins Vorzimmer.
Denissow, der mit der Pfeife im Mund aus dem Arbeitszimmer in den Saal trat, erkannte jetzt zum erstenmal die alte Natascha wieder. Ein leuchtendes, frohes Licht strömte in hellen Strahlen von ihrem veränderten Gesicht aus.
»Er ist gekommen!« rief sie ihm im Vorübereilen zu, und Denissow fühlte, wie er selber darüber entzückt war, daß Pierre, aus dem er sich sehr wenig machte, nun angekommen war.
Im Vorzimmer angelangt, erblickte Natascha die hohe Gestalt im Pelz, die gerade den Gürtel löste. Er, er! Wirklich! Er ist es! sagte sie bei sich, flog auf ihn zu, umarmte ihn, preßte ihn an sich, den Kopf an ihre Brust, schob ihn dann wieder von sich ab und betrachtete Pierres wetterhartes, rotes und glückliches Gesicht. Ja, er ist da, ist glücklich und zufrieden …
Und plötzlich fielen ihr all die Qualen des Wartens ein, die sie in den letzten vierzehn Tagen erduldet hatte. Ihr vor Freude strahlendes Gesicht umwölkte sich, sie runzelte die Stirn, und eine Flut von Vorwürfen und bösen Worten ergoß sich über Pierre.
»Ja, dir geht es gut, du bist froh und heiter … Ich aber? An die Kinder hättest du doch wenigstens denken sollen. Ich stille, und da ist es mir auf die Milch geschlagen … Petja war in Lebensgefahr. Du aber hast dich amüsiert. Du warst heiter und vergnügt …«
Pierre war sich keiner Schuld bewußt, da es ihm unmöglich gewesen war, früher heimzukommen. Er wußte, daß dieser Zornausbruch von ihrer Seite ungerecht war, wußte, daß er in zwei Minuten vorüber sein werde, und wußte vor allem, daß ihm selber heiter und froh zumute war. Er hätte lächeln mögen, wagte aber nicht einmal, daran zu denken. So machte er ein klägliches, ängstliches Gesicht und ließ den Kopf hängen.
»Ich konnte nicht eher zurückkommen, bei Gott. Aber was ist mit Petja?«
»Jetzt ist es nicht mehr schlimm. Komm! Schämst du dich denn gar nicht? Du hättest nur sehen sollen, wie mir ohne dich zumute war, wie ich mich gequält habe …«
»Du bist doch gesund?«
»Komm, komm!« sagte sie noch einmal, ohne seine Hand loszulassen. Und sie gingen in ihre Zimmer.
Als Nikolaj und seine Frau herbeikamen, um Pierre zu begrüßen, war er im Kinderzimmer, hielt den muntergewordenen Säugling auf seiner riesigen, rechten Handfläche und liebkoste ihn. Auf des Kleinen breitem Gesicht mit dem offenen, zahnlosen Mäulchen lag ein heiteres Lächeln. Der Sturm hatte sich schon lang gelegt, und heller, froher Sonnenschein strahlte aus Nataschas Zügen, die gerührt den Gatten und das Kindchen betrachtete.
»Und hast du mit dem Fürsten Fjodor alles gut besprechen können?« fragte Natascha.
»Ja, ausgezeichnet.«
»Siehst du, wie er ihn schon aufrecht hält« – den Kopf meinte Natascha –, »aber den Schreck, den er mir eingejagt hat … Hast du die Fürstin gesehen? Ist es wahr, daß sie sich in den Dingsda verliebt hat?«
»Ja, stelle dir vor …«
Doch in diesem Augenblick traten Nikolaj und Gräfin Marja ein. Pierre beugte sich zu ihnen hinüber, um sie zu küssen, ohne sein Söhnchen aus der Hand zu lassen, und antwortete auf ihre Fragen. Doch obgleich sie sich gegenseitig zweifellos viel Interessantes mitzuteilen hatten, zog doch das Kindchen mit seinem Mützchen und wackelnden Köpfchen Pierres ganze Aufmerksamkeit auf sich.
»Wie goldig er ist!« sagte Gräfin Marja, betrachtete den Kleinen und spielte mit ihm. »Siehst du, Nicolas, das verstehe ich nicht«, wandte sie sich an ihren Mann, »daß du solch ein kleines Wunderwesen nicht reizend findest.«
»Dafür habe ich beim besten Willen kein Verständnis«, erwiderte Nikolaj und sah den Kleinen gleichgültig an. »Ein Fleischklümpchen, weiter nichts. Komm, Pierre!«
»Nun, die Hauptsache ist ja doch, daß er ein so zärtlicher Vater ist«, sagte Gräfin Marja, um ihren Mann wieder ins rechte Licht zu setzen, »aber sie müssen bei ihm wenigstens ein Jahr alt sein oder noch drüber …«
»Nein, Pierre versteht ausgezeichnet mit kleinen Kindern umzugehen«, erwiderte Natascha. »Er sagt selber, seine Hand sei eigens für den Hinterteil eines kleines Kindes geschaffen. Seht euch das nur einmal an.«
»Na, aber doch nicht ausschließlich dafür«, warf Pierre lachend ein, wiegte den Kleinen noch ein paarmal hin und her und gab ihn dann der Wärterin.
Wie in jeder richtigen Familie, lebten auch im Herrenhaus von Lysyja-Gory einige völlig verschiedene Welten zusammen, die, wenn auch jede ihre Eigenart bewahrte, doch dadurch, daß bald die eine, bald die andere nachgab, zu einem harmonischen Ganzen verschmolzen. Jedes Ereignis, das im Hause vorkam, war für alle diese Welten gleich freudig, traurig oder wichtig, aber jede dieser Welten hatte ihre eignen, von den andern unabhängigen Gründe, warum sie über solch ein Ereignis froh oder traurig war.
So stellte Pierres Ankunft ein frohes, wichtiges Ereignis dar, das sich auch als solches in allen widerspiegelte.
Die Dienerschaft – die zuverlässigsten Richter ihrer Herren, da sie diese nicht nach Worten und Gefühlsausbrüchen, sondern nach ihren Taten und ihrer Lebensweise beurteilen – freute sich über Pierres Ankunft, weil sie wußte, daß, wenn er da war, der Graf nicht mehr täglich durch die Wirtschaft gehen und daß er heiterer und gutmütiger sein werde, und dann wohl auch noch, weil dann zu den Feiertagen besonders reiche Geschenke zu erwarten waren.
Die Kinder und ihre Erzieherinnen freuten sich über Besuchows Kommen, weil niemand sie so in das allgemeine Leben mit hineinzog wie Pierre. Er allein konnte auf dem Klavier jene Ekossaise spielen – es war sein einziges Stück –, nach der man, wie er behauptete, alle nur möglichen Tänze tanzen konnte, und sicher hatte er ihnen allen auch noch Geschenke mitgebracht.
Nikolenka, jetzt ein fünfzehnjähriger, magerer, kränklicher, kluger Knabe mit lockigem Blondhaar und schönen Augen, freute sich deshalb, weil Onkel Pierre, wie er ihn nannte, der Gegenstand seiner Schwärmerei und leidenschaftlichen Liebe war. Niemand hatte Nikolenka diese besondere Liebe zu Pierre eingeflößt, auch hatte er ihn nur selten gesehen. Gräfin Marja, die ihn erzogen hatte, hatte alle ihre Kräfte aufgeboten, um Nikolenka dazu zu bringen, ihren Mann ebenso zu lieben, wie sie ihn selber liebte, und Nikolenka liebte den Onkel auch, jedoch mit einem kaum merklichen Anflug von Geringschätzung. Pierre hingegen vergötterte er. Er wollte auch nicht Husar und Ritter des Georgskreuzes werden wie Onkel Nikolaj, sondern gelehrt, klug und gut wie Onkel Pierre. In Pierres Gegenwart bekam sein Gesicht immer einen besonders frohen Glanz, und wenn Pierre ihn anredete, wurde er rot und atemlos. Er verlor kein Wort von dem, was Pierre sagte, und rief sich dann mit Dessalles oder für sich allein alle seine Worte ins Gedächtnis zurück und dachte über ihre Bedeutung nach. Pierres Vergangenheit, sein unglückliches Leben bis zum Jahre 1812, von dem er sich aus aufgeschnappten Worten ein dunkles, poetisches Bild zurechtgemacht hatte, seine Abenteuer in Moskau, seine Gefangenschaft, Platon Karatajew, von dem ihm Pierre erzählt hatte, seine Liebe zu Natascha, die der Knabe ebenfalls ganz besonders in sein Herz geschlossen hatte, und vor allem Pierres Freundschaft mit seinem Vater, an den sich Nikolenka nicht mehr erinnern konnte – dies alles machte Pierre für ihn zu einem Helden, einem Gott.
Aus aufgefangenen Worten über seinen Vater und Natascha und aus jener inneren Erregung, mit der Pierre von dem Verstorbenen zu reden pflegte, aus den vorsichtigen, pietätvollen, zarten Worten, mit denen Natascha von ihm sprach, hatte sich der Knabe, der soeben zu erraten anfing, was Liebe war, in seiner Einbildung zurechtgelegt, daß sein Vater Natascha geliebt und sie sterbend seinem Freund anvertraut haben mußte. Dieser Vater, an den sich Nikolenka nicht erinnern konnte, stand vor ihm wie ein Gott, den man sich nicht in Menschengestalt vorstellen und an den man nicht anders als mit Herzklopfen und Tränen der Trauer und Begeisterung denken durfte. Und so war auch der Knabe über Pierres Ankunft glücklich.
Die Gäste freuten sich über Pierre, weil er ein Mensch war, der Leben und Zusammenhalt in jede Gesellschaft brachte.
Die erwachsenen Hausgenossen, von seiner Frau nicht zu reden, freuten sich über die Ankunft des Freundes, weil sie sich in dessen Gesellschaft leichter und ruhiger fühlten.
Die alten Damen freuten sich über die Geschenke, die Pierre ihnen mitbrachte, und vor allem darüber, daß Natascha nun wieder auflebte. Pierre fühlte die verschiedenen Gesichtspunkte heraus, unter denen man ihn aus den verschiedenen Welten betrachtete, und beeilte sich, jedem zuteil werden zu lassen, was er von ihm verlangte.
Pierre, dieser äußerst zerstreute, vergeßliche Mensch, hatte diesmal an Hand einer Liste, die seine Frau für ihn hergestellt hatte, alles gekauft und weder die Aufträge von Mutter und Bruder noch die Geschenke noch das Kleid für die Bjelowa noch die Spielsachen für Neffen und Nichten vergessen. In der ersten Zeit seiner Ehe war Pierre das Verlangen seiner Frau, alles, was er einzukaufen übernommen hatte, auch wirklich zu besorgen und nichts zu vergessen, sonderbar vorgekommen, und er war über ihre ernsthafte Verstimmung, als er auf seiner ersten Reise alles vergessen hatte, weidlich erstaunt gewesen. Späterhin hatte er sich aber auch daran gewöhnt. Da er wußte, daß Natascha nie für sich etwas verlangte und für andere nur dann, wenn er sich selber dazu erbot, fand er jetzt in diesen Einkäufen von Geschenken für das ganze Haus ein für ihn selber unerwartetes, kindliches Vergnügen und vergaß nie mehr etwas. Machte ihm Natascha dann noch Vorwürfe, so höchstens deshalb, weil er zuviel und zu teuer eingekauft hatte. All seinen Mängeln, die von den meisten Leuten Fehler, von Pierre selber aber Seiten seines Wesens genannt wurden, wollte Natascha durchaus noch den Geiz zugesellen.
Seit Pierre mit seiner Familie und einem großen Hausstand, der gewaltige Ausgaben forderte, zu leben angefangen hatte, bemerkte er zu seiner Verwunderung, daß er jetzt nur noch die Hälfte brauchte wie früher, und daß sich seine in letzter Zeit hauptsächlich durch die Schulden seiner ersten Frau arg zerrütteten Vermögensverhältnisse zu bessern anfingen.
Er lebte deshalb billiger, weil sein Leben jetzt gebunden war: jenen teuersten Luxus, der darin besteht, die Lebensweise jeden Augenblick zu ändern, leistete sich Pierre jetzt nicht mehr und hatte auch gar kein Verlangen danach. Er fühlte, daß seine Lebensweise jetzt bis zu seinem Tod festgelegt war, daß es nicht in seiner Macht stand, sie abzuändern, und daß er aus diesem Grund billiger lebte.
Mit heiterem, lächelndem Gesicht packte Pierre seine Einkäufe aus. »Sieh nur, den prächtigen Stoff!« sagte er und breitete wie ein Verkäufer vor seiner Frau ein Stück Zeug aus.
Natascha hielt ihr ältestes Töchterchen auf den Knien und ließ, während sie ihm so gegenübersaß, ihre glänzenden Augen schnell zwischen dem, was er ihr zeigte, und ihm selber hin und her wandern.
»Das ist wohl für die Bjelowa? Wundervoll!« Sie befühlte die Ware. »Davon kostet die Elle sicher einen Rubel.«
Pierre nannte den Preis.
»So teuer!« sagte Natascha. »Wie sich die Kinder freuen werden und maman. Aber daß du das für mich gekauft hast, war doch unnütz«, fügte sie hinzu, konnte aber dabei ein glückliches Lächeln nicht unterdrücken, als sie den goldenen, mit Perlen besetzten Kamm bewunderte, von der Art, wie sie damals gerade in Mode gekommen war.
»Adele hat mich dazu breitgeschlagen: kaufen, immer kaufen!« erzählte Pierre.
»Aber wann soll ich den denn tragen?« Natascha steckte den Kamm ins Haar.
»Wenn ich Maschenka einmal auf den Ball ausführe, vielleicht wird er dann wieder getragen. Nun komm aber!«
Sie rafften die Geschenke zusammen und gingen zuerst ins Kinderzimmer und dann zu der alten Gräfin.
Die Gräfin saß wie gewöhnlich mit der Bjelowa zusammen und legte Patiencen, als Pierre und Natascha mit ihren Päckchen unter dem Arm ins Zimmer traten.
Die Gräfin war nun schon über sechzig Jahre alt. Sie war ganz grau geworden und trug ein Häubchen, das ihr ganzes Gesicht mit einem Rüschchen umrahmte. Ihr Gesicht war voll Runzeln, die Oberlippe eingefallen und ihre Augen waren trübe geworden.
Nach dem Schlag auf Schlag erfolgten Tod ihres Sohnes und ihres Gatten fühlte sie sich als ein Wesen, das nur zufällig vom Tod verschont geblieben war und auf der Welt nicht Zweck und Ziel mehr hatte. Sie aß, trank, schlief oder wachte, aber sie lebte nicht. Das Leben hinterließ ihr keinerlei Eindrücke. Sie verlangte nichts mehr vom Leben als Ruhe, und diese Ruhe konnte sie nur im Grab finden. Doch solange der Tod nicht kam, mußte sie leben, das heißt ihre Lebenskräfte gebrauchen. Alles, was man an sehr kleinen Kindern und sehr alten Leuten beobachten kann, trat bei ihr in höchstem Grad in Erscheinung. In ihrem Leben gab es keine äußeren Ziele mehr, sondern nur das Bedürfnis, ihre Neigungen und Fähigkeiten aufrechtzuerhalten. Sie mußte essen, schlafen, denken, sich unterhalten, weinen, sich beschäftigen, sich ärgern und so weiter, nur weil sie Magen, Gehirn, Muskeln, Nerven und Leber hatte. Und dies alles tat sie, durch keinen äußeren Grund veranlaßt, nicht etwa so, wie es die Menschen auf der Höhe ihrer Kraft tun, nämlich daß man vor dem erstrebten Ziel das andere Ziel, die Betätigung ihrer Kräfte, gar nicht wahrnimmt, sondern sie sprach nur, weil sie das physische Bedürfnis hatte, ihre Lunge und Zunge arbeiten zu lassen, weinte wie ein Kind, weil sie die Tränen loswerden mußte und so weiter. Alles, worin Menschen auf der Höhe ihrer Kraft ein Ziel sehen, diente ihr offenbar nur als Vorwand.
So machte sich bei ihr oft frühmorgens, besonders wenn sie am Abend vorher etwas Fettes gegessen hatte, das Bedürfnis nach Ärger geltend, und dann griff sie nach dem ersten besten Vorwand, und das war gewöhnlich die Taubheit der Bjelowa.
Vom andern Ende des Zimmers aus fing sie dann leise mit ihr eine Unterhaltung an.
»Heute scheint es wärmer zu sein, meine Liebe«, pflegte sie dann wohl im Flüsterton zu sagen.
Und wenn dann die Bjelowa zur Antwort gab: »So so, sie sind also angekommen«, brummte sie verärgert vor sich hin: »Großer Gott, wie taub und dumm sie doch ist!«
Ein anderer Vorwand für sie war ihr Schnupftabak, der ihr bald zu trocken, bald zu feucht, bald zu schlecht gerieben schien. Nach solchen Aufregungen trat ihr immer die Galle ins Gesicht, und ihre Zofen wußten aus sicheren Anzeichen immer schon im voraus, wann die Bjelowa wieder taub, der Schnupftabak wieder feucht und das Gesicht der Gräfin wieder gelb sein werde. Und ebenso, wie sie die Galle arbeiten lassen mußte, mußte sie auch ab und zu die ihr noch verbliebenen Denkfähigkeiten in Tätigkeit setzen, und dazu legte sie dann immer eine Patience. Hatte sie das Bedürfnis zu weinen, so war der selige Graf die gegebene Ursache, wollte sie sich Sorgen machen, so bot Nikolaj und seine Gesundheit ihr dazu die Gelegenheit, mußte sie giftige Reden führen, so war stets Gräfin Marja der Sündenbock. Hatte sie das Verlangen, ihre Sprechorgane in Bewegung zu setzen – und dies war meist um sieben Uhr abends der Fall, nachdem sie sich nach dem Essen ein Stündchen in einer dunklen Stube ausgeruht hatte –, so bot sich ihr die Gelegenheit dadurch, daß sie vor denselben Zuhörern immer wieder dieselben Geschichten erzählte.
Für diesen Zustand der alten Dame hatten alle Hausgenossen Verständnis, obgleich nie jemand darüber sprach, und jeder gab sich so viel Mühe, wie er nur konnte, der alten Gräfin bei der Befriedigung dieser ihrer Bedürfnisse behilflich zu sein. Nur selten kam durch einen Blick oder durch ein trauriges, halbes Lächeln, das Nikolaj, Pierre, Natascha und Gräfin Marja untereinander austauschten, das gemeinsame Verständnis ihrer Lage zum Ausdruck.
Doch außerdem sagten diese Blicke noch etwas anderes. Sie sagten, daß die alte Gräfin ihr Lebenswerk vollbracht habe, daß das, was man jetzt von ihr sah, nur ein Stück von ihr sei, daß wir alle einmal so werden würden, daß sie sich ihr mit Freuden unterordneten und sich für dieses ehemals teure, jetzt so bedauernswerte Wesen gern überwänden, das einst ebenso reich an Leben gewesen war wie sie. Memento mori, sagten diese Blicke.
Nur die ganz schlechten und dummen Leute unter den Hausgenossen und die kleinen Kinder verstanden dies nicht und hielten sich von ihr fern.
Als Pierre mit seiner Frau in den Salon trat, befand sich die Gräfin gerade in dem üblichen Zustand, wo ihr die geistige Arbeit einer Patience ein Bedürfnis war. Sie sagte zwar gewohnheitsmäßig dieselben Worte, mit denen sie Pierre oder ihren Sohn immer bei der Rückkehr von einer Reise zu empfangen pflegte: »Endlich, endlich, mein liebes Kind, wir haben dich schon sehnlichst erwartet. Na, Gott sei Dank, daß du wieder da bist …«, wie sie auch beim Empfang der Geschenke immer denselben Spruch sagte: »Nicht das, was ein Freund mir beschert, wohl aber seine Freundschaft ist mir wert. Ich danke dir, daß du an mich alte Frau gedacht hast …« Und doch merkte man, daß Pierres Kommen ihr in diesem Augenblick unangenehm war, weil er sie von ihrer noch nicht zu Ende gelegten Patience abzog. Sie legte sie ruhig zu Ende und besah sich erst dann die Geschenke. Diese bestanden aus einem Kartenfutteral von kostbarer Arbeit, einer grell blauen Sèvrestasse mit Deckel, auf der Hirtinnen abgebildet waren, und aus einer goldenen Tabaksdose mit dem Bildnis des Grafen, das Pierre in Petersburg bei einem Miniaturmaler hatte anfertigen lassen. Das hatte sich die Gräfin schon lange gewünscht. Aber sie hatte jetzt keine Lust zum Weinen, und deshalb sah sie das Bild gleichgültig an und beschäftigte sich mehr mit dem Futteral.
»Ich danke dir, mein Sohn, du hast mir eine rechte Freude gemacht«, sagte sie wie immer. »Aber das Schönste ist doch, daß du dich selber mitgebracht hast. Das war ja entsetzlich, du solltest deiner Frau einmal ordentlich den Kopf waschen. Was soll denn das nur heißen? Wie eine Wahnsinnige hat sie sich gebärdet, als du fort warst. Sie hörte und sah nichts …«, sagte sie in der gewohnten Weise. »Sieh nur, Anna Timofejewna«, fügte sie hinzu, »was für ein schönes Futteral uns der Junge mitgebracht hat!«
Die Bjelowa bewunderte die Geschenke und war ganz entzückt von ihrem Stoff.
Pierre, Natascha, Nikolaj, Gräfin Marja und Denissow hätten zwar viel miteinander zu besprechen gehabt, wovon sie in Gegenwart der Gräfin nicht anfangen durften, nicht etwa, weil sie Geheimnisse vor ihr gehabt hätten, sondern nur deshalb, weil die alte Gräfin in so vielem zurückgeblieben war, daß man, hätte man in ihrer Gegenwart von irgend etwas zu reden angefangen, auf alle ihre an unrechter Stelle eingeworfenen Fragen hätte antworten und alles noch einmal hätte sagen müssen, was man ihr schon wiederholt erzählt hatte: nämlich, daß der und der gestorben war und die und die sich verheiratet hatten, was sie aber dann immer wieder vergaß. Dennoch saßen sie wie gewöhnlich im Salon um den Samowar versammelt und tranken Tee, und Pierre beantwortete alle Fragen der alten Gräfin, die für sie selber keinen Zweck hatten und auch sonst keinen interessierten: ob Fürst W. sehr alt geworden sei, ob die Gräfin Alexejewna sie grüßen lasse und noch an sie denke und so weiter, und so weiter.
Ein solches Gespräch wurde die ganze Zeit über, während sie Tee tranken, geführt. Um den runden Teetisch, an dem Sonja saß, hatten sich alle erwachsenen Familienglieder versammelt. Die Kinder mit ihren Erziehern und Gouvernanten hatten bereits Tee getrunken, und ihre Stimmen klangen aus dem anstoßenden Sofazimmer herüber. Alle saßen auf ihren gewohnten Plätzen: Nikolaj an dem kleinen Tisch beim Ofen, wohin man ihm seine Tasse brachte. Die alte Jagdhündin Milka, eine Tochter der ersten Milka, die schon einen ganz grauen Kopf bekommen hatte, aus dem die großen dunklen Augen nur noch schärfer hervortraten, lag neben ihm auf einem Sessel. Denissow mit seinem halbergrauten lockigen Haar und Bart saß in aufgeknöpftem Generalsrock neben Gräfin Marja. Pierre hatte seinen Platz zwischen seiner Frau und der alten Gräfin. Er erzählte Dinge, von denen er wußte, daß sie die alte Gräfin interessieren und von ihr verstanden werden konnten. Er sprach von äußerlichen Ereignissen in der Gesellschaft und von jenen Leuten, die einst die Altersgenossen der alten Gräfin gewesen waren und damals einen wirklichen, lebensvollen Kreis gebildet hatten, jetzt aber größtenteils in alle vier Winde zerstreut waren und ebenso wie sie den Rest ihrer Tage hinbrachten, um noch die letzten Ähren dessen, was sie einst in ihrem Leben gesät hatten, zu ernten. Doch der alten Gräfin erschienen diese Altersgenossen auch jetzt ausschließlich als die wirkliche, ernst zu nehmende Welt.
Aus Pierres Lebhaftigkeit ersah Natascha, daß die Reise für ihn interessant gewesen war, und er gern vieles erzählt hätte, was er jedoch in Anwesenheit der alten Gräfin nicht wagte. Denissow, der, weil er nicht zur Familie gehörte, Pierres Absicht nicht verstand und sich außerdem als einer, der mit den jetzigen Zuständen unzufrieden war, um alles kümmerte, was in Petersburg vorging, forderte Pierre immer wieder zum Erzählen heraus: bald wollte er etwas über die Geschichte wissen, die sich soeben im Semjonower Regiment zugetragen hatte[242], bald über Araktschejew, bald über die Bibelgesellschaft[243]. Manchmal ließ sich Pierre hinreißen und fing an zu erzählen, aber Nikolaj und Natascha brachten ihn jedesmal wieder auf die Gesundheit des Fürsten Iwan und der Gräfin Marja Antonowna zurück.
»Nun, und dieser Unsinn, der Goßner[244] und die Tatarinowa[245]«, fragte Denissow, »geht denn das nur immer noch so weiter?«
»Und ob das so weiter geht!« rief Pierre aus. »Schlimmer denn je. Die Bibelgesellschaft hat jetzt die ganze Regierung in der Hand.«
»Wie meinst du das, mon cher ami?« fragte die Gräfin, die ihren Tee ausgetrunken hatte und nun sichtlich nach einem Vorwand suchte, sich nach der Mahlzeit ein wenig zu ärgern. »Was sagst du da? Die Regierung? Das verstehe ich nicht.«
»Sie müssen wissen, maman«, mischte sich Nikolaj ein, der wußte, wie man etwas in die Sprache seiner Mutter übersetzen mußte, »Fürst Alexander Nikolajewitsch Golizyn hat eine Gesellschaft gegründet, und soll nun, wie es heißt, sehr mächtig geworden sein.«
»Araktschejew und Golizyn«, äußerte Pierre unvorsichtig, »sind jetzt unsere ganze Regierung. Und was für eine noch dazu! In allem erblicken sie eine Verschwörung, vor allem fürchten sie sich.«
»Wie? Woran soll Alexander Nikolajewitsch schuld sein? Das ist doch ein Ehrenmann durch und durch. Ich traf ihn damals öfters bei Marja Antonowna«, sagte die Gräfin beleidigt; und noch mehr beleidigt dadurch, daß alle schwiegen, fuhr sie fort: »Heutzutage wird immer gleich über jeden der Stab gebrochen. Eine evangelische Gesellschaft, da ist doch nichts Schlimmes dabei?« Und sie erhob sich – alle standen ebenfalls auf – und steuerte mit strenger Miene auf ihren Tisch im Diwanzimmer zu.
In das bedrückte Schweigen, das nun folgte, drang aus dem Nebenzimmer das Lachen und Plaudern der Kinder. Offenbar ging drüben etwas besonders Lustiges und Aufregendes vor.
»Fertig, fertig!« übertönte alle das Freudengeheul der kleinen Natascha.
Pierre wechselte mit Gräfin Marja und Nikolaj einen Blick – Natascha sah er immer – und lächelte glücklich.
»Das ist doch die wundervollste Musik«, bemerkte er.
»Gewiß ist Anna Makarowna mit ihrem Strumpf fertig geworden«, sagte Gräfin Marja.
»Oh, das muß ich mir ansehen«, rief Pierre und sprang auf. »Weißt du«, sagte er und blieb in der Tür noch einmal stehen, »warum mir diese Musik so besonders lieb ist? Da weiß ich doch gleich im ersten Augenblick, daß alles im Hause gut steht. Gleich heute bei meiner Ankunft: je näher ich dem Haus komme, um so mehr quält mich die Angst. Ich trete ins Vorzimmer, höre, wie Andrjuscha vor Vergnügen kreischt: na, denke ich bei mir, also ist alles in Ordnung …«
»Kenne ich, kenne ich, dieses Gefühl«, bestätigte Nikolaj. »Aber ich darf nicht hineingehen, weil die Strümpfe ja eine Überraschung für mich werden sollen.«
Pierre ging zu den Kindern hinüber, und das Lachen und Schreien wurde noch lauter.
»Nun, Anna Makarowna«, hörte man Pierres Stimme, »also jetzt mitten ins Zimmer stellen, und ich zähle: eins, zwei, drei, und wenn ich drei sage, stellst du dich hierher und – hast sie in der Hand. Also eins … zwei …« – alles war mäuschenstill – »… drei!«
Das begeisterte Freudengeheul der Kinder erfüllte das Zimmer. »Zwei sind es, zwei!« schrien sie.
Und wirklich waren es jetzt zwei Strümpfe, die Anna Makarowna nach einer nur ihr bekannten, geheimnisvollen Strickart gleichzeitig zu stricken pflegte, so daß sie dann immer, wenn sie fertig war, in Gegenwart der Kinder feierlich einen Strumpf aus dem anderen herausziehen konnte.
Bald darauf sagten die Kinder gute Nacht. Sie gaben jedem einen Kuß, die Erzieher und Gouvernanten verbeugten sich, und die ganze kleine Schar ging hinaus. Nur Dessalles mit seinem Zögling blieb noch. Er forderte den Knaben flüsternd auf, ebenfalls hinauszugehen.
»Non, monsieur Dessalles, je demanderai à ma tante de rester«, erwiderte Nikolenka Bolkonskij ebenfalls flüsternd.
»Ma tante, darf ich noch ein bißchen hier bleiben?« fragte Nikolenka und trat auf seine Tante zu.
Ein Ausdruck der Bitte, der Erregung und Begeisterung lag auf seinem Gesicht. Gräfin Marja sah ihn an und wandte sich dann an Pierre.
»Wenn Sie da sind, kann er sich nicht losreißen«, sagte sie zu ihm.
»Je vous le ramenerai tout à l’heure, monsieur Dessalles, bonsoir«, sagte Pierre, reichte dem Schweizer die Hand und wandte sich dann lächelnd an Nikolenka: »Wir haben uns ja noch gar nicht gesehen. Marie, wie ähnlich er ihm wird«, fügte er, zu Gräfin Marja gewandt, hinzu.
»Dem Vater?« fragte der Knabe, wurde dunkelrot und sah Pierre von unten herauf mit seinen schwärmerischen, glänzenden Augen an.
Pierre nickte ihm zu und nahm das durch die Kinder unterbrochene Gespräch wieder auf. Gräfin Marja war mit einer Handarbeit beschäftigt, Natascha saß da und blickte, ohne ein Auge abzuwenden, immer nur ihren Mann an. Nikolaj und Denissow standen auf, verlangten ihre Pfeifen, rauchten, ließen sich von Sonja, die traurig und still beim Samowar saß, Tee einschenken und fingen an, Pierre auszufragen. Der blondlockige, kränkliche Knabe mit den glänzenden Augen saß, von keinem beachtet, in einem Eckchen, drehte das krause Köpfchen auf dem feinen Hals, den der zurückgeschlagene Kragen frei ließ, nach der Seite, wo Pierre saß, fuhr ab und zu zusammen und flüsterte, sichtlich von einem neuen, starken Gefühl erregt, irgend etwas vor sich hin.
Das Gespräch drehte sich um den damaligen Klatsch aus den höchsten Kreisen der Regierung, in dem die meisten Menschen gewöhnlich den Kern der inneren Politik sehen. Denissow, der wegen seiner Mißerfolge im Dienst mit der Regierung unzufrieden war, hörte mit Behagen von all den Dummheiten, die man seiner Ansicht nach jetzt in Petersburg machte, und schaltete in kräftigen, scharfen Ausdrücken seine Bemerkungen in Pierres Bericht ein.
»Früher mußte man ein Deutscher sein; jetzt muß man mit der Tatarinowa und der Frau Krüdener[246] tanzen und Eckartshausen[247] und die Brüderschaft lesen. Teufel noch mal! Den Kerl, den Bonaparte, sollte man noch einmal auf sie loslassen! Der würde Ihnen die Narrenspossen schon ausbleuen. Da hört doch alles auf: dem Gemeinen Schwarz[248] gibt man das Semjonower Regiment!« schrie er.
Obgleich Nikolaj nicht dazu neigte, alles schlecht zu finden wie Denissow, hielt er es doch ebenfalls für eine äußerst wichtige und wertvolle Sache, über die Regierung sein Urteil zu fällen, und war der Ansicht, daß es von weittragender Bedeutung sei, ob $à. zum Minister für das und das und B. zum Generalgouverneur da oder dort ernannt worden war, und ob der Kaiser dies, der Minister aber jenes gesagt habe. Auch er hielt es für nötig, sich dafür zu interessieren und Pierre danach zu fragen. Und weil ihn nun diese beiden immer wieder fragten und fragten, kam das Gespräch nicht über den gewohnten Klatsch aus den höchsten Regierungskreisen hinaus.
Natascha aber, die die ganze Art und alle Gedanken ihres Mannes kannte, merkte, daß Pierre schon lange vergeblich das Gespräch auf eine andere Bahn lenken und die Idee, die er auf dem Herzen hatte, aussprechen wollte, jene selbe Idee, um derentwillen er nach Petersburg gefahren war und sich mit seinem neuen Freund, dem Fürsten Fjodor, beraten hatte. Und so kam sie ihm mit der Frage zu Hilfe: worüber er denn nun eigentlich mit dem Fürsten Fjodor verhandelt habe?
»Ja, worüber eigentlich?« fragte Nikolaj.
»Immer über dasselbe«, antwortete Pierre und sah sich um. »Jedermann sieht, daß die Dinge so schief gehen und daß es gar nicht so bleiben kann, und somit ist es doch die Pflicht jedes Ehrenmannes, einem solchen Zustand nach Kräften zu steuern.«
»Was könnte ein Ehrenmann dagegen tun?« sagte Nikolaj und runzelte leicht die Stirn. »Was kann man überhaupt dagegen machen?«
»Ja, siehst du, wenn …«
»Wir wollen in mein Zimmer gehen«, sagte Nikolaj.
Natascha, die schon lange darauf gewartet hatte, daß man sie zum Stillen rufen werde, hörte die Wärterin rufen und ging ins Kinderzimmer. Gräfin Marja ging mit ihr. Die Herren zogen sich in Nikolajs Arbeitszimmer zurück, und Nikolenka Bolkonskij schlüpfte, ohne vom Onkel bemerkt zu werden, ebenfalls mit hinein und setzte sich an den Schreibtisch ans Fenster, wo es dunkel war.
»Na, was willst du also tun?« fragte Denissow.
»Diese ewigen Hirngespinste!« brummte Nikolaj.
»Also siehst du«, fing Pierre an, ohne sich hinzusetzen, und ging bald im Zimmer auf und ab, bald blieb er stehen, fing an zu lispeln und machte, während er sprach, lebhafte Handbewegungen. »Also siehst du, die Lage in Petersburg ist jetzt so: der Kaiser mischt sich in nichts mehr. Er ist ganz diesem Mystizismus verfallen.« Mystizismus verzieh Pierre jetzt keinem. »Er sucht nur Ruhe, und diese Ruhe können ihm nur solche Leute sans foi ni loi geben, die ohne Gewissen alles niederschlagen und abdrosseln, wie Magnizkij, Araktschejew und tutti quanti … Du mußt doch zugeben, wenn du dich selber nicht mehr mit der Wirtschaft befassen und nur noch deine Ruhe haben willst, so wirst du dieses Ziel um so eher erreichen, je grausamer dein Vogt ist«, wandte er sich an Nikolaj.
»Das schon, aber was meinst du damit?« fragte dieser.
»Na, es geht eben auch alles zugrunde. Bei den Gerichten wird einem das Geld aus der Tasche gezogen, bei der Armee regiert nur der Stock: Drill, Militärkolonien[249], das Volk wird gequält, die Aufklärung erstickt. Alles, was jung und ehrenhaft ist, geht dabei zugrunde. Daß dies nicht so weitergehen kann, sieht jeder. Die Saiten sind zu straff gespannt und müssen unbedingt zerspringen«, sagte Pierre, wie das im Hinblick auf das Vorgehen der Regierungen von alters her immer alle Leute gesagt haben, solange es überhaupt Regierungen gibt. »Das habe ich ihnen auch in Petersburg gesagt.«
»Wem denn?« fragte Denissow.
»Nun, ihr wißt schon, wem«, fuhr Pierre mit einem bedeutsamen Blick von unten herauf fort, »dem Fürsten Fjodor und ihnen allen. Aufklärung und Wohltätigkeit um die Wette zu fördern, das ist ja alles ganz schön und gut, selbstverständlich. Ein herrliches Ziel, und was man sonst noch will; aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen brauchen wir etwas anderes.«
In diesem Augenblick bemerkte Nikolaj die Anwesenheit seines Neffen. Er machte ein finsteres Gesicht und ging auf ihn zu.
»Was machst du hier?«
»Ach, laß ihn doch«, sagte Pierre, hielt Nikolaj am Arm und fuhr fort: »Das genügt nicht, habe ich ihnen gesagt, wir brauchen jetzt etwas anderes. Wenn ihr dasteht und wartet, bis diese zu straff gespannte Saite gesprungen ist, wenn alle auf einen unausbleiblichen Umsturz gefaßt sind, so müssen wir, so viele aus dem Volk wie nur möglich, einander eng die Hände reichen und der allgemeinen Katastrophe steuern. Alles, was jung und kräftig ist, wird auf die andere Seite hinübergezogen und kommt zu Schaden. Die einen lassen sich von Frauen verführen, die anderen vom Ruhm, die dritten vom Ehrgeiz oder vom Geld, und so gehen sie alle in jenes Lager über. Unabhängige, freie Menschen wie ihr und ich gibt es gar nicht mehr. Ich habe ihnen gesagt: Erweitert den Kreis der Gesellschaft und laßt das Losungswort nicht allein die Tugend sein, sondern auch Unabhängigkeit und tatkräftiges Wirken.«
Nikolaj ließ von dem Neffen ab, rückte seinen Stuhl ärgerlich herum und setzte sich wieder hin. Während er Pierre zuhörte, räusperte er sich unzufrieden, und sein Gesicht wurde immer finsterer.
»Aber zu welchem Zweck denn dieses tatkräftige Wirken?« rief er aus. »Und wie wollt ihr euch zu der Regierung stellen?«
»Das will ich dir sagen: Wir wollen der Regierung helfen. Die Gesellschaft braucht nicht geheim zu sein, wenn die Regierung sie billigt. Sie steht ihr keineswegs feindlich gegenüber, sondern ist die Vereinigung der wahrhaft Konservativen. Eine Vereinigung von Gentlemen im wahrsten Sinn des Wortes. Wir reichen einander nur die Hand, damit nicht wieder ein Pugatschew[250] kommt und unseren Kindern den Hals abschneidet, oder damit mich kein Araktschejew in seine Militärkolonien schicken kann. Wir haben dabei nur das Wohl und die Sicherheit aller im Auge.«
»Gewiß; aber die Gesellschaft ist doch geheim und infolgedessen regierungsfeindlich und schädlich und kann nur Böses hervorbringen.«
»Warum? Hat etwa der Tugendbund, der Europa gerettet hat« – man wagte damals noch nicht zu denken, daß Rußland es gewesen sei, das Europa gerettet habe –, »Schaden gestiftet? Der Tugendbund vereint alle Tugenden, ist Liebe, gegenseitige Hilfe, alles, was Christus am Kreuz gepredigt hat …«
Natascha, die mitten im Gespräch ins Zimmer getreten war, blickte ihren Mann freudig an. Nicht über das, was er sagte, freute sie sich, das berührte sie nicht einmal, weil es ihr schien, als sei dies alles ungeheuer einfach und ihr schon lang bekannt – das kam wiederum daher, weil sie die Quelle alles dessen, Pierres ganze Seele, so genau kannte –, sondern sie freute sich einfach nur, weil sie ihren Mann so angeregt und begeistert sah.
Aber mit noch freudigerer Begeisterung blickte auf Pierre der von allen unbeachtete Knabe mit dem schlanken Hals, den der zurückgeschlagene Kragen frei ließ. Jedes Wort Pierres entflammte sein Herz nur noch mehr, so daß er mit einer nervösen Bewegung der Finger, ohne es selber zu merken, alle Siegellackstangen und Federn auf dem Schreibtisch seines Onkels zerbrach, die ihm gerade in die Hände kamen.
»Keinesfalls das, was du denkst. Ich werde dir sagen, was der deutsche Tugendbund war, und wie der beschaffen sein soll, den ich vorschlage.«
»Ja, mein Lieber, für diese Wurstfresser mag ja so ein Tugendbund ganz schön sein, ich aber kann so etwas nicht verstehen und spreche am liebsten gar nicht davon«, ließ sich Denissows laute, entschiedene Stimme vernehmen. »Alles ist jetzt widerwärtig und abscheulich, das gebe ich zu, aber für diesen Tugendbund habe ich kein Verständnis. Gefällt ihnen mal was nicht, gleich ist ein Bund, ein Aufruhr da; so ist es doch. Je suis votre homme.«
Pierre lächelte, Natascha lachte auf, aber Nikolaj zog die Brauen noch finsterer zusammen und suchte Pierre zu beweisen, daß keinerlei Umsturz zu befürchten sei, und daß die ganze Gefahr, von der er gesprochen hatte, nur in seiner Einbildung bestehe. Pierre bewies das Gegenteil, und da seine geistigen Fähigkeiten stärker und schlagfertiger waren, fühlte Nikolaj, daß er unterlag. Dies ärgerte ihn nur noch mehr, da er im Grund seines Herzens von der zweifellosen Richtigkeit seiner Ansicht überzeugt war, und zwar nicht auf Grund kluger Erwägungen, sondern auf Grund von etwas, was stärker als alle klugen Erwägungen ist.
»Ich will dir etwas sagen«, fing er an, stand auf, wollte mit einer nervösen Bewegung die Pfeife in die Ecke stellen, warf sie aber dann ungeduldig beiseite. »Beweisen kann ich dir das nicht. Du sagst, daß bei uns alles schlimm steht und ein Umsturz kommen wird – ich sehe das nicht. Wenn du aber behauptest, daß der Eid nur eine bedingte Sache ist, muß ich dir darauf erwidern: du bist zwar mein bester Freund, das weißt du, gründet ihr aber eine geheime Gesellschaft und fangt an, der Regierung, wie sie auch immer sein mag, entgegenzuarbeiten, so weiß ich für meinen Teil, daß es meine Pflicht ist, ihr zu gehorchen. Und wenn mir Araktschejew noch in dieser Stunde beföhle, mit einer Schwadron gegen euch vorzugehen und euch niederzumachen, ich würde mich nicht einen Augenblick bedenken und vorgehen. Denke du darüber, wie du willst.«
Nach diesen Worten entstand ein peinliches Schweigen. Natascha fing zuerst wieder zu reden an, nahm ihren Mann in Schutz und fiel über den Bruder her. Ihre Verteidigung war zwar schwach und ungeschickt, aber sie erreichte ihren Zweck. Das Gespräch kam wieder in Fluß und wurde nun nicht mehr in jenem unangenehm feindlichen Ton geführt, in dem Nikolaj zuletzt gesprochen hatte.
Als alle aufstanden, um Abendbrot zu essen, trat Nikolenka Bolkonskij bleich und mit glänzenden, leuchtenden Augen auf Pierre zu.
»Onkel Pierre … Sie … nein … Wenn Vater noch am Leben wäre … würde er dann ebenso denken wie Sie?« fragte er.
Pierre begriff plötzlich, was für eine besondere, selbständige, verwickelte und starke Gedanken- und Gefühlsarbeit während der Zeit dieses Gespräches in dem Knaben vorgegangen sein mußte. Er erinnerte sich an alles, was er gesagt hatte, und es tat ihm leid, daß der Knabe dabeigewesen war. Doch eine Antwort mußte er ihm geben.
»Ich denke, ja«, erwiderte er unwillig und ging aus dem Zimmer. Der Knabe ließ den Kopf hängen und schien jetzt zum erstenmal zu bemerken, was er auf dem Schreibtisch angerichtet hatte. Er wurde dunkelrot und trat auf Nikolaj zu.
»Onkel, entschuldige bitte, das habe ich hier gemacht … nicht mit Absicht«, sagte er und zeigte auf die zerbrochenen Siegellackstangen und Federn.
Nikolaj fuhr ärgerlich auf.
»Gut, gut«, sagte er und warf die Siegellackstücke und Federn unter den Tisch.
Offenbar hielt er nur mit Mühe den aufsteigenden Zorn zurück und wandte sich von dem Knaben ab.
»Es war recht unnötig, daß du mit dabei warst«, sagte er zu ihm.
Nach dem Abendessen wurde nicht über Politik und Gesellschaft gesprochen, sondern über etwas, das Nikolaj besonders angenehm war: über Erinnerungen an das Jahr 1812. Denissow hatte dieses Thema angeschlagen, und Pierre zeigte sich dabei besonders liebenswürdig und unterhaltend. So trennten sich alle in der freundschaftlichsten Weise.
Als sich Nikolaj nach dem Abendessen in seinem Zimmer ausgezogen und dem Verwalter, der dort lange auf ihn gewartet hatte, seine Befehle erteilt hatte, ging er im Schlafrock ins Schlafzimmer und fand seine Frau dort noch am Schreibtisch vor: sie schrieb etwas.
»Was schreibst du denn, Marie?« fragte Nikolaj.
Gräfin Marja wurde rot. Sie fürchtete, daß das, was sie schrieb, von ihrem Mann nicht verstanden und gebilligt werde. Sie hätte es am liebsten vor ihm versteckt, gleichzeitig aber freute sie sich auch darüber, daß er sie dabei überrascht hatte und daß sie es ihm nun sagen mußte.
»Es ist ein Tagebuch, Nicolas«, sagte sie und reichte ihm ein blaues Heftchen, das sie mit ihren festen, derben Schriftzügen schon fast vollgeschrieben hatte.
»Ein Tagebuch? …« wiederholte Nikolaj mit einem Anflug von Spott und nahm das Heftchen in die Hand.
Darin stand auf französisch geschrieben:
»Den 4. Dezember. Heute morgen wollte sich Andrjuscha« – der älteste Sohn – »beim Aufstehen nicht anziehen, und Mademoiselle Luise ließ mich rufen. Er war launenhaft und eigensinnig. Ich versuchte es mit Drohungen, aber er wurde nur noch trotziger. Da beherrschte ich mich, ließ ihn und fing an, mit der Wärterin die anderen Kinder anzuziehen, sagte aber zu ihm, ich hätte ihn nicht mehr lieb. Er war eine Zeitlang ganz still, als sei er erstaunt, dann kam er im bloßen Hemdchen herausgesprungen und auf mich zugelaufen und schluchzte so sehr, daß ich ihn lange nicht beruhigen konnte. Man sah deutlich: mehr als alles andere quälte ihn, daß er mich gekränkt hatte. Als ich ihm dann am Abend sein Zettelchen gab, fing er, als er mich küßte, wieder bitterlich zu weinen an. Mit Zärtlichkeit ist bei ihm alles zu erreichen.«
»Was ist das für ein Zettelchen?« fragte Nikolaj.
»Ich habe jetzt angefangen, den älteren Kindern jeden Abend kleine schriftliche Beurteilungen zu geben, wie sie sich aufgeführt haben.«
Nikolaj blickte in die leuchtenden Augen, die ihn ansahen, und fuhr fort, in dem Heftchen zu blättern und zu lesen. In dem Tagebuch war alles aus dem Leben der Kinder festgehalten, was der Mutter von Bedeutung schien, weil es den Charakter der Kinder zum Ausdruck brachte oder auf allgemeine Gedanken und Methoden in der Erziehung hindeutete. Es waren größtenteils die geringfügigsten Kleinigkeiten, aber sie erschienen weder der Mutter noch dem Vater als solche, während er jetzt zum erstenmal in diesem Kindertagebuch las.
Unter dem 5. Dezember war vermerkt:
»Mitja war bei Tisch unartig. Der Papa ordnete an, daß man ihm keine Nachspeise geben sollte. Er bekam also keine. Aber während die anderen nun aßen, sah er ihnen kläglich und gierig zu. Ich glaube, das Entziehen der süßen Speise als Strafe entwickelt nur die Gier. Ich will das Nikolaj einmal sagen.«
Nikolaj legte das Heftchen beiseite und sah seine Frau an. Ihre leuchtenden Augen waren fragend auf ihn gerichtet: fand er das Tagebuch gut oder nicht? Aber es konnte gar kein Zweifel sein: er billigte es nicht nur, sondern stand sogar bewundernd vor seiner Frau.
Man hätte das vielleicht nicht so pedantisch oder vielleicht überhaupt nicht zu machen brauchen, dachte Nikolaj, aber diese stete unermüdliche geistige Anspannung, die nur das sittliche Wohl der Kinder bezweckte, erfüllte ihn mit Bewunderung. Wenn er sich seiner Gefühle hätte bewußt werden können, so hätte er gefunden, daß die Hauptgrundlage für seine feste, zärtliche und stolze Liebe zu seiner Frau immer nur dieses Gefühl der Bewunderung für ihr Gemütsleben war, für jene hohe sittliche Welt, in der sie ständig lebte und die für Nikolaj fast unerreichbar schien.
Er war stolz darauf, daß sie so klug und gut war, sah seine eigne Nichtigkeit in geistigen Dingen ihr gegenüber ein und freute sich deshalb um so mehr, daß sie mit ihrer reichen Seele nicht nur ihm gehörte, sondern ein Teil seiner selbst geworden war.
»Sehr, sehr gefällt mir das, mein Herz«, sagte er mit wichtiger Miene und fügte, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, hinzu: »Aber ich habe mich heute schlecht betragen. Du warst ja nicht mit im Arbeitszimmer. Ich hatte mit Pierre einen Streit und geriet in Hitze. Es ist ja auch rein unmöglich. Er ist ein solches Kind. Ich weiß nicht, was aus ihm würde, wenn Natascha ihn nicht im Zügel hielte. Kannst du dir vorstellen, warum er nach Petersburg gereist ist? Sie wollen dort …«
»Ja, ich weiß«, fiel Prinzessin Marja ein, »Natascha hat es mir erzählt.«
»Nun, wenn du es schon weißt«, fuhr Nikolaj fort und geriet bei der bloßen Erinnerung an seinen Streit gleich wieder in Hitze.
»Er will mir einreden, die Pflicht jedes Ehrenmannes bestehe darin, gegen die Regierung vorzugehen, wo doch Eid und Pflicht … Schade, daß du nicht dabei warst. Alle sind sie über mich hergefallen, Denissow, Natascha … Natascha ist überhaupt zum Totlachen. Man sieht doch, wie sie ihn unter dem Pantoffel hat, sobald es aber zu einem Wortgefecht kommt, hat sie keine eignen Ausdrücke, sondern redet immer nur mit seinen Worten«, fügte Nikolaj hinzu, jener unwiderstehlichen Sucht nachgebend, die Menschen abzuurteilen, die uns die liebsten sind und uns am nächsten stehen.
Es kam Nikolaj nicht in den Sinn, daß man dasselbe, was er von Natascha sagte, Wort für Wort von ihm selber hätte sagen können in bezug auf seine Frau.
»Ja, das habe ich auch schon bemerkt«, pflichtete Gräfin Marja bei.
»Als ich ihm sagte, daß Pflicht und Eid über alles gehen, fing er an, mir Gott weiß was alles zu beweisen. Schade, daß du nicht dabei warst. Was hättest du denn gesagt?«
»Meiner Ansicht nach hast du vollkommen recht. Das habe ich auch zu Natascha gesagt. Pierre denkt: alles leidet, quält sich, verdirbt, und da ist es unsere Pflicht, unseren Nächsten zu helfen. Selbstverständlich hat er darin recht«, fuhr Gräfin Marja fort, »aber er vergißt, daß wir noch andere, näher liegende Pflichten haben, die uns Gott selber angewiesen hat, und daß wir wohl uns selber, nicht aber unsere Kinder in Gefahr bringen dürfen.«
»Siehst du, das, gerade das habe ich ihm auch gesagt«, fiel Nikolaj ein, dem es wirklich schien, als habe er das tatsächlich gesagt. »Sie aber blieben bei ihrer Ansicht, daß die Liebe zum Nächsten und das Christentum … Und das alles vor Nikolenka, der mit ins Zimmer geschlüpft war und dort alles zerbrochen hat.«
»Ach, weißt du, Nicolas, Nikolenka macht mir das Herz oft schwer«, seufzte Gräfin Marja. »Er ist ein so besonderes Kind. Und ich habe immer Angst, daß ich ihn meiner eignen Kinder wegen vernachlässigen könnte. Wir alle haben Kinder, sie alle haben ihre Eltern, nur er hat niemanden. Er ist immer so allein mit seinen Gedanken.«
»Na, ich glaube doch, du brauchtest dir seinetwegen keine Vorwürfe zu machen. Alles, was die zärtlichste Mutter nur für ihr eignes Kind tun kann, hast du doch für ihn getan und tust es auch jetzt noch. Und ich freue mich darüber, selbstverständlich. Er ist ein prächtiger, prächtiger Junge. Heute hat er Pierre mit einer wahren Selbstvergessenheit zugehört. Und kannst du dir vorstellen: wir gehen zum Abendessen, und ich sehe, daß er auf meinem Schreibtisch alles entzweigebrochen hat. Aber gleich kommt er zu mir und sagt mir das. Ich habe noch nie erlebt, daß er einmal die Unwahrheit gesagt hat. Ein prächtiger, prächtiger Junge!« sagte Nikolaj noch einmal. Nikolenka gefiel ihm zwar im Grund seines Herzens nicht, aber er war immer bereit, das Gute in ihm anzuerkennen.
»Das alles kann ihm aber doch die Mutter nicht ersetzen«, meinte Gräfin Marja. »Ich fühle, daß ich es nicht kann, und das quält mich. Ein wunderbares Kind, aber ich habe schreckliche Angst um ihn. Es wäre gut, wenn er mehr Gesellschaft hätte.«
»Nun, das wird ja nicht mehr lange dauern. Diesen Sommer bringe ich ihn nach Petersburg«, erwiderte Nikolaj. »Ja, Pierre war immer ein Empörer und wird es wohl auch stets bleiben«, fuhr er fort, auf das Gespräch in seinem Arbeitszimmer zurückkommend, das ihn sichtlich sehr erregt hatte. »Aber was geht mich dies alles an, ob Araktschejew gut oder schlecht ist, und was sie sonst noch alles sagen? Was habe ich mich um all dies geschert, als ich heiratete und so viel Schulden hatte, daß sie mich ins Loch setzen wollten? Als ich die Mutter bei mir hatte, die von alledem nichts sehen und begreifen konnte. Und dann kamst du, die Kinder, die Wirtschaft. Sitze ich etwa zu meinem Vergnügen vom frühen Morgen bis zum späten Abend im Kontor hinter den Büchern? Nein, ich weiß, daß ich arbeiten muß, damit meine Mutter einen ruhigen Lebensabend hat, damit ich dir meine Schulden wieder abzahlen kann und ich meine Kinder nicht als solche Bettler zurücklasse, wie ich einer war.«
Gräfin Marja wollte ihm entgegnen, daß der Mensch nicht nur vom Brot allein lebe, und daß er diesen geschäftlichen Dingen zu große Wichtigkeit beimesse, aber sie wußte, daß es weder Zweck noch Nutzen hatte, ihm dies zu sagen. Sie nahm nur seine Hand und küßte sie. Er hielt diese Geste seiner Frau für Zustimmung, für eine Bestätigung seiner Ansichten, dachte eine Weile schweigend nach und fuhr dann in seinen Gedanken fort.
»Weißt du, Marie«, sagte er, »heute kam Ilja Mitrofanowitsch« – der Verwalter – »vom Gut in Tamlow und erzählte mir, daß ihm für den Wald schon achtzigtausend Rubel geboten seien.«
Und mit angeregtem Gesicht fing Nikolaj an, auseinanderzusetzen, daß es vielleicht möglich wäre, Otradnoje in kurzer Zeit zurückzukaufen. »Wenn ich noch so ein Dutzend Jährchen am Leben bin, lasse ich meine Kinder in glänzenden Verhältnissen zurück.«
Gräfin Marja hörte ihrem Mann zu und verstand alles, was er ihr sagte. Sie wußte, daß er sie, wenn er so laut dachte, ab und zu fragte, was er gesagt hatte, und sich dann ärgerte, wenn er merkte, daß sie an etwas anderes dachte. Aber sie mußte sich dabei große Gewalt antun, denn oft interessierte sie das, was er sagte, nicht im geringsten. Sie sah ihn an und dachte zwar nicht an etwas anderes, hatte aber ganz andere Gefühle. Sie empfand eine demütige, zärtliche Liebe zu diesem Mann, der nie all das, was sie verstand, begreifen würde, und es war, als liebte sie ihn gerade aus diesem Grund noch stärker und mit einem Anflug leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Außer diesem Gefühl, das sie ganz überflutete und daran hinderte, in alle Einzelheiten der Pläne ihres Gatten einzudringen, huschten ihr noch andere Gedanken durch den Kopf, die mit dem, was er sagte, nichts gemein hatten. Sie dachte an ihren Neffen – die Erzählung ihres Mannes von Nikolenkas Erregung während seines Gesprächs mit Pierre hatte ihr starken Eindruck gemacht – und stellte sich die einzelnen Züge seines zarten, empfindsamen Charakters vor. Wenn sie aber an ihren Neffen dachte, mußte sie zugleich auch an ihre eignen Kinder denken. Sie verglich nicht ihren Neffen mit ihnen, wohl aber das Gefühl, das sie selber für ihn und für ihre eignen Kinder hegte, und fand zu ihrem großen Kummer, daß ihrer Liebe für Nikolenka doch etwas fehlte.
Manchmal kam ihr der Gedanke, daß dieser Unterschied wohl auch vom Alter kommen könne, aber sie fühlte sich doch vor ihm schuldig und legte im innersten Herzen das Versprechen ab, sich zu bessern und das Unmögliche möglich zu machen, das heißt: in diesem Leben ihren Mann, ihre Kinder, Nikolenka und alle, die ihr nahestanden, so zu lieben, wie Christus die Menschheit geliebt hatte. Gräfin Marjas Seele strebte immer nach dem Unendlichen, Ewigen, Vollkommenen und konnte darum nie Ruhe finden.
Deshalb zeigte sich auf ihrem Gesicht der ernste Ausdruck des geheimen, hohen Leides ihrer Seele, die schwer an ihrem Körper trug. Nikolaj sah sie an. Mein Gott! Was sollte aus uns werden, wenn sie stürbe! Daran muß ich immer denken, wenn ich diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht sehe, dachte er, trat vor das Heiligenbild und fing an, das Abendgebet zu verlesen.
Als Natascha mit ihrem Mann allein geblieben war, sprach auch sie mit ihm, wie nur Mann und Frau miteinander zu reden pflegen, mit jener außerordentlichen Klarheit und Schnelligkeit im Auffassen und Mitteilen der beiderseitigen Gedanken auf einem Weg, der allen Regeln der Logik zuwiderläuft, ohne die Vermittlung des Urteils, der Vernunftschlüsse und Folgerungen, auf eine ganz besondere Art. Natascha war dermaßen daran gewöhnt, mit ihrem Mann nur so zu sprechen, daß es für sie das sicherste Zeichen einer Unstimmigkeit zwischen ihr und ihrem Mann war, wenn Pierre ihr seine Gedanken logisch auseinandersetzte. Wenn er einmal anfing zu beweisen und vernünftig und ruhig zu sprechen und sie, durch sein Beispiel verführt, nun ebenso zu reden anfing, dann wußte sie, daß dies unbedingt zu einem Streit führen mußte.
Von dem Augenblick an, da sie allein geblieben waren und Natascha mit glücklichen, weit geöffneten Augen leise auf Pierre zugegangen war, rasch seinen Kopf umfaßt, ihn an ihre Brust gedrückt und gesagt hatte: »Nun bist du ganz, ganz mein. Nun gehst du nicht wieder fort!« – hatte dieses Gespräch seinen Anfang genommen, das allen Gesetzen der Logik zuwiderlief, schon deshalb, weil beide zu gleicher Zeit von völlig verschiedenen Dingen sprachen. Diese gleichzeitige Beurteilung vieler Gegenstände war ihnen nicht nur kein Hindernis für ein klares Verständnis, sondern im Gegenteil sogar das sicherste Zeichen, daß sie einander ganz verstanden.
Wie in einem Traum alles unrichtig, sinnlos und voller Widersprüche ist, das Gefühl ausgenommen, aus dem der Traum hervorgeht, so waren auch bei diesen gegenseitigen Mitteilungen, die allen Gesetzen der Vernunft zuwiderliefen, nicht die Worte folgerichtig und klar, sondern nur das Gefühl, das sie hervorbrachte.
Natascha erzählte Pierre vom Leben und Treiben ihres Bruders, erzählte, wie sie ohne ihren Mann nicht gelebt, sondern nur gelitten habe, wie ihr Marie nur noch lieber geworden sei, und daß diese in jeder Beziehung doch besser sei als sie. Indem sie das sagte, gestand Natascha zwar Marjas überragende Vorzüge offen ein, verlangte aber dabei doch eben mit denselben Worten von Pierre, er solle sie dieser Marie und überhaupt allen anderen Frauen vorziehen und ihr dies besonders jetzt, nachdem er in Petersburg so viele Frauen gesehen hatte, noch einmal sagen.
Als Antwort auf diese Worte Nataschas erzählte Pierre ihr, wie unerträglich ihm in Petersburg bei den Abendgesellschaften und Diners die Gesellschaft der Damen gewesen sei.
»Ich habe ganz verlernt, mich mit Damen zu unterhalten«, sagte er. »Es war mir einfach langweilig. Besonders, da ich so viel zu tun hatte.«
Natascha sah ihn unverwandt an und fuhr fort:
»Marie ist zu reizend!« sagte sie. »Wie sie die Kinder versteht! Als sähe sie nur ihre Seelen. Gestern zum Beispiel war Mitenka unartig …«
»Wie er dem Vater ähnlich wird«, unterbrach sie Pierre.
Natascha begriff sofort, warum Pierre diese Bemerkung über die Ähnlichkeit zwischen Mitenka und Nikolaj machte: ihm war die Erinnerung an seinen Streit mit dem Schwager peinlich, und er wollte Nataschas Meinung darüber hören.
»Es ist eine schwache Seite Nikolajs, daß er sich mit nichts einverstanden erklärt, was nicht von allen anerkannt ist. Du aber, das kann ich verstehen, hast so etwas gerade gern: Ouvrir une carrière«, sagte sie und wiederholte dabei Worte, die Pierre selber einmal gebraucht hatte.
»Nein, die Hauptsache ist«, entgegnete Pierre, »für Nikolaj sind Gedanken und Überlegungen nur Tändelei, fast nur Zeitvertreib. Da häuft er sich eine Bibliothek auf und hat es sich zur Regel gemacht, kein neues Buch zu kaufen, bevor er nicht das vorhergekaufte gelesen hat. Werke von Sismondi[251], Rousseau, Montesquieu …« fügte er lächelnd hinzu. »Du weißt ja, wie ich ihn …« wollte er seine Worte wieder etwas abmildern, aber Natascha unterbrach ihn, um ihm zu verstehen zu geben, daß dies nicht nötig sei.
»Du meinst also, daß Gedanken für ihn nur Tändeleien …«
»Ja; für mich aber sind nur Gedanken wichtig und alles andere Tändelei. Ich habe die ganze Zeit über in Petersburg alles nur wie im Traum gesehen. Wenn mich ein Gedanke beschäftigt, so ist alles andere für mich Nebensache.«
»Wie schade, daß ich nicht dabei war, als du die Kinder begrüßt hast«, meinte Natascha. »Wer hat sich denn am meisten gefreut? Sicher Lisa.«
»Ja«, antwortete Pierre und fuhr dann wieder mit dem fort, was ihn beschäftigte: »Nikolaj sagte, wir sollen nicht denken. Aber ich kann doch nicht anders. Gar nicht davon zu reden, daß ich in Petersburg immer das Gefühl hatte – dir kann ich es ja sagen –, daß ohne mich alles auseinanderlaufen und jeder an einem anderen Strang ziehen wird. Aber es ist mir doch gelungen, sie alle unter einen Hut zu bringen, und mein Gedanke ist ja auch so einfach und klar. Ich sage ja gar nicht, daß wir diesem oder jenem entgegenarbeiten sollen. Auch wir können irren. Ich sage nur: Reicht euch die Hände, ihr, die ihr das Gute liebt, und laßt uns nur dem einen Banner folgen: werktätige Tugend. Fürst Sergej ist ein prächtiger Mensch und äußerst klug.«
Natascha zweifelte nicht daran, daß Pierres Gedanke ein großer Gedanke war, nur eines verwirrte sie dabei, und das war, daß er ihr Gatte war. Wie kann denn ein für die Gesellschaft so wichtiger und nützlicher Mensch dabei zugleich mein Gatte sein? Warum ist das so gekommen? Sie wollte ihren Zweifel zum Ausdruck bringen. Wer von allen Menschen könnte nur entscheiden, ob er wirklich um soviel klüger ist als alle anderen? fragte sie sich und ging in Gedanken all die Leute durch, die Pierre sehr hochschätzte. Nach seinen Erzählungen zu schließen achtete er aber keinen mehr als Platon Karatajew.
»Weißt du, an wen ich jetzt denke?« fragte sie. »An Platon Karatajew. Wie würde er darüber denken? Würde er dir jetzt zustimmen?«
Pierre wunderte sich nicht im geringsten über diese Frage. Er verstand den Gedankengang seiner Frau.
»Platon Karatajew?« wiederholte er, dachte nach und gab sich sichtlich aufrichtige Mühe, sich Karatajews Urteil über diesen Gegenstand vorzustellen. »Er hätte es nicht verstanden, aber übrigens vielleicht doch, ja.«
»Ich liebe dich schrecklich«, sagte Natascha plötzlich. »Schrecklich, schrecklich!«
»Nein, er würde mir nicht zustimmen«, fuhr Pierre nach einigem Nachdenken fort. »Was ihm aber gefallen würde: unser Familienleben. Er hatte immer nur den einen Wunsch: in allem Schönheit, Glück und Frieden zu sehen, und da hätte ich ihm mit Stolz unsere Familie gezeigt. Da sagst du immer, die Trennung sei etwas Furchtbares. Aber du kannst gar nicht glauben, was für ein besonderes Gefühl ich für dich nach einer solchen Trennung immer habe …«
»Das ist, weil …« wollte Natascha anfangen.
»Nein, das ist es nicht. Ich liebe dich immer, immer, und mehr zu lieben ist gar nicht möglich. Aber es ist etwas Besonderes … ja …« er sprach nicht zu Ende, denn ihre Blicke trafen sich und sagten einander alles übrige.
»Wie dumm das ist«, fing plötzlich Natascha wieder an, »was man da immer von den Flitterwochen sagt, daß die erste Zeit der Ehe die glücklichste sei. Im Gegenteil, jetzt ist es am allerschönsten. Wenn du bloß nicht immer verreisen wolltest. Weißt du noch, wie wir uns manchmal gezankt haben? Und immer war nur ich schuld daran. Immer nur ich. Und worüber wir uns eigentlich gezankt haben, das weiß ich nicht einmal mehr.«
»Das war immer das gleiche«, sagte Pierre lächelnd. »Du warst immer eifer…«
»Sprich es nicht aus, ich kann es nicht hören«, rief Natascha aus und ein kalter, böser Glanz leuchtete in ihren Augen auf. »Hast du sie gesehen?« fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu.
»Nein, und wenn ich sie auch gesehen hätte, hätte ich sie nicht gekannt.«
Beide schwiegen.
»Ach, weißt du? Als du heute im Arbeitszimmer so sprachst, mußte ich dich nur immer ansehen«, fuhr dann Natascha fort, sichtlich bemüht, die herangezogene Wolke zu verscheuchen. »Wie ein Ei dem andern gleicht ihr einander, du und der Junge.« So nannte sie ihr Söhnchen. »Ach, es ist auch Zeit, zu ihm zu gehen … Es ist soweit … Schade, daß ich gehen muß.«
Sie schwiegen ein paar Augenblicke. Dann wandten sie sich plötzlich gleichzeitig einander zu und fingen beide wieder zu reden an. Pierre selbstzufrieden und begeistert, Natascha mit stillem, seligem Lächeln. Als ihre Worte aufeinanderprallten, hielten sie beide inne und wollten jedes dem andern den Vortritt lassen.
»Nein, was wolltest du sagen? Sag’s doch, sag!«
»Nein, sprich du, ich fing nur so an, dummes Zeug«, erwiderte Natascha.
Pierre sprach das aus, was er angefangen hatte. Es war die Fortsetzung seiner selbstzufriedenen Erwägungen über seine Erfolge in Petersburg. Er glaubte in diesem Augenblick, dazu berufen zu sein, der ganzen russischen Gesellschaft, ja der ganzen Welt eine neue Richtung zu geben.
»Ich wollte nur sagen, daß alle Gedanken, die große Folgen gehabt haben, immer höchst einfach gewesen sind. Meine ganze Idee ist ja nur die: wenn die verdorbenen Elemente zusammenhalten und dadurch eine Macht bilden, so brauchen die ehrenhaften Menschen ja nur dasselbe zu tun. Das ist doch höchst einfach.«
»Ja.«
»Und was wolltest du sagen?«
»Ich? Nichts weiter, dummes Zeug.«
»Nein, sag es nur.«
»Es war nicht weiter von Bedeutung«, antwortete Natascha und lächelte noch strahlender. »Ich wollte dir nur von Petja erzählen. Heute, als die Wärterin kam und ihn mir abnahm, lachte er, kniff die Augen zu und schmiegte sich an mich, sicher glaubte er, er habe sich versteckt. Er war furchtbar niedlich. Doch halt, jetzt schreit er ja. Also leb wohl!« Und sie lief aus dem Zimmer.
Zu derselben Zeit brannte unten, in Nikolenka Bolkonskijs Seitenflügel, in seinem Schlafzimmer, das Nachtlämpchen. Der Knabe fürchtete sich im Dunkeln, und man konnte ihm diesen Fehler nicht abgewöhnen. Dessalles thronte hoch auf seinen vier Kissen und schlief, und aus seiner römischen Nase drangen gleichmäßige Schnarchlaute. Nikolenka war soeben aufgewacht, saß ganz in kalten Schweiß gebadet auf seinem Bett und starrte mit weit geöffneten Augen vor sich hin.
Ein furchtbarer Traum hatte ihn geweckt. Er hatte sich und Onkel Pierre in Helmen gesehen, in solchen Helmen, wie sie in seinem Plutarch abgebildet waren. Er und Onkel Pierre zogen einem gewaltigen Heer voran. Dieses Heer bestand aus weißen, schrägen Strichen, die die Luft erfüllten wie jene Spinnenfäden, die im Herbst umherfliegen und die Dessalles fil de la Vierge nannte. Ihnen voran eilte der Ruhm, der ebenso war wie diese Fäden, nur etwas kräftiger. Sie beide, er und Pierre, schwebten leicht und froh immer näher und näher dem Ziel zu. Plötzlich wurden die Fäden, die sie vorwärts bewegten, schwächer, kamen in Verwirrung, und beiden wurde mit einemmal ganz schwer zumute. Und plötzlich versperrte ihnen Onkel Nikolaj mit drohender und strenger Gebärde den Weg.
»Habt ihr das getan?« fragte er und wies auf die zerbrochenen Siegellackstangen und Federn hin. »Ich habe euch zwar lieb gehabt, aber Araktschejew hat es mir so befohlen, und deshalb werde ich den ersten, der sich noch einen Schritt weiter wagt, totschlagen.« Nikolenka sah sich nach Pierre um, doch Pierre war nun nicht mehr da. Er war nun auf einmal sein Vater, der Fürst Andrej. Sein Vater hatte weder Gestalt noch Form, aber er war da, und als Nikolenka ihn sah, fühlte er sich schwach aus Liebe, fühlte sich kraftlos, knochenlos, zerrinnend. Der Vater liebkoste und bedauerte ihn. Aber Onkel Nikolaj Iljitsch kam ihnen immer näher und näher. Da packte Nikolenka ein Grauen, und er erwachte.
Der Vater, dachte er, der Vater – obgleich zwei ähnliche Bilder im Hause waren, stellte sich Nikolenka den Vater doch nie in Menschengestalt vor –, der Vater war bei mir und hat mich geliebkost. Er hat mich gelobt, hat Onkel Pierre gelobt. Was er mir auch sagen mag, das tue ich. Mucius Scävola[252] hat seine Hand verbrennen lassen. Warum sollte ich nicht etwas Ähnliches erleben? Ich weiß, sie wollen, daß ich lernen soll. Und ich werde lernen. Aber einmal muß ich doch damit fertig sein, und dann tu ich es. Und um eines bitte ich Gott, daß ich auch so etwas erlebe wie die Männer im Plutarch, dann werde ich es ebenso machen, werde es noch besser machen. Alle müssen mich kennen, mich lieben, mich verehren … Und plötzlich fühlte Nikolenka, wie ein Schluchzen seine Brust erschütterte, und er fing an zu weinen.
»Etes-vous indisposé?« ließ sich Dessalles Stimme hören.
»Non«, erwiderte Nikolenka und legte sich wieder aufs Kissen.
Er ist lieb und gut, und ich habe ihn gern, dachte er über Dessalles.
Aber Onkel Pierre? Was ist das doch für ein wundervoller Mensch! Und mein Vater? Mein Vater! Mein Vater! Ja, ich will alles so machen, daß sogar er mit mir zufrieden sein soll …