Nach der Aussprache mit seiner Frau reiste Pierre nach Petersburg. Auf der Station Torschok fand er keine Pferde vor, oder der Stationsaufseher wollte ihm keine geben. Also mußte er warten. Pierre kleidete sich nicht aus, legte sich auf das Ledersofa hinter dem runden Tisch, streckte seine großen Füße in den warmen Schuhen über diesen Tisch und fing an nachzudenken.
»Befehlen der Herr, daß ich die Koffer heraufbringe? Soll ich das Bett und den Tee bereiten?« fragte der Kammerdiener.
Pierre gab keine Antwort, weil er weder etwas gehört noch gesehen hatte. Schon auf der letzten Station war er in tiefe Gedanken versunken und dachte nun immerfort nur an das eine, was ihm am wichtigsten erschien, so daß er allem, was um ihn herum vorging, nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Er hatte nicht nur nicht das geringste Interesse dafür, ob er früher oder später nach Petersburg kommen und auf dieser Station einen Platz finden würde, wo er sein müdes Haupt hinlegen konnte, sondern es war ihm im Vergleich mit jenen Gedanken, die ihn jetzt beschäftigten, sogar vollständig gleichgültig, ob er an diesem Ort nur ein paar Stunden oder sein ganzes künftiges Leben werde zubringen müssen.
Der Stationsaufseher, dessen Frau, der Kammerdiener und eine Frau, die Torschoker Stickereien feilbot, gingen im Zimmer aus und ein und boten ihm ihre Dienste an. Ohne seine Lage mit den nach oben ausgestreckten Füßen zu verändern, sah Pierre sie durch seine Brille an und begriff nicht, was sie wollten und wie all diese Menschen überhaupt leben konnten, ohne das, was ihn jetzt beschäftigte, gelöst zu haben. Was ihn so in Anspruch nahm, waren immer noch ein und dieselben Fragen, die ihn seit jenem Tage niemals verlassen hatten, wo er vom Duell aus dem Sokolniki-Wäldchen zurückgekehrt war und die erste qualvoll schlaflose Nacht verbracht hatte. Jetzt, in den einsamen Stunden der Reise, stürmten sie mit ganz besonderer Gewalt auf ihn ein. Von wo auch seine Gedanken ausgingen, immer wieder kehrten sie zu denselben Fragen zurück, über die er sich nicht klarwerden konnte, die er sich aber unaufhörlich immer wieder und wieder vorlegen mußte. Es war, als ob sich die Hauptschraube in seinem Kopf, die seinem ganzen Leben eine Stütze gewesen war, gelockert hätte. Diese Schraube ging weder heraus noch hinein, aber sie drehte sich, ohne zu greifen, immer in demselben Gewinde herum, und er konnte gar nicht anders, als immer wieder an ihr drehen.
Der Stationsaufseher trat ins Zimmer und bat untertänig, Seine Erlaucht möchte sich nur noch ein paar Stündchen gedulden, dann werde er – komme, was wolle – Seiner Erlaucht Kurierpferde geben. Offenbar log er und wollte nur von dem Reisenden mehr Geld herausschinden.
Ist das nun gut oder böse? fragte sich Pierre. Für mich ist es gut, für einen anderen Reisenden schlecht, er selber aber kann wohl nicht anders, weil er sonst nichts zu essen hätte. Wie er mir erzählte, hat ihn ein Offizier einmal deshalb geschlagen. Und der Offizier schlug ihn wiederum, weil es seine Pflicht war, schneller zu reisen. Ich habe auf Dolochow geschossen, weil ich mich für beleidigt hielt, und Ludwig der Sechzehnte wurde zum Tode verurteilt, weil man ihn für einen Verbrecher hielt, doch ein Jahr darauf wurden die, welche ihn hingerichtet hatten, ebenfalls aus irgendeinem Grunde getötet. Was ist böse? Was ist gut? Was muß man lieben? Was muß man hassen? Wozu lebt man und was bin ich? Was ist das Leben? Was ist der Tod? Was für eine Kraft lenkt das alles? fragte er sich.
Und auf alle diese Fragen konnte Pierre keine Antwort finden, außer der einen, die gegen jede Logik verstieß und gar nicht auf diese Fragen paßte. Diese eine Antwort war: Wenn du stirbst, wird alles zu Ende sein. Wenn du stirbst, wirst du entweder alles erfahren oder zu fragen aufhören. – Aber selbst zu sterben war furchtbar.
Die Handelsfrau bot ihm in winselndem Ton ihre Ware an, besonders die mit bunten Kanten verzierten Torschoker Saffianpantoffeln. Ich habe Hunderte von Rubeln und weiß nicht, was ich damit anfangen soll, sie aber steht in zerrissenem Pelz vor mir und sieht mich schüchtern an, dachte Pierre. Und wozu braucht sie Geld? Kann dieses Geld sie auch nur um ein Haar glücklicher machen, nur um ein Haar zu ihrem Seelenfrieden beitragen? Kann irgend etwas in der Welt darauf hinwirken, daß sie, wie auch ich, weniger dem Übel, weniger dem Tode ausgesetzt ist? Der Tod, der allem ein Ende macht, kann heute oder morgen kommen, und ist dann nicht durch diesen einen Augenblick dies alles gleichgültig im Vergleich mit der Ewigkeit? Und er preßte abermals gegen die nicht mehr fassende Schraube, aber diese drehte sich immer nur in dem ausgeleierten Gewinde, ohne zu greifen.
Der Diener überreichte ihm ein zur Hälfte aufgeschnittenes Buch, einen Roman in Briefen von Madame Souza[85]. Er fing an, von den Leiden und tugendhaften Kämpfen irgendeiner Amélie de Mansfeldt zu lesen. Warum kämpft sie denn gegen ihren Verführer, wenn sie ihn doch liebt? dachte er. Kann Gott einen Trieb in ihre Seele legen, der seinem Willen zuwiderläuft? Meine frühere Frau kämpfte nicht dagegen an und hatte vielleicht recht. Nichts hat man herausgefunden, nichts hat man durch Gedankenarbeit erreicht, sagte sich Pierre wieder. Das einzige, was wir wissen, ist, daß wir nichts wissen. Das ist die höchste Stufe der menschlichen Weisheit.
Alles in ihm selber und um ihn herum erschien ihm verworren, sinnlos und abstoßend. Aber gerade das Gefühl, daß ihn alles um ihn herum anwiderte, empfand Pierre als eine Art aufreizenden Genusses.
»Darf ich Euer Erlaucht bitten, ein ganz klein wenig Platz für diesen Herrn hier zu machen«, sagte der Stationsaufseher, der ins Zimmer getreten war und einen anderen Reisenden, der ebenfalls wegen des Mangels an Pferden nicht weiterfahren konnte, mitbrachte.
Dieser Reisende war ein untersetzter, derbknochiger alter Mann mit gelbem runzligem Gesicht und leuchtenden Augen von einer unbestimmten grauen Farbe unter buschigen grauen Augenbrauen.
Pierre nahm die Beine vom Tisch, stand auf und legte sich auf das für ihn aufgestellte Bett. Er warf ab und zu einen Blick auf den Fremden, der sich mit müdem, finsterem Gesicht, ohne sich nach Pierre umzusehen, mit Hilfe seines Dieners schwerfällig auskleidete. Nachdem er in einen abgetragenen, mit Nanking überzogenen Schafpelz gekrochen war und Filzstiefel über seine dürren, knochigen Beine gezogen hatte, setzte er sich auf das Sofa, lehnte seinen großen, an den Schläfen sehr breiten, kurzgeschorenen Kopf gegen die Rücklehne und sah sich nun Besuchow an. Der ernste, kluge, sprechende Ausdruck dieses Blickes setzte Pierre in Erstaunen. Er bekam Lust, sich mit ihm zu unterhalten, aber als er sich gerade mit einer Frage über seine Reise an ihn wenden wollte, hatte der Reisende bereits die Augen geschlossen und saß, die runzligen alten Hände gefaltet, an deren einem Finger er einen großen gußeisernen Ring mit einem Adamskopf trug, still und unbeweglich da, entweder um auszuruhen oder, wie es Pierre schien, über irgend etwas ruhig und tief nachzudenken. Der Diener des Reisenden war ebenfalls ein alter Mann mit gelbem, runzligem Gesicht; er trug weder einen Schnurrbart noch einen Backenbart, und zwar hatte er sich den nicht etwa abrasiert, sondern es war ihm nie einer gewachsen. Geschäftig packte dieser Alte jetzt den Proviantsack aus, machte den Teetisch zurecht und brachte einen siedenden Samowar herein. Als alles bereit war, schlug der Reisende die Augen auf, rückte an den Tisch heran, goß sich ein Glas Tee ein, füllte dann noch ein zweites für den bartlosen Diener und reichte es ihm. Pierre wurde unruhig, er fühlte, daß es notwendig, ja unumgänglich war, mit diesem Reisenden ein Gespräch anzuknüpfen.
Der Diener brachte das ausgetrunkene Glas umgestülpt zurück, sowie den Zucker, den er nicht aufgegessen hatte, und fragte, ob der Herr noch etwas wünsche.
»Nein. Gib mir nur noch das Buch«, sagte der Reisende.
Der Diener brachte das Buch, das Pierre für ein religiöses hielt, und der Reisende vertiefte sich in die Lektüre. Pierre beobachtete ihn. Plötzlich legte der Fremde ein Zeichen ins Buch, klappte es zu und legte es beiseite, lehnte sich abermals an die Lehne zurück, schloß die Augen und blieb so wieder in derselben Stellung wie vorhin sitzen. Pierre betrachtete ihn und hatte sich noch nicht wieder abwenden können, als der Alte plötzlich die Augen aufschlug und Pierre mit seinem ernsten, strengen Blick gerade ins Gesicht sah.
Pierre fühlte sich verwirrt und wollte diesem Blick ausweichen, aber die leuchtenden Augen des alten Mannes zogen ihn unwiderstehlich an.
»Ich habe das Vergnügen, den Grafen Besuchow vor mir zu sehen, wenn ich nicht irre«, sagte der Fremde laut und gemessen.
Pierre schwieg und sah den Sprechenden fragend durch seine Brille an.
»Ich habe von Ihnen gehört«, fuhr der Fremde fort, »und von dem Unglück, das Ihnen zugestoßen ist, mein Herr.« – Es war, als unterstriche er das Wort »Unglück« ganz besonders, als wolle er damit sagen: Ja, ein Unglück ist es, wie Sie es auch bezeichnen mögen; ich weiß, daß das, was Ihnen in Moskau zugestoßen ist, ein Unglück gewesen ist. – »Das tut mir von Herzen leid, mein Herr.«
Pierre wurde rot, zog hastig die Beine vom Bett herunter, beugte sich zu dem Alten hinüber und lächelte schüchtern und gezwungen.
»Ich fange nicht etwa aus Neugierde davon an, mein Herr, sondern aus viel ernsteren Gründen.«
Er schwieg, ohne seinen Blick von Pierre abzuwenden, rückte dann auf dem Sofa etwas zur Seite, wodurch er Besuchow aufforderte, sich neben ihn zu setzen. Pierre war es peinlich, mit diesem Alten ein solches Gespräch zu führen, aber er fügte sich ihm willenlos, ging zu ihm hin und setzte sich neben ihn.
»Sie sind unglücklich, mein Herr«, fuhr der Fremde fort. »Sie sind noch jung, ich aber bin ein alter Mann. Ich möchte Ihnen helfen, soweit es in meinen Kräften steht.«
»Ach, ja«, erwiderte Pierre mit gezwungenem Lächeln. »Ich danke Ihnen sehr … Woher kommen Sie denn jetzt?«
Das Gesicht des Fremden war unfreundlich, ja sogar kalt und streng, und trotzdem übten sowohl die Worte als auch dieses Gesicht eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Pierre aus.
»Wenn Ihnen aber aus irgendeinem Grund dieses Gespräch mit mir unangenehm sein sollte«, sagte der Alte, »so sagen Sie es mir nur, mein Herr.«
Und plötzlich verklärte ein väterlich liebevolles Lächeln seine Züge.
»Ach nein, durchaus nicht, im Gegenteil, ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Pierre und betrachtete, als er wieder einen Blick auf die Hände seines neuen Bekannten warf, dessen Ring in der Nähe. Er sah darauf den Adamskopf, das Kennzeichen der Freimaurerei[86].
»Erlauben Sie mir eine Frage«, sagte er. »Sie sind Freimaurer?«
»Ja, ich gehöre zur Brüderschaft der Freimaurer«, erwiderte der Fremde und schaute Pierre immer tiefer und tiefer in die Augen, »und strecke Ihnen in meinem und auch in ihrem Namen die brüderliche Hand entgegen.«
»Ich fürchte nur«, sagte Pierre lächelnd und schwankte zwischen dem Vertrauen, das ihm die Persönlichkeit des Fremden einflößte, und der alten Gewohnheit, über die Ansichten der Freimaurer zu spotten, »ich fürchte nur, daß ich dem Verständnis Ihrer Ideen zu fern stehe, oder wie soll ich sagen, ich fürchte, daß meine Denkweise, was Weltanschauung anbetrifft, der Ihrigen so zuwiderläuft, daß wir einander kaum verstehen werden.«
»Ihre Denkweise ist mir wohlbekannt«, sagte der Freimaurer, »denn diese Ihre Denkweise, von der Sie sagen und annehmen, daß sie die Frucht Ihrer Geistesarbeit sei, ist den meisten Menschen zu eigen; sie ist das bei allen gleiche Ergebnis der Hoffart, der Trägheit und der Unbildung. Verzeihen Sie mir, mein Herr, aber wenn ich das nicht gewußt hätte, hätte ich dieses Gespräch gar nicht angefangen. Ihre Denkweise ist eine trostlose Verirrung.«
»Mit demselben Recht könnte ich annehmen, daß Sie sich in einer Verirrung befinden«, erwiderte Pierre mit schwachem Lächeln.
»Ich würde niemals zu behaupten wagen, daß ich die Wahrheit kenne«, sagte der Freimaurer, der durch seine bestimmte und feste Redeweise Pierre immer mehr und mehr in Erstaunen setzte. »Kein Mensch kann allein bis zur Wahrheit vordringen. Nur Stein auf Stein, unter Mitwirkung eines jeden aus den Millionen von Geschlechtern vom Stammvater Adam bis auf unsere Zeit, kann jener Tempel errichtet werden, der dem großen Gott eine würdige Stätte sein soll«, sagte der Freimaurer und schloß die Augen.
»Ich muß Ihnen gestehen, ich glaube nicht … glaube nicht an Gott«, entgegnete Pierre wie bedauernd, und als ob es ihn Mühe koste, dies auszusprechen. Aber er fühlte, daß er die volle Wahrheit sagen mußte.
Der Freimaurer sah Pierre aufmerksam an und lächelte, wie ein Reicher, der Millionen in Händen hat, über einen armen Schlucker lächelt, der ihm eingesteht, daß er armer Kerl nicht fünf Rubel besitze, die zu seinem Glück hinreichen würden.
»Ja, Sie kennen Ihn nicht, mein Herr«, sagte der Freimaurer. »Sie können Ihn gar nicht kennen, und deshalb sind Sie auch unglücklich, weil Sie Ihn nicht kennen.«
»Ja, ja, unglücklich bin ich«, bestätigte Pierre, »aber was soll ich tun?«
»Sie kennen Ihn nicht, mein Herr, und deshalb sind Sie so unglücklich. Sie kennen Ihn nicht, und doch ist Er hier, Er ist in mir, Er ist in meinen Reden, Er ist in dir und sogar in jenen lästerlichen Worten, die du soeben aussprachst«, sagte der Freimaurer ernst und mit zitternder Stimme. Er schwieg eine Weile und seufzte, sichtlich bemüht, ruhiger zu werden.
»Wenn Er nicht existierte«, fuhr er dann leise fort, »hätten wir nicht über Ihn sprechen können, mein Herr. Und von was, von wem haben wir gesprochen? Wen hast du geleugnet?« sagte er plötzlich, und seine Stimme klang begeistert, streng und eindringlich. »Wer hat Ihn sich erdacht, wenn Er nicht ist? Warum ist in dir die Vermutung aufgestiegen, daß es solch ein unbegreifliches Wesen gibt? Warum schlummert in dir und aller Welt eine Ahnung von dem Vorhandensein eines solch unfaßbaren, allmächtigen Wesens, das von Ewigkeit zu Ewigkeit und in allen seinen Eigenschaften unendlich ist?«
Er hielt inne und schwieg lange. Pierre konnte und wollte dieses Schweigen nicht brechen.
»Er ist, aber es ist schwer, Ihn mit dem Verstande zu fassen«, fing der Freimaurer wieder an. Er sah Pierre nicht mehr ins Gesicht, sondern blickte vor sich hin und blätterte mit seinen welken Händen, die er vor innerer Erregung nicht ruhig halten konnte, in den Seiten des Buches. »Wenn das ein Mensch wäre, an dessen Existenz du zweifeltest, so würde ich ihn zu dir hinführen, ihn an die Hand nehmen und ihn dir zeigen. Aber wie kann ich armer Sterblicher Seine ganze Allmacht, Seine ganze Unendlichkeit, Seine ganze Allgüte einem Menschen zeigen, der blind ist, oder einem, der absichtlich die Augen schließt, damit er Ihn nicht sieht, Ihn nicht begreift, um seine eigne Abscheulichkeit und Verderbtheit nicht zu sehen und sich ihrer nicht bewußt zu werden.« Er schwieg. »Wer bist du? Was bist du? Du bildest dir ein, ein Weiser zu sein, weil du diese lasterhaften Worte aussprechen kannst«, sagte er mit finsterem, verächtlichem Lächeln, »und doch bist du törichter und unvernünftiger als ein kleines Kind, das mit den Teilen einer kunstvoll zusammengesetzten Uhr spielt und zu sagen wagt, da es die Bedeutung dieser Uhr nicht verstehe, könne es auch nicht an den Meister glauben, der sie zusammengesetzt hat. Ihn zu begreifen ist schwer … Seit Jahrtausenden, vom Urvater Adam bis auf unsere Zeit, arbeiten wir an dieser Erkenntnis und sind noch eine Ewigkeit vom Ziel entfernt. Daß es aber so schwer ist, ihn zu begreifen, ist nur ein Beweis für unsere eigne Schwäche und Seine Größe.«
Pierre hatte mit klopfendem Herzen dem Freimaurer zugehört und sah ihm mit leuchtenden Augen gerade ins Gesicht. Er hatte ihn nicht unterbrochen, nichts gefragt und glaubte von ganzem Herzen alles, was ihm dieser fremde Mensch da sagte.
Glaubte er den klugen Beweisen in der Rede des Freimaurers? Oder glaubte er, wie es Kinder zu tun pflegen, an den Tonfall, an die Überzeugtheit, an die Herzlichkeit seiner Worte? Glaubte er an das Beben seiner Stimme, das ihn mitunter fast zum Stocken brachte? Oder an die leuchtenden Greisenaugen, die nur in dieser einen Überzeugung alt geworden waren? Oder an die Ruhe und Festigkeit im Bewußtsein der eignen Bestimmung, welche die ganze Persönlichkeit des Freimaurers verklärten und die auf Pierre im Vergleich zu seiner eignen niedergedrückten und hoffnungslosen Stimmung einen ganz besonders starken Eindruck machten? Mit ganzer Seele gab er sich dem Wunsch hin zu glauben, und er glaubte. Und gleichzeitig empfand er das Glücksgefühl der Beruhigung, der Wiedergeburt, der Rückkehr ins Leben.
»Man kommt nicht durch den Verstand zu ihm hin, sondern nur durch das Leben«, sagte der Freimaurer.
»Aber ich verstehe nicht«, warf Pierre ein, der voll Angst einen Zweifel in sich aufsteigen fühlte und fürchtete, daß er durch schwache und unklare Beweise des Freimaurers seinen Glauben wieder verlieren könne, »ich verstehe nicht«, sagte er, »warum der menschliche Verstand nicht bis zu jener Erkenntnis gelangen kann, von der Sie sprechen.«
Der Freimaurer lächelte in seiner sanften, väterlichen Art.
»Die höchste Weisheit und Wahrheit ist wie ein ungetrübter Quell, den wir in uns aufzunehmen streben«, erwiderte er. »Kann ich diesen ungetrübten Quell in einer unsauberen Schale auffangen und dann über seine Klarheit urteilen? Nur nach einer inneren Reinigung meiner eignen Person kann ich den aufgenommenen Quell in seiner natürlichen Klarheit erhalten.«
»Ja, ja, so ist es«, rief Pierre froh aus.
»Die höchste Weisheit fußt nicht nur auf dem Verstand, auf jenen weltlichen Wissenschaften wie Physik, Geschichte, Chemie und so weiter, aus denen sich unser Verstandeswissen zusammensetzt. Die höchste Weisheit ist nur ein einziges Ganzes. Die höchste Weisheit umfaßt nur eine einzige Wissenschaft, die Erkenntnis des Alls, die für den ganzen Bau der Welt und die Stellung, die der Mensch darin einnimmt, eine Erklärung bietet. Um aber diese Erkenntnis in sich aufzunehmen, muß man sich selber erst reinigen und seinen inneren Menschen erneuern, man muß also erst glauben und vollkommen werden, ehe man zur Erkenntnis gelangt. Und damit wir dieses Ziel erreichen können, ist uns ein Strahl göttlichen Lichtes in die Seele gelegt worden, den wir Gewissen nennen.«
»Ja, ja«, stimmte Pierre bei.
»Betrachte mit geistigen Augen deinen inneren Menschen und frage dich selber: bist du zufrieden mit dir? Was hast du erreicht, während du dich nur vom Verstand allein lenken ließest? Was bist du? Sie sind jung, Sie sind reich, Sie sind klug und gebildet, mein Herr. Was haben Sie gemacht mit allen diesen Gaben, die Ihnen geschenkt wurden? Sind Sie mit sich und Ihrem Leben zufrieden?«
»Nein, ich hasse mein Leben«, stieß Pierre stirnrunzelnd hervor.
»Du hassest es? So ändere es doch, reinige dich, und je lauterer du wirst, um so mehr wirst du in die Erkenntnis eindringen. Sehen Sie sich Ihr Leben an, mein Herr! Wie haben Sie es verbracht? In wilden Orgien und Ausschweifungen. Sie haben alles von der Gesellschaft erhalten und ihr nichts wiedergegeben. Ihnen wurde Reichtum zuteil. Wie haben Sie ihn angewandt? Was haben Sie für Ihren Nächsten getan? Haben Sie an die Tausende Ihrer Sklaven gedacht, haben Sie sie körperlich und sittlich gefördert? Nein. Sie haben ihre Arbeit ausgebeutet, um ein ausschweifendes Leben zu führen. Das ist es, was Sie getan haben. Haben Sie sich ein Arbeitsfeld im Staate gewählt, wo Sie Ihrem Nächsten hätten Nutzen bringen können? Nein. Sie haben Ihr Leben im Müßiggang verbracht. Dann haben Sie sich verheiratet, mein Herr, haben die Verantwortung übernommen, einer jungen Frau ein Lenker und Berater zu sein, und was haben Sie getan? Sie haben ihr nicht geholfen, mein Herr, den Weg zur Wahrheit zu finden, sondern haben Sie in einen Abgrund von Lüge und Unglück hineingestoßen. Ein Mensch hat Sie beleidigt, Sie haben ihn fast totgeschlagen. Und nun sagen Sie, daß Sie Gott nicht kennen und Ihr Leben hassen. Das ist nicht zu verwundern, mein Herr!«
Nach diesen Worten ließ sich der Freimaurer, als wäre er müde vom ununterbrochenen Reden, an die Lehne des Sofas zurückfallen und schloß wieder die Augen. Pierre sah in sein strenges, starres, fast lebloses Greisengesicht und bewegte lautlos die Lippen. Er wollte sagen: Ja, ich habe ein schändliches, träges, ausschweifendes Leben geführt, wagte aber nicht, das Schweigen zu brechen.
Plötzlich hustete der Freimaurer heiser, wie es alte Leute zu tun pflegen, und rief seinen Diener.
»Wie steht’s mit den Pferden?« fragte er, ohne Pierre anzusehen.
»Es sind Ersatzpferde beschafft worden«, erwiderte der Diener. »Aber wollen Sie sich nicht noch etwas ausruhen?«
»Nein, laß anspannen!«
Kann er wirklich so fortgehen und mich allein lassen, ohne mir alles gesagt und mir Hilfe versprochen zu haben? dachte Pierre, stand auf, fing an mit gesenktem Kopf, ab und zu einen Blick auf den Freimaurer werfend, im Zimmer auf und ab zu gehen. Ja, das habe ich nie bedacht, daß ich ein so nichtswürdiges, ausschweifendes Leben geführt habe, aber ich habe dieses Leben nie geliebt, nie gewollt, dachte Pierre. Und dieser Mensch kennt nun die Wahrheit und könnte sie mir offenbaren, wenn er wollte.
Pierre wollte das dem Freimaurer sagen, hatte aber nicht den Mut dazu. Der Reisende packte mit seinen greisen Händen, die an solche Arbeit gewöhnt zu sein schienen, seine Sachen zusammen und knöpfte den Schafpelz zu. Als er damit fertig war, wandte er sich an Besuchow und fragte in gleichmütigem, höflichem Ton: »Wohin reisen Sie nun, mein Herr?«
»Ich? … nach Petersburg«, erwiderte Pierre mit kindlich unentschlossener Stimme. »Ich möchte Ihnen noch meinen Dank aussprechen. Ich bin in allem mit Ihnen einverstanden. Glauben Sie nicht, daß ich so schlecht bin. Ich wünschte von Herzen, so zu sein, wie Sie mich haben wollen, aber noch nie hat mir ein Mensch seine hilfreiche Hand dazu geboten … Übrigens bin ich ja vor allem selber daran schuld. Helfen Sie mir, lehren Sie mich, und vielleicht werde ich dann …«
Pierre konnte nicht weitersprechen, er schnaufte durch die Nase und wandte sich ab.
Der Freimaurer schwieg lange, offenbar dachte er über etwas nach.
»Alle Hilfe kommt von Gott«, sagte er dann. »Aber jenes Maß von Beistand, das unser Orden gewähren kann, soll Ihnen zuteil werden, mein Herr. Sie reisen nach Petersburg, überbringen Sie das dem Grafen Willarski.« Er zog ein Notizbuch hervor und schrieb ein paar Worte auf ein großes, vierfach zusammengefaltetes Blatt. »Und noch einen Rat darf ich Ihnen wohl geben, mein Herr. Wenn Sie in die Residenz kommen, so widmen Sie die erste Zeit nur der Einsamkeit und Selbstbetrachtung und geraten Sie nicht wieder auf Ihre früheren Lebenspfade. Und nun wünsche ich Ihnen Glück auf den Weg, mein Herr«, sagte er, als er bemerkte, daß der Diener ins Zimmer getreten war, »und guten Erfolg …«
Der Fremde war Osip Alexejewitsch Basdjejew[87] gewesen, wie Pierre dann aus dem Fremdenbuch des Stationsaufsehers ersah. Basdjejew war einer der berühmtesten Freimaurer und Martinisten[88] noch aus Nowikows Zeiten[89]. Noch lange nach seiner Abfahrt legte sich Pierre nicht schlafen, fragte auch nicht nach Pferden, sondern ging im Stationszimmer auf und ab, überdachte seine schändliche Vergangenheit und malte sich, von seiner Wiedergeburt begeistert, ein seliges, makelloses, sittenreines künftiges Leben aus, das ihm so leicht schien. Er glaubte nur deshalb lasterhaft gewesen zu sein, weil seine Seele gewissermaßen nur zufällig das Bewußtsein verloren habe, wie schön es war, ein sittenreines Leben zu führen. In seinem Herzen war nicht eine Spur der früheren Zweifel zurückgeblieben. Er glaubte fest an die Möglichkeit einer brüderlichen Vereinigung aller Menschen, um sich gegenseitig auf dem Weg der Tugend zu unterstützen, und als eine solche brüderliche Vereinigung erschien ihm der Freimaurerbund.
In Petersburg angelangt, ließ Pierre niemanden etwas von seiner Ankunft wissen, fuhr nirgendshin und verbrachte ganze Tage über der Lektüre des Thomas a Kempis[90], dessen Buch ihm durch unbekannte Hand zugegangen war. Während er dieses Buch las, wurde ihm immer wieder das eine klar, und er empfand es als einen noch nie gekosteten Genuß, an die Möglichkeit glauben zu können, daß die Vollkommenheit erreichbar war und es eine brüderlich tätige Liebe unter den Menschen gab, wie ihm Osip Alexejewitsch verkündet hatte.
Ungefähr acht Tage nach seiner Ankunft kam der junge polnische Graf Willarski, den Pierre aus der Petersburger Gesellschaft flüchtig kannte, eines Abends zu ihm und trat mit derselben offiziellen, feierlichen Miene in sein Zimmer, mit der seinerzeit Dolochows Sekundant bei ihm eingetreten war. Nachdem er die Tür fest hinter sich geschlossen und sich überzeugt hatte, daß außer Pierre niemand im Zimmer war, wandte er sich zu ihm.
»Ich komme mit einem Auftrag und einem Vorschlag zu Ihnen, Graf«, sagte er, ohne Platz zu nehmen. »Eine in unserer Brüderschaft sehr hochstehende Persönlichkeit hat sich dafür verwandt, Sie vor Ablauf der gesetzten Frist in unseren Bund aufzunehmen, und mich gebeten, Ihr Bürge zu sein. Ich erachte es für eine heilige Pflicht, den Willen dieser Persönlichkeit zu erfüllen. Wollen Sie unter meiner Bürgschaft in den Bund der Freimaurer eintreten?«
Der kalte, ernste Ton dieses Menschen, den Pierre bisher fast immer nur mit dem liebenswürdigsten Lächeln auf Bällen und in Gesellschaft schöner Damen gesehen hatte, setzte Pierre in Erstaunen.
»Ja, das ist mein Wunsch«, sagte Pierre.
Willarski senkte den Kopf.
»Noch eine Frage, Graf«, sagte er dann, »und ich bitte Sie, mir diese Frage nicht als künftiger Freimaurer, sondern als Ehrenmann in aller Aufrichtigkeit zu beantworten: Haben Sie sich von Ihren früheren Überzeugungen losgemacht, glauben Sie an Gott?«
Pierre dachte nach.
»Ja … ja, ich glaube an Gott«, sagte er.
»Dann …« wollte Willarski fortfahren, aber Pierre unterbrach ihn: »Ja, ich glaube an Gott«, sagte er noch einmal.
»Dann können wir fahren«, erwiderte Willarski. »Mein Wagen steht zu Ihren Diensten.«
Während des ganzen Weges sprach Willarski kein Wort. Auf Pierres Frage, was er zu tun und zu antworten habe, erwiderte er nur, daß Brüder, die würdiger seien als er, ihn prüfen würden, und er weiter nichts zu tun habe, als die Wahrheit zu sagen.
Nachdem sie in den Torweg des großen Hauses, wo sich die Loge befand, eingefahren und eine dunkle Treppe hinaufgestiegen waren, traten sie in ein kleines, erleuchtetes Vorzimmer, wo sie ihre Pelze ablegten, ohne daß irgendwelche Diener ihnen dabei behilflich waren. Aus diesem Vorraum schritten sie in ein anderes Zimmer. Ein Mensch in ganz eigentümlicher Kleidung erschien an der Tür. Willarski ging auf ihn zu, sagte ein paar französische Worte zu ihm und trat dann an einen kleinen Schrank, in dem Pierre noch mehr solcher Kleidungsstücke, wie er sie bisher noch nie gesehen hatte, hängen sah. Dann nahm Willarski ein Tuch aus dem Schrank, legte es Pierre über die Augen und band die Enden hinten zu einem Knoten zusammen, wobei er Pierres Haare mit zu fassen bekam, was diesem ziemlich weh tat. Darauf zog er ihn an sich, küßte ihn, nahm ihn bei der Hand und führte ihn irgendwohin. Pierre fühlte noch immer das Ziepen der mit in den Knoten gebundenen Haare, und dieser Schmerz zog ihm die Stirne kraus, aber er lächelte, als schäme er sich dessen. So ging er mit seiner riesigen Gestalt, den herabhängenden Armen, der finsteren Stirn und der lächelnden Miene mit unsicheren, zaghaften Schritten hinter Willarski her.
Nachdem Willarski Pierre etwa zehn Schritte weit geführt hatte, blieb er stehen.
»Was auch mit Ihnen geschehen mag«, sagte er, »Sie müssen wie ein Mann alles ertragen, wenn Sie wirklich fest entschlossen sind, in unsere Brüderschaft einzutreten.« Pierre antwortete ihm mit einem zustimmenden Kopfnicken. »Wenn Sie ein Klopfen an der Tür hören, nehmen Sie die Binde von Ihren Augen«, fuhr Willarski fort. »Ich wünsche Ihnen Mut und Erfolg.« Willarski drückte Pierre die Hand und ging hinaus.
Pierre stand nun allein im Zimmer und lächelte immer noch in derselben Weise. Ein paarmal hob er die Schultern, führte seine Hand bis an das Tuch, als wolle er es abnehmen, ließ sie aber sogleich wieder sinken. Die fünf Minuten, die er so mit verbundenen Augen dagestanden hatte, kamen ihm wie eine Stunde vor. Seine Hände wurden ganz starr, seine Beine knickten ein, er hatte das Gefühl, als wäre er todmüde. Er empfand die verschiedenartigsten, verworrensten Gefühle. Vor dem, was mit ihm geschehen werde, hatte er ein wenig Angst, aber noch mehr fürchtete er, sich diese Angst merken zu lassen. Er war neugierig auf das, was man mit ihm anfangen, ihm enthüllen werde, aber vor allem war er doch glücklich darüber, daß nun endlich der Augenblick gekommen war, wo er den Weg zur Wiedergeburt und einem sittenreinen Leben und Wirken betreten durfte, von dem er seit seiner Begegnung mit Osip Alexejewitsch immer geträumt hatte.
Da ertönten starke Schläge gegen die Tür. Pierre nahm die Binde ab und sah sich um. Im Zimmer war es schwarz und finster, nur in einer Ecke brannte ein Lämpchen in etwas Weißem. Pierre trat näher hinzu und sah, daß das Lämpchen auf einem schwarzen Tische stand, auf dem weiter nichts als ein aufgeschlagenes Buch lag. Das Buch war die Heilige Schrift, und das Weiße, worin das Lämpchen brannte, war ein Totenschädel mit seinen tiefen Augenhöhlen und weißen Zähnen. Pierre las die ersten Worte des Evangeliums: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott«, ging dann um den Tisch herum und erblickte eine große, offene Truhe, die mit etwas angefüllt schien. Es war ein Sarg mit menschlichen Gebeinen. Doch all das, was er hier sah, setzte ihn keineswegs in Erstaunen. Er hatte in der Hoffnung, ein ganz neues Leben anfangen zu können, das von seinem früheren himmelweit verschieden war, etwas ganz Außergewöhnliches erwartet, etwas noch Ungewöhnlicheres, als er hier sah. Den Totenschädel, den Sarg, das Evangelium – dies alles schien er erwartet zu haben, ja, fast noch mehr. Er sah sich um, bemüht, eine weiche Stimmung in sich hervorzurufen. »Gott, Tod, Liebe, Brüderschaft unter den Menschen«, murmelte er vor sich hin und verband mit diesen Worten dunkle, aber freudige Vorstellungen. Da ging die Tür auf und jemand trat herein.
Bei dem schwachen Licht, bei dem sich Pierre aber trotzdem hatte umschauen können, erkannte er in dem Eintretenden einen Menschen von kleinem Wuchs. Da dieser Mensch sichtlich aus dem Hellen in diese Finsternis trat, blieb er einen Augenblick unsicher stehen, ging dann mit vorsichtigen Schritten auf den Tisch zu und legte seine kleinen, mit Lederhandschuhen bekleideten Hände darauf.
Dieser kleine Mann war mit einem weißen Lederschurz bekleidet, der seine Brust und einen Teil der Beine bedeckte. Um den Hals trug er eine Art Halsband, und unter diesem Halsband hervor trat eine hohe weiße Faltenkrause, die sein ovales Gesicht umrahmte, auf das von unten her ein matter Lichtschein fiel.
»Wozu sind Sie hierher gekommen?« fragte der Eingetretene Pierre und wandte sich auf ein Geräusch, das Pierre verursacht hatte, nach diesem um. »Wozu sind Sie, der Sie nicht an die Wahrheit des Lichtes glauben und das Licht nicht sehen, hierher gekommen, und was wollen Sie von uns? Weisheit, Tugend, Aufklärung?«
In dem Augenblick, als die Tür aufgegangen und ein ganz fremder Mensch eingetreten war, hatte Pierre ein ähnliches Gefühl der Furcht und der Andacht empfunden, wie er es als Kind vor der Beichte gehabt hatte: er befand sich Aug in Auge mit einem den äußeren Lebensbedingungen nach ihm völlig fremden Menschen, der ihm als Mitmensch und Bruder doch auch wieder ganz nahestand. Mit einem Herzklopfen, das ihm fast den Atem raubte, trat Pierre ein paar Schritte auf den Rhetor zu – so nannte man im Freimaurerorden den Bruder, der den »Suchenden« zum Eintritt in den Bund vorbereitete. Doch als er näher herankam, sah er, daß der Rhetor ein Bekannter von ihm, namens Smoljaninow, war. Dieser Gedanke störte ihn: er hätte in dem Eingetretenen lieber nur einen Bruder und Lehrer der Tugend gesehen.
Lange konnte Pierre kein Wort hervorbringen, so daß der Rhetor seine Frage wiederholen mußte.
»Ja, ich … ich … will die Wiedergeburt«, stieß Pierre mit Mühe hervor.
»Gut«, sagte Smoljaninow und fuhr sogleich fort: »Haben Sie eine Vorstellung von den Mitteln, mit denen unser Orden Ihnen zur Erreichung Ihrer Ziele behilflich sein kann? …« Dies sagte der Rhetor schnell, aber ruhig.
»Ja … ich hoffe … auf Führung … auf Beistand … zur Wiedergeburt«, erwiderte Pierre mit zitternder Stimme und suchte mühsam nach Worten, was sowohl durch die Aufregung als auch durch die ungewohnte Notwendigkeit bedingt war, sich bei abstrakten Gegenständen der russischen Sprache zu bedienen.
»Was für eine Vorstellung haben Sie von der Freimaurerei?«
»Ich stelle mir vor, daß die Freimaurerei eine fraternité und Gleichheit aller Menschen ist, welche die Tugend als Ziel hat«, sagte Pierre, aber je länger er sprach, desto mehr schämte er sich, daß seine Worte so wenig mit der Feierlichkeit des Augenblicks übereinstimmten. »Ich stelle mir vor …«
»Gut«, sagte der Rhetor hastig und schien mit dieser Antwort durchaus zufrieden zu sein.
»Haben Sie die Mittel und Wege zur Erreichung Ihres Zieles in der Religion gesucht?«
»Nein, ich habe die Religion nicht für die Wahrheit gehalten und mich nicht nach ihr gerichtet«, erwiderte Pierre so leise, daß der Rhetor ihn nicht verstand und noch einmal fragte, was er gesagt habe.
»Ich war Atheist«, antwortete Pierre.
»Sie suchen die Wahrheit aus dem Grunde, um im Leben ihre Gesetze zu befolgen, folglich suchen Sie Erkenntnis und Tugend, nicht wahr?« fragte der Rhetor nach kurzem Schweigen.
»Ja, gewiß«, bestätigte Pierre.
Der Rhetor räusperte sich, kreuzte die Hände über der Brust und fing dann an: »Nun ist es an mir, Ihnen die Hauptziele unseres Ordens zu enthüllen, und wenn diese Ziele mit den Ihrigen übereinstimmen, so wird es Ihnen zum Segen gereichen, wenn Sie in unseren Bund eintreten. Unser erstes, heiligstes Ziel und zugleich die Grundlage unseres Ordens, auf der er so sicher ruht, daß keine menschliche Gewalt ihn je wieder stürzen kann, besteht darin, ein heiliges Geheimnis zu bewahren und der Nachwelt zu übermitteln, das uns aus längst vergangenen Jahrhunderten, ja sogar aus der ersten Zeit der Menschheit, überliefert worden ist, ein Geheimnis, von dem vielleicht das ganze künftige Schicksal des Menschengeschlechts abhängen wird. Da aber jenes Geheimnis von der Art ist, daß niemand es begreifen und sich zunutze machen kann, der sich nicht durch jahrelange, emsige Läuterung seiner selbst darauf vorbereitet hat, so darf nicht jeder hoffen, alsobald in den Besitz dieses Geheimnisses zu gelangen. Daraus ergibt sich unser zweites Ziel, das darin besteht, unsere Mitglieder so gut wie nur möglich vorzubereiten, ihre Herzen zu bessern, sie zu läutern und ihren Geist mit jenen Mitteln zu erleuchten, die uns durch Überlieferung von Männern, die sich um das heilige Geheimnis suchend bemüht haben, offenbar geworden sind, um so unsere Brüder zur Empfängnis des Mysteriums geeignet zu machen. Indem wir so unsere Mitglieder läutern und bessern, bemühen wir uns drittens, die ganze Menschheit zu veredeln dadurch, daß wir ihnen in unseren Brüdern ein Muster an Gottesfurcht und Tugend vor Augen stellen, und suchen mit allen unseren Kräften dem Bösen zu steuern, das in der Welt herrscht. Denken Sie über meine Worte nach, ich werde dann wieder zu Ihnen hereinkommen«, sagte er und verließ das Zimmer.
»Dem Bösen zu steuern, das in der Welt herrscht …« wiederholte Pierre und stellte sich vor, wie er künftighin in dieser Weise wirken werde. Er dachte an solche Menschen, wie er selber noch vor vierzehn Tagen einer gewesen war, und wandte sich in Gedanken an sie mit belehrend ermahnenden Worten. Er stellte sich lasterhafte und unglückliche Menschen vor, denen er mit Wort und Tat helfen konnte, stellte sich Bedrücker vor, deren Opfer er errettete. Von den drei Zielen, die der Rhetor ihm genannt hatte, stand dieses letzte, die Besserung der ganzen Menschheit, Pierre ganz besonders nahe. Jenes heilige Geheimnis, das der Rhetor erwähnt hatte, erregte zwar seine Wißbegierde, erschien ihm aber doch nicht so wesentlich, und das zweite Ziel, die Läuterung und Besserung seiner selbst, beschäftigte ihn wenig, weil er sich in diesem Augenblick mit Wonne bewußt war, daß er von seinen früheren Lastern schon gänzlich befreit und nur noch zum Guten bereit war.
Nach einer halben Stunde kehrte der Rhetor zurück, um dem Suchenden die sieben Tugenden zu offenbaren, die den sieben Stufen des Salomonischen Tempels entsprechen, und zu denen sich jeder Freimaurer erziehen muß. Diese sieben Tugenden sind:
1. Bescheidenheit und Beachtung der Ordensgesetze,
2. Gehorsam gegen die Oberhäupter des Ordens,
3. Sittenstrenge,
4. Liebe zur Menschheit,
5. Tapferkeit,
6. Opferfreudigkeit und
7. Liebe zum Tod.
»Was die siebente Tugend anbetrifft«, sagte der Rhetor, »so streben Sie danach, durch häufiges Denken an den Tod so weit zu kommen, daß er Ihnen nicht mehr als furchtbarer Feind, sondern als Freund erscheint, der die im Kampf um die Tugend ermattete Seele von ihrem elenden Erdendasein befreit und sie dahin führt, wo ihr Ruhe und Belohnung zuteil wird.«
Ja, so muß es sein, dachte Pierre, als der Rhetor nach diesen Worten wieder hinausgegangen war und ihn der einsamen Betrachtung überlassen hatte. So muß es sein, aber ich bin noch so schwach, daß ich mein Leben noch liebe, dessen Sinn mir erst jetzt allmählich offenbar wird. Die übrigen fünf Tugenden, die sich Pierre, sie an den Fingern aufzählend, wieder ins Gedächtnis zurückrief, fühlte er bereits in sich: sowohl die Tapferkeit als auch die Opferfreudigkeit, die Sittenstrenge, die Liebe zur Menschheit und ganz besonders den Gehorsam, der ihm nicht einmal als Tugend erschien, sondern vielmehr als Wohltat. So glücklich war er jetzt darüber, von seinem eignen Willen erlöst zu sein und sich demjenigen und denen unterordnen zu dürfen, welche die über jeden Zweifel erhabene Wahrheit erkannt hatten. Die siebente Tugend hatte Pierre vergessen und konnte sich keineswegs mehr darauf besinnen.
Das dritte Mal kam der Rhetor etwas eher zurück und fragte Pierre, ob seine Absicht immer noch feststehe und er entschlossen sei, sich all dem zu unterwerfen, was man von ihm fordern werde.
»Ich bin zu allem bereit«, erwiderte Pierre.
»Ich muß Ihnen noch zur Kenntnis geben«, sagte der Rhetor, »daß unser Orden seine Lehren nicht nur durch Worte erteilt, sondern auch noch durch andere Mittel, die auf einen, der aufrichtig nach Wahrheit und Tugend strebt, vielleicht noch stärker wirken als eine Erklärung durch Worte allein. Diese geweihte Halle, die Sie hier sehen, mit allem, was sie enthält, muß Ihrem Herzen, wenn es ehrlich sucht, mehr enthüllen können, als Worte es vermögen. Bei Ihrer weiteren Aufnahme werden Sie vielleicht noch mehr solcher bildlichen Erklärungen wahrnehmen. Unser Orden folgt hierin dem Vorbild uralter Bünde, die ihre Lehre durch Hieroglyphen offenbarten. Eine Hieroglyphe«, sagte der Rhetor, »ist die konkrete Bezeichnung für einen abstrakten Gegenstand, der Eigenschaften in sich birgt, die mit dem bildlich dargestellten Vorgang Ähnlichkeit haben.«
Pierre wußte sehr gut, was eine Hieroglyphe war, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Er hörte schweigend dem Rhetor zu und fühlte aus allem heraus, daß seine Prüfungen sogleich beginnen würden.
»Wenn Sie also fest entschlossen sind, so habe ich nunmehr zu Ihrer Einführung zu schreiten«, sagte der Rhetor und trat näher auf Pierre zu. »Als einen Beweis Ihrer Opferfreudigkeit bitte ich Sie, mir alle Ihre Kostbarkeiten zu übergeben.«
»Aber ich habe ja gar nichts bei mir«, erwiderte Pierre, der annahm, daß man von ihm die Herausgabe alles dessen fordere, was er besitze.
»Nur das, was Sie bei sich haben: die Uhr, das Geld, den Ring …«
Pierre zog den Geldbeutel heraus, nahm die Uhr ab, nur der Trauring wollte sich lange nicht von seinem feisten Finger abziehen lassen. Als er endlich damit fertig war, sagte der Freimaurer: »Zum Zeichen des Gehorsams bitte ich Sie, sich zu entkleiden.«
Pierre zog den Frack und die Weste aus, und auf Befehl des Rhetors auch den linken Stiefel. Der Freimaurer öffnete ihm das Hemd über der linken Brust, beugte sich dann nieder und streifte ihm das linke Hosenbein bis über das Knie hinauf. Pierre wollte hastig auch den rechten Stiefel ausziehen und das rechte Hosenbein aufstreifen, um dem fremden Mann diese Mühe zu ersparen, aber der Freimaurer sagte ihm, dies sei nicht nötig, und reichte ihm einen Pantoffel für den linken Fuß. Mit einem kindlichen Lächeln der Scham, des Zweifels und des Spottes über sich selber, das sich ohne sein Wollen auf seinem Gesicht ausprägte, stand Pierre mit herabhängenden Armen und gespreizten Beinen vor dem Bruder Rhetor da und wartete auf dessen neue Befehle.
»Und endlich, zum Zeichen der Offenherzigkeit, bitte ich Sie, mir Ihre Hauptleidenschaft zu nennen«, sagte der Freimaurer.
»Meine Hauptleidenschaft? Ich hatte deren so viele …« stammelte Pierre.
»Ich meine diejenige Leidenschaft, die Sie mehr als alle anderen auf dem Pfad der Tugend zum Straucheln gebracht hat«, sagte der Freimaurer.
Pierre schwieg und dachte nach. War es der Wein? Die Völlerei? Der Müßiggang? Die Faulheit? Der Jähzorn? Die Bosheit? Die Weiber? ging er in Gedanken seine Laster durch, wog sie gegeneinander ab und wußte nicht, welches die meiste Gewalt über ihn gehabt hatte.
»Die Weiber«, sagte er dann endlich mit leiser, kaum hörbarer Stimme.
Der Freimaurer rührte sich nicht und sagte nach dieser Antwort lange kein Wort. Endlich trat er wieder auf Pierre zu, nahm das Tuch, das auf dem Tisch lag, und verband ihm wieder die Augen.
»Zum letztenmal sage ich Ihnen, wenden Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit sich selber zu, legen Sie Ihre Gefühle in Fesseln und suchen Sie das Heil nicht in den Leidenschaften, sondern in Ihrem Herzen. Die Quelle des Glücks ist nicht außerhalb, sondern in unserm Innern …«
Aber Pierre fühlte diese erfrischende Quelle des Glücks, die jetzt seine Seele mit Freude und Rührung erfüllte, schon in sich.
Bald darauf trat, um Pierre zu holen, nicht der frühere Rhetor in den dunkeln Raum ein, sondern sein Bürge Willarski, den Pierre an der Stimme erkannte. Auf die abermaligen Fragen nach der Festigkeit seines Entschlusses erwiderte Pierre: »Ja, gewiß, ich bin bereit!« und ging mit strahlendem Kinderlächeln, die feiste Brust entblößt, mit dem einen beschuhten und dem andern unbeschuhten Fuß zaghaft und ungleichmäßig auftretend, auf Willarski zu, obgleich dieser ihm einen Degen auf die nackte Brust setzte.
Aus dem Zimmer führte man ihn durch Korridore hindurch, die bald eine Biegung nach vorn, bald nach rückwärts machten, um ihn endlich bis an die Pforten der Loge zu geleiten. Willarski hustete, freimaurerische Hammerschläge antworteten ihm, und die Tür tat sich vor ihnen auf. Eine Baßstimme – Pierres Augen waren immer noch verbunden – stellte ihm verschiedene Fragen: Wer er sei? Woher er komme? Wann er geboren sei? und so weiter.
Dann wurde er wieder, ohne daß man ihm die Binde von den Augen nahm, weitergeführt und während des Gehens allegorisch auf die Mühseligkeiten seines Wandels, auf die Heiligkeit der Freundschaft, auf den allewigen Erbauer der Welt hingewiesen und auf die Tapferkeit, mit der er all diese Mühseligkeiten und Gefahren ertragen müsse. Bei diesem Rundgang bemerkte Pierre, daß man ihn bald einen »Suchenden«, bald einen »Duldenden«, bald einen »Verlangenden« nannte und daß dabei alle in verschiedener Weise mit ihren Hämmern und Degen klopften. Als man ihn zu irgend etwas heranführen wollte, bemerkte Pierre, daß unter seinen Leuten eine Unruhe und Verwirrung entstand. Er hörte, wie die Brüder um ihn herum flüsternd miteinander stritten und der eine darauf bestand, daß er auf einen Teppich geführt werde. Darauf nahmen sie seine rechte Hand, legten sie auf irgend etwas, ließen ihn mit der linken einen Zirkel auf seine linke Brust halten und befahlen ihm, die Worte nachzusprechen, die ein anderer ihm vorlas, um den Gesetzen des Ordens den Eid der Treue zu schwören. Dann löschten sie die Lichter, zündeten Spiritus an, was Pierre am Geruch merkte, und sagten ihm, er werde nun gleich das kleine Licht sehen. Man nahm ihm die Binde ab, und Pierre sah bei einem schwachen Spirituslicht wie im Traum, daß einige Männer mit ebensolchen Schürzen wie der Rhetor ihm gegenüberstanden und ihre Degen gegen seine Brust gerichtet hielten. Mitten unter ihnen stand ein Mann in einem weißen, blutbefleckten Hemd. Als Pierre dies sah, reckte er seine Brust vor und bot sie den Degen dar in dem Wunsch, von ihnen durchbohrt zu werden. Aber die Degen wichen vor ihm zurück, und sogleich band man ihm die Augen wieder zu.
»Jetzt hast du das kleine Licht gesehen«, sagte eine Stimme zu ihm. Dann wurden die Kerzen wieder angezündet und man sagte ihm, nun müsse er auch das große Licht sehen. Wieder nahm man ihm die Binde ab, und mehr als zehn Stimmen riefen zu gleicher Zeit: »Sic transit gloria mundi.«
Pierre kam allmählich zu sich und sah sich das Zimmer, wo er sich befand, und die Leute, die darin waren, an. An einem langen Tisch, der ganz schwarz verhangen war, saßen zwölf Männer, alle in derselben Kleidung, wie er sie vorhin gesehen hatte. Einige von ihnen waren Pierre von der Petersburger Gesellschaft her bekannt. Auf dem Platz des Präsidenten saß ein junger Mann, den er nicht kannte. Er trug ein besonderes Kreuz um den Hals. Rechts von ihm saß der italienische Abbé, den Pierre vor zwei Jahren bei Anna Pawlowna gesehen hatte. Außerdem erkannte er auch einen sehr hohen Beamten und einen Schweizer, der bei den Kuragins Hauslehrer gewesen war. Alle saßen in feierlichem Schweigen da in Erwartung der Worte des Präsidenten, der einen Hammer in der Hand hielt. In die Wand war ein leuchtender Stern eingelassen. Auf der einen Seite des Tisches lag ein kleiner Teppich mit verschiedenen Sinnbildern, auf der anderen befand sich eine Art Altar mit einer Bibel und einem Totenschädel. Rings um den Tisch herum standen sieben große Armleuchter, wie man sie in den Kirchen hat. Zwei der Brüder führten Pierre an den Altar, setzten ihm die Füße rechtwinklig auseinander und befahlen ihm, sich hinzulegen: das bedeute das Niederwerfen vor den Pforten des Tempels, wie sie sagten.
»Erst muß er doch eine Kelle bekommen«, flüsterte einer von den Brüdern.
»Ach, lassen Sie nur, ich bitte Sie«, erwiderte ein anderer.
Pierre sah sich mit seinen kurzsichtigen Augen zerstreut um und gehorchte nicht sogleich: plötzlich stieg ein Zweifel in ihm auf: Wo bin ich? Was tue ich? Macht man sich nicht über mich lustig? Werde ich mich nicht schämen, wenn ich später daran zurückdenke? Aber dieser Zweifel dauerte nur einen Augenblick. Pierre schaute auf die ernsthaften Gesichter der ihn umgebenden Männer, dachte an alles, was er hier schon durchgemacht hatte, und es wurde ihm klar, daß er unmöglich auf halbem Weg stehen bleiben konnte. Er erschrak über sein Zweifeln, gab sich Mühe, die frühere weiche Stimmung wieder in sich hervorzurufen, und warf sich vor den Pforten des Tempels nieder. Und wirklich kehrte auch die weiche Stimmung noch stärker als vorher in seine Seele zurück. Als er eine Zeitlang so gelegen hatte, befahl man ihm aufzustehen, bekleidete ihn mit einem ebensolchen Schurz, wie ihn die anderen trugen, gab ihm eine Kelle und drei Paar Handschuhe in die Hand, und nun wandte sich der Meister vom Stuhl zu ihm. Er sagte ihm, er solle sich stets bemühen, diesen weißen Lederschurz, der die Charakterstärke und Sittenreinheit versinnbildliche, unbefleckt zu erhalten. Die Bedeutung der Kelle erklärte er nicht, sagte nur, er solle damit aus seinem Herzen die Laster auskratzen, hingegen über die Herzen seines Nächsten nachsichtig glättend hinfahren. Von dem ersten Paar Handschuhe, die Männerhandschuhe waren, sagte er, ihre Bedeutung könne Pierre jetzt noch nicht fassen, er solle sie aber aufbewahren; das zweite Paar, ebenfalls Männerhandschuhe, solle er in den Versammlungen tragen, und über das dritte Paar endlich, das Frauenhandschuhe waren, sagte er: »Geliebter Bruder, die Frauenhandschuhe sind ebenfalls für Sie bestimmt. Geben Sie sie derjenigen Frau, die Sie mehr als alle anderen achten. Durch dieses Geschenk werden Sie derjenigen Ihre Herzensreinheit beweisen können, die Sie als würdige Freimaurerin selbst auserwählt haben.« Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Aber hüten Sie sich, geliebter Bruder, daß diese Handschuhe nicht unreine Hände schmücken.« Als der Meister vom Stuhl diese letzten Worte sagte, hatte Pierre den Eindruck, als werde der Meister verlegen. Pierre geriet in noch größere Verlegenheit, wurde so rot, daß ihm die Tränen kamen, wie das oft bei Kindern geschieht, und sah sich unruhig um. Es entstand ein peinliches Schweigen.
Doch einer der Brüder brach dieses Schweigen, führte Pierre an den Teppich und fing an, ihm aus einem Heft die Erklärungen aller darauf befindlichen Sinnbilder vorzulesen: der Sonne, des Mondes, des Hammers, der Richtschnur, der Kelle, des rohen und des zum Würfel behauenen Steines, des Pfeilers, der drei Fenster und so weiter. Dann wies man Pierre einen Platz an, erklärte ihm das Zeichen der Loge, gab ihm das Losungswort zum Eintritt und erlaubte ihm endlich, sich zu setzen. Der Meister vom Stuhl fing an, die Satzungen zu verlesen. Diese Satzungen waren sehr lang, und Pierre war vor Freude, vor Aufregung und vor scheuer Andacht gar nicht imstande, das in sich aufzunehmen, was man ihm vorlas. Er verstand nur die letzten Worte der Satzungen, die er sich merkte.
»In unseren heiligen Hallen«, las der Meister vom Stuhl, »gibt es keine Abstufungen, außer denen, die die Tugend vom Laster trennen. Hüte dich, irgendeinen Unterschied zu machen, der unsere Gleichheit stören könnte. Eile deinem Nächsten zu Hilfe, wer immer es auch sei, leite den Irrenden auf den rechten Weg, richte den Gefallenen auf, und hege niemals Groll oder Feindschaft gegen einen deiner Mitmenschen. Sei freundlich und höflich. Fache in allen Herzen das Feuer der Tugend an. Teile das Glück deines Nächsten, ohne daß jemals der Neid dir diesen reinen Genuß trübe. Vergib deinem Feind und räche dich nicht an ihm, höchstens dadurch, daß du ihm Gutes tust. Und wenn du so das höchste Gesetz erfüllst, wirst du zu den Spuren der Urgröße zurückkehren, die du verloren hattest.«
Nachdem der Meister vom Stuhl zu Ende gelesen hatte, erhob er sich und umarmte und küßte Pierre. Mit Freudentränen in den Augen sah sich Pierre rings um, und wußte nicht, was er auf die Glückwünsche aller, die ihn umringten und die Bekanntschaft mit ihm erneuerten, antworten sollte. Er beachtete seine früheren Bekannten nicht, sondern sah in allen diesen Männern nur seine Brüder und brannte voller Ungeduld darauf, mit ihnen zu Werke zu gehen.
Der Meister vom Stuhl klopfte mit dem Hammer auf den Tisch, und alle nahmen ihre Plätze wieder ein. Einer von ihnen verlas eine belehrende Abhandlung über die Notwendigkeit der Demut.
Darauf forderte der Meister vom Stuhl auf, die letzte Pflicht zu erfüllen, und der hohe Beamte, der mit dem Namen »Almosensammler« bezeichnet wurde, fing an, bei den Brüdern die Runde zu machen. Pierre wollte auf der Almosenliste alles Geld zeichnen, das er hatte, aber er fürchtete, hochmütig zu scheinen, und zeichnete nur soviel wie die anderen auch.
Die Sitzung war zu Ende. Als er wieder zu Hause war, hatte Pierre das Gefühl, als wäre er von einer langen Reise, die Jahrzehnte gedauert hätte, heimgekehrt, auf der er sich völlig verändert habe und seiner bisherigen Ordnung und den früheren Lebensgewohnheiten ganz fremd geworden sei.
Am Tag nach der Aufnahme in die Loge saß Pierre zu Hause, las in einem Buch und bemühte sich, in den Sinn jenes Quadrates einzudringen, dessen eine Seite Gott, die zweite den geistigen Menschen, die dritte den physischen Menschen und die vierte die Verschmelzung dieser beiden versinnbildlicht. Zuweilen riß er sich von dem Buch und dem Quadrat los und legte sich seinen neuen Lebensplan im Kopf zurecht. Man hatte ihm gestern in der Loge gesagt, daß dem Kaiser die Kunde von seinem Duell zu Ohren gekommen sei und er besser täte, sich aus Petersburg zu entfernen. So nahm sich Pierre vor, auf seine Güter im Süden zu reisen und sich dort mit seinen Bauern zu beschäftigen. Freudig malte er sich dieses neue Leben aus, als unerwartet Fürst Wassilij ins Zimmer trat.
»Aber mein Liebster, Bester, was hast du denn in Moskau angestellt? Warum hast du dich denn mit Lola gezankt, mon cher? Du bist im Irrtum«, sagte Fürst Wassilij, indem er ins Zimmer trat. »Ich habe alles erfahren und kann dir mit aller Bestimmtheit sagen, daß Helene dir gegenüber so unschuldig ist wie Christus vor den Juden.«
Pierre wollte etwas entgegnen, aber Fürst Wassilij unterbrach ihn.
»Und warum hast du dich nicht offen und ehrlich an mich gewandt wie an deinen Freund? Ich weiß doch alles, kann doch alles verstehen«, sagte er. »Du hast dich korrekt benommen wie ein Mensch, der auf Ehre hält. Vielleicht hast du ein bißchen übereilt gehandelt, doch das wollen wir dahingestellt sein lassen. Aber bedenke nur das eine, in was für eine Lage du dadurch sie und mich vor den Augen der Gesellschaft und sogar des Hofes gebracht hast«, fügte er hinzu und senkte etwas die Stimme. »Sie lebt nun in Moskau und du hier. So komm doch nur zur Besinnung, mein Lieber!« Er zog Pierre an der Hand herab. »Hier liegt doch nur ein Mißverständnis vor, das mußt du doch selber fühlen, sollte ich meinen. Wir wollen ihr gleich zusammen einen Brief schreiben, und dann wird sie herkommen, und alles wird sich aufklären. Andernfalls wirst du selber den Schaden davon haben, das kann ich dir sagen, mein Lieber.« Fürst Wassilij sah Pierre bedeutsam an. »Mir ist aus sicherer Quelle bekannt, daß die Kaiserinwitwe ein lebhaftes Interesse an dieser Angelegenheit nimmt. Du weißt, daß sie sich immer sehr gnädig gegen Helene gezeigt hat.«
Ein paarmal hatte Pierre einen Anlauf genommen, etwas zu erwidern, aber einerseits ließ ihn Fürst Wassilij gar nicht zu Wort kommen, und anderseits scheute sich Pierre selber davor, jenen Ton der entschiedenen Ablehnung und Mißbilligung anzuschlagen, in dem er seinem Schwiegervater zu antworten fest entschlossen war. Außerdem rief er sich das Wort aus den Satzungen der Freimaurer: »Sei freundlich und höflich«, ins Gedächtnis zurück. Er zog die Stirn finster zusammen, wurde rot, stand auf, setzte sich wieder hin und rang innerlich um das, was ihm am schwersten fiel im Leben: einem Menschen, wer es auch immer war, etwas Unangenehmes ins Gesicht zu sagen und nicht das, was jener erwartete. Er war so daran gewöhnt, sich diesem lässigen, selbstbewußten Ton des Fürsten Wassilij unterzuordnen, daß er auch jetzt das Gefühl hatte, er werde nicht imstande sein, ihm zu widerstehen. Gleichzeitig war er sich aber auch bewußt, daß von dem, was er jetzt sagen würde, sein ganzes künftiges Schicksal abhing: ob er den alten Weg von früher weitergehen oder jenen neuen einschlagen werde, den ihm die Freimaurer so lockend gezeigt hatten, und von dem er fest glaubte, daß er auf ihm die Wiedergeburt zu neuem Leben finden werde.
»Komm, mein Lieber«, sagte Fürst Wassilij in scherzendem Ton, »sage mir nur das eine Wörtchen ›ja‹, und ich werde ganz allein an sie schreiben, und wir schlachten dann ein gemästetes Kalb …«
Aber Fürst Wassilij hatte seinen Scherz noch nicht beendet, als Pierre mit einer rasenden Wut im Gesicht, die an seinen Vater erinnerte, ohne den Fürsten anzusehen, flüsternd hervorstieß:
»Fürst, ich habe Sie nicht zu mir rufen lassen, gehen Sie, ich bitte Sie darum, gehen Sie!« Und er sprang auf und öffnete ihm die Tür. »Gehen Sie!« wiederholte er und glaubte sich selber kaum und freute sich über den Ausdruck der Verlegenheit und Furcht, der sich auf Fürst Wassilijs Antlitz zeigte.
»Was hast du? Bist du krank?«
»Gehen Sie!« wiederholte Pierre noch einmal mit zitternder Stimme. Und Fürst Wassilij mußte hinausgehen, ohne auch nur eine Erklärung erhalten zu haben.
Nach acht Tagen reiste Pierre, nachdem er sich von seinen neuen Freunden, den Freimaurern, verabschiedet und ihnen eine große Summe als Almosen zurückgelassen hatte, auf seine Güter ab. Seine neuen Brüder gaben ihm Briefe nach Kiew und Odessa mit, an die dortigen Freimaurer, und versprachen, ihm zu schreiben und ihm für seinen neuen Wirkungskreis Anleitungen zu geben.
Pierres Duell mit Dolochow war totgeschwiegen worden, und trotz der damaligen Strenge des Kaisers in solchen Dingen ließ man sowohl die beiden Gegner als auch ihre Sekundanten völlig unbehelligt. Aber der Skandal, den das Duell hervorgerufen hatte und der nun durch Pierres Bruch mit seiner Frau noch bestätigt wurde, sprach sich doch in der Gesellschaft herum. Pierre, den man zuerst als unehelichen Sohn nur gönnerhaft über die Achsel angesehen und dann, als er die beste Partie des ganzen russischen Kaiserreichs geworden war, verwöhnt und in den Himmel gehoben hatte, war nach seiner Hochzeit, als die heiratsfähigen Damen und Mütter nichts mehr von ihm zu hoffen hatten, in der Wertschätzung der Gesellschaft stark gesunken, um so mehr, als er sich selber die Gunst der Gesellschaft nicht zu erwerben verstand und dies auch gar nicht wollte. Jetzt schob man ihm allein alle Schuld an dem Vorgefallenen zu, es hieß, er sei ohne jeden Sinn und Verstand eifersüchtig und denselben Anfällen blutdürstiger Raserei unterworfen wie sein Vater. Und als Helene nach Pierres Abreise nach Petersburg zurückkehrte, wurde sie nicht nur von allen ihren Bekannten freudig aufgenommen, sondern man brachte ihr sogar etwas wie Ehrerbietung, die ihrem Unglück gelten sollte, entgegen. Wenn die Rede auf ihren Mann kam, nahm Helene, ohne selber zu wissen warum, eine würdige Haltung an, die sie sich dank dem ihr eignen Taktgefühl angeeignet hatte. Durch diese Miene brachte sie zum Ausdruck, daß sie entschlossen sei, ihr Unglück, ohne zu klagen, auf sich zu nehmen, und daß ihr Mann das Kreuz sei, das zu tragen ihr Gott auferlegt habe. Fürst Wassilij brachte seine Meinung schon unverhohlener zum Ausdruck. Er zuckte mit den Schultern, wenn das Gespräch auf Pierre kam, tippte auf die Stirn und sagte: »Nicht ganz richtig im Kopfe, je le disais toujours.«
»Das habe ich doch vorausgesagt«, meinte Anna Pawlowna von Pierre, »ich habe das damals gleich gesagt, noch früher als alle anderen« – sie wollte sich darin von niemand den Rang ablaufen lassen –, »daß er ein törichter junger Mann ist, der durch die zügellosen Ideen unseres Jahrhunderts ganz verdorben worden ist. Das habe ich schon damals gesagt, als noch alle von ihm entzückt waren, als er eben erst aus dem Ausland zurückgekommen war und einmal auf einer Abendgesellschaft bei mir, wissen Sie noch, aus sich einen reinen Moralisten machte. Und wohin hat das alles geführt? Ich war von jeher gegen diese Heirat und habe das alles vorausgesagt, was nun auch eingetroffen ist.«
Anna Pawlowna gab in ihrem Hause in zwangloser Folge noch dieselben Abendgesellschaften wie früher, wie solche zu veranstalten eben nur sie die Gabe hatte, Abendgesellschaften, bei denen sich alles versammelte, la crème de la véritable bonne société, la fine fleur de l’essence intellectuelle de la société de Pétersbourg, wie Anna Pawlowna selber sagte. Außer dieser feingewählten Gesellschaft zeichneten sich die Abende bei Anna Pawlowna immer noch dadurch aus, daß Anna Pawlowna zu jedem ihrer Abende ihren Gästen immer irgendeine neue, interessante Persönlichkeit auftischte, und daß sich nirgends klarer und deutlicher als bei diesen Abendgesellschaften erkennen ließ, wie der Stand des politischen Thermometers, die Stimmung der ihrem Kaiserhaus treuergebenen Hofgesellschaft gerade war.
Ende des Jahres 1806, als schon die traurigen Einzelheiten von der Vernichtung der preußischen Armee durch Napoleon bei Jena und Auerstedt und von der Übergabe eines großen Teiles der preußischen Festungen bei uns bekanntgeworden waren, als unsere Truppen bereits in Preußen einrückten und man sich zu einem zweiten Feldzug gegen Napoleon rüstete, gab Anna Pawlowna bei sich wieder einmal eine Abendgesellschaft. La crème de la véritable bonne société bestand diesmal aus der liebreizenden, unglücklichen, von ihrem Mann verlassenen Helene, aus Mortemart, aus dem bezaubernden Fürsten Hippolyt, der soeben erst aus Wien zurückgekehrt war, aus zwei Diplomaten, der Tante, einem jungen Mann, den man einfach unter der Bezeichnung d’un homme de beaucoup de mérite im Salon eingeführt hatte, einer neuernannten Hofdame mit ihrer Mutter und aus noch anderen Personen, die weniger von Bedeutung waren.
Die Persönlichkeit, die Anna Pawlowna ihren Gästen an diesem Abend als neues Gericht vorsetzte, war Boris Drubezkoj, der soeben als Kurier von der preußischen Armee nach Petersburg gekommen war, da er bei einer sehr hochstehenden Persönlichkeit den Posten eines Adjutanten bekleidete.
Der Stand des politischen Thermometers, wie er an diesem Abend der Gesellschaft angezeigt wurde, war wie folgt: Wie sehr sich auch alle europäischen Herrscher und Feldherren bemühen mögen, Napoleon in Schutz zu nehmen, um mir und uns allen diese Unannehmlichkeiten und diesen Kummer zu bereiten – unsere Ansicht über Napoleon steht fest. Wir werden niemals aufhören, unsere ehrliche Überzeugung über diesen Punkt offen zum Ausdruck zu bringen, und können dem preußischen König und anderen Herrschern nur sagen: »Um so schlimmer für euch! Tu l’as voulu, George Dandin[91]!« Das ist alles, was wir sagen können. So zeigte das politische Thermometer in der Abendgesellschaft bei Anna Pawlowna an.
Als Boris, der heute den Gästen vorgesetzt werden sollte, in den Salon trat, war schon fast die ganze Gesellschaft versammelt. Das Gespräch, von Anna Pawlowna geleitet, war eben auf unsere diplomatischen Beziehungen zu Österreich hinübergeglitten, und man sprach die Hoffnung aus, daß es zu einem Bündnis mit Österreich kommen werde.
Boris, der viel männlicher geworden war und frisch und gesund aussah, trat in seiner feschen Adjutantenuniform ungezwungen in den Salon und wurde, wie es sich gehörte, zuerst zur Tante geleitet, um diese zu begrüßen, und dann erst in den allgemeinen Kreis eingeführt.
Anna Pawlowna reichte ihm ihre vertrocknete Hand zum Kuß, stellte ihn einigen Herren, die ihn noch nicht kannten, vor, wobei sie jeden flüsternd irgendwie charakterisierte.
»Le prince Hippolyte Couraguine – charmant jeune homme. Monsieur Crouq – chargé d’affaires de Copenhague, un esprit profond«, und dann sagte sie einfach nur: »Monsieur Shitoff – un homme de beaucoup de mérite«, indem sie jenen jungen Mann vorstellte, den sie unter dieser Bezeichnung im Salon eingeführt hatte.
Boris war es während der kurzen Zeit, die er beim Militär diente, dank den Bemühungen Anna Michailownas und seinem eignen Taktgefühl und seinen gemessenen Charaktereigenschaften bereits gelungen, sich eine höchst vorteilhafte dienstliche Stellung zu erringen. Er war Adjutant bei einer sehr hochgestellten Persönlichkeit, war jetzt mit einem höchst wichtigen Auftrag in Preußen gewesen und soeben erst als Kurier von dort zurückgekehrt. Er hatte sich jenes ungeschriebene Subordinationsreglement, das ihm in Olmütz so gefallen hatte, jetzt ganz zu eigen gemacht, demzufolge ein Fähnrich ungleich höher stehen kann als ein General und man zum Vorwärtskommen im Dienst weder dienstliche Anstrengungen noch Mühe, Tapferkeit oder Ausdauer vonnöten hat, sondern nur mit denen umzugehen verstehen muß, die dienstliche Beförderungen zu bestimmen haben. Oft wunderte er sich selbst über sein schnelles Vorwärtskommen, aber noch mehr staunte er darüber, daß andere dies nicht ebenso verstanden. Seine ganze Lebensanschauung, all seine Beziehungen zu den früheren Bekannten, seine sämtlichen Zukunftspläne hatten sich infolge dieser Entdeckung von Grund aus geändert. Er war nicht reich, gab aber sein letztes Geld dafür aus, sich besser als alle anderen anzuziehen, und konnte sich eher ein Vergnügen versagen, als es über sich gewinnen, in einem Wagen zweiter Güte oder in einer alten Uniform durch die Straßen Petersburgs zu fahren. Nur solche Bekannte wählte er sich aus und mit solchen Leuten freundete er sich an, die höher standen als er, und die ihm infolgedessen irgendwann einmal nützlich sein konnten. Er liebte Petersburg und haßte Moskau. Die Erinnerung an die Rostowsche Familie und seine Jugendliebe zu Natascha war ihm unangenehm, und er hatte die Rostows, seit er ins Feld gezogen war, noch nicht einmal wieder aufgesucht. In Anna Pawlownas Salon empfangen zu werden, hielt er für wichtig und dienstfördernd, fand sich auch gleich in seine Rolle, und während er Anna Pawlowna alles Interessante, was an ihm war, für ihre Zwecke auszunutzen überließ, betrachtete er aufmerksam alle Anwesenden, prüfte die Möglichkeit, sich diesem oder jenem zu nähern, und wog die Vorteile ab, die jeder ihm bringen konnte. Er nahm den ihm angewiesenen Platz neben der schönen Helene ein und hörte dem allgemeinen Gespräch zu.
»Wien findet die Grundlagen dieses vorgeschlagenen Vertrages so unerreichbar, daß man sie selbst durch eine Reihe der glänzendsten Erfolge nicht zu erreichen imstande wäre, und zweifelt an unseren Mitteln, solche Erfolge zu erzielen. C’est la phrase authentique du cabinet de Vienne«, sagte der Däne, chargé d’affaires. Und als Mann à l’esprit profond fügte er mit feinem Lächeln hinzu: »C’est le doute, qui est flatteur.«
»Man muß einen Unterschied machen zwischen dem Wiener Kabinett und dem Kaiser von Österreich«, warf Mortemart ein. »Der Kaiser von Österreich dächte nie an so etwas, das ist nur das Wiener Kabinett, qui le dit.«
»Eh, mon cher vicomte«, mischte sich Anna Pawlowna ein, »l’Urope« – sie sprach aus irgendeinem Grund das eu wie u aus, als wäre das eine besondere Feinheit der französischen Sprache, die sie sich einem Franzosen gegenüber erlauben könne –, »l’Urope ne sera jamais notre alliée sincère.«
Darauf lenkte Anna Pawlowna die Unterhaltung auf den Mut und die Charakterfestigkeit des Königs von Preußen, um Boris ins Gespräch zu ziehen.
Boris hörte aufmerksam auf jeden, der sprach, und wartete, bis die Reihe an ihn kommen würde, versäumte dabei aber nicht, ab und zu seine Nachbarin, die schöne Helene, anzusehen, die lächelnd ein paarmal die Blicke des hübschen jungen Adjutanten auffing.
Es machte sich ganz natürlich, daß Anna Pawlowna, während sie über die Lage Preußens sprach, Boris bat, etwas von seiner Reise nach Glogau zu erzählen, und von dem Zustand, in dem er die preußischen Truppen dort angetroffen habe. Ohne sich zu beeilen, erzählte nun Boris in reinem fehlerfreiem Französisch viele interessante Einzelheiten von den preußischen Truppen und vom preußischen Hofe, bemühte sich aber während seiner ganzen Erzählung, seine eigenen Ansichten über die Tatsachen, die er berichtete, zu verbergen. So nahm Boris eine Zeitlang die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch, und Anna Pawlowna fühlte, daß ihr neues Gericht von allen Gästen mit Vergnügen aufgenommen wurde. Mehr Interesse als alle übrigen zeigte die schöne Helene für Boris’ Erzählung. Sie fragte wiederholt nach verschiedenen Einzelheiten seiner Reise, als interessierte sie die Lage der preußischen Armee im höchsten Grad. Kaum war er mit seiner Erzählung zu Ende gekommen, als sie sich mit ihrem gewohnten Lächeln zu ihm wandte: »Sie müssen unbedingt einmal zu mir kommen«, sagte sie zu ihm in einem Ton, als wäre dies aus irgendwelchen Gründen, die er nicht wissen könne, unumgänglich notwendig. »Dienstag zwischen acht und neun Uhr. Sie würden mir ein großes Vergnügen bereiten.«
Boris versprach, ihren Wunsch zu erfüllen, und wollte sich eben mit ihr in ein Gespräch einlassen, als ihn Anna Pawlowna unter dem Vorwand, die Tante wolle ebenfalls seine Schilderungen hören, herausrief.
»Sie kennen doch wohl ihren Mann?« fragte Anna Pawlowna, klappte die Augen zu und wies mit bekümmerter Gebärde auf Helene. »Ach, diese arme, entzückende Frau! Erwähnen Sie ihr gegenüber ihren Mann niemals, ich bitte Sie darum, sprechen Sie nicht von ihm! Das würde ihr zu weh tun.«
Als Boris und Anna Pawlowna dann zum allgemeinen Kreis zurückkehrten, hatte Fürst Hippolyt das Gespräch an sich gerissen.
Er hatte sich in seinem Sessel nach vorn gebeugt und sagte gerade: »Le roi de Prusse«, brach aber sogleich in Gelächter aus. Alle wandten sich nach ihm um. »Le roi de Prusse?« fragte Hippolyt, fing nochmals an zu lachen und setzte sich dann wieder ernsthaft in seinen Sessel zurück. Anna Pawlowna wartete eine Weile, da aber Hippolyt anscheinend wirklich nichts mehr sagen wollte, fing sie an, davon zu sprechen, wie sich der gottlose Bonaparte in Potsdam den Degen Friedrichs des Großen angeeignet habe.
»C’est l’épée de Frederic le Grand, que je …« fing sie an, aber Hippolyt unterbrach sie mit den Worten: »Le roi de Prusse …« doch wieder. Als alle sich ihm zuwandten, entschuldigte er sich durch eine Geste und schwieg.
Anna Pawlowna zog die Stirn kraus. Da wandte sich Mortemart, Hippolyts Freund, kurz entschlossen an ihn mit der Frage: »Voyons, à qui en avez-vous avec votre roi de Prusse?«
Hippolyt fing an zu lachen, schämte sich aber gleichsam über sein Lachen.
»Non, ce n’est rien, je voulais dire seulement …« Er hatte die Absicht, ein Wortspiel zu erzählen, das er in Wien gehört und schon den ganzen Abend anzubringen versucht hatte. »Je voulais dire seulement, que nous avons tort de faire la guerre ›pour le roi de Prusse‹.«
Boris lächelte vorsichtig, so daß man sein Lächeln ebenso als Spott wie auch als Beifallsäußerung für diesen Scherz auffassen konnte, je nachdem es die andern aufnehmen würden. Alles lachte.
»Das ist ein schlimmes Wortspiel, sehr geistreich, aber ungerecht«, sagte Anna Pawlowna und drohte ihm mit ihrem runzligen Finger. »Wir führen den Krieg nicht ›pour le roi de Prusse‹, sondern der guten Prinzipien wegen. Ah, il est méchant, ce prince Hippolyte!« sagte sie.
Die Unterhaltung kam den ganzen Abend nicht einmal ins Stocken und drehte sich vorzugsweise um politische Neuigkeiten. Ganz zum Schluß wurde man besonders lebhaft, als man auf die vom Kaiser verliehenen Auszeichnungen zu sprechen kam.
»Da hat doch im vorigen Jahr dieser N.N. eine Tabaksdose mit dem Bild des Kaisers bekommen«, sagte l’homme à l’esprit profond, »warum sollte nun dem S.S. nicht eine ebensolche Auszeichnung zuteil werden?«
»Je vous demande pardon«, sagte der Diplomat, »eine Tabaksdose mit dem Bildnis Seiner Majestät ist eine Belohnung, aber keine Auszeichnung. Man könnte es vielmehr ein Geschenk nennen.«
»Es hat früher ähnliche Fälle gegeben, ich erinnere nur an Schwarzenberg.«
»C’est impossible«, rief ein anderer.
»Wetten? Le grand cordon, c’est différent …«
Als alle sich erhoben, um aufzubrechen, wandte sich Helene, die den ganzen Abend nur wenig gesprochen hatte, noch einmal mit ihrer Bitte an Boris und wiederholte ihre freundliche und bedeutsame Aufforderung, sie am Dienstag zu besuchen.
»Mir liegt sehr viel daran«, sagte sie lächelnd mit einem Blick auf Anna Pawlowna, und jene bestätigte diesen Wunsch Helenes mit demselben schwermütigen Lächeln, das ihre Worte zu begleiten pflegte, wenn sie von ihrer hohen Gönnerin sprach.
Es erweckte den Anschein, als hätte sich aus irgendwelchen Äußerungen, die Boris über das preußische Heer hatte fallen lassen, für Helene die unumgängliche Notwendigkeit ergeben, Boris bei sich zu sehen, und in ihrem Lächeln lag anscheinend das Versprechen, ihm diese Notwendigkeit zu erklären, wenn er am Dienstag zu ihr kommen werde.
Doch als Boris am Dienstagabend den prächtigen Salon Helenes betrat, erhielt er keinerlei deutliche Erklärungen darüber, warum er unbedingt hatte kommen müssen. Es waren noch andere Gäste da, die Gräfin sprach nur wenig mit ihm, und nur als er ihr beim Abschied die Hand küßte, flüsterte sie ihm, sonderbarerweise ohne wie immer zu lächeln, plötzlich zu: »Kommen Sie morgen zum Essen … abends. Sie müssen unbedingt kommen … Venez!«
So wurde Boris während seines Aufenthalts in Petersburg der Hausfreund der Gräfin Besuchowa.
Der Krieg war entfacht, und sein Schauplatz näherte sich immer mehr den russischen Grenzen. Überall hörte man Bonaparte als den Feind des Menschengeschlechtes verfluchen. In den Dörfern sammelte man Rekruten und Landwehrleute, und vom Kriegsschauplatz drangen allerlei Nachrichten herüber, die einander widersprachen und meistens erlogen waren und denn auch die verschiedenartigsten Auslegungen erfuhren.
Das Leben des alten Fürsten Bolkonskij, des Fürsten Andrej und der Prinzessin Marja hatte sich seit dem Jahre 1805 in vieler Beziehung geändert.
Im Jahre 1806 war der alte Fürst zum Oberkommandierenden der Landwehr ernannt worden, ein Posten, wie es deren in ganz Rußland nur acht gab. Trotz seiner Altersschwäche, die sich besonders während jener Zeit bemerkbar gemacht hatte, als er seinen Sohn für gefallen hielt, glaubte er doch, nicht das Recht zu haben, ein Amt auszuschlagen, das ihm der Kaiser selber übertragen hatte, ja, dieser sich ihm neu eröffnende Wirkungskreis rüttelte ihn auf und verlieh ihm neue Kräfte. Er reiste beständig durch die drei Gouvernements, die ihm anvertraut waren, erfüllte alle seine Pflichten mit pedantischer Genauigkeit, war gegen seine Untergebenen bis zur Grausamkeit streng und ging selber allen Dingen bis auf den Grund. Prinzessin Marja hatte nun aufgehört, Mathematikstunden bei ihrem Vater zu nehmen, und kam nur, wenn er zu Hause war, morgens einmal zu ihm aufs Zimmer, in Begleitung der Amme und des kleinen Fürsten Nikolaj, wie ihn der Großvater nannte. Der kleine Fürst Nikolaj bewohnte mit seiner Amme und der alten Kindermuhme Sawischna die Gemächer der verstorbenen kleinen Fürstin, und Prinzessin Marja verbrachte den größten Teil des Tages im Kinderzimmer, um ihrem kleinen Neffen, so gut sie konnte, die Mutter zu ersetzen. Auch Mademoiselle Bourienne schien den Kleinen abgöttisch liebzuhaben, und so leistete Prinzessin Marja oft selber Verzicht und überließ der Freundin den Genuß, den kleinen Engel, wie sie ihren Neffen nannte, zu warten und mit ihm zu spielen.
Neben dem Altar der Kirche in Lysyja-Gory war über dem Grab der kleinen Fürstin eine Kapelle errichtet worden. Man hatte ein Marmordenkmal aus Italien kommen lassen und in dieser Kapelle aufgestellt, das einen Engel mit ausgebreiteten Flügeln darstellte, der sich anschickt, gen Himmel zu fliegen.
Der Engel hielt die Oberlippe ein wenig nach oben gezogen, als wolle er lächeln, und Fürst Andrej und Prinzessin Marja hatten einmal, als sie aus der Kapelle traten, einander eingestanden, daß sie das Gesicht dieses Engels sonderbarerweise immer an das Gesicht der Verstorbenen erinnere. Was aber noch merkwürdiger schien und Fürst Andrej seiner Schwester nicht eingestand, war, daß er aus dem Ausdruck, den der Künstler zufällig dem Gesicht dieses Engels verliehen hatte, dieselben sanft vorwurfsvollen Worte herauslas, wie er sie damals auf dem Antlitz seiner toten Frau gelesen hatte: »Ach, warum habt ihr mir das angetan?«
Bald nach Fürst Andrejs Rückkehr hatte der alte Fürst seinen Besitz mit dem Sohn geteilt und ihm das große Gut Bogutscharowo abgetreten, das vierzig Werst von Lysyja-Gory entfernt lag. Zum Teil aus dem Grund, weil sich für den Fürsten Andrej an Lysyja-Gory so traurige Erinnerungen knüpften, zum Teil auch, weil er nicht die Kraft in sich fühlte, den Charakter seines Vaters immer zu ertragen, und endlich teilweise auch deshalb, weil er Einsamkeit brauchte, siedelte Fürst Andrej nach Bogutscharowo über, baute sich dort an und verbrachte den größten Teil seiner Zeit auf diesem Gut.
Er hatte nach der Schlacht bei Austerlitz den festen Entschluß gefaßt, nie wieder in den Kriegsdienst zu treten, und als dann der Krieg von neuem begann und alle wieder einrücken mußten, nahm er, um sich vom aktiven Dienst zu befreien, einen Posten im Kommando seines Vaters zur Aushebung der Landwehr an. Es schien, als hätten seit dem Feldzug von 1805 Vater und Sohn die Rollen getauscht. Der alte Fürst, durch seine Tätigkeit angeregt, erwartete alles Gute von dem jetzigen Feldzug, Fürst Andrej dagegen, der nicht am Krieg teilnahm, was ihm im Grunde der Seele doch leid tat, sah immer nur schwarz.
Am 26. Februar 1807 war der alte Graf dienstlich in seinen Bezirk abgereist. Fürst Andrej blieb, wie immer, wenn sein Vater abwesend war, auch diesmal in Lysyja-Gory. Der kleine Nikoluschka war schon den vierten Tag nicht recht wohl. Die Kutscher, die den alten Fürsten in die Stadt gefahren hatten, waren eben von dort zurückgekehrt und hatten für den Fürsten Andrej Briefe und Zeitungen mitgebracht.
Der Kammerdiener ging mit den Briefen auf das Zimmer des jungen Fürsten, fand ihn aber dort nicht vor und begab sich deshalb nach den Gemächern der Prinzessin Marja, aber auch dort war er nicht. Doch hier sagte man ihm, der Fürst wäre ins Kinderzimmer gegangen.
»Durchlaucht, soeben ist Petruscha mit Briefen gekommen«, meldete eines der Stubenmädchen dem Fürsten Andrej, der auf einem kleinen Kinderstuhl saß und mit zitternden Händen und finsterer Stirn aus einer Flasche etwas Medizin in ein halb mit Wasser gefülltes Glas tropfen ließ.
»Was ist los?« fragte er ärgerlich, zuckte unvorsichtig mit der Hand und goß dadurch zuviel Tropfen aus der Flasche in das Glas. Er schüttete die zu starke Arznei aus dem Glas auf den Fußboden und ließ sich frisches Wasser bringen. Das Mädchen brachte es ihm.
Im Zimmer standen ein Kinderbettchen, zwei Truhen, zwei Sessel, ein Tisch, ein Kindertischchen und ein Stühlchen, eben das, auf dem jetzt Fürst Andrej saß. Die Fenster waren verhängt, und auf dem Tisch brannte nur eine Kerze, vor der ein gebundenes Notenheft stand, damit das Licht nicht auf das Bettchen fallen sollte.
»Lieber Bruder«, wandte sich Prinzessin Marja, die neben dem Bettchen stand, an den Fürsten Andrej, »wir wollen lieber noch ein Weilchen warten … später …«
»Tu mir den einzigen Gefallen und schwatze nicht so dummes Zeug zusammen. Da hast du nun immer gewartet und gewartet, und nun siehst du es, wozu dein Warten führt«, sagte Fürst Andrej ärgerlich flüsternd, sichtlich bemüht, der Schwester eine Stichelei zu sagen.
»Aber lieber Andrej, es ist doch wirklich besser, ihn nicht zu wecken, er ist doch soeben eingeschlafen«, erwiderte die Prinzessin mit flehender Stimme.
Fürst Andrej stand auf und schlich mit dem Glas in der Hand auf den Zehen an das Bettchen hin.
»Soll man ihn wirklich nicht wecken?« meinte er unentschieden.
»Wie du willst, allerdings … ich meine … aber wie du willst«, sagte Prinzessin Marja schüchtern und schämte sich sichtlich darüber, daß sie mit ihrer Ansicht recht haben sollte. Sie wies den Bruder auf das Stubenmädchen hin, das ihn flüsternd herausrief.
Es war schon die zweite Nacht, die sie beide nicht geschlafen und mit der Pflege des fiebernden Kindes zugebracht hatten. Da sie zu ihrem Hausarzt kein rechtes Vertrauen hatten, und der aus der Stadt erwartete Arzt noch nicht eingetroffen war, hatten sie es während der beiden Tage und Nächte bald mit diesem, bald mit jenem Mittel versucht. Durch die schlaflosen Nächte abgespannt und gequält, hatte einer dem anderen die Schuld an all diesem Kummer zugeschoben, sie hatten sich gegenseitig Vorwürfe gemacht und gezankt.
»Petruscha ist mit Briefen da vom Herrn Papa«, meldete die Zofe flüsternd.
Fürst Andrej ging hinaus.
»Hol sie der Teufel!« brummte er, aber er hörte doch die mündlichen Aufträge an, nahm die ihm überreichten Papiere samt einem Brief seines Vaters dem Diener ab und kehrte ins Kinderzimmer zurück.
»Nun, wie steht’s?« fragte Fürst Andrej.
»Immer noch so. Warte nur, um Gottes willen. Karl Iwanowitsch sagt auch immer, daß Schlaf das beste Mittel ist«, erwiderte Prinzessin Marja flüsternd und seufzte.
Fürst Andrej ging zu dem Kinde hin und fühlte es an. Es glühte.
»Verschont mich mit eurem Karl Iwanowitsch!« Er nahm das Glas, in das er die Tropfen hineingegossen hatte, und trat wieder an das Bett heran.
»Andrej, tu’s nicht!« sagte Prinzessin Marja.
Aber er sah sie mit einem bösen und zugleich leidenden Ausdruck an und beugte sich mit dem Glas über das Kind.
»Doch, ich will es«, sagte er. »Ich bitte dich, gib es ihm ein.«
Prinzessin Marja zuckte die Achseln, nahm aber gehorsam das Glas, rief die Kindermuhme und fing an, dem Kind die Medizin einzuflößen. Der Kleine schrie und keuchte. Fürst Andrej zog die Stirne kraus, griff sich an den Kopf, ging aus der Kinderstube hinaus und setzte sich im Nebenzimmer aufs Sofa.
Die Briefe hatte er immer noch in der Hand. Er machte sie mechanisch auf und fing an, sie zu lesen. Der alte Fürst schrieb auf blauem Papier mit seinen großen, langen Schriftzügen, wobei er sich stets irgendwelcher Abkürzungen bediente, folgendes:
»Habe soeben durch einen Kurier recht freudige Nachrichten erhalten, wenn’s nicht wieder nur erlogenes Zeug ist. Bennigsen soll bei Eylau einen vollen Sieg über Bonaparte errungen haben. In Petersburg soll alles jubeln und frohlocken, und in der Armee soll es Auszeichnungen nur so geregnet haben. Ist zwar ein Deutscher, dieser Bennigsen – doch gratuliere ich, Was dieser Chandrikow, der Kommandeur von Kortschewa, eigentlich treibt, ist mir unverständlich. Bis jetzt hat er weder Ersatzleute noch Proviant geliefert. Fahre sogleich zu ihm hin und sage ihm, daß es ihn den Kopf kostet, wenn binnen acht Tagen nicht alles zur Stelle ist. Über die Schlacht bei Preußisch-Eylau schreibt mir übrigens auch Peter, der dabei gewesen ist, es ist also doch alles wahr. Wenn nicht Leute, denen es nicht zukommt, ihre Nase in alles stecken, so schlägt diesen Bonaparte sogar ein Deutscher. Es wird erzählt, daß sie in voller Auflösung die Flucht ergriffen haben. Also sieh zu, fahre unverzüglich nach Kortschewa und führe meinen Auftrag aus.«
Fürst Andrej seufzte und riß einen andern Briefumschlag auf. Es war ein Brief von Bilibin, zwei engbeschriebene Seiten. Er faltete ihn, ohne ihn gelesen zu haben, wieder zusammen und las noch einmal den Brief seines Vaters bis zu dem letzten Satz durch: »Fahre unverzüglich nach Kortschewa und führe meinen Auftrag aus.«
Nein, da müßt ihr mich schon entschuldigen, jetzt fahre ich nicht, solange es meinem Kind nicht besser geht, dachte er, ging an die Tür und warf einen Blick ins Kinderzimmer.
Prinzessin Marja stand noch immer neben dem Bettchen und schaukelte leise das Kind.
Ja, was war es doch? Schrieb er nicht auch etwas Unangenehmes? dachte Fürst Andrej und rief sich den Inhalt des Briefes noch einmal ins Gedächtnis zurück. Ach so, der Sieg der Unsrigen über Napoleon, gerade jetzt, wo ich nicht dabei bin. Ja, ja, als wenn mich alles narrte … Na meinetwegen, wohl bekomm’s … und er fing an, Bilibins französischen Brief zu lesen. Er begriff nicht die Hälfte davon, trotzdem las er ihn, und zwar deshalb, um nur einen kurzen Augenblick nicht an das denken zu müssen, was ihn so ausschließlich und quälend beschäftigte.
Bilibin befand sich, jetzt als diplomatischer Beamter im Hauptquartier des Heeres und beschrieb den ganzen Feldzug zwar in französischer Sprache und mit französischen Geistesblitzen und Redewendungen, aber doch mit einem ausschließlich russischen Nichtzurückschrecken vor Selbstbeurteilung und Selbstverspottung. Er schrieb, die diplomatische Schweigepflicht drücke ihm das Herz ab, und er sei glücklich darüber, in Fürst Andrej einen zuverlässigen Gesinnungsgenossen gefunden zu haben, vor dem er die ganze Galle ausschütten könne, die sich beim Anblick dessen, was in der Armee vorgehe, in ihm angesammelt habe. Der Brief war älteren Datums, er war noch vor der Schlacht bei Preußisch-Eylau geschrieben.
»Sie wissen, mon cher prince«, schrieb Bilibin, »daß ich seit unseren großen Erfolgen bei Austerlitz das Hauptquartier nicht mehr verlasse. Ich habe dem Krieg entschieden Geschmack abgewonnen und bin gut gefahren dabei. Was ich während dieser drei Monate gesehen habe, ist unglaublich.
Ich fange ab $ovo an. L’ennemi du genre humain hatte, wie Sie wissen, die Preußen angegriffen. Die Preußen sind unsere treuen Verbündeten, die uns in den letzten drei Jahren nur dreimal betrogen haben, also schlagen wir uns auf ihre Seite. Aber es stellt sich heraus, daß l’ennemi du genre humain unseren schönen Reden keinerlei Beachtung schenkt, sich in seiner ungehobelten und verwilderten Art auf die Preußen stürzt, ohne ihnen Zeit zu lassen, ihre begonnene Parade zu Ende zu führen, sie in zwei Handstreichen kurz und klein schlägt und sich im Potsdamer Schloß häuslich niederläßt.
›Es ist mein lebhafter Wunsch‹, schreibt der König von Preußen an Bonaparte, ›daß Euer Majestät in meinem Schlosse so aufgenommen und bewirtet werden, wie es Ihnen angenehm ist, und ich habe mich beeilt, zu diesem Zweck alle Maßnahmen zu treffen, soweit mir die Umstände dies erlaubten. Möge es mir gelungen sein!‹ Die preußischen Generäle erschöpfen sich in Höflichkeiten gegen die Franzosen und strecken bei der ersten Aufforderung die Waffen.
Der Kommandant von Glogau fragt bei einer Stärke von zehntausend Mann beim König von Preußen an, was er tun soll, wenn man ihn auffordere, sich zu ergeben … Das sind alles Tatsachen.
Kurz, während wir gehofft hatten, dem Feind nur durch unsere kriegerische Haltung Respekt einzuflößen, hat es sich so gemacht, daß wir nun wohl oder übel doch in den Krieg verwickelt worden sind, und, was noch schlimmer ist, in einen Krieg an unseren Grenzen avec et pour le roi de Prusse. Alles ist zum Losschlagen bereit, es fehlt uns nur noch eine ganze Kleinigkeit: ein Oberbefehlshaber. Da es sich herausgestellt hat, daß der Erfolg bei Austerlitz etwas ausgesprochener hätte sein können, wenn der Oberbefehlshaber minder jung gewesen wäre, so hat man jetzt die Achtzigjährigen einer genaueren Prüfung unterzogen, zwischen Prosorowkij und Kamenskij geschwankt und endlich letzterem den Vorzug gegeben. Der General kommt auf Suworowsche Manier in einer Kibitka bei uns an und wird mit Freuden- und Triumphgeschrei empfangen.
Am 4. langt der erste Kurier aus Petersburg im Hauptquartier an. Man bringt die Postsäcke in das Arbeitszimmer des Feldmarschalls, der am liebsten immer alles selber macht. Ich werde gerufen, um ihm beim Sortieren der Briefe zu helfen und diejenigen auszusuchen, die für uns bestimmt sind. Der Feldmarschall sieht uns zu und wartet auf Stöße an ihn gerichteter Briefe. Wir suchen und suchen – kein einziger ist dabei. Der Feldmarschall verliert die Geduld, macht sich selber ans Werk und findet Briefe vom Kaiser an den Grafen T. an den Prinzen W. und an mehrere andere. Da erfolgt einer seiner bekannten Wutausbrüche. Er speit Feuer und Flamme gegen jedermann, nimmt die Briefe, reißt sie auf und liest, was der Kaiser an andere schreibt! ›So behandelt man mich! Man hat kein Vertrauen zu mir! Ah, es wird befohlen, ein Auge auf mich zu haben, schön, ausgezeichnet! Hinaus mit euch allen!‹ Und er schreibt an den General Bennigsen den denkwürdigen Tagesbefehl:
›Ich bin verwundet und kann nicht reiten, infolgedessen auch keine Armee kommandieren. Sie haben Ihr Armeekorps, nachdem es geschlagen wurde, nach Putulsk geführt: dort liegt es ohne jede Deckung, hat weder Holz noch Fourage. Dem muß abgeholfen werden. Da Sie sich gestern schon selbst an den Grafen Buxhöwden gewandt haben, müssen Sie auf den Rückzug gegen unsere Grenzen bedacht sein, den Sie heute noch auszuführen haben.‹
Und an den Kaiser schreibt er: ›Vom vielen Sitzen zu Pferde habe ich mich im Sattel ganz wund geritten, was zusammen mit meinen früheren Leiden mich gänzlich daran hindert, zu reiten und eine so große Armee zu kommandieren. Deshalb habe ich den Oberbefehl über diese dem Grafen Buxhöwden übertragen, der nach mir der rangälteste General ist, habe die Sachen vom Tage und alles übrige ihm geschickt und ihm geraten, wenn er kein Brot mehr haben wird, sich mehr ins Innere Preußens zurückzuziehen, denn das Brot reicht nur noch für einen Tag, manche Regimenter haben schon überhaupt keines mehr, wie die Divisionskommandeure Ostermann und Sedmorjezkij gemeldet haben, und auch bei den Bauern ist alles aufgegessen. Ich selber aber bleibe, bis ich gesund sein werde, im Hospital von Ostrolenka, von welchem Hospital ich eine Krankenliste mir untertänigst beizufügen gestatte, indem ich melde, daß, wenn die Armee nur noch vierzehn Tage in dem jetzigen Biwak bleibt, bis zum Frühjahr auch nicht ein Mann mehr gesund sein wird.
Erlauben Sie einem Greise auf seinen Landsitz zurückzukehren, einem Greise, der seinen Namen auch so nicht mit Ruhm bedecken würde, da er die hohe Aufgabe, zu der er auserwählt wurde, nicht zu erfüllen vermag. Ihre allergnädigste Erlaubnis dazu werde ich hier im Hospital erwarten, um nicht bei der Truppe die Rolle eines Schreibers statt der eines Oberkommandierenden zu spielen. Mein Austritt aus dem Heer wird nicht das geringste Aufsehen erregen, weil ja nur ein Erblindeter aus der Armee ausscheidet. Solche Männer, wie ich einer bin, gibt es in Rußland zu Tausenden.‹
Der Feldmarschall ist wütend auf den Kaiser und verhängt über uns alle Strafen. Das ist doch vollkommen logisch, nicht wahr?
Dieses war also der erste Akt. Bei den folgenden erhöht sich naturgemäß die Spannung und der Einschlag ins Komische. Nachdem uns der Feldmarschall verlassen hat, stellt sich heraus, daß der Feind in Sicht ist und wir ihm eine Schlacht liefern müssen. Buxhöwden als Rangältester ist Oberkommandierender, aber General Bennigsen ist anderer Meinung, um so mehr, als er selber und sein eigenes Armeekorps es ist, die vor dem Feind stehen, und er die Gelegenheit nicht verpassen will, ›auf eigene Faust‹, wie der Deutsche sagt, eine Schlacht zu gewinnen. Er liefert also die Schlacht. Es ist dies das Treffen bei Pultusk, das überall für einen großen Sieg gehalten wird, was es aber meiner Ansicht nach durchaus nicht war. Wir traurigen Zivilisten haben, wie Sie wissen, sehr häßliche Gepflogenheiten bei der Beurteilung, ob eine Schlacht gewonnen oder verloren ist. Derjenige, der sich nach einer Schlacht zurückziehen muß, hat sie, unserer Ansicht nach wenigstens, verloren. Demnach hätten also wir die Schlacht bei Pultusk verloren. Kurz und gut, wir ziehen uns also nach der Schlacht zurück, schicken aber einen Kurier nach Petersburg, der unseren Sieg verkündet, und Bennigsen tritt das Kommando nicht an Buxhöwden ab in der Hoffnung, als Belohnung für seinen Sieg von Petersburg aus zum Oberkommandierenden ernannt zu werden. Während dieses Interregnums beginnt man bei uns ein ebenso interessantes wie originelles Manöver. All unser Sinnen und Trachten ist nicht mehr darauf gerichtet, den Feind zu umgehen oder anzugreifen, wie es hätte sein sollen, sondern einzig und allein darauf, dem General Buxhöwden auszuweichen, der dem Dienstalter nach unser Kommandeur hätte sein müssen. Und zwar verfolgen wir dieses Ziel mit solcher Energie, daß wir sogar nach Überschreitung eines Flusses, der nicht passierbar ist, die Brücken hinter uns verbrennen, um von unserem Feind, der augenblicklich Buxhöwden und nicht Bonaparte heißt, getrennt zu sein. Doch während uns diese ergötzlichen Manöver vor Buxhöwden retten, wird dieser dadurch beinahe von überlegenen feindlichen Streitkräften angegriffen und gefangengenommen. Doch Buxhöwden setzt uns unentwegt nach – wir fliehen. Kaum ist er auf unserer Seite des Flusses angekommen, setzen wir auf die andere Seite über. Endlich sitzt uns unser Feind Buxhöwden auf den Fersen und geht zur Attacke über. Die beiden Generäle fahren sich in die Haare. Es kommt sogar zu einer Duellforderung von seiten Buxhöwdens und zu einem epileptischen Anfall auf Seiten Bennigsens. Doch im Augenblick der höchsten Spannung kommt der Kurier, den wir mit der Nachricht von unserem Sieg bei Pultusk nach Petersburg geschickt hatten, von dort zurück und bringt uns die Ernennung zum Oberkommandierenden der ganzen Armee. Unser erster Feind, Buxhöwden, ist somit geschlagen, und wir können nun auch einmal an den anderen denken, an Bonaparte. Doch in diesem Augenblick erhebt sich gegen uns ein dritter Feind, unsere eigenen ›rechtgläubigen‹ Soldaten, die unter großem Geschrei Brot, Fleisch, Zwieback, Heu und was weiß ich alles, von uns fordern. Die Speicher sind leer, die Wege nicht zum Durchkommen. Unsere Rechtgläubigen fangen an zu plündern, aber in einer Weise, wie man sich, wenn man an den vorigen Feldzug denkt, davon überhaupt keine Vorstellung machen kann. Die Hälfte der Regimenter löst sich in wilde Scharen auf, die plündernd die Gegend durchstreifen und überall morden und brennen. Die Einwohner sind in Grund und Boden ruiniert, die Hospitäler können die Kranken nicht mehr fassen, und überall wütet die Hungersnot. Zweimal ist auch das Hauptquartier von marodierenden Truppen angegriffen worden, und der Oberkommandierende selbst hat sich gezwungen gesehen, ein Bataillon zu verlangen, um sie zu verjagen. Bei einem dieser Überfälle hat man mir einen leeren Koffer und meinen Schlafrock entwendet. Der Kaiser will den Divisionskommandeuren das Recht erteilen, jeden Marodeur erschießen zu lassen, aber ich fürchte stark, daß dann die eine Hälfte der Armee gezwungen sein wird, die andere zu erschießen.«
Anfänglich hatte Fürst Andrej nur mit den Augen gelesen, dann aber hatte unwillkürlich das, was er las, obgleich er wußte, inwieweit er Bilibin Glauben schenken durfte, mehr und mehr angefangen, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Als er den Brief bis an diese Stelle gelesen hatte, knüllte er ihn zusammen und warf ihn fort. Ihn ärgerte nicht das, was er aus dem Brief herausgelesen hatte, ihn ärgerte nur das eine, daß jenes fremde Leben dort ihn so erregen konnte. Er schloß die Augen, strich sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er damit jeden Gedanken der Teilnahme an dem, was er soeben gelesen hatte, verscheuchen, und horchte auf das, was im Kinderzimmer vorging. Plötzlich kam es ihm vor, als höre er hinter der Tür einen sonderbaren Laut. Eine Angst überkam ihn, er fürchtete, es könnte während der Zeit, in der er den Brief gelesen hatte, dem Kind etwas zugestoßen sein. Er schlich auf den Zehen bis an die Tür des Kinderzimmers und öffnete sie.
In dem Augenblick, als er eintrat, sah er, wie die Kindermuhme ganz erschrocken etwas vor ihm versteckte, und daß Prinzessin Marja nicht mehr neben dem Bettchen stand.
»Lieber Andrej«, hörte er hinter sich Prinzessin Marja, wie ihm schien, ganz verzweifelt flüstern.
Wie das nach langen schlaflosen Nächten und großen Aufregungen oft zu geschehen pflegt, überkam ihn auf einmal eine ganz grundlose Angst: es schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, das Kind sei tot. Alles, was er hörte und sah, schien diese Furcht zu bestätigen.
Es ist alles zu Ende, dachte er, und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Ganz verstört trat er auf das Bettchen zu in dem Glauben, es leer zu finden, da die Kindermuhme das tote Kind vor ihm versteckt habe. Er schlug die Vorhänge auseinander, und lange konnten seine erschrockenen, irrenden Augen das Kindchen nicht entdecken. Endlich sah er es: der Junge hatte sich herumgewälzt, das Köpfchen war ganz vom Kissen heruntergerutscht, und so lag er nun mit roten Bäckchen quer im Bett, schmatzte, bewegte die Lippen im Schlaf und atmete gleichmäßig.
Fürst Andrej empfand ein Gefühl seliger Freude, als er den Knaben, den er schon verloren geglaubt hatte, so sah. Er beugte sich zu dem Kindchen hinab und fühlte mit den Lippen, ob es noch Fieber habe, wie seine Schwester es ihm gezeigt hatte. Die zarte Stirn war feucht, er strich mit der Hand über das Köpfchen, auch die Härchen waren feucht: so stark schwitzte das Kind. Es war nicht nur dem Tod entronnen, sondern man sah deutlich, daß es die Krisis überwunden hatte und der Genesung entgegenging. Er hätte das kleine hilflose Wesen am liebsten an sich gerissen, geliebkost und an seine Brust gedrückt, aber das wagte er nicht. Über das Kindchen gebeugt, blieb er regungslos stehen und betrachtete sein Köpfchen, seine Händchen, seine Beinchen, die sich unter der Decke abzeichneten. Da hörte er ein Geräusch neben sich, und ein Schatten schien über die Bettvorhänge zu huschen. Aber er sah sich nicht um, verwandte kein Auge von dem Kindergesichtchen und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen. Der dunkle Schatten rührte von Prinzessin Marja her, die mit ihren lautlosen Schritten an das Bettchen herangegangen war, den Vorhang aufgehoben und wieder fallengelassen hatte. Obgleich Fürst Andrej sich nicht umschaute, hatte er sie doch erkannt und streckte ihr die Hand hin. Sie drückte sie ihm herzlich.
»Er hat geschwitzt«, sagte Fürst Andrej.
»Ich suchte dich, um dir das zu sagen.«
Das Kindchen machte im Schlaf eine leise Bewegung, lächelte und rieb sich den Kopf am Kissen.
Fürst Andrej blickte seine Schwester an. Prinzessin Marjas leuchtende Augen erschienen durch die Freudentränen, die in ihnen standen, in dem matten Halbdunkel hinter den Vorhängen noch strahlender als gewöhnlich. Sie beugte sich zu ihrem Bruder herab und küßte ihn, wobei sich der Vorhang etwas verfing. Sie drohten einer dem anderen, blieben aber trotzdem in dem matten Licht unter dem Vorhang stehen, als wünschten sie, sich niemals von dieser Welt trennen zu müssen, in der sie so zu dritt fern von allem Getriebe vereint waren. Fürst Andrej war der erste, der von dem Bettchen fortging, wobei er mit den Haaren in dem Musselinvorhang hängenblieb.
»Ja, das ist das einzige, was mir noch geblieben ist«, sagte er und seufzte.
Bald nach seiner Aufnahme in den Freimaurerbund reiste Pierre mit einem vollgeschriebenen Anleitungsheft über all das, was auf seinen Gütern vorgenommen werden mußte, nach dem Gouvernement Kiew, wo er die meisten Bauern besaß. In Kiew angelangt, rief er alle seine Verwalter im Hauptkontor zusammen und klärte sie über seine Absichten und Wünsche auf. Er sagte ihnen, daß unverzüglich Maßnahmen zu treffen seien, die Bauern vollkommen frei und der Leibeigenschaft ledig zu machen, und bis es so weit sei, dürfe man sie nicht mit Arbeit überhäufen. Frauen mit kleinen Kindern solle man überhaupt nicht auf Arbeit schicken, den Bauern müsse man Unterstützungen gewähren, und bestrafen dürfe man sie nicht mehr körperlich, sondern nur durch Ermahnungen. Auf allen Gütern müßten Krankenhäuser, Heime und Schulen errichtet werden. Einige der Verwalter – es waren ziemlich ungebildete Landwirte darunter – hörten ganz erschrocken zu, da sie sich den Sinn von Pierres Worten dahin deuteten, daß der junge Graf mit ihrer Verwaltung nicht zufrieden und der Ansicht sei, sie hätten Geld unterschlagen. Andere wieder fanden, nachdem sie sich vom ersten Schrecken erholt hatten, Pierres vornehmes Lispeln und die ihnen neuen, noch nie gehörten Worte ganz ergötzlich, wieder anderen machte es einfach Spaß, den jungen Herrn reden zu hören, und die übrigen endlich, die pfiffigsten, zu denen auch der Oberverwalter gehörte, entnahmen aus seinen Worten, wie sie mit dem Herrn umzugehen hatten, wenn sie ihre Ziele erreichen wollten.
Der Oberverwalter legte für Pierres Absichten das größte Interesse an den Tag, bemerkte aber, daß man außer auf diese Neuerungen auch auf die anderen geschäftlichen Angelegenheiten der Güter eingehen müsse, die sich nicht gerade im besten Zustand befänden.
Trotz seines gewaltigen Reichtums fühlte sich Pierre von dem Tag an, da er als Erbe des Grafen Besuchow, wie es hieß, fünfhunderttausend Rubel jährliches Einkommen bezog, doch weit weniger reich als früher, als er von seinem verstorbenen Vater nur seine zehntausend Rubel im Jahr erhalten hatte. Er hatte von den Hauptkonten seines Budgets, die ihm nur unklar vorschwebten, etwa folgende Vorstellung: An den Rat hatte er für alle seine Güter zusammen etwa achtzigtausend Rubel zu zahlen, gegen dreißigtausend Rubel kostete ihn der Unterhalt seiner beiden Häuser in und bei Moskau sowie der Unterhalt der Prinzessinnen, etwa fünfzehntausend gingen für Pensionen und ebensoviel für wohltätige Zwecke drauf, der Gräfin wurden für ihren Unterhalt hundertfünfzigtausend Rubel gesandt, gegen siebzigtausend Rubel mußten für Hypothekenzinsen gezahlt werden, der soeben begonnene Bau einer Kirche kostete ihn in den nächsten zwei Jahren ebenfalls gegen zehntausend Rubel, und das, was ihm dann noch übrigblieb, an die hunderttausend Rubel, ging für dieses und für jenes drauf, ohne daß er selber wußte wie, so daß er fast in jedem Jahr sich gezwungen sah, neue Hypotheken aufzunehmen. Zudem schrieb ihm der Oberverwalter jedes Jahr über Feuersbrünste, Mißernten oder über die Notwendigkeit, an einer Fabrik oder einem Hüttenwerk einen Umbau vorzunehmen. Also war die erste Beschäftigung, die Pierre erwartete, gerade das, wozu er die wenigste Fähigkeit und Neigung besaß: die Regelung der geschäftlichen Angelegenheiten.
So setzte sich denn Pierre mit dem Oberverwalter alle Tage über die Bücher. Aber er fühlte, daß durch diese Mühe die Sache nicht um einen Schritt vorwärtskam. Er hatte die Empfindung, als ginge seine Arbeit ohne rechte Fühlung neben den Dingen her, als bekämen sie beide die Sache nicht richtig zu fassen, so daß sie nicht von der Stelle kam. Auf der einen Seite malte der Oberverwalter die Dinge in den schwärzesten Farben und wies Pierre auf die unumgängliche Notwendigkeit hin, die Schulden zu bezahlen und durch Frondienste der leibeigenen Bauern neue Arbeiten zu unternehmen, womit Pierre sich nicht einverstanden erklären konnte, auf der anderen Seite forderte Pierre, daß die ersten Schritte zur Befreiung der Bauern unternommen werden sollten, worauf der Verwalter erklärte, erst müßten die Hypothekenzinsen bezahlt werden und deshalb sei eine so schnelle Ausführung seiner Absichten unmöglich.
Der Oberverwalter sagte nicht, daß eine Ausführung seiner Pläne überhaupt unmöglich sei, aber um schneller zu diesen Zielen zu gelangen, schlug er vor, einige Wälder im Gouvernement Kostroma sowie ein paar Ländereien an der Flußmündung und ein in der Krim gelegenes Gut zu verkaufen. Aber alle diese Operationen waren, den Reden des Oberverwalters nach, mit so verwickelten Vorgängen wie Liquidationen, Requisitionen, Permissionen und so weiter verknüpft, daß Pierre ganz wirr im Kopf wurde und nur zu ihm sagte: »Ja, ja, machen Sie das nur so!«
Pierre besaß nicht genug praktische Anpassungsfähigkeit, die ihm ermöglicht hätte, die Dinge unmittelbar anzufassen, und deshalb liebte er auch diese Arbeiten nicht und bemühte sich nur, dem Verwalter vorzutäuschen, daß er sich mit diesen Geschäften abgebe. Der Verwalter hinwiederum gab sich alle Mühe, dem Grafen vorzutäuschen, daß er es für höchst nutzbringend erachte, wenn sich der Herr einmal mit solchen Arbeiten befasse, obgleich es für ihn lästig sei.
In der großen Stadt fand Pierre verschiedene Bekannte, andere drängten sich herbei, um ihn kennenzulernen, und alle nahmen den neuangekommenen Krösus, der der reichste Großgrundbesitzer des Gouvernements war, mit offenen Armen auf. Auch in seiner Hauptschwäche, die Pierre damals beim Eintritt in die Loge eingestanden hatte, war er so starken Versuchungen ausgesetzt, daß er nicht mehr widerstehen konnte. Wieder verlebte er ganze Tage, Wochen, Monate in derselben sorglosen Art, verbrachte seine Tage mit Abendgesellschaften, Mittagessen, Frühstückseinladungen und Bällen, die ihm gar nicht die Zeit ließen, zur Besinnung zu kommen, genau so, wie er es in Petersburg getrieben hatte. Statt eines neuen Lebens, wie es Pierre zu führen gehofft hatte, lebte er ganz in der früheren Art weiter, nur in einer anderen Umgebung.
Es kam Pierre zum Bewußtsein, daß er von den drei Aufgaben der Freimaurerei diejenige nicht erfüllte, die jedem Mitglied vorschrieb, durch sittenreines Leben anderen ein Vorbild zu sein, und daß ihm von den sieben Tugenden zwei vollständig fehlten: die Sittenstrenge und die Liebe zum Tode. Er tröstete sich damit, daß er dafür die andere Aufgabe: zu der Besserung der ganzen Menschheit beizutragen, zu erfüllen bestrebt sei und die anderen Tugenden besitze wie Nächstenliebe und ganz besonders Opferfreudigkeit.
Im Frühling des Jahres 1807 faßte Pierre den Entschluß, nach Petersburg zurückzukehren. Auf der Rückreise beabsichtigte er, alle seine Güter zu besuchen und sich persönlich davon zu überzeugen, was von seinen Anordnungen befolgt worden war, und in was für einer Lage sich jetzt die Menschen befanden, die ihm von Gott anvertraut worden waren, und deren Glück zu begründen er bestrebt war.
Der Oberverwalter, der alle Pläne des jungen Grafen, wenn nicht für Wahnwitz, so doch im höchsten Grad für unvorteilhaft hielt, sowohl für den Herrn als auch für ihn als Verwalter, ja selbst für die Bauern, hatte ihm doch einige Zugeständnisse gemacht. Zwar hielt er die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft immer noch für ein Ding der Unmöglichkeit, hatte aber trotzdem angeordnet, daß für den Tag der Ankunft des Herrn auf allen Gütern der Bau großer Schulgebäude, Krankenhäuser und Heime in Szene gesetzt und überall Empfänge vorbereitet werden sollten, nicht etwa üppige, feierliche, die, wie er wußte, Pierre nicht gefallen hätten, sondern dankbare, schlichtreligiöse, mit Heiligenbildern und Salz und Brot zum Willkommen, kurz, Empfänge, die, wie er seinen Herrn verstanden hatte, Eindruck auf ihn machen und ihn täuschen mußten.
Der südliche Frühling, die angenehme, schnelle Fahrt in seinem Wiener Reisewagen und das Alleinsein unterwegs hatten Pierre in eine freudige Stimmung versetzt. Von den Gütern, die er noch niemals besucht hatte, war eines immer malerischer als das andere; die Leute schienen alle glücklich und zufrieden und für die ihnen erwiesenen Wohltaten rührend dankbar zu sein. Überall fanden Empfänge statt, die, wenn sie auch Pierre etwas in Verlegenheit brachten, im Grunde seines Herzens doch ein Gefühl der Freude in ihm hervorriefen. In einem Dorf brachten ihm die Bauern Brot und Salz als Willkommensgruß entgegen sowie die Bilder der Heiligen Petrus und Paulus und baten um die Erlaubnis, zum Zeichen ihrer Liebe und Dankbarkeit für die ihnen erwiesenen Wohltaten zu Ehren seiner Schutzpatrone Petrus und Paulus auf ihre Kosten in der Kirche einen neuen Altar errichten zu dürfen. An einem anderen Ort kamen ihm Frauen mit Säuglingen an der Brust entgegen und dankten ihm, daß sie nun nicht mehr zu schweren Arbeiten herangezogen würden. Auf einem dritten Gut empfing ihn ein Priester mit dem Kreuz, umringt von einer Kinderschar, die er, dank der Güte des Grafen, nun in Grammatik und Religion unterweisen konnte. Auf allen Gütern sah Pierre mit eignen Augen nach einem einheitlichen Plan zu errichtende und schon errichtete steinerne Gebäude für Spitäler, Schulen und Armenhäuser, die in kurzer Zeit eröffnet werden konnten. Überall ersah Pierre aus den Büchern der Verwalter, daß die Fronarbeiten gegen früher stark vermindert worden waren, und hörte die rührenden Dankbezeigungen darüber von den Bauern selber, die in ihren blauen Kaftanen zu ihm kamen. Aber das wußte Pierre nicht, daß dort, wo man ihm Salz und Brot entgegengebracht und einen Altar für Petrus und Paulus hatte errichten wollen, am Peter-Pauls-Tag Handel getrieben und Jahrmarkt abgehalten wurde, daß dieser Altar von ebenjenen reichen Bauern, die Pierre empfangen hatten, schon vor Jahren erbaut worden war und daß neun Zehntel aller Einwohner dieses Ortes halb verlumpt und verlottert waren. Er wußte nicht, daß sein Befehl, Mütter von kleinen Kindern nicht mehr zur Fronarbeit heranzuziehen, zur Folge hatte, daß dieselben Mütter jener kleinen Kinder nun eine noch viel schwerere Arbeit für eigne Rechnung annahmen. Er wußte nicht, daß der Priester, der ihn mit dem Kreuz empfangen hatte, die Bauern mit seinen Gebührenforderungen bedrückte und daß die ihn umringenden Kinder von ihren Eltern nur unter Tränen zu ihm geschickt und dann mit beträchtlichen Geldopfern wieder von der Schule losgekauft worden waren. Er wußte nicht, daß die planmäßig ausgeführten steinernen Gebäude durch die Fronarbeit der Bauern errichtet wurden, wodurch diese nur noch vermehrt worden war, während ihre Abnahme nur auf dem Papier stand. Er wußte nicht, daß dort, wo der Verwalter, wie er ihm in den Büchern zeigte, seinem Willen gemäß jedem Bauern ein Drittel des Zinses erlassen hatte, die Fronarbeit um die Hälfte vermehrt worden war. Und deshalb war Pierre von der Fahrt durch seine Güter entzückt, kehrte ganz in derselben philanthropischen Stimmung wieder nach Petersburg heim, in der er abgefahren war, und schrieb einen begeisterten Brief an seinen Bruder Lehrmeister, wie er den Meister vom Stuhl nannte.
Wie leicht ist es doch und wie wenig Anstrengung kostet es, so viel Gutes zu tun, dachte Pierre, aber wie selten denken wir daran.
Er war glücklich über die Dankbarkeit, die man ihm zeigte, schämte sich aber, sie entgegenzunehmen. Sie mahnte ihn daran, daß er ja doch imstande war, noch viel, viel mehr für diese guten, schlichten Leute zu tun.
Der Oberverwalter hatte, obgleich er ein ganz dummer, hinterlistiger Mensch war, den klugen und arglosen Grafen dennoch gänzlich durchschaut und spielte mit ihm wie mit einer Puppe. Als er den Eindruck sah, den seine gemachten Empfänge auf Pierre hervorbrachten, wandte er sich mit noch größerer Entschiedenheit an ihn und bewies ihm, daß es unmöglich, ja hauptsächlich völlig zwecklos wäre, die Bauern zu befreien, die ja! auch ohnedies vollkommen glücklich seien.
Obgleich Pierre im Grunde seines Herzens dem Verwalter darin rechtgeben mußte, daß man sich kaum glücklichere Menschen vorstellen könne und daß nur der Himmel allein wisse, was für ein Los sie nach der Befreiung erwarte, bestand er doch, wenn auch mit Widerstreben, auf dem, was er für recht und billig hielt. Der Verwalter versprach, zu tun, was in seinen Kräften stehe, um den Willen des Grafen zu erfüllen, wußte aber zu gleicher Zeit ganz genau, daß der Graf niemals imstande sein werde nachzuprüfen, ob wirklich alle Maßnahmen zum Verkauf der Wälder und des Gutes sowie zur Deckung der Hypothekenzinsen getroffen worden waren, ja, daß er sogar aller Wahrscheinlichkeit nach niemals danach fragen und auch nicht erfahren werde, daß die neuerrichteten Gebäude leer standen und die Bauern an Frondiensten und Abgaben noch dasselbe zu entrichten hatten wie bei anderen Gutsbesitzern auch, das heißt eben alles, was sie zu entrichten vermochten.
Auf der Rückkehr von seiner Reise nach dem Süden kam Pierre in seiner glücklichen Gemütsstimmung auf den Gedanken, einen Vorsatz, den er schon lange gehegt hatte, auszuführen: seinen Freund Bolkonskij zu besuchen, den er zwei Jahre nicht gesehen hatte.
Bogutscharowo lag in einer wenig reizvollen, flachen Gegend. Ringsum sah man nichts als Felder, Birkenhaine und Tannenwälder, die zum Teil abgeholzt waren. Das Herrenhaus lag ganz am Ende eines an der großen Landstraße geradlinig angelegten Dorfes, hinter einem neugegrabenen Teich, der sehr hoch mit Wasser gefüllt und an den Ufern noch nicht mit Gras bewachsen war, inmitten eines neuangepflanzten Wäldchens, in dem sich auch ein paar Fichten befanden.
Der Herrenhof bestand aus einem Dreschspeicher, den Wirtschaftsgebäuden und Ställen, einem Badehaus, einem Seitenflügel und einem großen steinernen Wohnhaus mit halbkreisförmiger Front, an dem noch gebaut wurde. Rings um das Haus war ein neuer Garten angepflanzt. Die Zäune und Eingangstüren waren ebenfalls neu und fest gefügt. Unter einem Schutzdach standen zwei Feuerspritzen und ein Wasserfaß, das mit grüner Farbe angestrichen war. Die Wege waren gerade, die Brücken stabil und mit Geländern versehen. Alles trug den Stempel einer sorgsamen Bewirtschaftung. Pierre fragte ein paar Leute vom Gutsgesinde, die ihm über den Weg liefen, wo der Fürst wohne, und sie zeigten auf ein kleines neues Seitengebäude, das dicht am Teich stand. Der alte Anton, der den Fürsten Andrej schon als Kind gehütet hatte, half Pierre aus dem Wagen, sagte ihm, daß der Fürst zu Hause sei, und führte ihn in ein kleines, sauberes Vorzimmer.
Pierre wunderte sich im stillen über die Schlichtheit dieses kleinen, allerdings blitzsauberen Häuschens, wenn er an die prächtige Umwelt dachte, in der er seinen Freund das letztemal in Petersburg gesehen hatte. Hastig trat er in den kleinen Salon, wo der Stuck noch fehlte und alles noch nach Fichtenholz roch, und wollte noch weitergehen, aber Anton lief auf den Zehenspitzen voran und klopfte an die Tür.
»Nun, was gibt’s?« hörte man eine Stimme scharf und unfreundlich fragen.
»Es ist Besuch da«, erwiderte Anton.
»Bitte ihn, einen Augenblick zu warten.« Man hörte das Rücken eines Stuhles.
Pierre ging mit schnellen Schritten auf die Tür zu und stieß beinahe mit dem Gesicht auf den mit finsterer Miene eintretenden Fürsten Andrej, der recht alt aussah. Pierre umarmte ihn, nahm die Brille ab, küßte ihn auf die Wangen und betrachtete ihn aus allernächster Nähe.
»Das hätte ich nicht erwartet! Wie freue ich mich!« rief Fürst Andrej.
Pierre erwiderte nichts, er sah seinen Freund nur verwundert an, ohne die Augen von ihm abwenden zu können. Er staunte darüber, wie Fürst Andrej sich verändert hatte. Seine Worte waren freundlich, auch lächelten seine Lippen und sein Gesicht, aber sein Blick war tot und erloschen, obwohl es sichtlich sein Wunsch war, ihm einen frohen, freudigen Ausdruck zu verleihen. Nicht daß sein Freund magerer, blasser und reifer geworden war, setzte Pierre in Erstaunen, sondern dieser Blick und jene Falte auf der Stirn, die von einem Sinnen und Grübeln immer über denselben Gegenstand Zeugnis ablegten, waren es, die Pierre befremdeten, solange er noch nicht daran gewöhnt war.
Wie das bei einem Wiedersehen nach langer Trennung immer der Fall ist, wollte auch bei ihnen das Gespräch anfänglich lange nicht in Gang kommen. Sie fragten und antworteten sich nur in aller Kürze über Dinge, von denen sie selber wußten, daß sie ausführlicher darüber sprechen mußten. Doch endlich faßte das Gespräch auf den anfänglich nur abgerissen behandelten Themen etwas festeren Fuß, auf den Fragen nach vergangenen Erlebnissen, nach Zukunftsplänen, nach Pierres Reise und seiner Beschäftigung, nach dem Krieg und so weiter. Jene innere Sammlung und Niedergeschlagenheit, die Pierre in den Blicken des Fürsten Andrej wahrgenommen hatte, prägte sich jetzt noch stärker in dem Lächeln aus, mit dem er seinem Freund zuhörte, besonders dann, wenn Pierre mit freudiger Begeisterung von Vergangenem und Zukünftigem sprach. Es war, als könne Fürst Andrej an dem, wovon Pierre sprach, nicht teilnehmen, obgleich es sein sehnlichster Wunsch war. Pierre fing an zu merken, daß seine Begeisterung, seine Träume, seine Hoffnungen auf alles Gute und ein künftiges Glück dem Fürsten Andrej gegenüber nicht recht am Platz waren. Er schämte sich, alle seine neuen freimaurerischen Gedanken auszusprechen, die er auf seiner letzten Reise wieder ganz besonders aufgefrischt und in sich wachgerufen hatte. Er hielt sich zurück, um nicht naiv zu erscheinen, dabei wollte er aber doch unbedingt so bald wie möglich seinem Freunde zeigen, daß er jetzt ein ganz anderer geworden sei, ein besserer Pierre als der, den Fürst Andrej in Petersburg gekannt hatte.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wieviel ich in dieser Zeit durchlebt habe. Ich kenne mich selber gar nicht mehr wieder.«
»Ja, wir haben uns beide sehr, sehr geändert seit jenen Tagen«, erwiderte Fürst Andrej.
»Sie auch?« fragte Pierre. »Was sind nun Ihre Pläne?«
»Pläne?« wiederholte Fürst Andrej ironisch. »Meine Pläne?« sagte er noch einmal, als wundere er sich über die Bedeutung dieses Wortes. »Du siehst ja, ich baue. Im nächsten Jahr will ich ganz hierher übersiedeln …«
Pierre sah schweigend und aufmerksam in das altgewordene Gesicht des Fürsten Andrej.
»Nein«, sagte Pierre, »ich meine …«
Aber Fürst Andrej unterbrach ihn.
»Wozu von mir reden? Erzähle mir lieber etwas von deiner Reise und von dem, was du dort auf deinen Gütern getan hast.«
Pierre fing an zu erzählen, was er auf seinen Gütern angefangen hatte, bemüht, so viel wie möglich seinen Anteil an den von ihm getroffenen Verbesserungen zu verschweigen. Fürst Andrej griff Pierre ein paarmal in dem, was er erzählen wollte, vor, als wäre all das, was Pierre getan hatte, eine längst bekannte Geschichte, und hörte nicht nur ohne jedes Interesse zu, sondern schien sich sogar dessen zu schämen, was Pierre ihm erzählte.
Pierre empfand das Zusammensein mit dem Freunde als peinlich und drückend und schwieg.
»Weißt du was, mein Lieber?« sagte Fürst Andrej, der sich sichtlich durch den Gast ebenso in Verlegenheit gesetzt und bedrückt fühlte. »Ich habe hier nur mein Biwak aufgeschlagen und bin bloß hergekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Ich fahre heute wieder zu meiner Schwester hinüber. Ich werde dich mit ihr bekannt machen. Aber du kennst sie ja schon, glaube ich«, sagte er, sichtlich um den Gast bemüht, mit dem er keinerlei gemeinsame Interessen mehr hatte. »Gleich nach Tisch fahren wir. Aber willst du dir jetzt nicht einmal mein Gut ansehen?«
Sie gingen hinaus und machten bis zum Mittagessen einen Rundgang durch das ganze Gut, wobei sie sich über politische Neuigkeiten und gemeinsame Bekannte unterhielten wie Leute, die sich nur oberflächlich kennen. Etwas lebhafter und angeregter wurde Fürst Andrej nur, wenn er auf die von ihm angelegten Gutseinrichtungen oder auf den Neubau seines Hauses zu sprechen kam, aber auch hier hielt er, während er vom Gerüst aus Pierre die künftige Einrichtung seines Hauses erklärte, plötzlich mitten im Gespräch inne und sagte: »Übrigens ist das ja weiter nicht interessant, wir wollen lieber zum Essen gehen und dann fortfahren.«
Nach dem Essen kam das Gespräch auf Pierres Heirat.
»Ich war sehr erstaunt, als ich es hörte«, sagte Fürst Andrej.
Pierre wurde rot, wie er immer bei der Erwähnung seiner Ehe zu erröten pflegte, und sagte hastig: »Ich erzähle es Ihnen ein andermal, wie das alles gekommen ist. Sie wissen doch, daß jetzt alles auf immer zu Ende ist.«
»Auf immer?« sagte Fürst Andrej. »Nichts in der Welt ist auf immer.«
»Sie wissen doch, wie es zu diesem Ende gekommen ist? Haben Sie von dem Duell gehört?«
»Ja, auch das hast du durchgemacht.«
»Das einzige, wofür ich dabei Gott danke, ist, daß ich diesen Menschen nicht getötet habe«, sagte Pierre.
»Warum?« erwiderte Fürst Andrej. »Einen bösen Hund totzuschlagen ist doch nur gut.«
»Nein, einen Menschen zu töten, ist nicht gut, ist unrecht …«
»Warum denn unrecht?« wiederholte Fürst Andrej. »Über recht und unrecht zu urteilen, ist den Menschen nicht gegeben. Ewig haben sie sich geirrt und werden sich auch künftig irren, und in nichts mehr als darin, was sie für recht und unrecht halten.«
»Unrecht ist das, was einem anderen Menschen schadet«, sagte Pierre, der mit Freuden fühlte, daß Fürst Andrej zum erstenmal nach seiner Ankunft etwas lebhafter wurde, zu reden anfing und sich über das auszusprechen versuchte, was ihn zu einem solchen Menschen, wie er jetzt war, gemacht hatte.
»Wer aber sagt dir denn, daß das dem anderen schadet, also etwas Böses ist?«
»Etwas Böses?« sagte Pierre. »Aber wir wissen doch alle, was für uns etwas Böses ist.«
»Ja, das wissen wir allerdings, aber das, was wir für uns als böse und schädlich empfinden, können wir ja einem anderen Menschen gar nicht antun«, sagte Fürst Andrej, der immer lebhafter und lebhafter wurde und sichtlich den Wunsch hegte, Pierre seinen neuen Gesichtspunkt allen Dingen gegenüber zu zeigen. In seinem Eifer fing er bereits an französisch zu sprechen: »Ich kenne nur zwei wirkliche Übel in der Welt: das böse Gewissen und die Krankheit. Nur da kann es ein Glück geben, wo diese beiden Übel nicht sind. Für mich allein zu leben und diesen beiden Übeln aus dem Weg zu gehen, das ist jetzt meine ganze Lebensweisheit.«
»Aber die Nächstenliebe, die Selbstaufopferung?« fragte Pierre. »Nein, da kann ich Ihnen nicht beistimmen! Nur zu leben, um nichts Böses zu tun, damit man es nicht zu bereuen braucht: das ist zu wenig. Das habe ich getan, habe nur für mich gelebt und mir dadurch mein Leben verdorben. Und erst jetzt, wo ich für andere lebe, oder wenigstens zu leben versuche«, verbesserte sich Pierre bescheiden, »erst jetzt verstehe ich das ganze Glück des Lebens. Nein, da bin ich nicht mit Ihnen einverstanden, und auch Sie glauben nicht an das, was Sie sagen.«
Fürst Andrej blickte Pierre stumm an und lächelte spöttisch.
»Du wirst ja heute meine Schwester sehen, Prinzessin Marja. Mit der wirst du dich verstehen«, sagte er dann. »Vielleicht hast du, was dich anbetrifft, recht«, fügte er, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, hinzu, »aber jeder lebt das Leben auf seine Weise: du hast nur an dich gedacht und sagst, du hättest dir damit beinahe das Leben verdorben und habest das Glück erst erkannt, als du angefangen habest, für andere zu leben. Ich aber habe das Gegenteil erfahren. Ich habe nur an den Ruhm gedacht. – Und was ist der Ruhm denn anderes? Doch auch nur eine Liebe zu anderen, das Bestreben, etwas für sie zu tun, der Wunsch, von ihnen gelobt zu werden. – So lebte ich für andere und habe mir damit das Leben nicht beinahe, sondern gänzlich verdorben. Und ich bin erst von dem Augenblick an ruhiger geworden, wo ich nur für mich allein lebe.«
»Aber können Sie denn überhaupt nur für sich allein leben?« fragte Pierre, sich ereifernd. »Sie haben doch einen Sohn, eine Schwester, einen Vater?«
»Das sind doch nur Teile meines Ichs, das sind doch nicht die anderen«, erwiderte Fürst Andrej. »Doch die anderen, die Nächsten, les prochains, wie Prinzessin Marja sie nennt, das ist der Hauptquell alles Irrtums und Übels. Les prochains, das sind solche, wie deine Bauern in Kiew, denen du Gutes tun willst.«
Und er sah Pierre spöttisch und herausfordernd an. Er wollte ihn sichtlich zum Widerspruch reizen.
»Das ist doch nicht Ihr Ernst«, entgegnete Pierre, der immer mehr in Eifer geriet. »Was für ein Irrtum und Übel kann denn darin liegen, wenn ich denen etwas Gutes zu tun gewünscht habe, das ich zwar nur unvollkommen und schlecht ausgeführt, aber doch aufrichtig gewollt und auch zum Teil zustande gebracht habe? Kann das ein Übel sein, wenn jenen armen Leuten, unseren Bauern, die ebensolche Menschen sind wie wir und bisher nur in jener Vorstellung von Gott groß geworden und gestorben sind, die sie aus Heiligenbildern und unverständlichen Gebeten gewonnen haben – wenn jenen Leuten der tröstliche Glaube an ein künftiges Leben, eine Vergeltung nach dem Tode, eine Belohnung im Jenseits und ein Abwischen der Tränen gelehrt wird? Was für ein Übel und Irrtum ist es, wenn ich diesen Menschen, die sonst hilflos an ihren Krankheiten zugrunde gehen, jetzt, wo es so leicht ist, ihnen materielle Hilfe zu leisten, Krankenhäuser und Altersheime bauen lasse und sie mit Ärzten versorge? Und ist es nicht eine fühlbare, zweifellose Wohltat, wenn ich dem Bauer, der Mutter von kleinen Kindern, die Tag und Nacht keine Ruhe haben, ein paar Muße- und Erholungsstunden gönne?« sagte Pierre hastig und lispelnd. »Und das habe ich getan, wenn auch nur schlecht und unvollkommen, aber ich habe doch etwas in diesem Sinn getan, und Sie können mir weder die Überzeugung rauben, daß das, was ich getan habe, gut ist, noch mich glauben machen, daß Sie es selber für schlecht halten. Was aber die Hauptsache ist«, fuhr Pierre fort, »ich habe erkannt und weiß ganz gewiß, daß die Befriedigung, die solche guten Taten gewähren, das einzig wahre Glück im Leben ist.«
»Ja, wenn du die Fragen so stellst, so ist das etwas anderes«, sagte Fürst Andrej. »Ich baue ein Haus, lege einen Garten an, und du – Krankenhäuser. Sowohl das eine wie das andere kann zum Zeitvertreib dienen. Was aber recht und was gut ist, das zu beurteilen überlasse ich dem, der alles weiß, nicht aber uns. Doch ich sehe, du möchtest noch weiter darüber reden«, fügte er hinzu. »Nun, meinetwegen.«
Sie standen vom Tisch auf und setzten sich auf die Freitreppe, die als Balkon diente.
»Nun kann die Diskussion beginnen«, fing Fürst Andrej an. »Du sagst: Schulen«, fuhr er fort und bog als Nummer eins einen Finger um, »Unterricht und so weiter, das heißt, du willst einen solchen Menschen wie den da«, er zeigte auf einen Bauern, der, die Mütze ziehend, an ihnen vorüberging, »aus seinem tierischen Zustand reißen und ihn zu geistigen Bedürfnissen erziehen. Mich aber dünkt, daß das einzig mögliche Glück für ihn das tierische Glück ist, gerade das, was du ihm rauben willst. Ich beneide ihn darum und du willst ihn so machen wie mich, ohne ihm meine Mittel zu geben. Zweitens sagst du, du willst ihm die Arbeit erleichtern. Meiner Ansicht nach ist aber die körperliche Arbeit für ihn ebenso notwendig, bildet für ihn eine ebensolche Daseinsbedingung wie für dich und mich die geistige Arbeit. Du kannst gar nicht anders als denken. Ich gehe um drei Uhr zu Bett, da kommen mir die Gedanken, und ich kann nicht einschlafen, wälze mich herum und tue bis zum Morgen kein Auge zu, nur aus dem Grunde, weil ich denke und denken muß, ebenso wie er gar nicht anders kann als ackern und mähen, weil er sonst in die Schenke laufen oder krank werden würde. Ebenso wie ich seine furchtbaren körperlichen Anstrengungen nicht ertragen könnte und binnen acht Tagen sterben würde, so könnte er mein körperliches Nichtstun nicht aushalten, würde unmenschlich dick werden und zugrunde gehen. Drittens … ja, was sagtest du denn noch?« Fürst Andrej bog den dritten Finger um. »Ach ja, die Krankenhäuser, Arzneien. Nehmen wir an, es rührt einen der Schlag, und er würde sterben, du aber läßt ihn durch einen Aderlaß wieder auf die Beine bringen. Da wird er nun noch zehn Jahre als Invalid herumlaufen und allen zur Last fallen. Viel einfacher und friedlicher wäre es für ihn gewesen, wenn er gleich gestorben wäre. Andere werden geboren, es gibt ihrer ja sowieso so viele. Wenn es dir noch leid täte, daß du dadurch einen Arbeiter einbüßen müßtest – so sehe ich wenigstens die Sache an –, aber du willst ihn nur aus Liebe um seiner selbst willen gesund machen. Doch damit ist ihm nicht gedient. Und dann, was für eine Wahnvorstellung, daß die Kunst irgendeines Arztes jemals imstande gewesen wäre, einen gesund zu machen! Den Tod herbeiführen – das können sie!« sagte er, machte ein finsteres, feindseliges Gesicht und wandte sich von Pierre ab.
Fürst Andrej hatte seine Gedanken so klar und deutlich ausgesprochen, daß man merkte, er hatte schon oft darüber nachgedacht. Er sprach gern und schnell wie Menschen, die sich lange nicht ausgesprochen haben, und sein Blick belebte sich mehr und mehr, je hoffnungsloser seine Ansichten wurden.
»Aber das ist ja furchtbar, ganz furchtbar!« rief Pierre. »Ich verstehe einfach nicht, wie man mit solchen Ansichten leben kann. Ich habe ebensolche Augenblicke gehabt, es ist noch gar nicht lange her, in Moskau, auf der Reise. Das drückt mich aber immer in solchem Grad nieder, daß ich gar kein Leben mehr in mir fühle und mir alles zum Ekel wird … am meisten aber ich mir selbst. Dann esse ich nicht, wasche mich nicht … Geht Ihnen das auch so?«
»Warum sich nicht waschen? Das wäre doch unreinlich«, entgegnete Fürst Andrej. »Im Gegenteil, man muß bemüht sein, sich das Leben so angenehm wie nur möglich zu gestalten. Ich lebe, doch dafür kann ich nichts, folglich muß ich, ohne jemandem im Weg zu sein, mein Leben so angenehm wie möglich bis zum Tode verbringen.«
»Aber was regt Sie denn an zu einem Leben mit solchen Ansichten? Da wird man doch schließlich nur noch stillsitzen und nichts mehr unternehmen wollen …«
»So ganz in Frieden läßt einen das Leben ja doch nicht. Ich wäre heilfroh, wenn ich nichts zu tun brauchte, aber siehst du, gleich ein Beispiel: Da hat mir der hiesige Adel die Ehre angetan, mich zum Adelsmarschall zu wählen, es hat mich Mühe gekostet, mich davon freizumachen. Sie können nicht begreifen, daß ich zu so etwas nicht das Zeug habe, daß ich dieses übliche harmlose, läppische Drauflosleben, das dazu nötig ist, einfach nicht mitmachen kann. Und dann dieses Haus hier, das ich mir bauen muß, um ein Eckchen zu haben, wo ich in Frieden leben kann. Und jetzt die Landwehr.«
»Warum dienen Sie nicht im Heer?«
»Nach Austerlitz?« entgegnete finster Fürst Andrej. »Nein, danke ergebenst. Ich habe mir das Wort gegeben, nicht wieder in der russischen aktiven Armee zu dienen. Niemals, und wenn Bonaparte hier bei Smolensk stünde und selbst Lysyja-Gory bedrohte, auch dann würde ich nicht in die russische Armee eintreten. Soviel kann ich dir sagen. Und dann«, fuhr Fürst Andrej ruhiger fort, »habe ich doch jetzt die Aushebungen zur Landwehr. Mein Vater ist Oberkommandierender des dritten Bezirks, und das einzige Mittel, dem aktiven Dienst zu entgehen, war, bei ihm einzutreten.«
»Folglich dienen Sie also doch?«
»Ja.«
Er schwieg eine Weile.
»Aber warum tun Sie das dann?«
»Aus folgendem Grund. Mein Vater ist einer der hervorragendsten Männer seines Jahrhunderts. Aber er wird alt, und wenn er auch nicht gerade das ist, was man grausam nennt, so hat er doch einen etwas zu tatkräftigen Charakter. Man muß ihn fürchten, weil er an uneingeschränkte Macht gewöhnt ist und jetzt um so mehr, da ihm der Kaiser als Oberkommandierendem über die Landwehr diese Macht selber gegeben hat. Wenn ich vor vierzehn Tagen zwei Stunden später gekommen wäre, hätte er den Schriftführer in Jusdmow an den Galgen knüpfen lassen«, fügte Fürst Andrej lächelnd hinzu. »Ich bin nur deshalb in den Dienst eingetreten, weil außer mir kein Mensch Einfluß auf meinen Vater hat und ich ihn dadurch doch hier und da von einem Schritt zurückhalten kann, der ihm nachher nur zur Qual werden würde.«
»Ah, nun, da sehen Sie es ja.«
»Ja, mais ce n’est pas, comme vous l’entendez«, fuhr Fürst Andrej fort. »Ich wünschte diesem Halunken, dem Schriftführer, der ein paar Landwehrleuten irgendwelche Stiefel geklaut hatte, nicht das geringste Gute und wünsche es ihm auch heute noch nicht, hätte mich sogar gefreut, ihn hängen zu sehen, aber mir tat der Vater leid, das heißt also wieder nur: ich mir selber.«
Fürst Andrej wurde immer lebhafter und lebhafter. Seine Augen strahlten in fieberhaftem Glanz, während er sich bemühte, Pierre zu beweisen, daß seinen Handlungen nie der Wunsch, seinen Nächsten Gutes zu tun, zugrunde gelegen habe.
»Da willst du nun die Bauern befreien«, fuhr er fort, »das ist ja sehr schön, aber nicht für dich – du hast, glaube ich, niemals einen auspeitschen oder nach Sibirien schicken lassen –, noch weniger aber für die Bauern selber. Wenn man sie schlägt, auspeitscht, nach Sibirien verschickt, so fühlen sie sich, glaube ich, deshalb noch um kein Haar schlechter. Der Bauer führt in Sibirien dasselbe viehische Leben wie hier, die Schwielen an seinem Körper vergehen, und er ist dort genauso glücklich, wie er es hier gewesen ist. Nötig wäre die Bauernbefreiung nur für diejenigen Herren, die sittlich dabei zugrunde gehen, Reue empfinden, aber diese Reue mit Füßen treten und hart werden, weil sie es ganz in der Hand haben, gerechte oder ungerechte Strafen auszuteilen. Die sind es, die mir leid tun, und denen würde ich die Bauernbefreiung wünschen. Du hast es vielleicht nie mit angesehen, aber ich habe beobachtet, wie gute Menschen, die in den überlieferten Anschauungen einer uneingeschränkten Macht erzogen worden sind, dann später mit den Jahren, wenn ihre Reizbarkeit zunimmt, hart und grausam werden, und das zwar selber wissen, sich aber nicht beherrschen können und immer unglücklicher und unglücklicher darüber werden.«
Fürst Andrej hatte sich von seinen letzten Worten so fortreißen lassen, daß Pierre unwillkürlich auf den Gedanken kam, der Fürst müsse durch seinen Vater zu dieser Ansicht gekommen sein.
Er antwortete ihm nichts darauf.
»Die sind es, die mir leid tun, ihre Menschenwürde, ihr Gewissensfriede, ihre Seelenreinheit, nicht aber die Buckel und Schädel der Bauern, die, soviel du sie auch verprügeln, soviel du sie auch glattrasieren läßt, doch immer dieselben Buckel und Schädel bleiben.«
»Nein, nein, nein und tausendmal nein! Niemals werde ich mich darin mit Ihnen einverstanden erklären«, erwiderte Pierre.
Gegen Abend setzten sich Andrej und Pierre in den Wagen und fuhren nach Lysyja-Gory. Fürst Andrej sah Pierre ab und zu an, und die Worte, mit denen er hier und da das Schweigen unterbrach, bewiesen, daß er sich in der besten Stimmung befand. Er zeigte auf die Felder und erklärte Pierre, was er in seiner Wirtschaft verbessert und vervollkommnet hatte.
Pierre schwieg finster oder antwortete nur einsilbig und schien ganz in seine Gedanken versunken zu sein. Er überlegte sich, daß Fürst Andrej unglücklich sei, irreging, das wahre Licht nicht kenne, und daß er ihm helfen, ihn erleuchten und emporziehen müsse. Aber wie sehr er auch sann und grübelte, was er ihm zuerst sagen solle: immer fühlte er im voraus, daß Fürst Andrej mit irgendeinem Wort, irgendeinem Gegengrund seine Lehre zunichte machen würde, und deshalb scheute er sich, davon anzufangen, scheute sich, das, was ihm lieb und heilig war, der Verspottung auszusetzen.
»Nein, wie kommt es nur, daß Sie so denken«, fing Pierre auf einmal an und senkte den Kopf wie ein Ochse, der zustoßen will. »Warum denken Sie so? Sie dürfen nicht so denken.«
»Wie denke ich denn und über was?« fragte Fürst Andrej verwundert.
»Über das Leben, über die Bestimmung des Menschen. Das ist unmöglich. Ich habe früher ebenso gedacht und bin gerettet worden, und wissen Sie wodurch? Durch die Freimaurerei. Nein, lächeln Sie nicht. Die Freimaurer sind keine religiöse, Zeremonien liebende Sekte, wie auch ich früher glaubte. Nein, die Freimaurerei ist der beste und einzige Ausdruck aller guten und ewigen Seiten der Menschlichkeit.«
Und er erklärte dem Fürsten Andrej das Wesen der Freimaurerei, so wie er es verstanden hatte. Er sagte, die Freimaurerei sei eine christliche Lehre, die sich von staatlichen und religiösen Fesseln freigemacht habe, eine Lehre der Gleichheit, Brüderlichkeit und Liebe.
»Nur durch unsern heiligen Bund kann man im wahren Sinne leben, alles übrige ist bloß ein Traum«, sagte Pierre. »Sie wissen doch, lieber Freund, außerhalb dieses Bundes ist alles voller Lügen und Ungerechtigkeit, und ich kann Ihnen darin nur recht geben, daß dann einem guten und klugen Menschen gar nichts anderes übrigbleibt, als so, wie Sie sagten, sein Leben herunterzuleben in dem einzigen Bestreben, anderen nicht im Weg zu sein. Aber eignen Sie sich unsere grundlegenden Überzeugungen an, treten Sie in unsere Brüderschaft ein, geben Sie sich uns hin, lassen Sie sich lenken und leiten, und sogleich werden Sie sich, wie auch ich es empfunden habe, als ein Glied jener gewaltigen, unsichtbaren Kette fühlen, deren Uranfänge im Himmel verborgen liegen.«
Fürst Andrej sah schweigend vor sich hin und hörte Pierre zu. Ab und zu fragte er Pierre nach ein paar Worten, die er beim Rattern der Räder nicht verstanden hatte. Und Pierre ersah aus Fürst Andrejs Schweigen und aus dem besonderen Glanz, der aus seinen Augen strahlte, daß seine Rede nicht umsonst war, und daß Fürst Andrej ihn nicht unterbrechen und sich nicht über ihn lustig machen werde.
So gelangten sie bis zu einem aus seinen Ufern getretenen Fluß, über den sie sich mittels einer Fähre übersetzen lassen mußten. Während man Wagen und Pferde auf der Fähre verstaute, gingen sie selber zu Fuß nach dieser hin.
Auf das Geländer gestützt, betrachtete Fürst Andrej schweigend die in den Strahlen der untergehenden Sonne glitzernde, weit ausgetretene Flut.
»Nun, wie denken Sie darüber?« fragte Pierre. »Warum schweigen Sie?«
»Was ich denke? Ich höre dir zu«, sagte Fürst Andrej. »Das mag ja alles so sein. Aber du sagst: ›Tritt in unsere Brüderschaft ein, dann werden wir dir das Ziel und die Bestimmung der Menschheit und die Gesetze, die die Welt regieren, zeigen.‹ Aber wer sind diese ›wir‹? Doch auch nur Menschen. Woher wißt ihr denn das alles? Warum sehe ich allein das nicht, was ihr alle seht? Ihr seht auf Erden ein Reich des Guten und Wahren, ich aber sehe es nicht.«
Pierre unterbrach ihn.
»Glauben Sie an ein künftiges Leben?« fragte er.
»An ein künftiges Leben?« wiederholte Fürst Andrej, aber Pierre ließ ihm gar nicht die Zeit zu antworten. Er hielt diese Wiederholung seiner Worte für eine Verneinung, um so mehr, als er die früheren atheistischen Überzeugungen des Fürsten Andrej kannte.
»Sie sagen, Sie können das Reich des Guten und Wahren auf Erden nicht sehen. Auch ich sah es nicht, ja, es ist ganz unmöglich, es zu sehen, wenn man des Glaubens ist, daß mit dem Leben alles zu Ende sei. Auf der Erde, hier auf dieser Erde«, Pierre zeigte auf die Felder, »gibt es keine Wahrheit, hier ist alles böse und verlogen, aber im All, im großen, ewigen All regiert die Wahrheit. Und wenn wir auch jetzt Kinder der Erde sind, so sind wir doch gleichzeitig auf ewig Kinder des großen Alls. Fühle ich es nicht im Innersten meines Herzens, daß ich ein Teil dieses großen, harmonischen Ganzen bin? Fühle ich nicht, daß in dieser gewaltigen, zahllosen Menge von Wesen, in denen sich die Gottheit oder die höchste Kraft – nennen Sie es, wie Sie wollen – offenbart, auch ich ein Glied, eine Stufe bin, die von einem niederen zu einem höheren Wesen hinaufleitet? Wenn ich sehe, mit aller Deutlichkeit sehe, wie diese Stufenleiter von der Pflanze bis zum Menschen heraufführt, warum soll ich da annehmen, daß dieses Aufwärtssteigen bei mir, dem Menschen, abbricht und nicht noch weiter und weiter geht. Ich fühle nicht nur, daß ich nicht vergehen kann, wie nichts in der Welt vergeht, ich fühle auch, daß ich ewig sein werde und ewig gewesen bin. Ich fühle, daß außer und über mir noch Geister wohnen, und daß in ihrer Welt die Wahrheit herrscht.«
»Ja, das ist Herders Lehre[92]«, sagte Fürst Andrej. »Aber nicht das ist es, lieber Freund, was mich überzeugt, sondern das Leben und der Tod selber. Das überzeugt, wenn du siehst, wie ein dir teures, engverbundenes Wesen, demgegenüber du dich schuldig fühlst und diese Schuld wiedergutzumachen hoffst«, Fürst Andrejs Stimme zitterte, und er wandte sich ab, »plötzlich anfängt zu leiden, sich quält und nicht mehr ist … Warum? Es kann nicht sein, daß es darauf keine Antwort gibt. Und so glaube ich, daß es eine gibt … Siehst du, das ist es, was überzeugt, und das hat auch mich überzeugt«, schloß Fürst Andrej.
»Nun ja, ja«, erwiderte Pierre, »das ist doch dasselbe, was ich sage.«
»Nein. Ich sage nur, daß man von der Notwendigkeit eines künftigen Lebens nicht etwa durch Lehren oder Beweise überzeugt werden kann, sondern nur dann, wenn man im Leben Hand in Hand mit einem Menschen gegangen ist und dieser Mensch plötzlich in jenes Nichts hinübergeht und man allein vor diesem Abgrund zurückbleibt und hinabschaut. Auch ich habe hinabgeschaut …«
»Nun, da sehen Sie es ja! Sie wissen, daß es ein Jenseits gibt und daß dort jemand ist. Das Jenseits ist das künftige Leben, und dieser Jemand ist Gott.«
Fürst Andrej gab keine Antwort. Die Pferde hatte man mit dem Wagen schon lange auf das andere Ufer hinaufgeführt und wieder eingespannt. Die Sonne war bereits zur Hälfte untergegangen, und der Abendfrost hatte schon die sumpfigen Stellen beim Flußübergang mit Reifsternchen überzogen, doch Pierre und Andrej standen zur Verwunderung der Diener, Kutscher und Schiffer immer noch auf der Fähre und unterhielten sich.
»Wenn es einen Gott und ein künftiges Leben gibt, dann gibt es auch Wahrheit und Tugend, und das höchste Glück des Menschen liegt in dem Streben, diese zu erreichen. Man muß leben und lieben«, sagte Pierre, »und glauben, daß wir nicht nur jetzt auf dieser Erdscholle leben, sondern schon immer gelebt haben und ewig leben werden, dort, im All.« Und er zeigte gen Himmel.
Immer noch stand Fürst Andrej an das Geländer der Fähre gelehnt, hörte Pierre zu und sah starr in den rötlichen Widerschein der Sonne auf der blauen Flut. Pierre schwieg. Ringsum war alles still. Die Fähre hatte längst am Ufer angelegt, und nur die Wellen der Flut brachen sich mit leisem Plätschern an dem Boden der Fähre. Dem Fürsten Andrej schien es, als ob dieses Plätschern der Wellen die Worte Pierres bestätigte: Ja, es ist wahr, glaube ihm nur!
Fürst Andrej seufzte und sah mit einem leuchtenden, zärtlichen, kindlichen Blick auf den vor Begeisterung ganz rot gewordenen Pierre, der dem überlegenen Freunde gegenüber doch sonst immer etwas schüchtern war.
»Ja, wenn es doch so wäre«, sagte Fürst Andrej. »Doch komm, wir wollen einsteigen.« Aber während er aus der Fähre stieg, warf er einen Blick zum Himmel, auf den ihn Pierre hingewiesen hatte, und sah zum erstenmal nach Austerlitz wieder jenen hohen, ewigen Himmel über sich, den er gesehen hatte, als er auf dem Schlachtfeld lag, und ein Gefühl, das beste, das in ihm war und das lange in ihm geschlafen hatte, regte sich plötzlich freudig und mit junger Kraft in seinem Herzen. Dieses Gefühl war vergangen, als Fürst Andrej wieder in seine gewohnten Lebensbedingungen eingetreten war, aber er wußte, daß diese Empfindungen, die er nicht zur Entfaltung bringen konnte, noch in ihm lebten. So wurde das Wiedersehen mit Pierre für den Fürsten Andrej der große Einschnitt, an dem für ihn ein Leben begann, das zwar äußerlich seinem alten ganz ähnlich, innerlich aber ein ganz neues war.
Es dunkelte bereits, als Fürst Andrej und Pierre vor dem Haupteingang des Herrenhauses in Lysyja-Gory vorfuhren. Während sie anfuhren, machte Fürst Andrej Pierre lächelnd auf eine wirre Szene aufmerksam, die an der Hintertür vor sich ging. Eine gebückte Alte mit einem Sack auf dem Rücken und ein kleiner schwarzgekleideter Mann mit langen Haaren liefen, als sie den Wagen vorfahren sahen, spornstreichs wieder nach dem Tor zurück. Zwei Frauen stürzten aus der Haustür auf sie zu, und dann rannten alle vier zusammen ganz erschrocken wieder nach der Hintertür, wobei sie sich immer ängstlich nach dem Wagen umschauten.
»Das sind Maschas Gottesleute«, sagte Andrej. »Sie haben uns für meinen Vater gehalten. Das ist der einzige Punkt, in dem Mascha meinem Vater nicht gehorcht: er hat befohlen, dieses fahrende Betvolk wegzujagen, sie aber nimmt sie auf.«
»Was sind denn das: Gottesleute?« fragte Pierre.
Aber Fürst Andrej kam nicht mehr dazu, ihm eine Antwort zu geben. Ein paar Diener eilten zu ihrem Empfang herbei, und Fürst Andrej erkundigte sich, wo sein Vater sei, und ob man ihn bald zurückerwarte.
Der alte Fürst war noch in der Stadt und wurde jeden Augenblick erwartet. Fürst Andrej führte Pierre in den Flügel, der im Hause seines Vaters immer in aller Sorgfalt für ihn bereitstand, und ging selbst in das Kinderzimmer.
»Komm mit zu meiner Schwester«, sagte Fürst Andrej, als er zu Pierre zurückkehrte. »Ich habe sie noch nicht gesehen. Sie hat sich jetzt unsichtbar gemacht und sitzt sicher bei ihren Gottesleuten. Geschieht ihr schon recht, wenn sie verlegen wird. Da kannst du gleich Gottesleute kennen lernen. C’est curieux, ma parole.«
»Was sind denn das: Gottesleute?« fragte Pierre noch einmal.
»Das wirst du gleich sehen.«
Prinzessin Marja wurde wirklich verlegen, und auf ihrem Gesicht zeichneten sich rote Flecke ab, als die beiden zu ihr ins Zimmer traten. In ihrem gemütlichen Zimmer, wo die Lämpchen vor den Heiligenschreinen brannten, saß neben ihr auf dem Sofa hinter dem Samowar ein junger Bursche im Mönchsgewand mit langer Nase und langen Haaren.
Auf einem Sessel daneben saß eine hagere, runzlige Alte mit einem sanften Ausdruck auf dem kindlichen Gesicht.
»Andre, warum hast du dich nicht vorher bei mir anmelden lassen?« sagte Prinzessin Marja mit sanftem Vorwurf auf französisch zu ihm und stellte sich vor ihre Betfahrer wie eine Glucke vor ihre Küchlein.
»Charmée de vous voir. Je suis très contente de vous voir«, sagte sie zu Pierre, als dieser ihr die Hand küßte. Sie hatte ihn schon als Kind gekannt, jetzt aber fühlte sie sich wegen seiner Freundschaft zu Andrej, wegen seines Unglücks mit seiner Frau, hauptsächlich aber seines guten, einfachen Gesichtes wegen zu ihm hingezogen. Sie sah ihn mit ihren schönen, leuchtenden Augen an und schien sagen zu wollen: Ich sehe Sie sehr gern, aber machen Sie sich bitte nicht über meine Gottesleute lustig. Nachdem sie die ersten begrüßenden Worte gewechselt hatten, setzten sich alle hin.
»Und Iwanuschka ist auch da«, sagte Fürst Andrej und wies mit einem Lächeln auf den jungen Pilgersmann.
»Andre!« flehte Prinzessin Marja.
»Sie müssen nämlich wissen, daß dieser Mönch eine Frau ist«, sagte Fürst Andrej auf französisch zu Pierre.
»André au nom de Dieu«, wiederholte Prinzessin Marja.
Man merkte, daß Fürst Andrejs spöttische Behandlung der Betfahrer und Prinzessin Marjas vergebliches Inschutznehmen zur steten, anhaltenden Gewohnheit zwischen den beiden Geschwistern geworden war.
»Mais, ma bonne amie«, sagte Fürst Andrej, »Sie sollten mir im Gegenteil dankbar sein, daß ich Pierre Ihre Vertrautheit mit diesem jungen Mann erkläre.
»Vraiment?« sagte Pierre und musterte diesen Iwanuschka neugierig und ernst, wofür ihm Prinzessin Marja besonders dankbar war, durch seine Brille. Der Betfahrer, der verstanden hatte, daß man von ihm sprach, sah alle mit verschmitzten Augen an.
Prinzessin Marja war ganz umsonst für ihre Gottesleute verlegen geworden. Sie zeigten sich nicht im geringsten schüchtern.
Die Alte hatte zwar die Augen niedergeschlagen, schielte aber doch von unten her auf die Eingetretenen hin, hatte die Obertasse auf die Untertasse gestülpt, ihr angebissenes Stück Zucker danebengelegt und saß nun ruhig in ihrem Lehnstuhl und wartete, bis man ihr noch mehr Tee anbieten werde. Iwanuschka schlürfte seinen Tee aus der Untertasse und betrachtete dabei verstohlen mit seinen verschlagenen Weiberaugen die jungen Leute.
»Woher des Wegs? Wohl aus Kiew?« fragte Fürst Andrej die Alte.
»Ja, Väterchen«, erwiderte die Alte, die sichtlich gern erzählte. »Gerade zum heiligen Christfest wurde mir die Gnade zuteil, bei den gottgefälligen Brüdern das heilige, himmlische Sakrament zu empfangen. Jetzt aber komme ich aus Koljasin, Väterchen, dort ist ein großes Wunder entdeckt worden …«
»Und Iwanuschka war mit dir zusammen?«
»Ich gehe für mich allein, mein Wohltäter«, erwiderte Iwanuschka, bemüht, mit einer Baßstimme zu reden. »Erst in Juschnow bin ich mit Pelagea zusammengetroffen.«
Aber Pelagea unterbrach ihren Gefährten, sie wollte sichtlich gern davon erzählen, was sie gesehen hatte.
»In Koljasin, Väterchen, ist ein großes Wunder entdeckt worden.«
»Was denn? Wohl wieder eine neue Reliquie?« fragte Fürst Andrej.
»Laß doch das, Andrej«, flehte Prinzessin Marja. »Erzähle nicht weiter, Pelagea.«
»Aber … aber warum denn, Mütterchen, warum soll ich denn nicht erzählen? Ich habe ihn doch so gern. Er ist doch so gut, von Gott auserwählt, hat mir einmal zehn Rubel geschenkt, mein Wohltäter, das weiß ich noch ganz genau. Als ich also in Kiew war, da sagte der fromme Kirjuscha, der gottgefällige Narr, der Sommer und Winter barfuß geht, zu mir: ›Warum gehst du nicht‹, sagte er, ›in deine Heimat? Geh nach Koljasin, dort hat man ein wundertätiges Bild unserer heiligen Mutter Gottes entdeckt.‹ Und als er mir das gesagt hatte, nahm ich gleich von den heiligen Brüdern Abschied und machte mich auf den Weg.«
Alle schwiegen, nur die Betfahrerin sprach mit gemessener Stimme, wobei sie den Atem in sich hineinzog.
»Ich kam also hin, Väterchen, und da sagen die Leute zu mir: Ein großes Wunder ist offenbar geworden, unserer heiligen Mutter Gottes tropft der Balsam aus dem Bäckchen …«
»Schön, schön, erzähle das lieber nachher«, unterbrach sie Prinzessin Marja errötend.
»Darf ich noch eine Frage an sie richten?« sagte Pierre. »Hast du das selber gesehen?« fragte er.
»Wie sollte ich nicht, Väterchen, wurde mir diese Gnade doch zuteil! Ein solcher Glanz lag auf dem heiligen Gesichtchen, es war wie ein himmlisches Licht, und aus dem Bäckchen der heiligen Mutter Gottes tropfte und tropfte es …«
»Aber das ist ja Betrug«, sagte Pierre arglos und sah die Betfahrerin aufmerksam an.
»Aber Väterchen, was sagst du da?« rief Pelagea entsetzt aus und sah sich schutzsuchend nach Prinzessin Marja um.
»So wird das Volk nun betrogen«, wiederholte Pierre.
»Herr Jesus Christus!« rief die Betfahrerin und bekreuzigte sich. »Ach, rede nicht so, Väterchen! Da war auch ein General, der glaubte es auch nicht und sagte: ›Die Mönche betrügen uns.‹ Aber kaum hatte er das gesagt, da wurde er blind. Und ihm träumte, die heilige Mutter Gottes aus dem Höhlenkloster komme zu ihm und sage: ›Glaube an mich, so werde ich dich heilen.‹ Da fing er an zu bitten und zu betteln: ›Führt mich hin, führt mich hin zu ihr!‹ Ich erzähle dir das alles der Wahrheit gemäß, wie ich es selber gesehen habe. Und man führte den Blinden geradewegs zu ihr, und er kam hin, fiel vor ihr nieder und sagte: ›Heile mich‹, sagte er, ›und ich werde dir alles geben, was mir der Zar verliehen hat.‹ Und ich habe selber gesehen, Väterchen, wie da der Ordensstern plötzlich an ihrer Brust war. Und auf einmal konnte er wieder sehen. Es ist eine Sünde, so zu reden, die Gott straft«, schloß sie belehrend zu Pierre gewandt.
»Wie kam denn der Ordensstern plötzlich auf das Heiligenbild?« fragte Pierre.
»Da ist eben die Gottesmutter auch einmal General geworden«, sagte Fürst Andrej und lachte.
Pelagea wurde plötzlich ganz blaß und schlug die Hände zusammen.
»Väterchen, Väterchen, versündige dich nicht, du hast doch einen Sohn!« rief sie, und ihre Blässe ging plötzlich in dunkle Röte über. »Möge dir Gott verzeihen, Väterchen, was du gesagt hast!« Sie bekreuzigte sich: »Herrgott, verzeihe ihm! Mütterchen, wie ist das möglich …« wandte sie sich an Prinzessin Marja. Sie stand auf und machte sich fast weinend daran, ihre Siebensachen zusammenzusuchen. Man sah, es war ihr ebenso furchtbar wie beschämend, daß sie in einem Hause Wohltaten genossen hatte, wo man solche Worte aussprechen konnte, und doch tat es ihr wiederum auch leid, daß sie nun auf die Wohltaten in diesem Hause verzichten mußte.
»Sagt, was habt ihr nun davon?« sagte Prinzessin Marja. »Seid ihr deshalb zu mir gekommen?«
»Nein, nein, das war doch nur ein Scherz, Pelagea«, ereiferte sich Pierre. »Princesse, ma parole, je n’ai pas voulu l’offenser. Ich habe das nur so gesagt. Du darfst das nicht so ernst nehmen, das war doch nur Spaß«, sagte er wieder zu der Alten und lächelte schüchtern in dem Wunsch, seine Schuld wieder gutzumachen. »Siehst du, das habe ich nur so gesagt, und er auch, er hat nur einen Spaß machen wollen.«
Pelagea blieb noch eine Weile mißtrauisch stehen, aber Pierres Gesicht drückte eine so aufrichtige Reue aus, und Fürst Andrej blickte so sanftmütig bald auf Pelagea, bald auf Pierre, daß sie allmählich etwas ruhiger wurde.
Nachdem sich die Betfahrerin beruhigt hatte und wieder zum Reden veranlaßt worden war, erzählte sie lange vom Vater Amphilochius, der ein so heiliges Leben geführt hatte, daß seinen Händen ein Weihrauchduft entströmte, erzählte, wie ihr Mönche, die sie kannte, auf ihrer letzten Wallfahrt nach Kiew die Schlüssel zu den Höhlen gegeben hätten und sie etwas Zwieback zu sich gesteckt und dann zwei Tage und zwei Nächte in den Höhlen bei den gottgefälligen Brüdern zugebracht habe.
»Ich bete mit dem einen und bezeige ihm meine Ehrerbietung, und dann gehe ich zu einem anderen. Dann schlafe ich ein Weilchen, und dann gehe ich wieder hin, um das Kreuz zu küssen. Und eine solche Stille herrscht da, Mütterchen, ein solch seliger Friede, daß man gar nicht wieder auf die Gotteswelt hinaufsteigen möchte.«
Pierre hörte ihr aufmerksam und ernsthaft zu. Fürst Andrej ging aus dem Zimmer. Prinzessin Marja folgte ihm, ließ ihre Gottesleute den Tee allein austrinken und führte Pierre in den Salon.
»Sie sind ein sehr guter Mensch«, sagte sie zu ihm.
»Ach, es war wirklich nicht meine Absicht, der Frau weh zu tun, ich verstehe diese Gefühle sehr wohl und weiß sie zu schätzen.«
Prinzessin Marja sah ihn schweigend an und lächelte sanft.
»Ich kenne Sie ja schon so lange und habe Sie immer wie einen Bruder geliebt«, sagte sie. »Wie haben Sie Andrej gefunden?« fragte sie dann hastig, ohne ihm Zeit zu lassen, etwas auf ihre freundlichen Worte zu erwidern. »Er macht uns rechte Sorge. Im Winter fühlte er sich gesunder und wohler, aber im vergangenen Frühjahr brach dann die Wunde wieder auf, und der Arzt sagte, er solle verreisen und eine Kur gebrauchen. Und auch in seelischer Hinsicht fürchte ich für ihn. Er hat einen anderen Charakter als wir Frauen, er kann seinen Kummer nicht so ausweinen und ausklagen. Er trägt ihn in seinem Innern mit sich herum. Heute ist er heiter und angeregt, aber das ist nur Ihre Ankunft, die ihn so beeinflußt hat, sonst ist er selten so. Wenn Sie ihn doch überreden könnten, ins Ausland zu reisen! Er muß einen Wirkungskreis haben. Dieses eintönige, stille Leben bringt ihn noch ganz um. Andere bemerken das nicht so, aber ich sehe es.«
Um zehn Uhr eilte die Dienerschaft auf die Freitreppe hinaus, da sie das Schellengeläut des heimkehrenden Wagens des alten Fürsten gehört hatten. Fürst Andrej und Pierre traten ebenfalls vor das Haus.
»Wer ist das?« fragte der alte Fürst, als er aus dem Wagen stieg und Pierre erblickte. »Ah! Freue mich sehr! Küsse mich!« sagte er dann, als er erfahren hatte, wer der unbekannte junge Mann war.
Der alte Fürst war bei guter Laune und zeigte sich gegen Pierre sehr freundlich.
Als Fürst Andrej dann kurz vor dem Abendessen wieder in das Zimmer seines Vaters hineinkam, fand er den alten Fürsten in heißem Disput mit Pierre vor. Pierre legte dar, daß eine Zeit kommen werde, wo es keinen Krieg mehr gebe. Der alte Fürst stritt dagegen und machte sich über Pierres Ansichten lustig, jedoch ohne sich dabei zu ärgern.
»Wenn man den Menschen das Blut aus den Adern abzapft und dafür Wasser hineingießt, dann wird es vielleicht keinen Krieg mehr geben. Alles nur Weibergewäsch, nur Weibergewäsch«, wiederholte er, klopfte aber dabei Pierre wohlwollend auf die Schulter und trat an den Tisch, an dem Fürst Andrej stand und in den Papieren blätterte, die der alte Fürst aus der Stadt mitgebracht hatte. Fürst Andrej hatte sichtlich keine Lust, sich an ihrem Gespräch zu beteiligen. Der alte Fürst trat auf ihn zu und fing an, von geschäftlichen Dingen mit ihm zu reden.
»Der Adelsmarschall Graf Rostow hat nur die Hälfte Mannschaften gestellt. Kommt in die Stadt und läßt sich einfallen, mich zum Essen einzuladen – na, dem habe ich ein schönes Essen eingebrockt … Aber das hier, das mußt du dir mal ansehen … Na, mein Junge«, wandte sich Fürst Nikolaj Andrejewitsch an seinen Sohn und klopfte Pierre auf die Schulter, »ein Prachtkerl, dein Freund, habe ihn ordentlich liebgewonnen. Hat mir tüchtig eingeheizt. Andere führen kluge Reden, und doch hat man keine Lust, ihnen zuzuhören. Er aber lügt drauflos und hat mich alten Knaben doch ganz warm gemacht. Na geht nur, geht«, sagte er. »Vielleicht komme ich nach dem Abendessen hinüber und setze mich noch ein bißchen zu euch. Dann können wir wieder disputieren. Daß du mir auch mein Schäfchen, die Prinzessin Marja, liebgewinnst!« rief er Pierre noch in der Tür nach.
Erst jetzt, seit seiner Ankunft in Lysyja-Gory, erkannte Pierre seine Freundschaft für den Fürsten Andrej in ihrer ganzen Stärke und ihrem ganzen Reiz. Dieser Reiz kam nicht nur in seinem Verkehr mit dem Fürsten Andrej selber, sondern auch im Umgang mit allen seinen Angehörigen und Hausgenossen zum Ausdruck. Pierre fühlte, daß sowohl der alte, mürrische Fürst als auch die sanfte, schüchterne Prinzessin Marja mit einemmal seine alten, lieben Freunde geworden waren, obgleich er sie doch fast gar nicht kannte. Und auch sie alle liebten ihn bereits. Nicht nur Prinzessin Marja, deren Herz er durch seine sanfte Behandlung ihrer Gottesleute gewonnen hatte, sah ihn mit leuchtenden Augen an, auch der kleine Fürst Nikolaj, der Einjährige, wie ihn der Großvater nannte, lachte Pierre an und ließ sich von ihm auf den Arm nehmen. Und auch Michail Iwanowitsch und Mademoiselle Bourienne hörten freundlich lächelnd zu, wenn er sich mit dem alten Fürsten unterhielt.
Der alte Fürst kam wirklich zum Abendessen, offensichtlich nur wegen Pierres. Während der beiden Tage, die Pierre in Lysyja-Gory blieb, behandelte er ihn außerordentlich freundlich und forderte ihn wiederholt auf, ihn zu besuchen.
Als nach Pierres Abreise alle Familienglieder zusammensaßen und ein Urteil über ihn abgaben, wie sie es zu tun pflegten, wenn ein neuer Bekannter abgefahren war, sprach man einstimmig nur Gutes von ihm, was sonst selten der Fall war.
Als Rostow dieses Mal vom Urlaub zurückkehrte, empfand und erkannte er zum erstenmal, wie eng er mit Denissow und seinem ganzen Regiment verbunden war.
Während er auf das Lager zuritt, hatte er ein ähnliches Gefühl, wie er es damals empfunden hatte, als er seinen ersten Urlaub antrat und in sein Vaterhaus in der Powarskaja heimkehrte. Als er den ersten Husaren mit aufgeknöpftem Rock in der Uniform seines Regiments erblickte, als er den rothaarigen Dementjew erkannte, die zusammengekoppelten Füchse sah, als Lawruschka seinem Herrn freudig zurief: »Der Graf ist gekommen«, und als Denissow zerrauft vom Bett, wo er geschlafen hatte, aufsprang, aus der Erdhütte herauseilte und ihn umarmte, als alle Offiziere herbeiliefen und den Ankommenden umringten: da empfand Rostow dasselbe Gefühl wie damals, als Vater, Mutter und Schwestern ihn umarmt hatten, und Tränen der Freude stiegen ihm im Halse auf und hinderten ihn zu sprechen. Auch das Regiment war ein Heim, ein stetes, liebes und gutes Heim, gerade wie das Elternhaus.
Nachdem er sich beim Regimentskommandeur gemeldet hatte und seiner fünften Eskadron wieder zugeteilt worden war, den Tages- und Fouragedienst wieder ausgekostet hatte und in all die kleinen Regimentsinteressen eingedrungen war, nachdem er sich an das Gefühl gewöhnt hatte, seiner Freiheit beraubt und in einen engen, starren Rahmen hineingeschmiedet zu sein, empfand Rostow dasselbe Gefühl der Beruhigung, dasselbe Bewußtsein, einen Halt zu haben und hier zu Hause und an seinem Platz zu sein, wie er es unter dem Dach seines Elternhauses empfunden hatte. Hier war nicht dieses Kunterbunt des freien Lebens, wo er für sich selber nie den richtigen Platz gefunden und sich immer am Kreuzweg geirrt hatte, hier gab es keine Sonja, mit der man sich einmal auseinandersetzen mußte, ein anderes Mal aber auch wieder nicht. Hier war die Möglichkeit einer Wahl, ob man hinfahren solle oder nicht, ausgeschlossen, hier hatte der Tag nicht vierundzwanzig freie Stunden, die man auf alle nur mögliche Weise ausfüllen konnte, hier gab es nicht eine solche Unmasse von Menschen, die einem alle gleich nah und gleich fern standen, hier gab es nicht jene unklaren und verworrenen Geldgeschichten mit dem Vater, und vor allem mußte er hier nicht immer an den furchtbaren Spielverlust bei Dolochow denken! Hier im Regiment war alles klar und einfach. Die ganze Welt war in zwei ungleiche Hälften geteilt: auf der einen Seite – unser Pawlograder Regiment, auf der anderen Seite – alles übrige. Und um dieses übrige kümmerte man sich nicht im geringsten. Im Regiment war einem alles bekannt: wer den Rang eines Leutnants, den eines Rittmeisters hatte, wer ein netter, wer ein schlechter Kerl war, und hauptsächlich, wer ein guter Kamerad sein konnte. Der Marketender borgte, wenn man kein Geld hatte, das Gehalt bekam man dreimal im Jahr, es gab nichts zu grübeln und nichts zu wählen, wenn man nur das nicht tat, was im Pawlograder Regiment als unfair galt. Und wenn man nur alle Befehle, die einem kurz, klar und bündig gegeben wurden, ausführte, dann war alles gut.
Nachdem Rostow sich wieder an die bestimmte Ordnung dieses Lebens gewöhnt hatte, empfand er ein ähnliches Gefühl der Freude und Beruhigung wie ein Mensch, der todmüde ist und sich nun langlegt, um auszuruhen. Das Regimentsleben im Felde wirkte auf Rostow um so erquickender, als er sich nach seinem Spielverlust bei Dolochow, einem Fehltritt, den er sich trotz aller tröstenden Worte seiner Angehörigen nicht verzeihen konnte, fest entschlossen hatte, seinen Dienst nicht mehr so zu versehen wie früher, sondern, um seine Schuld wiedergutzumachen, sich noch mehr Mühe im Dienst zu geben, mit Leib und Seele Kamerad und Offizier, das heißt also, ein ausgezeichneter Mensch zu sein, was ihm in der Welt draußen schwer erschienen, aber beim Regiment doch möglich war.
Rostow hatte nach dem Spielverlust den Entschluß gefaßt, diese Schuld seinen Eltern in fünf Jahren wieder zurückzuzahlen. Er hatte bisher zehntausend Rubel jährlichen Zuschuß von ihnen erhalten, von nun an wollte er nur zweitausend Rubel annehmen und das übrige seinen Eltern zur Tilgung der Schuld überlassen.
Nach mancherlei Vormärschen und Rückzügen und den Schlachten bei Pultusk und Preußisch-Eylau hatte sich unsere Armee bei Bartenstein zusammengezogen. Man wartete auf die Ankunft des Kaisers im Feld und den Beginn eines neuen Feldzuges.
Da das Pawlograder Regiment Zu jenen Teilen der Armee gehörte, die den Feldzug von 1805 bereits mitgemacht hatten, mußte es in Rußland erst ergänzt werden und war deshalb zu den ersten Operationen zu spät gekommen. Es war weder bei Pultusk noch bei PreußischEylau dabeigewesen und wurde nun, nachdem es mit der aktiven Armee wieder vereinigt war, für die zweite Hälfte des Feldzuges der Abteilung Platows zugezählt.
Dieses Platowsche Armeekorps operierte ganz unabhängig von dem übrigen Heer. Die Pawlograder wurden ab und zu einmal in ein Feuergefecht mit dem Feinde verwickelt, machten Gefangene und erbeuteten einmal sogar das Gepäck des Marschalls Oudinot. Im April lagen die Pawlograder ein paar Wochen lang bei einem bis in Grund und Boden zerstörten, verlassenen deutschen Dorf, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Es taute und war schmutzig und naßkalt, die Flüsse waren aufgebrochen, die Wege unpassierbar, und so gab es tagelang weder Futter für die Pferde noch Proviant für die Mannschaften. Da jede Zufuhr unmöglich geworden war, zogen die Leute nach allen Richtungen in die verlassenen, öden Dörfer, um Kartoffeln zu suchen, aber auch davon fanden sie wenig.
Alles war aufgegessen, alle Bewohner geflüchtet, und die, welche zurückgeblieben waren, waren elender als Bettler, so daß man ihnen gar nichts hätte wegnehmen können, ja, die sonst wenig mitleidigen Soldaten gaben ihnen sogar oft noch ihr Letztes, statt von ihnen Nutzen zu ziehen.
In den Gefechten hatte das Pawlograder Regiment nur einen Verlust von zwei Verwundeten gehabt, durch Hunger und Krankheit aber fast die Hälfte seiner Leute eingebüßt. Alle, die in ein Hospital eingeliefert wurden, starben mit so verbriefter Sicherheit, daß die Soldaten, die infolge der schlechten Ernährung an Fieber und geschwollenen Gliedern litten, lieber den Dienst ertrugen und sich mühselig an der Front weiterschleppten, als sich ins Lazarett begaben. Zu Beginn des Frühlings hatten die Soldaten eine aus der Erde hervorschießende, spargelähnliche Pflanze entdeckt, die sie aus irgendeinem Grund Maschasüßwurzel nannten, und nun schwärmten sie über die Wiesen und Felder aus, suchten nach dieser Maschasüßwurzel, die übrigens ganz bitter schmeckte, gruben sie mit ihren Säbeln aus und aßen sie, obwohl ein Befehl erlassen worden war, dieses schädliche Gewächs nicht zu essen. Zur selben Zeit trat bei den Soldaten eine neue Krankheit auf, ein Anschwellen der Arme, der Beine und des Gesichtes, deren Ursache, wie die Ärzte vermuteten, der Genuß dieser Wurzeln war. Doch trotz des Verbotes aßen die Pawlograder von Denissows Schwadron diese Maschasüßwurzel mit Vorliebe, denn die letzten Zwiebackrationen wurden bereits seit über acht Tagen gestreckt, so daß pro Mann nur noch ein halbes Pfund ausgegeben wurde, und die Kartoffeln der letzten Proviantsendung waren zum Teil erfroren, zum Teil durch Keime verdorben.
Die Pferde, die schon die zweite Woche nichts anderes als das Stroh von Strohdächern zu fressen bekommen hatten, waren furchtbar abgemagert und trugen noch das Winterfell, das stellenweise ganz verfilzt war.
Trotz all dieser Not lebten Soldaten und Offiziere doch ganz so wie immer. Auch jetzt traten sie zur Löhnung an, wenngleich mit blassen, geschwollenen Gesichtern und zerlumpten Uniformen, auch jetzt gingen sie zum Appell, putzten die Pferde und Monturen, rauften Stroh statt Futter von den Dächern, setzten sich zum Mittagessen um die Kessel, von denen sie hungrig wieder aufstanden; ja, sie machten über ihr elendes Essen und ihren Hunger noch Witze. Ganz wie immer zündeten sie in ihrer dienstfreien Zeit Lagerfeuer an, um dann nackend in nächster Nähe der Glut Dampfbäder zu nehmen, ganz wie immer rauchten sie, lasen die keimenden und fauligen Kartoffeln aus, brieten diejenigen, die noch gut waren, und erzählten sich Geschichten von Potemkins und Suworows Feldzügen oder Märchen vom pfiffigen Aljoscha oder vom Popenknecht Mikolka.
Auch die Offiziere hausten wie gewöhnlich zu zweit oder zu dritt in halbzerstörten Häusern ohne Dächer. Die älteren waren emsig besorgt, Stroh, Kartoffeln und überhaupt Lebensmittel für die Leute zu beschaffen, die jüngeren beschäftigten sich wie immer teils mit Kartenspiel – denn Geld hatten sie viel, obgleich es an Proviant mangelte –, teils mit unschuldigerem Zeitvertreib wie Ringspiel und Scheibenwerfen. Über den Verlauf des Feldzuges im allgemeinen sprach man nicht viel, einesteils, weil man nichts Genaues wußte, andernteils aber auch, weil man die dunkle Ahnung hatte, daß es um den allgemeinen Fortgang des Krieges schlecht bestellt war.
Rostow wohnte wie früher mit Denissow zusammen, und das Band der Freundschaft, das sie seit ihrer Urlaubszeit verknüpft hatte, war noch fester geworden. Denissow sprach nie von Rostows Familienangehörigen, aber Rostow fühlte aus der zärtlichen Freundschaft, die der Vorgesetzte seinem jungen Kameraden entgegenbrachte, daß die unglückliche Liebe des alten Husaren zu Natascha an dieser starken Zuneigung teilhatte. Denissow bemühte sich sichtlich, Rostow so selten wie möglich einer Gefahr auszusetzen, hütete ihn und war nach einem Treffen immer ganz besonders froh, ihn heil und unversehrt zu sehen.
Als Rostow einmal dazu kommandiert war, in einem verlassenen, zerstörten Dorf nach Proviant zu suchen, fand er dort einen alten Polen mit seiner Tochter, die einen Säugling an der Brust trug. Sie waren nackt und hungrig, konnten nicht mehr laufen und hatten keine Mittel gehabt, fortzufahren. Rostow nahm sie mit ins Lager, brachte sie in seinem Quartier unter und sorgte ein paar Wochen lang für sie, bis der Alte sich wieder etwas erholt hatte. Ein Kamerad Rostows machte sich, als die Rede einmal auf die Frauen kam, über Rostow lustig und sagte, er sei gewiefter als alle anderen, es wäre aber kein Fehler, wenn er auch die Kameraden einmal mit der von ihm geretteten Polin bekannt machen wollte. Rostow faßte diesen Scherz als Beleidigung auf, wurde dunkelrot und sagte dem Offizier so unangenehme Sachen, daß Denissow die beiden nur mit Mühe von einem Duell zurückhalten konnte. Als der Offizier hinausgegangen war und Denissow, der ja von Beziehungen Rostows zu der Polin nichts wußte, diesem wegen seines auffahrenden Benehmens Vorwürfe machte, sagte Rostow zu ihm: »Sage, was du willst … Sie ist mir wie eine Schwester, und ich kann dir gar nicht beschreiben, wie beleidigend es für mich war … weil … nun, eben deshalb …«
Denissow klopfte ihm auf die Schulter und fing an, hastig im Zimmer auf und ab zu gehen, ohne Rostow dabei anzusehen, wie er zu tun pflegte, wenn er sich in seelischer Aufregung befand.
»Närrische Käuze seid ihr Rostows doch«, brummte er, und Rostow bemerkte, daß in Denissows Augen Tränen standen.
Im April brachte die Nachricht von der Ankunft des Kaisers bei der Armee neues Leben in die Truppen. Leider glückte es Rostow nicht, zu der Besichtigung, die der Kaiser abhielt, nach Bartenstein zu kommen, weil die Pawlograder auf Vorposten weit vor Bartenstein standen.
Sie hatten dort ein Biwak aufgeschlagen. Denissow und Rostow wohnten in einer mit Reisig und Rasen gedeckten Erdhütte, die die Soldaten für sie gegraben hatten. Diese Erdhütten wurden damals, wie es eben Mode geworden war, folgendermaßen gebaut: man grub einen Graben von etwa einem Meter Breite, anderthalb Meter Tiefe und zweieinhalb Meter Länge. An dem einen Ende des Grabens wurden Stufen angebracht, das war der Eingang, die Freitreppe, der Graben selber bildete das Zimmer, wo bei den vom Schicksal Begünstigten, wie beim Eskadronchef zum Beispiel, in der äußersten, den Stufen entgegengesetzten Ecke auf Pfosten ein Brett lag, das den Tisch vorstellte. Zu beiden Seiten des Grabens war die Erde noch etwa zwei Drittel Meter breit ausgehoben, wodurch zwei Betten oder Sofas entstanden. Das Dach war in der Art darübergedeckt, daß man in der Mitte stehen und auf den Betten sogar sitzen konnte, wenn man ganz an den Tisch heranrückte. Denissow, der die üppigste Wohnung hatte, weil er bei den Soldaten seiner Schwadron allgemein beliebt war, hatte vorn am Dach noch ein Holzbrett, in das eine zerbrochene, aber wieder zusammengekittete Fensterscheibe eingefügt war. Wenn es sehr kalt war, holte man auf einer umgebogenen Eisenplatte etwas Glut aus den Lagerfeuern der Soldaten herbei und legte sie unten neben die Stufen – in das Empfangszimmer, wie Denissow diesen Teil des Unterstandes nannte –, und dann wurde es so warm, daß die Offiziere, von denen immer eine Menge bei Denissow und Rostow zu Besuch waren, in Hemdsärmeln dasitzen konnten.
Im April war Rostow eines Tages Offizier vom Dienst gewesen. Nachdem er die ganze Nacht nicht zum Schlafen gekommen war, kehrte er gegen acht Uhr morgens nach Hause zurück, ließ sich glühende Kohlen bringen, wechselte seine vom Regen völlig durchnäßte Wäsche, betete, trank Tee, erwärmte sich, brachte seine Sachen in seiner Ecke auf dem Tisch in Ordnung, legte sich mit seinem vom Wind und der frischen Luft brennenden Gesicht in Hemdsärmeln auf den Rücken und schob die Arme unter den Kopf. Er dachte mit Vergnügen daran, daß er für seinen letzten Erkundungsritt wohl in den nächsten Tagen befördert werden würde, und wartete nun auf Denissow, der irgendwohin gegangen war. Rostow hätte gern mit ihm gesprochen.
Da hörte man hinter der Baracke die polternde Stimme Denissows, der anscheinend sehr aufgebracht war. Rostow beugte sich nach dem Fenster hinüber, um zu sehen, mit wem er verhandele, und erblickte den Wachtmeister Toptschejenko.
»Ich habe dir doch befohlen, nicht zuzulassen, daß sie diese Wurzeln, dieses Maschazeug fressen!« schrie Denissow. »Und nun sehe ich selber, wie Lasartschuk sie vom Feld hereinschleppt.«
»Ich habe es ihnen verboten, Euer Hochwohlgeboren, aber sie hören ja nicht«, erwiderte der Wachtmeister.
Rostow legte sich wieder auf sein Bett zurück und dachte mit großer Befriedigung: Mag er sich nur jetzt schinden und plagen, ich habe meinen Dienst hinter mir und kann mich nun langlegen. Tadellos! Durch die Wand hindurch hörte er, daß außer dem Wachtmeister noch Lawruschka, der fixe und geriebene Bursche Denissows, sprach. Er erzählte etwas von irgendwelchen Fuhren mit Zwiebäcken und Ochsen, die er gesehen hatte, als er nach Proviant ausgeritten war.
Wieder hörte man hinter der Baracke, diesmal schon etwas weiter weg, Denissows Stimme und das Kommando: »Pferde satteln! Der zweite Zug!«
Wohin geht denn das? dachte Rostow.
Fünf Minuten später trat Denissow in die Hütte, warf sich mit seinen schmutzigen Stiefeln aufs Bett, rauchte grimmig seine Pfeife, kramte alle seine Sachen aus, hängte die Kosakenpeitsche und den Säbel um und wollte wieder hinausgehen. Auf Rostows Frage, wohin er wolle, erwiderte er ärgerlich und unbestimmt, er habe zu tun.
»Gott und der große Zar mögen meine Richter sein«, sagte Denissow beim Hinausgehen, und Rostow körte, wie hinter der Hütte ein paar Pferde durch den schmutzigen Boden stampften. Aber er kümmerte sich weiter nicht darum, in Erfahrung zu bringen, wohin Denissow reite. Nachdem er sich in seiner Ecke ein bißchen erwärmt hatte, schlief er sogleich ein, und kam erst am Abend wieder aus der Hütte heraus. Denissow war noch nicht zurückgekehrt. Das Wetter hatte sich aufgeklärt, vor einer benachbarten Erdhütte spielten zwei Offiziere mit einem Junker Ringwerfen und pflanzten unter Gelächter »Rettiche« in die lockere, sumpfige Erde. Rostow gesellte sich zu ihnen. Mitten im Spiel sahen die Offiziere plötzlich ein paar Fuhren ankommen, die von etwa fünfzehn Husaren auf mageren Pferden begleitet wurden. Diese von Husaren geleiteten Fuhrwerke fuhren nach den Koppelweiden zu, wo sie sogleich von einer Menge Husaren umringt wurden.
»Na, da hat sich Denissow immer gegrämt«, sagte Rostow, »und nun ist doch Proviant da.«
»Schau, schau«, sagten die Offiziere, »da werden sich aber die Soldaten freuen.«
Etwas hinter den Husaren ritt Denissow, begleitet von zwei Infanterieoffizieren, mit denen er über etwas verhandelte.
Rostow ging ihm entgegen.
»Ich warne Sie, Herr Rittmeister«, sagte der eine von den Offizieren, ein magerer, kleiner Mensch, der sichtlich sehr erzürnt war.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nichts wieder hergebe«, erwiderte Denissow.
»Das werden Sie zu verantworten haben, Herr Rittmeister, das ist ein Gewaltakt, den eignen Landsleuten die Transporte wegzunehmen! Unsere Soldaten haben seit zwei Tagen nichts gegessen.«
»Meine Husaren schon seit vierzehn Tagen nichts«, antwortete Denissow.
»Das ist Räuberei, Sie werden sich zu verantworten haben, mein Herr!« wiederholte der Infanterieoffizier mit erhobener Stimme.
»Was belästigen Sie mich denn noch? Wie?« schrie Denissow, der plötzlich in Zorn geriet. »Die Verantwortung übernehme ich und nicht Sie, und damit Maul gehalten, wenn Ihnen Ihre Knochen lieb sind! Machen Sie, daß Sie weiterkommen!« schrie er den Offizieren zu.
»Das ist gut!« schrie der kleine Offizier, ohne sich einschüchtern zu lassen oder wegzureiten. »Zu rauben und zu plündern, das werde ich Ihnen …«
»Scheren Sie sich zum Teufel, aber mit Eilmarschgeschwindigkeit, wenn Ihnen Ihre Knochen lieb sind!« Und Denissow riß sein Pferd nach den Offizieren herum.
»Auch gut«, brummte der Offizier drohend, wandte sein Pferd um und ritt im Trabe davon, wobei er etwas im Sattel schwankte.
»Wie der Hund auf dem Gartenzaun, wie der leibhaftige Hund auf dem Gartenzaun!« schrie ihm Denissow noch den ärgsten Spott eines Kavalleristen über einen reitenden Infanteristen nach. Dann ritt er auf Rostow zu und brach in lautes Gelächter aus.
»Das habe ich der Infanterie aus den Zähnen gezogen, habe ihr den Transport mit Gewalt weggenommen«, sagte er. »Soll ich etwa meine Leute vor Hunger verrecken lassen?«
Die Fuhren, die soeben bei den Husaren anlangten, waren für ein Infanterieregiment bestimmt gewesen, aber Denissow hatte mit ein paar Husaren den Transport mit Gewalt weggenommen, nachdem er durch Lawruschka erfahren hatte, daß der Transport ohne Deckung war. Nun wurde Zwieback in Hülle und Fülle an die Soldaten verteilt und auch den anderen Schwadronen davon abgegeben.
Am nächsten Tag ließ der Regimentskommandeur Denissow rufen und sagte zu ihm, indem er die auseinandergespreizten Finger vor die Augen hielt: »Ich werde die Sache so ansehen: ich weiß von nichts und werde nicht davon anfangen, aber ich rate Ihnen, zum Stabe zu reiten und dort beim Proviantamt die Sache zu regeln und womöglich gleich eine Quittung auszuschreiben, daß Sie soundsoviel Proviant erhalten haben, sonst wird diese Anforderung dem Infanterieregiment angeschrieben, der Sache kann nachgegangen werden, und die Geschichte könnte übel ablaufen.«
Denissow ritt vom Regimentskommandeur geradewegs zum Stabe, von dem aufrichtigen Wunsch beseelt, seinen Rat zu befolgen. Gegen Abend kehrte er in einer Verfassung in seine Erdhöhle zurück, wie Rostow seinen Freund noch nie gesehen hatte. Denissow konnte kein Wort hervorbringen und atmete schwer. Als Rostow ihn fragte, was er denn habe, stieß er mit matter, heiserer Stimme nur ein paar unverständliche Schimpfworte und Drohungen aus.
Rostow war über diesen Zustand Denissows nicht wenig erschrocken, schlug ihm vor, sich auszukleiden und ein Glas Wasser zu trinken, und schickte nach dem Arzt.
»Mich wegen Raubes verurteilen zu wollen – oh! Gib mir noch Wasser! Mögen sie mich richten, ich werde immer, immer zuhauen, wenn ich einen Halunken sehe, und das werde ich auch dem Kaiser sagen. Gebt mir Eis, Eis!« stieß er hervor.
Der Regimentsarzt kam und meinte, man müsse einen Aderlaß vornehmen. Ein tiefer Teller voll schwarzen Blutes kam aus Denissows behaartem Arm, und erst dann war er imstande, alles zu erzählen, was mit ihm geschehen war.
»Ich komme also hin«, erzählte Denissow, »und frage: ›Na, wo ist denn hier euer Chef?‹ Man wies mich hin. Ich möchte gefälligst warten. ›Ich habe Dienst, komme dreißig Werst weit hergeritten, habe keine Zeit zum Warten, melde mich.‹ Schön, da kommt dieser Oberspitzbube herein und nimmt sich ebenfalls heraus, mich zu belehren: ›Das ist Raub‹ – ›Nicht der begeht einen Raub‹, sage ich, ›der Proviant wegnimmt, um seine Soldaten zu verpflegen, sondern der, der ihn wegnimmt, um das Geld in seine eigne Tasche zu stecken.‹ Ich möchte doch gefälligst schweigen. ›Schön.‹ – ›Quittieren Sie‹, sagt er, ›beim Intendanten, und dann werden wir Ihre Sache vorschriftsmäßig weitergeben.‹ Ich gehe also zum Intendanten. Ich trete ein – und wer sitzt am Tisch? Nein, denke dir nur! Der, der uns alle verhungern läßt!« schrie Denissow und schlug mit der Faust des verbundenen Armes so derb auf den Tisch, daß dieser beinahe zusammengebrochen wäre und die Gläser darauf nur so tanzten. »Teljanin!! ›Was, du bist es also, der uns verhungern läßt?!‹ Und klatsch, klatsch haue ich ihm eins in die Fresse, mir juckte nur so die Hand … ›Du gottverdammter Lumpenhund du‹, und ich mache mich daran, ihn gründlichst zu verhauen. Das tat mir gut, kann ich dir sagen«, schrie Denissow und fletschte schadenfroh und grimmig unter seinem schwarzen Schnurrbart die Zähne. »Kalt hätte ich ihn gemacht, wenn sie ihn mir nicht entrissen hätten.«
»Aber was schreist du denn so, beruhige dich doch«, sagte Rostow. »Dein Arm blutet ja wieder. Warte, wir müssen das noch einmal verbinden.«
Denissow wurde nochmals verbunden und aufs Bett gelegt, damit er schlafe. Am nächsten Morgen wachte er ruhig und heiter wieder auf.
Aber gegen Mittag kam der Regimentsadjutant mit ernstem, bekümmertem Gesicht in Denissows und Rostows gemeinsame Hütte und wies mit bedauernder Miene ein dienstliches Schreiben vom Regimentskommandeur an den Major Denissow vor, das Fragen über den gestrigen Vorfall enthielt. Der Adjutant teilte mit, die Sache werde wohl eine recht üble Wendung nehmen, es sei eine kriegsgerichtliche Kommission zusammenberufen worden, und bei der jetzt gehandhabten Strenge, was Marodieren und unbotmäßiges Verhalten beträfe, könne die Angelegenheit im günstigsten Fall mit einer Degradation enden.
Die Sache war von seiten der Beleidigten folgendermaßen dargestellt worden: Major Denissow sei, nachdem er den Transport weggenommen habe, ohne jede Aufforderung in betrunkenem Zustand beim Oberproviantmeister erschienen, habe ihn einen Spitzbuben genannt und ihm mit Schlägen gedroht, und als man ihn hinausgeführt habe, sei er in die Kanzlei gestürzt, habe dort zwei Beamte verprügelt und dem einen den Arm ausgerenkt.
Auf Rostows wiederholte Fragen sagte Denissow lachend, es könne schon sein, daß ihm da wirklich noch ein zweiter unter die Hände geraten sei, aber das sei ja alles nur dummes Zeug und nicht der Rede wert, er denke gar nicht daran, sich vor irgendwelchen Kriegsgerichtsverhandlungen zu fürchten, und wenn diese Wichte wirklich die Stirn haben sollten, Krach zu machen, werde er ihnen schon eine Antwort geben, die sie nicht so bald vergessen würden.
Denissow sprach von der ganzen Sache nur verächtlich, aber Rostow kannte ihn zu gut, um nicht zu bemerken, daß er sich im Grund seiner Seele, obgleich er es vor anderen verbarg, doch vor dem Kriegsgericht fürchtete und quälende Gedanken über diese Sache machte, die allem Anschein nach für ihn doch üble Folgen haben sollte. Alle Tage kamen Fragebogen und Vorladungen zu Gerichtssitzungen, und am ersten Mai erhielt Denissow den Befehl, seine Eskadron dem dienstältesten Offizier zu übergeben und sich selbst beim Divisionsstab zu stellen, damit die Verhandlungen über sein unbotmäßiges Verhalten beim Proviantamt zum Abschluß gebracht werden könnten. Am Tag vorher unternahm Platow mit zwei Kosakenregimentern und zwei Schwadronen Husaren einen Erkundungsvorstoß gegen den Feind. Denissow ritt, wie immer seine Tapferkeit stolz zur Schau stellend, über die Vorpostenlinie hinaus. Da traf ihn die Kugel eines französischen Schützen in die Weichteile seines Oberschenkels. Zu anderer Zeit hätte Denissow wahrscheinlich wegen einer so leichten Verwundung sein Regiment nicht im Stich gelassen, jetzt aber benutzte er diese Gelegenheit und begab sich ins Lazarett, um seinem Stellungsbefehl zu entgehen.
Im Juni wurde die Schlacht bei Friedland geschlagen, an der die Pawlograder jedoch nicht teilnahmen, und gleich darauf der Waffenstillstand erklärt. Rostow lag die Abwesenheit seines Freundes schwer auf der Seele, und da er seit Denissows Fortgehen keinerlei Nachricht von ihm erhalten hatte, fühlte er sich einigermaßen über den Gang seiner Angelegenheit und den Stand seiner Verwundung beunruhigt. Deshalb benutzte er den Waffenstillstand, erbat sich Urlaub und begab sich ins Lazarett, um Denissow zu besuchen.
Das Lazarett befand sich in einer kleinen preußischen Ortschaft, die zweimal von russischen und französischen Truppen zerstört worden war. Gerade weil es jetzt Sommer und draußen im Feld so schön war, bot dieser kleine Flecken mit seinen durchschossenen Dächern und Zäunen, seinen schmutzigen Straßen, den zerlumpten Bewohnern und betrunkenen und kranken Soldaten, die hier herumschlenderten, ein besonders düsteres Bild.
Das Lazarett befand sich in einem steinernen Haus, dessen Fensterrahmen und Fensterscheiben zum Teil herausgeschlagen waren. Der Hof war von den Überresten eines zerbrochenen Zaunes umfriedet. Ein paar blasse Soldaten mit geschwollenen Gesichtern und verbundenen Gliedern saßen dort in der Sonne oder gingen auf und ab.
Kaum war Rostow durch die Tür eingetreten, so umfing ihn sogleich der Fäulnisgeruch eines Krankenhauses. Auf der Treppe traf er einen russischen Militärarzt mit der Zigarre im Mund. Hinter ihm ging ein Sanitätsunteroffizier.
»Ich kann mich doch nicht zerreißen«, sagte der Arzt. »Komm heute abend zu Makar Alexejewitsch, ich werde dort sein.«
Der Sanitätsunteroffizier fragte ihn noch etwas.
»Ach was. Tu das nur, wie du schon weißt. Ist das etwa nicht ganz gleich?« Der Arzt gewahrte Rostow, der die Treppe heraufstieg. »Was wünschen Sie, Euer Wohlgeboren? Was wünschen Sie?« fragte der Arzt. »Da die Kugeln Sie verschont haben, wollen Sie sich wohl hier den Typhus holen. Dies ist ein Haus der Aussätzigen, mein Herr.«
»Inwiefern?« fragte Rostow.
»Wir haben Typhus hier, mein Herr. Wer da hineingeht, kommt lebend nicht wieder heraus. Nur wir beide, Makjejew und ich«, er zeigte auf den Sanitätsunteroffizier, »haben noch standgehalten. Von uns Ärzten sind hier schon fünf Mann gestorben. Kaum kommt ein neuer an, in acht Tagen ist er schon wieder erledigt«, erzählte der Arzt mit sichtlichem Behagen. »Man hat jetzt preußische Ärzte angefordert, aber unsere Verbündeten scheinen so etwas nicht zu schätzen.«
Rostow setzte ihm auseinander, daß er einen Major von den Husaren namens Denissow zu sehen wünsche, der hier liegen solle.
»Kenne ich nicht, weiß nichts von ihm, mein Herr. Sie müssen bedenken, daß ich als einziger Arzt drei Lazarette mit über vierhundert Kranken habe. Nur gut, daß uns wohltätige Damen aus Preußen jeden Monat zwei Pfund Kaffee und Scharpie schicken, sonst wären wir ganz verloren.« Er lachte. »Vierhundert Kranke, mein Herr, und dabei schickt man mir immer noch neue. Vierhundert waren es doch wohl, nicht wahr?« wandte er sich an den Sanitätsunteroffizier.
Der Sanitätsunteroffizier sah sehr abgespannt aus. Er war sichtlich ärgerlich und wartete, daß der geschwätzige Doktor bald fortgehen solle.
»Major Denissow«, wiederholte Rostow. »Er ist bei Molitten verwundet worden.
»Der ist, glaube ich, gestorben. Nicht wahr, Makjejew?« fragte der Arzt gleichmütig den Sanitätsunteroffizier.
Doch der Sanitätsunteroffizier bestätigte die Worte des Arztes nicht.
»War das so ein Langer, Rothaariger?« fragte der Arzt.
Rostow beschrieb Denissows Aussehen.
»Der war da, ja, so einer war da«, rief der Doktor, als freue er sich. »Doch der muß gestorben sein. Übrigens kann ich ja mal nachsehen, wir hatten doch Listen darüber. Hast du die bei dir, Makjejew?«
»Die Listen liegen bei Makar Alexejewitsch«, sagte der Sanitätsunteroffizier. »Aber bitte gehen Sie doch nach der Offiziersabteilung, dort können Sie ja selber sehen«, fügte er, an Rostow gewandt, hinzu.
»Ach, gehen Sie lieber nicht hin, mein Bester«, sagte der Arzt, »sonst müssen wir Sie am Ende auch noch hierbehalten.«
Rostow verabschiedete sich durch eine Verbeugung von dem Arzt und bat den Sanitätsunteroffizier, ihn hinzuführen.
»Aber hören Sie, daß Sie mir dann keine Vorwürfe machen!« rief ihm der Doktor noch von der Treppe aus nach.
Rostow ging mit dem Sanitätsunteroffizier in den Korridor hinein. Der Krankenhausgeruch war in diesem dunklen Gang so stark, daß sich Rostow die Nase zuhalten und stehen bleiben mußte, um alle seine Kräfte zum Weitergehen zusammenzunehmen. Rechts ging eine Tür auf, und ein abgezehrter, gelb aussehender Mensch schleppte sich auf Krücken heraus, barfuß und nur mit Unterwäsche bekleidet. An den Türpfosten gelehnt, starrte er die Vorübergehenden mit fiebernden, neidischen Augen an. Rostow warf einen Blick durch die Tür und sah, daß die Kranken und Verwundeten dort auf Stroh und Mänteln auf dem Fußboden lagen.
»Darf man einmal hineingehen, um sich das anzusehen?« fragte Rostow.
»Was gibt es da zu sehen?« sagte der Sanitätsunteroffizier.
Aber gerade deshalb, weil der Sanitätsunteroffizier ihn offenbar nicht gern hineinlassen wollte, trat Rostow in das Soldatenkrankenzimmer ein. Der Geruch, an den sich zu gewöhnen er auf dem Korridor schon genügend Zeit gehabt hatte, war hier noch ärger. Er war hier etwas anders und noch bedeutend schärfer, und man merkte, daß gerade hier die Stelle war, von wo er ausging.
In dem langen Zimmer, durch dessen große Fenster die Sonne grell hereinschien, lagen, mit den Köpfen an der Wand, die Kranken und Verwundeten in zwei Reihen, so daß in der Mitte ein Gang frei blieb. Die meisten von ihnen waren teilnahmslos und schenkten den Eintretenden keine Beachtung. Diejenigen, die bei Bewußtsein waren, richteten sich auf oder hoben nur ihre abgezehrten, gelben Gesichter, und sahen alle mit demselben Ausdruck der Hoffnung auf Hilfe, des Vorwurfs und Neides auf die Gesundheit anderer den Besucher unverwandt an. Rostow ging bis in die Mitte des Zimmers, warf durch die offenstehenden Türen einen Blick in die Nebenzimmer rechts und links und sah auf beiden Seiten dasselbe. Er blieb stehen und sah sich schweigend um. So etwas zu sehen, hätte er niemals erwartet. Dicht vor ihm lag fast quer über dem Mittelgang auf dem blanken Fußboden ein Kranker, wahrscheinlich ein Kosak, da sein Haar rund abgeschoren war. Dieser Kosak lag rücklings da, die mächtigen Arme und Beine von sich gestreckt. Sein Gesicht war blaurot, seine Augen ganz verdreht, so daß man nur noch das Weiße sah, und an seinen bloßen Füßen und roten Händen traten die Adern wie Stricke hervor. Er schlug mit dem Hinterkopf auf den Boden, murmelte mit heiserer Stimme etwas vor sich hin und schien immer wieder nur ein Wort zu wiederholen. Rostow horchte auf das, was er sagte, und verstand das Wort, das er immer wiederholte. Es hieß: »Trinken, trinken, trinken!« Rostow sah sich um und suchte jemand, der diesen Kranken wieder auf seinen Platz legen und ihm Wasser geben könnte.
»Wer pflegt hier die Kranken?« fragte er den Sanitätsunteroffizier.
In diesem Augenblick trat aus dem Nebenzimmer der Krankenwärter, ein Trainsoldat, ging militärisch auf Rostow zu und stand vor ihm stramm. »Wünsche Gesundheit, Euer Hochwohlgeboren!« brüllte der Soldat und starrte Rostow mit weit aufgerissenen Augen an, da er ihn offenbar für einen vorgesetzten Lazarettinspektor hielt.
»Trage den dort fort und gib ihm Wasser!« sagte Rostow und zeigte auf den Kosaken.
»Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren«, erwiderte der Soldat bereitwillig, gab sich noch mehr Mühe, die Augen herauszudrehen und stramm zu stehen, rührte sich aber nicht von der Stelle.
Nein, hier kann man nichts ausrichten, dachte Rostow, schlug die Augen nieder und wollte schon hinausgehen, als er von der rechten Seite einen bedeutsamen Blick auf sich gerichtet fühlte und nach dieser Seite hinsah. Fast ganz in der Ecke saß auf einem Mantel ein alter Soldat mit gelbem, wie zum Skelett abgezehrtem, ernstem Gesicht und einem unrasierten grauen Bart und starrte Rostow unverwandt an. Sein Nachbar auf der einen Seite flüsterte ihm irgend etwas zu, indem er auf Rostow zeigte. Rostow verstand, daß der Alte ihn um etwas bitten wollte. Er ging näher heran und sah, daß dieser Soldat nur das eine Bein angezogen hielt, da ihm das andere bis über das Knie hinauf fehlte. Der andere Nachbar des Alten, der mit zurückgesunkenem Kopf starr und unbeweglich etwas weiter von ihm entfernt lag, war ein noch junger Soldat mit wachsbleichem, sommersprossigem Gesicht, einer Stumpfnase und ganz verdrehten Augen unter den Lidern. Rostow sah den stumpfnasigen Soldaten genauer an, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Aber es scheint doch, daß dieser …« wandte er sich an den Sanitätsunteroffizier.
»Und wie haben wir schon gebeten, Euer Wohlgeboren«, sagte der alte Soldat mit zitterndem Unterkiefer. »Schon heute morgen ist er gestorben. Wir sind doch Menschen und keine Hunde …«
»Sogleich schicke ich jemand, er wird fortgeschafft, er wird fortgeschafft«, sagte der Sanitätsunteroffizier hastig. »Darf ich bitten, Euer Wohlgeboren?«
»Gehen wir, gehen wir«, erwiderte Rostow eilig, senkte die Augen und bückte sich, bemüht, möglichst unbemerkt durch die Reihen der vorwurfsvoll und neidisch blickenden Augen, die auf ihn gerichtet waren, hindurchzukommen, und verließ das Zimmer.
Nachdem sie den Korridor durchschritten hatten, führte der Sanitätsunteroffizier Rostow in die Offiziersabteilung, die aus drei durch offene Türen verbundenen Zimmern bestand. Diese Zimmer waren mit Betten ausgestattet, auf denen die kranken und verwundeten Offiziere lagen oder saßen. Einige gingen in Lazarettschlafröcken im Zimmer auf und ab. Der erste, den Rostow in der Offiziersabteilung traf, war ein kleiner magerer Mensch mit nur einem Arm, der in Krankenhausschlafrock und Zipfelmütze, ein Pfeifchen rauchend, durch das erste Zimmer ging. Rostow sah ihn an und suchte sich zu erinnern, wo er ihn schon einmal gesehen hatte.
»Sieh da, wo Gott uns wieder zusammenführt!« sagte der kleine Mann. »Tuschin, Tuschin, erinnern Sie sich nicht? Ich ließ Sie bei Schöngrabern auf meinem Geschütz fahren. Indessen hat man mir ein Stückchen abtranchiert«, und er zeigte lachend auf seinen leeren Rockärmel. »Sie suchen Wassilij Dimitrijewitsch Denissow? Der ist mein Stubenkamerad«, sagte er, nachdem er erfahren hatte, was Rostow wollte. »Hier, hier.« Tuschin führte ihn ins Nebenzimmer, aus dem das Gelächter mehrerer Stimmen herüberdrang.
Wie können sie hier nur lachen, ja, überhaupt leben? dachte Rostow, der den Leichengeruch, mit dem er sich in der Soldatenabteilung vollgesogen hatte, noch immer nicht wieder losgeworden war, und der immer noch um sich herum die neidischen Blicke, die ihn von beiden Seiten begleitet hatten, und das Gesicht des jungen Soldaten mit den verdrehten Augen sah.
Denissow lag im Bett, hatte die Decke über den Kopf gezogen und schlief, obgleich es schon zwölf Uhr mittags war.
»Ah, Rostow! Servus! Servus!« rief er mit derselben dröhnenden Stimme, wie er beim Regiment zu sprechen pflegte, aber Rostow bemerkte zu seinem Leidwesen, wie durch seine gewohnte Ungezwungenheit und Lebhaftigkeit ein neues Gefühl heimlichen Kummers hindurchblickte, das in Denissows Gesicht und im Tonfall seiner Worte zum Ausdruck kam.
Obgleich es mit seiner Wunde nicht viel auf sich hatte, war sie doch immer noch nicht zugeheilt, obwohl es nun schon sechs Wochen her war, daß er die Verwundung erhalten hatte. Sein Gesicht sah ebenso bleich und geschwollen aus wie das aller Lazarettinsassen. Aber das war es nicht, was Rostow auffiel. Ihn befremdete hauptsächlich das eine, daß sich Denissow kaum über seinen Besuch zu freuen schien und ihm nur gezwungen zulächelte. Auch fragte er weder nach dem Regiment noch nach dem allgemeinen Fortgang des Krieges. Sobald Rostow davon anfing, hörte ihm Denissow kaum zu.
Ferner bemerkte Rostow, daß es Denissow unangenehm war, wenn er ihn an das Regiment und überhaupt an das freie Leben außerhalb des Lazarettes erinnerte. Er schien sich Mühe zu geben, nicht mehr an jenes frühere Leben zu denken, und interessierte sich nur noch für seine Angelegenheit mit den Beamten der Proviantstation. Auf Rostows Frage, wie denn die Sache stehe, zog er sogleich unter seinem Kopfkissen ein Schreiben hervor, das er von der Kommission erhalten hatte, und seine Antwort darauf, die er im Konzept entworfen hatte. Sobald er anfing, diese Schreiben vorzulesen, wurde er ganz lebhaft und machte Rostow ganz besonders auf all die Spitzen aufmerksam, die er darin gegen seine Feinde angebracht hatte. Denissows Lazarettgenossen, die Rostow als einen neu von draußen Angekommenen sogleich umringt hatten, fingen wieder an, auseinanderzugehen, sobald Denissow seine Papiere vorzulesen begann. Aus ihren Gesichtern erkannte Rostow, daß diese Herren sämtlich dies alles schon mehr als einmal gehört hatten und ihnen die ganze Geschichte nachgerade langweilig geworden war. Nur sein Bettnachbar, ein dicker Ulan, blieb bei ihm auf der Matratze sitzen und rauchte mit finster zusammengezogener Stirn seine Pfeife. Auch der kleine einarmige Tuschin blieb stehen und hörte zu, wobei er mißbilligend den Kopf hin und her wiegte. Mitten im Vorlesen unterbrach der Ulan Denissow.
»Meiner Ansicht nach«, sagte er, an Rostow gewandt, »brauchte man bloß den Kaiser um Begnadigung zu bitten. Es sollen ja jetzt, wie es heißt, so viele Auszeichnungen verteilt werden, da würde er ein solches Gesuch doch sicherlich gewähren …«
»Ich soll den Kaiser um Gnade bitten!« rief Denissow in einem Ton, dem er die frühere Energie und Hitze verleihen wollte, aus dem man aber nur eine zwecklose Gereiztheit heraushörte. »Wofür denn? Wenn ich ein Räuber wäre, dann könnte ich den Kaiser um Gnade bitten, so aber werde ich vor Gericht gestellt, weil ich ein paar Räuber ans Tageslicht gebracht habe. Mögen sie mich nur richten, ich fürchte mich vor niemand: ich habe meinem Kaiser und dem Vaterland ehrlich gedient und nicht gestohlen. Und mich wollen sie degradieren und … Hör mal, ich werde ihnen geradeheraus schreiben; paß mal auf, was ich schreiben werde: Wenn ich ein solcher Staatsräuber wäre, wie …«
»Geschickt ausgedrückt, dagegen läßt sich gar nichts sagen«, versetzte Tuschin. »Aber das ändert nichts an der Sache, Wassilij Dimitritsch«, fuhr er, ebenfalls an Rostow gewandt, fort. »Man muß sich fügen, und das ist es, was Wassilij Dimitritsch nicht will. Der Auditor hat es Ihnen doch gesagt, daß Ihre Angelegenheit noch übel ablaufen wird.«
»Meinetwegen, mag sie übel ablaufen«, sagte Denissow.
»Der Auditor hat Ihnen doch eine Bittschrift aufgesetzt«, fuhr Tuschin fort. »Die brauchen Sie bloß zu unterschreiben, und da haben Sie gleich jemanden, durch den Sie sie übersenden können. Ihr Freund«, er wies auf Rostow, »hat sicherlich irgendwelche Beziehungen zum Stabe. Eine bessere Gelegenheit könnte sich gar nicht finden …«
»Ich habe Ihnen aber gesagt, daß ich eine so entwürdigende Handlung niemals begehen werde«, unterbrach ihn Denissow und fuhr im Vorlesen seiner Schriftstücke fort.
Rostow wagte nicht, Denissow zuzureden. Obgleich er instinktiv fühlte, daß der Weg, den Tuschin und die anderen Offiziere vorgeschlagen hatten, der allerrichtigste war, und obgleich er sich glücklich geschätzt hätte, Denissow diesen Freundschaftsdienst erweisen zu können, kannte er doch den unbeugsamen Willen und den heftigen Wahrheitsdrang Denissows nur zu gut.
Als Denissow mit dem Vorlesen seines giftigen Schreibens, das über eine Stunde gedauert hatte, zu Ende war, sagte Rostow kein Wort und verbrachte den Rest des Tages in der gedrücktesten Stimmung im Kreis von Denissows Lazarettgenossen, die sich wieder um ihn geschart hatten, erzählte, was er wußte, und hörte den Geschichten anderer zu. Denissow hüllte sich im Verlauf des ganzen Abends in ein düsteres Schweigen.
Spät am Abend machte sich Rostow auf, um fortzugehen, und fragte Denissow, ob er irgendwelche Aufträge habe.
»Ja, warte«, sagte Denissow, sah sich nach den anderen Offizieren um, zog unter seinem Kopfkissen ein Schreiben hervor, trat ans Fenster, auf dem ein Tintenfaß stand, und setzte sich hin, um zu schreiben.
»Ich sehe ein, mit der Peitsche schlägt man keinen Klotz entzwei«, sagte er, kam vom Fenster zurück und überreichte Rostow einen großen Brief. Es war jene Bittschrift an den Kaiser, die der Auditor ihm aufgesetzt hatte, in der Denissow, ohne die Vorfälle auf dem Proviantamt zu erwähnen, den Kaiser um Gnade bat.
»Überbringe es, ich sehe ein …«
Er sprach nicht zu Ende und lächelte schmerzlich und gezwungen.
Zum Regiment zurückgekehrt, meldete Rostow dem Kommandeur, wie Denissows Angelegenheit stehe, und ritt mit dem Brief an den Kaiser nach Tilsit.
Am 13. Juni hatte der Zar von Rußland mit dem Kaiser von Frankreich eine Zusammenkunft in Tilsit. Boris Drubezkoj hatte die hochgestellte Persönlichkeit, deren Adjutant er war, darum gebeten, dem Gefolge beigezählt zu werden, das sich nach Tilsit begeben sollte.
»Je voudrais voir le grand homme«, sagte er von Napoleon, den er bisher, wie alle anderen auch, immer nur Bonaparte genannt hatte.
»Vous parlez de Buonaparte?« fragte ihn lächelnd sein General.
Boris sah den General fragend an, begriff aber sogleich, daß dieser ihn nur scherzend prüfen wollte.
»Mon prince, je parle de l’empereur Napoléon«, erwiderte er.
Der General klopfte ihm lächelnd auf die Schulter.
»Du wirst es noch einmal weit bringen«, sagte er und nahm ihn mit.
Boris befand sich unter den wenigen, die am Tag der Zusammenkunft der beiden Kaiser mit auf der Memel fuhren. Er sah das Floß mit den Anfangsbuchstaben der beiden Kaisernamen, sah Napoleon am anderen Ufer an der französischen Garde entlang reiten, sah das versonnene Gesicht Kaiser Alexanders, als er schweigend in einer Schenke am Ufer der Memel saß und auf Napoleons Ankunft wartete, sah, wie die beiden Kaiser in die Boote stiegen, und wie Napoleon, der zuerst auf dem Floß angekommen war, mit schnellen Schritten nach vorn ging, Alexander entgegenkam, ihm die Hand reichte, und wie dann beide im Pavillon verschwanden. Seit Boris in den höchsten Kreisen Zutritt erlangt hatte, war es ihm zur Gewohnheit geworden, alles aufmerksam zu beobachten, was um ihn vorging, und sich darüber Notizen zu machen. Während der Zusammenkunft in Tilsit fragte er nach den Namen aller Persönlichkeiten, die mit Napoleon zusammen angekommen waren, ließ sich die Uniformen erklären, die sie trugen, und horchte aufmerksam auf jedes Wort, das über irgendeine hochgestellte Persönlichkeit verlautete. Als die beiden Kaiser in den Pavillon traten, sah er nach der Uhr und vergaß auch nicht, dann noch einmal nachzusehen, als Alexander wieder aus dem Pavillon trat. Die Zusammenkunft hatte eine Stunde und dreiundfünfzig Minuten gedauert, das notierte er sich zusammen mit anderen Tatsachen, von denen er fühlte, daß sie historische Bedeutung hatten, gleich am selben Abend noch. Da das Gefolge des Kaisers nur sehr klein war, so war es für einen Menschen, der für sein Vorwärtskommen im Dienst zitterte, von äußerster Wichtigkeit, bei der Zusammenkunft der beiden Kaiser in Tilsit zugegen sein zu dürfen, und Boris fühlte, daß jetzt, wo er nun einmal mit nach Tilsit gekommen war, seine künftige Karriere vollkommen gesichert sei. Man kannte ihn nicht nur, sondern schenkte ihm sogar Beachtung und hatte sich an ihn gewöhnt. Zweimal hatte er dem Kaiser selber eine Meldung überbringen dürfen, so daß auch dieser ihn von Ansehen kannte, und alle, die dem Zaren nahestanden, übersahen Boris als neu aufgetauchten jungen Mann nicht mehr wie früher, sondern hätten sich sogar gewundert, wenn er nicht dabei gewesen wäre.
Boris lag mit einem anderen Adjutanten, dem polnischen Grafen Szilinski, zusammen in einem Quartier. Szilinski, ein reicher Pole, war in Frankreich erzogen worden und liebte die Franzosen leidenschaftlich. Deshalb versammelten sich bei Szilinski und Boris während ihres Aufenthaltes in Tilsit fast alle Tage französische Gardeund Generalstabsoffiziere zum Frühstück oder zum Mittagessen.
Am 22. Juni gab Boris’ Quartiergenosse, Graf Szilinski, seinen französischen Bekannten ein Essen. Der Ehrengast dieses Abends war ein Adjutant Napoleons, dann sollten noch ein paar Gardeoffiziere kommen und ein ganz junger Abkömmling einer alten französischen Aristokratenfamilie, ein Page Napoleons. Gerade an diesem Abend kam auch Rostow in Zivilkleidung in Tilsit an und begab sich, die Dunkelheit benutzend, um nicht erkannt zu werden, sogleich nach Boris’ und Szilinskis Quartier.
Rostow sowie die ganze Armee, aus der er kam, hatte den Standpunkt Napoleon und den Franzosen gegenüber noch nicht geändert und konnte in den Feinden nicht plötzlich Freunde sehen, ein Umschwung, der sich im Hauptquartier und in Boris’ Seele bereits vollzogen hatte. In der Armee fuhr man fort, Napoleon und den Franzosen wie früher jenes aus Feindseligkeit, Verachtung und Furcht gemischte Gefühl entgegenzubringen. Erst kürzlich noch hatte sich Rostow im Gespräch mit einem Platowschen Kosakenoffizier darüber gestritten, ob man Napoleon, wenn er in Gefangenschaft geriete, wie einen Kaiser oder wie einen Verbrecher behandeln müsse. Und eben noch, unterwegs, hatte Rostow einem verwundeten französischen Oberst, mit dem er zusammen gekommen war, mit großem Eifer zu beweisen versucht, daß zwischen einem rechtmäßigen Kaiser und diesem Verbrecher Bonaparte ein Friede gar nicht geschlossen werden könne. Deshalb berührte es Rostow sonderbar, als er in Boris’ Wohnung die französischen Offiziere in jenen selben Uniformen sah, die er gewöhnt war, von der Vorpostenkette aus mit ganz anderen Augen anzusehen. Als er einen dieser französischen Offiziere bei Boris aus der Tür herauskommen sah, kam plötzlich das kriegerisch feindselige Gefühl, das er immer beim Anblick eines Feindes empfand, mit aller Gewalt über ihn. Er blieb auf der Schwelle stehen und fragte auf russisch, ob hier Drubezkoj wohne. Boris hatte die fremde Stimme im Vorzimmer gehört und kam heraus und auf ihn zu. Im ersten Augenblick, als er Rostow erkannte, zeigte sein Gesicht einen ärgerlichen Ausdruck.
»Ach, du bist es, freue mich sehr, freue mich sehr, dich zu sehen«, sagte er aber trotzdem, lächelte und trat auf ihn zu. Doch Rostow hatte seinen ersten Ausdruck bemerkt.
»Ich komme dir wohl ungelegen«, sagte er. »Ich wäre nicht gekommen, wenn ich nicht eine wichtige Sache mit dir zu besprechen hätte«, fügte er kalt hinzu.
»Nein, ich wundere mich nur, wie du von deinem Regiment hierherkommst. Dans un moment je suis à vous«, rief er einer Stimme, die ihn gerufen hatte, zu.
»Ich sehe, ich komme ungelegen«, wiederholte Rostow. Der Ausdruck des Ärgers war auf Boris’ Gesicht schon wieder verflogen; er hatte sichtlich nachgedacht und sich entschlossen, was er tun wolle. Mit außerordentlicher Ruhe nahm er Rostows beide Hände und führte ihn in ein Nebenzimmer. Es schien, als ob Boris’ Augen, die ruhig und fest auf Rostow gerichtet waren, wie mit einem Filter oder der blauen Brille des gesellschaftlichen Lebens bedeckt wären. So kam es Rostow wenigstens vor.
»Aber ich bitte dich, hör doch auf! Kannst du mir denn je ungelegen kommen?« sagte Boris.
Er führte ihn in das Zimmer, wo die Abendtafel gedeckt war, machte ihn mit seinen Gästen bekannt, nannte seinen Namen und erklärte, daß er kein Zivilist, sondern ein Husarenoffizier und alter Freund von ihm sei.
»Graf Szilinski, le comte N.N. le capitaine S.S.«, stellte er seine Gäste vor. Rostow sah die Franzosen finster an, verbeugte sich unwillig und schwieg.
Szilinski schien sich nicht allzu sehr zu freuen, noch einen Russen in seinen Kreis aufzunehmen, er sagte kein Wort zu Rostow. Boris schien die durch den neuen Gast verursachte Gezwungenheit gar nicht zu bemerken und bemühte sich mit derselben liebenswürdigen Ruhe und derselben Schutzbrille vor den Augen, mit der er Rostow empfangen hatte, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Einer der französischen Offiziere wandte sich mit der gewohnten französischen Höflichkeit an den hartnäckig schweigenden Rostow und sagte zu ihm, er wäre mutmaßlich aus dem Grund nach Tilsit gekommen, um den Kaiser zu sehen.
»Nein, ich habe hier zu tun«, erwiderte Rostow kurz. Rostow hatte sogleich, als er die Verstimmung auf Boris’ Gesicht gesehen hatte, seine gute Laune verloren, und es schien ihm, wie das allen Leuten, die schlechter Laune sind, so geht, als ob ihn alle mißgünstig ansähen und er allen nur störend sei. Und wirklich störte er auch alle und blieb allein an der wieder sich belebenden allgemeinen Unterhaltung unbeteiligt. Warum sitzt er eigentlich hier? fragten die Blicke, die die Gäste auf ihn warfen. Er stand auf und trat auf Boris zu.
»Ich störe hier doch nur«, sagte er leise zu ihm. »Komm, wir wollen über meine Sache reden, und dann werde ich fortgehen.«
»Aber nein, durchaus nicht«, sagte Boris. »Wenn du aber müde bist, wollen wir auf mein Zimmer gehen, da kannst du dich hinlegen und ausruhen.«
»Das wäre in der Tat …«
Sie gingen in das kleine Zimmer, wo Boris schlief. Ohne sich hinzusetzen, begann Rostow sogleich gereizt, als hätte Boris gegen ihn eine Schuld begangen, ihm Denissows Geschichte zu erzählen, und fragte ihn, ob er durch seinen General für Denissow beim Kaiser Fürbitte einlegen wolle und könne und den Brief durch irgend jemanden überreichen lassen wolle. Während sie so allein miteinander sprachen, kam Rostow zum erstenmal zu der Überzeugung, daß es ihm unangenehm war, Boris in die Augen zu sehen. Boris hörte, das eine Bein über das andere geschlagen und mit der linken Hand leicht über die Finger seiner Rechten streichend, Rostow an, wie ein General die Meldung eines Untergebenen anhört, wobei er bald zur Seite, bald mit seiner Schutzbrille vor den Augen Rostow gerade ins Gesicht sah. Rostow empfand dabei jedesmal ein unangenehmes Gefühl und senkte die Augen.
»Ich habe von derartigen Geschichten schon gehört und weiß, daß der Kaiser in solchen Fällen sehr streng ist. Ich meine, man dürfte das nicht bis zu Seiner Majestät vorbringen. Meiner Ansicht nach müßte man die Bittschrift dem Kommandeur des betreffenden Korps unterbreiten … Überhaupt denke ich …«
»Du willst also nichts tun, so sage es doch gleich!« schrie Rostow fast heraus, ohne Boris anzusehen.
Boris lächelte.
»Im Gegenteil, ich werde tun, was ich kann, nur denke ich …«
In diesem Augenblick ertönte hinter der Tür Szilinskis Stimme, der Boris rief.
»Geh nur, geh …«, sagte Rostow, verzichtete auf das Abendessen und blieb allein in dem kleinen Zimmer. Lange ging er hier auf und ab und hörte aus dem Nebenzimmer das lustige französische Geplauder.
Rostow war zu einer Zeit nach Tilsit gekommen, die zu einer Fürsprache für Denissow so ungeeignet wie möglich war. Für ihn selber war es, da er im Frack und ohne Wissen seines Kommandeurs nach Tilsit geritten war, ganz unmöglich, zum diensthabenden General zu gehen, und selbst Boris konnte, wenn er auch gewollt hätte, es am Tag nach Rostows Ankunft gar nicht tun. Denn gerade an diesem Tag, dem 23. Juni, wurden die ersten vorläufigen Friedensbedingungen unterzeichnet. Die Kaiser tauschten Orden aus: Kaiser Alexander erhielt die Ehrenlegion, Napoleon den Andreasorden erster Klasse, und am selben Tag fand ein Festessen statt, das ein Bataillon französischer Garde für ein Bataillon des Preobraschenskij-Regimentes veranstaltet hatte. Bei diesem Bankett sollten auch die beiden Kaiser zugegen sein.
Rostow fühlte sich bei Boris so unbehaglich und so unangenehm berührt, daß er sich schlafend stellte, als dieser nach dem Abendessen noch einmal zu ihm hereinschaute. Am nächsten Morgen ging er ganz früh aus dem Hause, um ein Wiedersehen mit ihm zu vermeiden. Im Frack und Zylinder schlenderte Nikolaj durch die Stadt, betrachtete die Franzosen und ihre Uniformen und sah sich die Straßen und die Häuser an, wo der russische und der französische Kaiser wohnten. Auf dem Marktplatz sah er aufgeschlagene Tische und die Vorbereitungen zum Bankett, quer über die Straßen Girlanden mit Fahnen in russischen und französischen Farben und die riesigen Anfangsbuchstaben $à und N. Auch aus den Fenstern der Häuser hingen Fahnen heraus und grüßten Initialen.
Boris will mir nicht helfen, und ich möchte mich auch nicht noch einmal an ihn wenden, dachte Nikolaj. Aber so viel weiß ich, zwischen uns ist alles aus. Doch ich werde nicht von hier fortgehen, ehe ich nicht für Denissow alles, was ich kann, getan und hauptsächlich, ehe ich nicht den Brief an den Kaiser abgegeben habe. An den Kaiser? … Aber er ist doch hier! dachte Rostow und ging unwillkürlich näher an das Haus heran, das von Alexander bewohnt wurde.
Vor diesem Haus standen ein paar Reitpferde und einige Herren vom Gefolge des Zaren; anscheinend machte man alles zu einem Ausritt für den Kaiser bereit.
Jeden Augenblick kann ich ihn sehen, dachte Rostow. Wenn ich ihm den Brief nur persönlich übergeben und ihm alles sagen könnte. Ob man mich wohl meines Frackes wegen mit Arrest bestrafen würde? Das kann doch nicht sein. Er würde Verständnis dafür haben, auf welcher Seite das Recht ist. Er versteht ja alles, weiß ja alles. Wer könnte gerechter und edler sein als er? Und wenn man mich auch wirklich dafür, daß ich ohne Urlaub hier bin, in Arrest stecken würde, was wäre das weiter für ein Unglück? dachte er und beobachtete einen Offizier, der in das Haus hineinging, das der Kaiser bewohnte. Die gehen doch auch hinein. Ach was, das ist doch alles Unsinn! Ich werde selber hineingehen und dem Kaiser den Brief überreichen, um so schlimmer für Drubezkoj, der mich so weit gebracht hat. Und mit einer Entschlossenheit, die sich Rostow selber gar nicht zugetraut hätte, schritt er geradeswegs auf das Haus zu, das der Kaiser innehatte, und fühlte mit der Hand nach dem Brief in der Tasche.
Nein, jetzt lasse ich mir die Gelegenheit nicht wieder entschlüpfen wie damals nach der Schlacht bei Austerlitz, dachte er in der Erwartung, jeden Augenblick auf den Kaiser zu stoßen, und fühlte, wie ihm bei diesem Gedanken das Blut zum Herzen strömte. Ich werde ihm zu Füßen fallen und meine Bitte anbringen. Er wird mich aufstehen lassen, mich anhören und es mir noch danken. Und Rostow stellte sich im Geiste sogar die Worte vor, die der Kaiser zu ihm sagen würde: Ich bin glücklich, etwas Gutes tun zu können, denn eine Ungerechtigkeit wieder gutzumachen ist das größte Glück. Er ging an den Leuten, die vor dem Hause standen und ihn neugierig ansahen, vorüber und trat in das Portal ein.
Vom Portal führte eine breite Treppe gerade nach oben, zur Rechten sah man eine geschlossene Tür. Unter der Treppe war eine Tür für das untere Stockwerk.
»Wen wünschen Sie zu sprechen?« fragte jemand.
»Ich möchte einen Brief abgeben, eine Bittschrift an Seine Majestät«, sagte Nikolaj mit bebender Stimme.
»Eine Bittschrift? Also an den diensthabenden Offizier. Bitte hier!« Man wies ihn nach der unteren Tür. »Sie werden jetzt kaum angenommen werden.«
Als Rostow diese gleichgültige Stimme hörte, erschrak er über sein eignes Vorhaben. Der Gedanke, jeden Augenblick mit dem Kaiser zusammentreffen zu können, war so verführerisch und daher so furchtbar für ihn, daß er am liebsten wieder fortgelaufen wäre, aber der Kammerfourier, der ihn empfangen hatte, öffnete ihm die Tür zum Dienstzimmer, und Rostow trat ein.
In diesem Zimmer stand ein kleiner, beleibter, etwa dreißigjähriger Mann in weißen Beinkleidern, Reitstiefeln und einem sichtlich soeben erst frisch angezogenen Batisthemd. Ein Kammerdiener knöpfte ihm hinten ein Paar ganz neue, prächtig gestickte, seidne Hosenträger an, die aus irgendeinem Grund Rostows Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Dieser Mann unterhielt sich mit jemand, der im Nebenzimmer war.
»Bien faite et la beauté du diable«, sagte dieser Mann. Als er aber Rostow erblickte, brach er ab und machte ein finsteres Gesicht.
»Sie wünschen? Eine Bittschrift? …«
»Qu’est-ce que c’est?« fragte eine Stimme aus dem Nebenzimmer.
»Encore un pétitionnaire«, erwiderte der Mann mit den Hosenträgern.
»Sagen Sie ihm, später. Der Kaiser wird gleich kommen, wir müssen ausreiten.«
»Später, später, morgen. Heute ist keine Zeit mehr.«
Rostow wandte sich um und wollte hinausgehen, aber der Mann mit den Hosenträgern hielt ihn zurück.
»Von wem ist das Schreiben? Wer sind Sie?«
»Von Major Denissow«, erwiderte Rostow.
»Und Sie? Sind Sie Offizier?«
»Leutnant Graf Rostow.«
»Welch eine Keckheit! Überreichen Sie das Schreiben doch Ihrem Kommando. Aber gehen Sie, gehen Sie …« und er zog den Uniformrock an, den der Kammerdiener ihm reichte.
Rostow trat wieder in den Flur hinaus und bemerkte, daß vor dem Hause jetzt viele Offiziere und Generäle in voller Paradeuniform standen, an denen er nun vorübergehen mußte.
Rostow verfluchte seine Dreistigkeit und kam bei dem Gedanken fast um, daß er jeden Augenblick den Kaiser treffen und vor seinen Augen heruntergeputzt und in Arrest geschickt werden konnte. Er sah die Ungehörigkeit seines Vorgehens voll und ganz ein, bereute es und schlich sich mit niedergeschlagenen Augen aus dem Hause, das jetzt von einer Menge glänzender Persönlichkeiten aus dem Gefolge des Kaisers umringt war. Plötzlich rief eine bekannte Stimme seinen Namen, und eine Hand hielt ihn auf.
»Halt, mein Lieber, was machen Sie denn hier im Frack?« fragte ihn eine Baßstimme. Es war ein General der Kavallerie, der sich in diesem Feldzug die besondere Gnade des Kaisers erworben hatte und früher Kommandeur der Division gewesen war, bei der Rostow stand.
Rostow fing ganz erschrocken an, sich zu entschuldigen, als er aber das gutmütig scherzende Gesicht des Generals sah, trat er etwas zur Seite, erzählte ihm mit erregter Stimme die ganze Geschichte und bat ihn, sich für Denissow, den er kannte, zu verwenden. Der General hörte Rostow an und wiegte ernst das Haupt.
»Schade, schade um den tüchtigen Kerl. Geben Sie den Brief her.«
Kaum hatte Rostow den Brief übergeben und Denissows ganze Geschichte erzählt, als man auf der Treppe eilige Schritte und Sporengeklirr hörte. Der General ließ ihn stehen und eilte ans Portal. Die Herren vom Gefolge des Kaisers kamen die Treppe herunter und gingen zu ihren Pferden. Der Stallmeister Ainé, derselbe, der bei Austerlitz dabei gewesen war, führte das Pferd des Kaisers vor, und auf der Treppe hörte man das leichte Geräusch von Schritten, die Rostow sofort erkannte. Er dachte nicht mehr an die Gefahr, erkannt zu werden, drängte sich mit ein paar neugierigen Einwohnern bis dicht an das Portal heran und sah nun nach zwei Jahren diese von ihm vergötterten Züge wieder. Es war dasselbe Gesicht, derselbe Blick, derselbe Gang, dieselbe Vereinigung von Sanftmut und Majestät. Und das Gefühl der Begeisterung und Liebe zu seinem Kaiser stand mit der alten Kraft wieder in Rostows Seele auf. Der Kaiser in der Uniform des Preobraschenskij-Regimentes, mit weißen Wildlederhosen und hohen Reitstiefeln, einen Orden, den Rostow nicht kannte, auf der Brust – es war die Legion d’honneur –, trat aus dem Portal heraus, den Hut unter den Arm geklemmt, und zog sich den einen Handschuh an. Er blieb stehen, sah sich um, und von seinen Blicken schien alles ringsum licht und hell zu werden. Er wechselte mit einem der Generäle ein paar Worte, erkannte dann Rostows früheren Divisionskommandeur, lächelte ihm zu und rief ihn zu sich heran. Das übrige Gefolge trat etwas zurück, und Rostow sah, wie der General ziemlich lange mit dem Kaiser sprach.
Der Kaiser erwiderte ein paar Worte und trat einen Schritt vor, um zu seinem Pferde zu kommen. Wieder drängte das Gefolge des Kaisers und die Menge der Neugierigen auf der Straße, unter denen sich Rostow befand, dem Kaiser nach. Dieser blieb bei seinem Pferd stehen, legte die Hand auf den Sattel, wandte sich noch einmal nach dem Kavalleriegeneral um und sprach absichtlich laut und augenscheinlich in dem Wunsch, von allen gehört zu werden.
»Ich kann es nicht, General, kann es deshalb nicht, weil das Gesetz stärker ist als ich«, sagte der Kaiser und setzte den Fuß in den Steigbügel.
Der General senkte ehrerbietig das Haupt, der Kaiser schwang sich in den Sattel und ritt im Galopp die Straße hinunter. Rostow, ganz außer sich vor Begeisterung, lief mit der Menge zusammen hinter ihm her.
Auf dem Marktplatz, wohin sich der Kaiser begab, standen sich die beiden Bataillone Gesicht zu Gesicht gegenüber, und zwar rechts die Preobraschenzen und links die französische Garde in ihren Bärenfellmützen.
Im selben Augenblick, als der Kaiser an den einen Flügel der Bataillone, die das Gewehr präsentierten, heranritt, sprengte eine andere Reiterschar an den zweiten Flügel heran, an deren Spitze Rostow Napoleon erkannte. Es konnte gar niemand anderes sein. Er ritt im Galopp, trug einen kleinen Hut und das Band des Andreasordens über der Schulter, einen blauen Uniformrock, der offenstand und die weiße Weste sehen ließ, und ritt einen außerordentlich edlen, arabischen Grauschimmel mit karmesinroter, goldbestickter Schabracke. Als er bis zu Alexander herangeritten war, lüftete er den Hut, und bei dieser Bewegung fiel es Rostows Kavalleristenauge sofort auf, daß Napoleon schlecht und unsicher zu Pferde saß. Die Soldaten schrien »Hurra!« und »Vive l’empereur!« Napoleon sagte etwas zu Alexander. Beide Kaiser stiegen vom Pferde und reichten einander die Hand. Auf Napoleons Gesicht lag ein unangenehmes, widerliches Lächeln. Alexander sprach mit freundlichem Gesichtsausdruck ein paar Worte mit ihm.
Rostow verfolgte, obgleich die Pferde der französischen Gendarmen, die die Menge zurückdrängten, dicht vor ihm stampften, jede Bewegung der beiden Kaiser, ohne ein Auge von ihnen zu wenden. Es fiel ihm wie etwas ganz Unerwartetes auf, daß Alexander Bonaparte wie einen Ebenbürtigen behandelte, und daß Bonaparte völlig ungezwungen wie ein Gleichgestellter mit Alexander verkehrte, als wäre die Nähe des russischen Zaren für ihn etwas Natürliches und Gewohntes.
Alexander und Napoleon begaben sich mit dem langen Schweif ihres Gefolges nach dem rechten Flügel des PreobraschenskijBataillons, gerade auf die Menge zu, die dort stand. Dieser Zuschauerhaufen sah sich plötzlich den beiden Kaisern so nahe gegenüber, daß Rostow, der in den vordersten Reihen stand, Angst hatte, erkannt zu werden.
»Sire, je vous demande la permission de donner la Légion d’honneur au plus brave de vos soldats«, sagte eine scharfe, präzise Stimme, jeden Buchstaben genau aussprechend.
Dies hatte der kleine Bonaparte gesagt, wobei er von unten Kaiser Alexander gerade in die Augen sah. Alexander hörte aufmerksam zu, was man zu ihm sagte, neigte den Kopf und lächelte liebenswürdig.
»A celui qui s’est le plus vaillamment conduit dans cette dernière guerre«, fügte Napoleon hinzu, jedes Wort deutlich prägend, und musterte mit einer Ruhe und Selbstsicherheit, die Rostow als quälend empfand, die Reihen der russischen Soldaten, die stramm vor ihm dastanden, immer noch das Gewehr präsentierten und starr ihrem Kaiser ins Gesicht sahen.
»Votre Majesté me permettra-t-elle de demander l’avis du colonel?« sagte Alexander und trat mit ein paar hastigen Schritten auf den Bataillonskommandeur, den Fürsten Koslowskij, zu.
Bonaparte fing inzwischen an, den Handschuh von seiner kleinen weißen Hand abzuziehen, zerriß ihn dabei und warf ihn auf die Erde. Sein Adjutant stürzte eilig vor und hob ihn auf.
»Wem soll er es geben?« fragte Kaiser Alexander Koslowskij leise auf russisch.
»Wen befehlen Euer Majestät?«
Der Kaiser zog mißmutig die Brauen zusammen, wandte sich um und sagte: »Man muß doch seinem Wunsch entsprechen.«
Koslowskij sah sich mit entschlossener Miene in den Reihen um, und sein Blick fiel auch auf Rostow.
Er wird doch nicht etwa mich wählen? dachte Rostow.
»Lasarew«, kommandierte mit finsterem Gesicht der Oberst, und der Flügelmann der ersten Reihe, Lasarew, trat stramm vor.
»Wo willst du denn hin? Bleib doch dort stehen!« flüsterten ein paar Stimmen Lasarew zu, der nicht wußte, wo er hingehen sollte. Lasarew blieb stehen und schielte erschrocken nach dem Oberst hin; sein Gesicht zuckte, wie das bei Soldaten, die vor die Front gerufen werden, häufig der Fall ist.
Napoleon wandte kaum merklich den Kopf um und streckte seine kleine mollige Hand nach hinten, als wolle er etwas entgegennehmen. Die Offiziere seines Gefolges, die im Nu erraten hatten, worum es sich handelte, gerieten in geschäftige Bewegung, flüsterten untereinander und reichten einer dem anderen etwas weiter, und ein Page, derselbe, den Rostow am Abend vorher bei Boris gesehen hatte, sprang vor, beugte sich ehrerbietig über die ausgestreckte Hand und legte einen Orden an einem roten Band hinein, ohne sie auch nur eine Sekunde warten zu lassen. Napoleon drückte, ohne sich umzusehen, nur zwei Finger zusammen, und der Orden befand sich zwischen ihnen. Dann trat er auf Lasarew zu, der unentwegt fortfuhr, mit weit aufgerissenen Augen nur seinen Kaiser anzusehen, und warf einen Blick auf Kaiser Alexander, durch den er ihm zu verstehen gab, daß das, was er jetzt zu tun im Begriff war, allein seinem Verbündeten galt. Die kleine weiße Hand mit dem Orden berührte einen Knopf des Soldaten Lasarew. Es schien, als sei Napoleon davon überzeugt, daß er nur mit seiner Hand die Brust des Soldaten zu berühren brauchte, um ihn für immer glücklich zu machen, zu belohnen und vor aller Welt auszuzeichnen. Napoleon legte das Kreuz Lasarew nur an die Brust, ließ die Hand gleich wieder sinken und wandte sich an Alexander, als wüßte er ganz genau, daß das Kreuz an Lasarews Brust haften bleiben mußte. Und das Kreuz blieb auch wirklich haften.
Russische und französische dienstbeflissene Hände hatten es im Nu erfaßt und an der Uniform befestigt. Lasarew warf einen finsteren Blick auf den kleinen Mann mit den weißen Händen, der sich da an ihm zu schaffen machte, fuhr fort, starr und unbeweglich das Gewehr zu präsentieren, und sah dann wieder Kaiser Alexander gerade ins Gesicht, als frage er ihn, ob er immer noch stehen bleiben, auf und ab marschieren oder vielleicht sonst noch irgend etwas anderes tun solle. Aber es wurde ihm nichts befohlen, und so blieb er in dieser starren Haltung noch eine ganze Weile stehen.
Die Kaiser stiegen wieder zu Pferde und ritten davon. Die Preobraschenzen traten aus Reih und Glied, vermischten sich mit der französischen Garde und setzten sich an die Tische, die man für sie aufgeschlagen hatte.
Lasarew erhielt den Ehrenplatz. Man umarmte und beglückwünschte ihn, und russische und französische Offiziere drückten ihm die Hand. Offiziere und Volk in Mengen strömten herbei, nur um Lasarew zu sehen. Ein wahres Chaos russischer und französischer Worte erfüllte den Marktplatz rund um die Tische herum. Zwei Offiziere mit geröteten, heiteren und glücklichen Gesichtern gingen an Rostow vorüber.
»Das nenne ich eine Bewirtung, Bruder! Alles auf Silber«, sagte der eine. »Hast du Lasarew gesehen?«
»Gewiß.«
»Es heißt, daß die Preobraschenzen morgen den Franzosen ein Essen geben werden.«
»Nein, dieser Lasarew, so ein Dusel! Zwölfhundert Franken jährliche Pension!«
»Seht mal, das ist aber ein Ding, Kinder!« rief ein Preobraschenze und stülpte sich die zottige Fellmütze eines Franzosen über den Kopf.
»Wunderbar schön! Prachtvoll!«
»Hast du auf die Parole geachtet?« fragte ein Gardeoffizier einen anderen. »Vorgestern: ›Napoléon, France, bravour‹, gestern: ›Alexandre, Russie, grandeur‹.«
»Den einen Tag gibt unser Kaiser die Parole, den anderen Tag gibt sie Napoleon. Morgen wird der Kaiser dem Tapfersten aus der französischen Garde das Georgskreuz senden. Das geht ja nicht anders. Er muß doch diese Aufmerksamkeit in derselben Art erwidern.«
Auch Boris kam mit seinem Freund Szilinski, um sich das Bankett der Preobraschenzen anzusehen. Auf dem Rückweg bemerkte Boris Rostow, der an einer Hausecke stand.
»Guten Morgen, Rostow! Wir haben uns ja noch gar nicht gesehen«, sagte er zu ihm und konnte sich nicht enthalten, ihn zu fragen, was er habe – so furchtbar finster und verstimmt sah Rostow aus.
»Nichts, nichts«, erwiderte Rostow.
»Du kommst doch dann zu mir?«
»Ja, ich komme.«
Rostow stand lange an der Ecke und sah von ferne den Schmausenden zu. In seiner Seele arbeiteten quälende Gedanken, die er durchaus zu keinem Ende führen konnte. Furchtbare Zweifel stiegen in ihm auf. Bald mußte er an Denissow mit dem veränderten Ausdruck im Gesicht und seiner plötzlichen Ergebenheit denken, bald an das ganze Lazarett mit den abgenommenen Armen und Beinen, mit seinem Schmutz und seinen Krankheiten. Und die Vorstellung, daß er diesen Krankenhaus- und Leichengeruch auch jetzt noch spüre, kam mit solcher Lebendigkeit über ihn, daß er sich umschaute, um festzustellen, woher denn dieser Geruch kommen könne. Dann wieder mußte er an den selbstzufriedenen Bonaparte mit seiner kleinen weißen Hand denken, der jetzt Kaiser war und nun auf einmal vom Zaren Alexander geliebt und geachtet wurde. Was für einen Zweck hatten da nun diese abgenommenen Arme und Beine und all die Gefallenen? Und dann fiel ihm wieder Lasarew mit seiner Auszeichnung ein und Denissow, der bestraft und nicht begnadigt werden sollte. Und er ertappte sich bei so sonderbaren Gedanken, daß er selber darüber erschrak.
Die Düfte vom Festessen der Preobraschenzen und sein eigner Hunger rissen ihn aus diesen Betrachtungen: er mußte irgend etwas essen, ehe er wieder abritt. So trat er in ein Gasthaus ein, das er am Morgen gesehen hatte. Dort hatten sich so viele Menschen und eine solche Masse Offiziere eingefunden, die, ebenso wie auch er, in Zivil hierher gekommen waren, daß er nur mit Mühe und Not ein Mittagessen erhalten konnte. Zwei Offiziere von seiner Division gesellten sich zu ihm. Natürlicherweise sprach man nur vom Frieden. Die beiden Offiziere, Rostows Kameraden, waren, wie ein großer Teil des Heeres überhaupt, mit diesem Frieden, der nach der Schlacht bei Friedland geschlossen worden war, nicht einverstanden. Sie meinten, wenn man sich noch gehalten hätte, wäre Napoleon verloren gewesen, da seine Truppen weder Zwieback noch Munition mehr gehabt hätten. Nikolaj nahm schweigend seine Mahlzeit ein und trank vor allen Dingen. Er leerte für sich allein zwei Flaschen Wein. Die Gedanken, die in ihm aufgestiegen waren und arbeiteten, ohne zu einer Lösung zu gelangen, quälten ihn immer noch. Er fürchtete sich davor, sich diesen Gedanken hinzugeben, und konnte sich doch nicht von ihnen losreißen. Plötzlich aber, als eben ein Offizier gesagt hatte, er empfinde den Anblick der Franzosen wie eine Beleidigung, schrie Rostow mit einer durch nichts zu rechtfertigenden Heftigkeit los, die die Offiziere in höchstes Erstaunen versetzte.
»Wie können Sie ein Urteil darüber fällen, was besser gewesen wäre!« schrie er mit hochrotem Gesicht, da ihm alles Blut zu Kopf gestiegen war. »Wie können Sie sich über die Schritte unseres Kaisers ein Urteil erlauben? Was für ein Recht haben Sie dazu? Wir können weder den Zweck noch die Schritte unseres Kaisers verstehen.«
»Aber ich habe doch kein Wort über den Kaiser gesagt«, rechtfertigte sich der Offizier, der sich Rostows auffahrende Worte nicht anders erklären konnte als damit, daß dieser betrunken war.
Doch Rostow hörte nicht auf ihn.
»Wir sind keine Diplomaten, wir sind Soldaten und weiter nichts«, fuhr er fort. »Wird uns befohlen zu sterben, so sterben wir, werden wir bestraft, so bedeutet das eben, daß wir schuldig sind, ein Urteil steht uns nicht zu. Gefällt es dem Zaren, Bonaparte als Kaiser anzuerkennen und mit ihm ein Bündnis zu schließen, so heißt das für uns, daß dies nötig gewesen ist. Wenn wir aber anfangen wollen, selber über alles zu urteilen, und alles bekritteln, dann wird bald nichts Heiliges mehr übrigbleiben. Dann werden wir auch sagen, daß es keinen Gott mehr gibt und überhaupt nichts mehr!« schrie Nikolaj und schlug mit der Faust auf den Tisch. Seine Worte schienen den Kameraden ganz unangebracht, seinem eignen Gedankengang nach waren sie aber ganz folgerichtig. »Unsere Pflicht zu erfüllen, das ist unsere Sache, dreinzuschlagen und nicht zu grübeln, und weiter nichts!« schloß er.
»Und zu trinken!« warf einer der Offiziere ein, der keinen Streit aufkommen lassen wollte.
»Ja, und zu trinken«, pflichtete Nikolaj bei. »Heda! Noch eine Flasche!« schrie er.