Die Schlacht bei Borodino, die darauf folgende Besetzung Moskaus und dann die Flucht der Franzosen, ohne daß eine weitere Schlacht stattgefunden hätte, gehören zu den lehrreichsten Erscheinungen, die uns die Weltgeschichte bietet.
Alle Geschichtsschreiber sind darüber einig, daß sich das Wirken der Staaten und Völker nach außen hin bei Zusammenstößen durch Kriege bekundet, und daß unmittelbar auf Grund der größeren oder kleineren Erfolge im Krieg die politische Macht eines Staates oder Volkes größer oder geringer wird.
Wie seltsam es in den geschichtlichen Schilderungen auch klingen mag, daß ein König oder Kaiser, der sich mit einem anderen König oder Kaiser gezankt hat, ein Heer sammelt, sich mit dem Heer seines Feindes schlägt, den Sieg davonträgt, drei-, fünf- oder zehntausend Menschen hinmordet und sich dadurch den feindlichen Staat und ein ganzes Volk von mehreren Millionen unterwirft, wie unbegreiflich es auch ist, warum eine Niederlage des Heeres allein, also bloß eines Hundertstels der gesamten Volkskraft, einen Staat zur Unterwerfung zwingen kann – so bestätigen doch alle Tatsachen der Geschichte, soweit sie uns bekannt ist, die Richtigkeit der Behauptung, daß größere oder kleinere Erfolge im Krieg der Grund oder wenigstens die wesentlichsten Anzeichen der wachsenden oder schrumpfenden Macht eines Volkes sind. Hat das Heer einen Sieg errungen, so dehnen sich sogleich die Rechte des siegreichen Volkes auf Kosten des besiegten aus; hat es eine Niederlage erlitten, so sieht sich das ganze Volk je nach dem Grad dieser Niederlage sogleich seiner Rechte beraubt und muß sich bei einer vollständigen Niederlage seines Heeres gänzlich unterwerfen.
So war es, wie die Geschichte lehrt, von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Alle Kriege Napoleons dienen dieser Tatsache zur Bestätigung. Nach dem Grad der eignen Niederlagen verlor Österreich seine Rechte, während die Rechte und Kräfte Frankreichs dadurch wuchsen. Der Sieg der Franzosen bei Jena und Auerstedt machte der selbständigen Stellung Preußens ein Ende.
Und nun ereignet sich im Jahre 1812 plötzlich dies: die Franzosen siegen vor Moskau, nehmen die Stadt ein, und als Folge davon hört, ohne daß eine neue Schlacht geliefert worden wäre, nicht etwa Rußland auf zu existieren, sondern die sechsmalhunderttausend Mann starke französische Armee und gleich darauf das ganze Napoleonische Frankreich. Den Grundsätzen der Geschichte zuliebe den Tatsachen Gewalt anzutun und zu behaupten, das Schlachtfeld bei Borodino sei in den Händen der Russen geblieben, oder es seien nach der Einnahme Moskaus noch weitere Schlachten geschlagen worden, die die Napoleonische Armee vernichtet hätten, ist unmöglich.
Nach der Schlacht bei Borodino fand weder eine Generalschlacht noch überhaupt irgendein Zusammenstoß von Bedeutung statt, und das französische Heer hörte dennoch auf zu existieren. Was bedeutet das? Wäre dies ein Beispiel aus der Geschichte Chinas, so könnten wir sagen, dieser Fall sei kein historischer – die gewöhnliche Ausrede der Geschichtsschreiber, wenn ihnen etwas nicht in den Kram paßt –, hätte es sich um einen vorübergehenden Zusammenstoß gehandelt, an dem nur eine geringe Anzahl Truppen teilgenommen hätte, so könnten wir diese Erscheinung für eine Ausnahme halten. Aber dieses Ereignis vollzog sich vor den Augen unserer Väter, für die es über Leben und Tod ihres Vaterlandes die Entscheidung brachte, und dieser Kampf war einer der größten aller Kriege, die wir kennen,
Die Periode im Feldzug des Jahres 1812 von der Schlacht bei Borodino bis zur Vertreibung der Franzosen hat bewiesen, daß eine gewonnene Schlacht nicht nur kein Grund zu Eroberungen, sondern nicht einmal ein zuverlässiges Anzeichen dafür ist, und daß die Kraft, die das Schicksal der Völker entscheidet, nicht auf Eroberungen, ja nicht einmal auf Armeen und Schlachten fußt, sondern auf etwas ganz anderem.
Französische Geschichtsschreiber, die uns die Lage ihrer Armee vor dem Abmarsch aus Moskau schildern, behaupten, daß bei diesem großen Heer mit Ausnahme der Kavallerie, Artillerie und des Trains alles in Ordnung gewesen sei, es habe eben nur an Futter für Pferde und Zugtiere gefehlt. Und diesem Mangel sei auch nicht abzuhelfen gewesen, da die Bauern der Umgegend ihr Heu verbrannt hätten, statt es den Franzosen auszuliefern.
Die gewonnene Schlacht zeitigte nicht die gewohnten Resultate, weil die Bauern Karp und Wlas, die nach dem Einzug der Franzosen mit ihren Fuhrwerken nach Moskau kamen, um in der Stadt zu plündern, und die auch sonst keine heldenmütigen Gefühle an den Tag legten, ihr Heu ebenso wie die ungezählten anderen Bauern für all das gute Geld, das man ihnen bot, nicht in die Stadt fuhren, sondern lieber verderben ließen oder verbrannten.
Stellen wir uns zwei Männer vor, die nach allen Regeln der Fechtkunst mit dem Degen ein Duell ausfechten. Der Kampf hat schon eine ziemliche Weile gedauert. Da fühlt sich der eine verwundet, sieht ein, daß es kein Scherz ist, sondern um Leben und Tod geht, wirft den Degen beiseite, greift nach dem ersten besten Knüppel und fängt an, mit diesem um sich zu schlagen. Stellen wir uns weiter vor, daß dieser Kämpfer, der sich so vernünftig des besten und einfachsten Mittels zur Erreichung seines Zweckes bedient hat, später, weil er für die Überlieferungen des Rittertums schwärmt, den wahren Sachverhalt verheimlichen und darauf bestehen wollte, daß er den Sieg nach allen Regeln der Kunst mit dem Degen errungen habe. Man kann sich vorstellen, was für eine Verwirrung und Unklarheit aus einer solchen Darstellung des Duells entspringen würde.
Der Fechter, der den Kampf nach allen Regeln der Kunst herausforderte, waren die Franzosen, sein Gegner, der den Degen beiseite warf und zum Knüppel griff, waren die Russen, die Leute, die sich Mühe geben, alles nach den Regeln der Kunst zu erklären, sind die Historiker, die dieses Ereignis beschrieben haben.
Mit dem Brand von Smolensk hatte ein Krieg eingesetzt, der mit keiner Tradition früherer Kriege zu vergleichen war. Das Einäschern der Städte und Dörfer, der Rückzug nach gewonnener Schlacht, der Schlag bei Borodino und dann nochmals der Rückzug, der Brand Moskaus, das Abfangen der Marodeure, die Wegnahme von Transporten, der Freischärlerkrieg – dies alles waren Abweichungen von der Regel.
Napoleon fühlte dies, und seit der Zeit, da er sich in der regelrechten Pose eines Fechters in Moskau hingestellt und gesehen hatte, daß der Gegner statt des Degens einen Knüppel über seinem Haupt schwang, beklagte er sich ununterbrochen bei Kutusow und Kaiser Alexander darüber, daß der Krieg gegen alle Regeln geführt werde, als ob es für das Hinmorden von Menschen Regeln gäbe. Doch trotz aller Klagen der Franzosen über das Mißachten der Kriegsregeln, und obgleich es auch allen Russen höheren Standes aus irgendeinem Grund beschämend schien, mit dem Knüppel dreinzuschlagen, und sie lieber nach allen Regeln der Kunst eine Quart- oder Terzlage eingenommen oder einen kunstvollen Ausfall in der Prime gemacht hätten, erhob sich der Knüppel des Volkskrieges mit all seiner drohenden, majestätischen Kraft, fragte nach niemands Geschmack und nach keinerlei Regeln, sondern erhob sich in dummer Einfalt, aber Zweckmäßigkeit, ohne viel zu bedenken, schlug zu und verprügelte die Franzosen so lange, bis das ganze Invasionsheer niedergemacht war.
Und Dank sei unserem Volk, das nicht wie die Franzosen im Jahre 1813 nach allen Regeln der Kunst salutiert, den Degen umgewendet und ihn anmutig und höflich einem großmütigen Sieger übergeben hat, sondern im Augenblick der Prüfung, ohne zu fragen, nach welchen Regeln andere Völker in ähnlichen Fällen losgeschlagen haben, mit Einfalt und Harmlosigkeit zum ersten besten Knüppel gegriffen und mit ihm so lang losgedroschen hat, bis sich das Gefühl der Erbitterung und Rache in seiner Seele in Verachtung und Mitleid aufgelöst hatte.
Eine der handgreiflichsten und vorteilhaftesten Abweichungen von den sogenannten Kriegsregeln ist das Vorgehen Vereinzelter gegen eng zusammengeschlossene Menschenhaufen. Ein solches Verfahren tritt immer dann in Erscheinung, wenn der Krieg einen volkstümlichen Charakter annimmt. Es besteht darin, daß sich die Mannschaften, statt Haufe gegen Haufe vorzugehen, auflockern, einzeln angreifen und sofort fliehen, wenn größere Kräfte über sie herfallen, dafür aber später, sobald sich wieder eine Gelegenheit bietet, von neuem angreifen. So machten es die Guerilla-Kämpfer in Spanien[222], die Bergvölker im Kaukasus und nun auch die Russen im Jahre 1812.
Einen derartigen Krieg nannte man Freischarenkrieg in der Annahme, durch diese Bezeichnung seine Bedeutung erklärt zu haben. Indessen deckt sich diese Art der Kriegführung nicht nur mit keiner Regel, sondern läuft geradezu einer bekannten und als unfehlbar anerkannten taktischen Vorschrift zuwider. Diese Vorschrift sagt, daß der Angreifer seine Truppen zu konzentrieren habe, um im Augenblick des Zusammenpralls stärker zu sein als der Gegner.
Der Freischarenkrieg, der, wie die Geschichte lehrt, immer erfolgreich gewesen ist, schlägt ein dieser Regel geradezu entgegengesetztes Verfahren ein.
Dieser Widerspruch erklärt sich daraus, daß die Kriegswissenschaft die Kraft eines Heeres für gleichbedeutend hält mit seiner Zahl. Die Kriegswissenschaft sagt: Je größer ein Heer, desto größer die Kraft. Les gros bataillons ont toujours raison.
Wenn die Kriegswissenschaft dies behauptet, so ist dies dasselbe, wie wenn man in der Mechanik die Kräfte nur nach dem Verhältnis ihrer Masse einschätzen und sagen wollte, daß sie einander gleich oder ungleich seien, weil ihre Massen einander gleich oder ungleich sind. Kraft – das Ausmaß der Bewegung – ist Produkt aus Masse und einer Unbekannten X.
Ebenso ist beim Kriegshandwerk die Kraft der Truppen das Produkt aus Masse und einem Unbekannten X.
Da aber die Kriegswissenschaft in der Geschichte unzählige Beispiele sieht, wo sich die Masse der Truppen nicht mit ihrer Kraft deckt, wo kleine Abteilungen große besiegen, so anerkennt sie dunkel das Vorhandensein dieser unbekannten Größe und bemüht sich, sie bald in der geometrischen Aufstellung, bald in der Bewaffnung, bald – und das ist das Gewöhnlichste – in der Genialität der Heerführer zu finden. Doch das Einsetzen der Werte all dieser Koeffizienten ergibt keine mit den geschichtlichen Tatsachen übereinstimmenden Resultate.
Indessen braucht man sich nur von der feststehenden, die Helden begünstigenden, irrigen Ansicht von der Wirksamkeit der Befehle einer Oberleitung während des Krieges loszumachen, um dieses X zu finden.
Dieses X ist der Geist der Truppen, das heißt das größere oder geringere Verlangen all der Menschen, aus denen sich ein Heer zusammensetzt, zu kämpfen und Gefahren zu bestehen, völlig unabhängig davon, ob sich diese Menschen unter dem Kommando genialer oder nichtgenialer Feldherrn schlagen, in zwei oder drei Linien aufgestellt sind und mit Knüppeln oder Flinten, die dreißig Schuß in der Minute abgeben, kämpfen. Menschen, die das denkbar größte Verlangen haben, sich zu schlagen, werden sich auch immer in die allervorteilhaftesten Kampfbedingungen zu versetzen wissen.
Der Geist der Truppen ist der Multiplikator der Masse, der als Resultat die Kraft ergibt. Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Bedeutung dieses unbekannten Multiplikators, des Truppengeistes, zu bestimmen und auszudrücken.
Diese Aufgabe zu lösen wird nur dann möglich sein, wenn wir aufhören, statt der Bedeutung der Unbekannten X willkürlich jene Bedingungen einzusetzen, unter denen die Kraft zutage tritt, wie die Befehle der Heerführer, die Bewaffnung und so weiter, und sie für den Multiplikator zu halten, wenn wir dieses X in seiner ganzen Größe anerkennen, nämlich das größere oder geringere Verlangen, zu kämpfen und sich in Gefahr zu begeben. Erst wenn wir bekannte historische Tatsachen durch Gleichungen ausdrücken und den relativen Wert dieser Unbekannten vergleichen, können wir hoffen, sie selber zu bestimmen.
Zehn Mann, Bataillone oder Divisionen haben mit fünfzehn Mann, Bataillonen oder Divisionen gekämpft und den Sieg davongetragen, das heißt, sie haben alle ohne Ausnahme getötet oder gefangengenommen und selber dabei vier von ihren zehn verloren. Folglich sind auf der einen Seite vier, auf der anderen fünfzehn umgekommen. Demnach waren vier gleich fünfzehn, also 4 x = 15 y. Folglich x:y = 15:4. Diese Gleichung ergibt nicht den Wert der Unbekannten, aber sie ergibt das Verhältnis zwischen zwei Unbekannten. Bringt man nun verschiedene geschichtliche Tatsachen – Schlachten, Feldzüge, Kriegsperioden – einzeln genommen in die Form solcher Gleichungen, so erhält man eine Reihe von Zahlen, in denen die sie bedingenden Gesetze enthalten sein müssen und enthüllt werden können.
Die taktische Regel, daß man bei einem Angriff in Massen vordringen, beim Rückzug aber einzeln zurückgehen müsse, bestätigt bloß unbewußt die Wahrheit, daß die Kraft eines Heeres nur von seinem Geist abhängt. Um Menschen ins Feuer zu führen, bedarf es einer größeren, nur durch Massenbewegung zu erreichenden Disziplin als dazu, den Verfolgern zu entrinnen. Aber diese Regel, bei der der Geist der Truppen ganz außer acht gelassen wird, erweist sich ständig als falsch und widerspricht der Wirklichkeit besonders auffällig in allen jenen Fällen, wo ein starker Aufschwung oder Verfall des Truppengeistes in Erscheinung tritt: bei allen Volkskriegen.
Obgleich sich nun nach dieser taktischen Regel die Franzosen bei ihrem Rückzug 1812 einzeln hätten zurückziehen müssen, drängen sie sich doch in Haufen zusammen, weil der Geist ihrer Truppen so gesunken ist, daß nur noch die Masse sie zusammenzuhalten vermag. Und die Russen, die umgekehrt der taktischen Regel nach in Massen hätten angreifen müssen, gehen in Wirklichkeit einzeln vor, weil ihr Geist so gehoben ist, daß selbst einzelne Leute, ohne daß jemand es ihnen befohlen oder sie dazu gezwungen hätte, auf die Franzosen losschlagen und sich allen Mühen und Gefahren unterziehen.
Der sogenannte Freischarenkrieg hatte begonnen, als der Feind in Smolensk eingezogen war.
Doch schon bevor diese Art des Kämpfens von unserer Regierung offiziell anerkannt worden war, hatten Kosaken und Bauern Tausende von Leuten der feindlichen Armee – Zurückgebliebene, Marodeure und Lastfahrer – ebenso instinktmäßig niedergeschlagen, wie Hunde einen zugelaufenen tollen Hund totbeißen. Denis Dawydow mit seinem russischen Urgefühl begriff als erster die ganze Bedeutung dieses furchtbaren Knüppels, der, ohne nach den Regeln der Kriegskunst zu fragen, die Franzosen niedermachte, und ihm gebührt der Ruhm, den ersten Schritt getan zu haben, um dieser Methode der Kriegführung Anerkennung zu verschaffen.
Am 24. August bildete sich unter Dawydow[223] die erste Freischar, und bald darauf entstanden viele andere. Je länger sich der Krieg hinzog, um so größer wurde die Zahl dieser Scharen.
Die Freischärler vernichteten die große Armee Stück für Stück. Sie suchten sich die welken Blätter aus, die von selbst von dem vertrockneten Baum, dem französischen Heer, abfielen, und schüttelten auch mitunter an diesem Baum selber. Im Oktober, also zu der Zeit, als die Franzosen nach Smolensk zurückflohen, gab es Hunderte solcher Freischaren von verschiedener Größe und Art. Es gab Abteilungen, die alle Gliederungen der Armee übernommen hatten, mit Infanterie, Artillerie, Generalstab und allen sonstigen Annehmlichkeiten des Lebens, dann wieder Abteilungen, die nur aus reitenden Kosaken bestanden, kleine, aus Fußvolk und Reitern gemischt, und Abteilungen von Bauern und Gutsbesitzern, von denen niemand etwas wußte. Da war ein Küster Anführer einer Freischar, die in einem Monat mehrere hundert Gefangene einbrachte, da war eine Dorfschulzenfrau Wassilissa[224], die Hunderte von Franzosen niedermachte.
Die letzten Tage des Oktober bildeten für diesen Krieg den Höhepunkt. Jene erste Periode des Krieges, in der die Freischärler noch selber über ihre Kühnheit gestaunt und jeden Augenblick gefürchtet hatten, von den Franzosen umringt und gefangen zu werden, in der sie nicht aus dem Sattel gekommen waren und sich, immer der Verfolgung gewärtig, zu Pferd in den Wäldern versteckt hatten – jene Periode war nun vorüber. Jetzt hatte diese Kriegführung schon klare Formen angenommen: alle wußten, was man sich gegen die Franzosen herausnehmen durfte und was nicht. Jetzt hielten nur noch jene Freischaren vieles für unmöglich, die mit einem Generalstab und nach allen Regeln der Kriegskunst arbeiteten und sich weitab von den Franzosen befanden. Die kleinen jedoch, denen das Handwerk schon vertraut war und die sich die Franzosen schon oft aus der Nähe angesehen hatten, hielten selbst das für möglich, woran die Führer großer Abteilungen nicht einmal zu denken wagten. Und nun gar die Kosaken und Bauern, die zwischen den Franzosen herumschlichen, die waren bereits der Ansicht, daß jetzt schlechterdings alles möglich sei.
Am 22. Oktober befand sich Denissow, der Anführer einer Freischar war, mit seinen Leuten auf dem Gipfel der Freischärlerbegeisterung. Seit dem frühen Morgen war er mit seinem Zug unterwegs. Den ganzen Tag über hatte er in den Wäldern, die sich neben der Heerstraße hinzogen, einen großen französischen Transport von Kavalleriebagage und russischen Gefangenen verfolgt, der sich von den anderen Truppen gelöst hatte und unter starker Bedeckung, wie ihm durch Kundschafter und Gefangene hinterbracht worden war, nach Smolensk vorrückte. Von diesem Transport wußten nicht nur Denissow und Dolochow, der ebenfalls ein kleines Freikorps unter sich hatte, das sich in Denissows Nähe befand, sondern auch die Befehlshaber größerer Abteilungen mit Generalstäben. Sie alle hatten von diesem Transport Kenntnis und wetzten sich, wie Denissow sagte, schon die Zähne danach. Zwei dieser großen Abteilungsführer, der eine ein Pole, der andere ein Deutscher, hatten fast gleichzeitig an Denissow die Aufforderung ergehen lassen, sich mit ihrer Abteilung zu vereinigen, um gemeinsam den Transport zu überfallen.
»Nein, Freundchen, selbst ist der Mann«, sagte Denissow, nachdem er diese Briefe gelesen hatte, und schrieb dem Deutschen, er müsse trotz des sehnlichsten Wunsches, unter dem Oberbefehl eines so hervorragenden, berühmten Generals zu dienen, dennoch auf dieses Glück verzichten, weil er sich bereits unter das Kommando des polnischen Generals gestellt habe. Dem polnischen General schrieb er ganz ebenso und versicherte ihm, er habe sich bereits unter den Oberbefehl des Deutschen gestellt.
Wenn Denissow so verfuhr, hatte er dabei die Absicht, diesen Transport mit Dolochow zusammen mit den eigenen schwachen Streitkräften anzugreifen und wegzunehmen, ohne diesen hohen Befehlshabern davon Meldung zu machen. Der Transport marschierte am 22. Oktober vom Dorf Mikulino nach dem Dorf Schamschewo. Links der Straße, die von Mikulino nach Schamschewo führt, zogen sich große Wälder hin, die an manchen Stellen bis dicht an die Straße heranreichten, an anderen Stellen wiederum eine Werst und noch weiter zurücktraten. Durch diese Wälder war nun Denissow den ganzen Tag, ohne die vorrückenden Franzosen aus den Augen zu lassen, mit seinen Leuten geritten, bald tief ins Innere eindringend, bald bis zum Saum sich hervorwagend. Am Morgen hatten einige Kosaken seiner Abteilung nicht weit von Mikulino, dort, wo der Wald dicht an die Straße herantritt, zwei im Morast steckengebliebene französische Fuhrwerke mit Kavalleriesätteln weggenommen und in den Wald geschleppt. Von diesem Augenblick an bis zum Abend hatte die Freischar, ohne anzugreifen, alle Bewegungen der Franzosen verfolgt. Man wollte sie nicht erschrecken und ruhig bis nach Schamschewo kommen lassen, dann aber zusammen mit Dolochow, der gegen Abend zu einer Beratung in das eine Werst von Schamschewo entfernte Wächterhäuschen im Wald kommen sollte, beim Morgengrauen mit elementarer Kraft von zwei Seiten über sie herfallen und alle niederhauen oder gefangen nehmen.
Im Rücken, zwei Werst von Mikulino, dort, wo der Wald dicht an die Straße herantrat, waren sechs Kosaken zurückgelassen, die augenblicklich Meldung erstatten sollten, falls sich neue französische Kolonnen zeigen sollten.
Vor Schamschewo sollte Dolochow in gleicher Weise den Weg auskundschaften, um zu wissen, in welcher Entfernung sich etwa andere französische Truppen befänden. Den Transport schätzte man auf fünfzehnhundert Mann. Denissow hatte zweihundert Mann, Dolochow wohl ebensoviel. Aber die Überlegenheit an Zahl schreckte Denissow nicht zurück. Das einzige, was er noch wissen mußte, war, mit was für Truppen er es eigentlich zu tun hatte, und zu diesem Zweck brauchte er einen »Aussager«, das heißt einen Mann von der feindlichen Kolonne. Bei dem Überfall auf die Fuhrwerke am Morgen war die Sache so schnell gegangen, daß die auf dem Wagen befindlichen Franzosen alle getötet worden waren und man nur einen jungen Burschen, einen Tambour, lebend aufgegriffen hatte, der völlig erschöpft war und nichts Bestimmtes darüber aussagen konnte, was für Truppen bei der Kolonne waren.
Ein zweites Mal anzugreifen, hielt Denissow für gefährlich: die ganze Kolonne konnte dadurch beunruhigt werden, und deshalb schickte er den Bauer Tichon Schtscherbaty, der sich bei seiner Freischar befand, nach Schamschewo vor, damit er, wenn möglich, wenigstens einen der dort schon anwesenden französischen Quartiermacher wegfange.
Es war ein kühler, regnerischer Herbsttag. Himmel und Horizont verschwammen in derselben Farbe, in der Farbe schmutzigen Wassers. Bald war es, als fiele nur Nebel herab, bald strömte auf einmal schräger, heftiger Regen nieder.
Denissow, in Filzmantel und Fellmütze, von denen das Wasser troff, ritt auf einem mageren Rassegaul mit strammen Schenkeln. Ebenso wie sein Pferd, das den Kopf schräg hielt und die Ohren zurückgelegt hatte, zog auch er infolge des schiefen Regens die Stirne kraus und blickte achtsam nach vorn. Sein abgemagertes, von dichtem, kurzem, schwarzem Bart umrahmtes Gesicht zeigte einen ärgerlichen Ausdruck.
Neben ihm, ebenfalls in Filzmantel und Fellmütze, ritt auf einem wohlgenährten, kräftigen Donpferd ein Kosakenhauptmann, Denissows rechte Hand.
Dieser Kosakenhauptmann Lowaiskij, in Filzmantel und Fellmütze, war ein langer blonder Mensch, platt wie ein Brett, mit fahlem Gesicht, kleinen, hellen Augen und einem ruhigen, selbstzufriedenen Ausdruck in Miene und Haltung. Obgleich man nicht sagen konnte, worin bei diesem Reiter und seinem Pferd das Besondere bestand, sah man, wenn man die beiden betrachtete, doch auf den ersten Blick, daß Denissow, naß und unbehaglich, wie er sich fühlte, eben ein Mensch war, der auf einem Pferd saß, während ein Blick auf den Kosakenhauptmann zeigte, daß dieser sich ebenso behaglich und ruhig wie immer fühlte und Pferd und Reiter zu einem einzigen, durch die doppelte Kraft stärker gewordenen Wesen verschmolzen waren.
Ein wenig vor ihnen ging, völlig durchnäßt, ein Bauer in grauem Kaftan und weißer Zipfelmütze, der ihnen den Weg zeigte.
Dicht hinter ihnen ritt auf einem dünnen, schlanken Kirgisenpferdchen mit langem Schweif, großer Mähne und blutig gerissenem Maul ein junger Offizier in blauem Franzosenmantel.
Ein Husar neben ihm hatte hinter sich auf der Kruppe seines Pferdes einen Knaben in zerrissener französischer Uniform und blauer Mütze sitzen. Der Knabe hielt sich mit seinen vor Kälte roten Händen an dem Husaren fest, suchte seine nackten Beine durch Schütteln zu erwärmen und sah sich mit hochgezogenen Brauen verwundert um. Es war der kleine französische Tambour, den man am Morgen gefangengenommen hatte.
Dann folgten auf dem schmalen, zerweichten, ausgefahrenen Waldweg zu dreien und vieren in langem Zug Husaren und Kosaken, einige in Filzröcken, andere in Franzosenmänteln oder Pferdedecken, die sie über den Kopf geworfen hatten. Die Pferde, ob es nun Füchse oder Braune waren, sahen vom Regen, der an ihnen niedertroff, alle wie Rappen aus. Ihre Hälse schienen infolge der durchnäßten Mähnen merkwürdig dünn. Ein warmer Dampf stieg von ihnen auf. Kleider, Sättel, Zügel, alles war naß, schlüpfrig und zerweicht wie die Erde und die abgefallenen Blätter, die auf dem Weg lagen. Die Leute hockten, ohne sich zu rühren, zusammengekauert auf ihren Pferden, um das Wasser, das ihnen bis auf den Körper gedrungen war, zu erwärmen und das neue kalte, das unter dem Sitz, auf den Knien und am Hals zusammenlief, nicht einzulassen. Mitten im Zug der Kosaken polterten die zwei Fuhrwerke mit den französischen Pferden, denen man gesattelte Kosakenpferde vorgespannt hatte, über Baumstümpfe und Wurzeln hinweg und plantschten durch die mit Wasser gefüllten Fahrrinnen.
Um einer Pfütze am Weg auszuweichen, sprang Denissows Pferd zur Seite, so daß er mit dem Knie gegen einen Baum stieß.
»Du Teufelsbiest!« schrie Denissow zornig, preßte die Zähne aufeinander und versetzte dem Tier drei Peitschenhiebe, wobei er sich und seine Gefährten mit Schmutz bespritzte.
Denissow war verstimmt: einmal, weil es regnete, dann, weil er Hunger hatte – er hatte seit dem Morgen nichts gegessen –, hauptsächlich aber, weil von Dolochow bis jetzt noch keine Nachricht gekommen und der Bauer, den er fortgeschickt hatte, um einen »Aussager« einzufangen, noch nicht zurückgekehrt war.
Wird wohl kaum wiederkommen, eine solche Gelegenheit wie heute, einen Transport zu überfallen. Doch allein über ihn herzufallen ist zu gewagt, verschiebe ich es aber auf einen anderen Tag, so schnappt mir ein größeres Freikorps die Beute vor der Nase weg, dachte Denissow und spähte unentwegt nach vorn in der Hoffnung, den erwarteten Boten Dolochows zu erblicken.
Als sie an eine Lichtung gekommen waren, durch die man weit nach rechts sehen konnte, machte Denissow halt.
»Dort kommt jemand geritten«, sagte er.
Der Kosakenhauptmann blickte in die Richtung, die Denissow angegeben hatte.
»Es sind ihrer zwei, ein Offizier und ein Kosak. Aber es ist wenig Eventualität, daß es der Oberstleutnant selber ist«, erwiderte der Kosakenhauptmann, der gern Worte gebrauchte, die den Kosaken nicht geläufig sind.
Die Reiter ritten einen Berg hinunter und kamen außer Sicht. Doch nach einigen Minuten zeigten sie sich wieder. Voran ritt in müdem Galopp, das Pferd mit der Nagaika antreibend, ein Offizier, völlig durchnäßt und mit wirrem Haar, die Hosen vom Reiten bis über die Knie hochgeschoben. Ihm folgte, in den Steigbügeln stehend, im Trabe ein Kosak. Der Offizier, ein ganz junges Kerlchen mit breitem, rotbäckigem Gesicht und flinken, lustigen Augen, sprengte auf Denissow zu und überreichte ihm einen durchnäßten Brief.
»Vom General«, meldete der Offizier. »Verzeihen Sie, daß er nicht ganz trocken …«
Denissow machte ein finsteres Gesicht, nahm den Brief und öffnete ihn.
»Da haben mir nun alle gesagt, es sei gefährlich, sehr gefährlich«, fing der kleine Offizier mit dem Kosakenhauptmann eine Unterhaltung an, während Denissow den Brief las. »Übrigens waren wir nicht unvorbereitet, ich und Komarow.« Er zeigte auf den Kosaken. »Jeder hat zwei Pistolen … Aber wer ist denn das?« fragte er und zeigte auf den französischen Tambour. »Ein Gefangener? Waren Sie denn schon im Gefecht? Darf man mit ihm reden?«
»Rostow! Petja!« rief in diesem Augenblick Denissow aus, nachdem er den Brief überflogen hatte. »Aber warum sagst du denn nicht, wer du bist?« Und Denissow wandte sich lächelnd um und streckte dem kleinen Offizier die Hand entgegen.
Der Offizier war Petja Rostow.
Den ganzen Tag über hatte er sich darauf vorbereitet, wie er sich, ohne seine frühere Bekanntschaft zu erwähnen, gegen Denissow verhalten wollte, ganz wie es einem Erwachsenen und Offizier gezieme. Doch kaum hatte Denissow ihm zugelächelt, fing Petja sogleich an zu strahlen, wurde ganz rot vor Freude, vergaß sein vorbereitetes feierliches Auftreten und fing an zu erzählen, wie er an den Franzosen vorbeigeritten sei, wie froh er sei, einen solchen Auftrag erhalten zu haben, daß er schon mit in der Schlacht bei Wjasma gewesen sei, wo ein Husar sich ganz besonders ausgezeichnet habe, und so weiter, und so weiter.
»Na, ich freue mich, dich zu sehen«, unterbrach ihn Denissow, und sein Gesicht nahm wieder einen besorgten Ausdruck an.
»Michail Feoklitytsch«, wandte er sich an den Kosakenhauptmann, »das ist schon wieder von dem Deutschen. Dieser junge Offizier steht bei ihm.«
Und Denissow erzählte dem Kosakenhauptmann den Inhalt des soeben überbrachten Schreibens, der in einer nochmaligen Aufforderung des deutschen Generals bestand, mit ihm zusammen den Transport zu überfallen.
»Wenn wir ihn morgen nicht nehmen, schnappt der ihn uns vor der Nase weg«, schloß er.
Während Denissow mit dem Kosakenhauptmann sprach, streifte Petja, durch Denissows kalten Ton in Verwirrung gebracht und in der Annahme, der Zustand seiner Hosen sei die Ursache davon, unter dem Mantel verstohlen, damit es niemand merke, seine hochgeschobenen Hosen herunter und gab sich dabei alle Mühe, so militärisch wie möglich auszusehen.
»Haben Euer Hochwohlgeboren Befehle?« fragte er Denissow, wobei er die Hand an den Mützenschirm legte und wieder den Adjutanten seines Generals spielte, wie er sich vorgenommen hatte. »Oder soll ich bei Euer Hochwohlgeboren bleiben?«
»Befehle?« wiederholte Denissow nachdenklich. »Ja, darfst du denn bis morgen hier bleiben?«
»Ach bitte … lassen Sie mich hier bleiben!« rief Petja aus.
»Ja, was hat dir denn der General befohlen? Sollst du gleich zurückkommen?« fragte Denissow.
Petja wurde rot.
»Er hat mir gar nichts ausdrücklich befohlen. Ich denke, ich darf?« erwiderte er fragend.
»Na schön«, sagte Denissow.
Dann wandte er sich zu seinen Untergebenen und gab den Befehl, daß der Zug sich nach dem Rastort bei dem bezeichneten Wächterhäuschen im Wald begeben solle und daß der Offizier auf dem Kirgisenpferd – er hatte den Adjutantenposten inne – zu Dolochow reiten und fragen solle, ob und wohin er am Abend kommen werde. Denissow selber beabsichtigte mit dem Kosakenhauptmann und Petja bis an den nach Schamschewo zu gelegenen Waldsaum hinauszureiten, um von dort aus die Stelle des feindlichen Lagers in Augenschein zu nehmen, gegen die der Angriff morgen gerichtet werden sollte.
»Na, Graubart«, wandte er sich an den Führer, den Bauern, »nun bring uns mal nach Schamschewo.«
Darauf ritten Denissow, Petja und der Kosakenhauptmann, begleitet von einigen Kosaken und dem Husaren, der den Gefangenen mit sich führte, nach links durch eine Schlucht dem Waldrand zu.
Der Regen hatte aufgehört, nur der Nebel fiel, und das Wasser tropfte von den Zweigen der Bäume. Denissow, der Kosakenhauptmann und Petja ritten schweigend hinter dem Bauern in der Zipfelmütze her, der mit seinen umwickelten, in Bastschuhen steckenden Beinen leicht und geräuschlos über die Wurzeln und nassen Blätter dahinschritt, um Denissow nach dem Waldrand zu führen.
Als sie an einen Abhang gekommen waren, blieb der Bauer stehen, sah sich um und wandte sich dorthin, wo die Bäume spärlicher standen. Unter einer großen Eiche, die noch kein Blatt verloren hatte, machte er abermals halt und winkte die andern geheimnisvoll mit der Hand herbei.
Denissow und Petja ritten zu ihm hin. Von der Stelle, wo der Bauer stehen geblieben war, konnte man die Franzosen sehen. Gleich hinter dem Wald zog sich, nach unten abfallend, ein Stoppelfeld hin. Zur Rechten, hinter der steilen Schlucht, sah man ein kleines Dorf und ein Herrenhaus mit beschädigten Dächern. In diesem Dörfchen, im Herrenhaus, die ganze Anhöhe hinauf, im Garten, am Brunnen und am Teich und überall auf dem Weg, der über die Brücke zum Dorf hinaufführte, sah man in einer Entfernung von nicht mehr als vier- bis fünfhundert Metern in dem wogenden Nebel eine Masse Menschen. Man hörte deutlich, wie sie in nichtrussischer Sprache die Pferde anschrien, die mit den Fuhrwerken den Berg hinaufkeuchten, und wie sie einander allerlei zuriefen.
»Bringt den Gefangenen hierher«, sagte Denissow leise, ohne die Franzosen aus den Augen zu lassen.
Ein Kosak sprang vom Pferd, nahm den Knaben und trat mit ihm zu Denissow. Dieser zeigte auf die Franzosen und fragte, was für Truppen diese und jene seien. Der Knabe, der seine erstarrten Hände in die Taschen gesteckt hatte, blickte Denissow mit zusammengezogenen Brauen ängstlich an, gab, obgleich er offenbar den Wunsch hatte, alles zu sagen, was er wußte, doch nur verwirrte Antworten und bestätigte nur, was Denissow bereits in seine Fragen hineingelegt hatte. Denissow drehte ihm mit finsterem Gesicht den Rücken und wandte sich an den Kosakenhauptmann, dem er seine Ansichten mitteilte.
Petja drehte flink seinen Kopf hin und her und blickte, bemüht, nichts Wichtiges zu versäumen, bald auf den kleinen Tambour, bald auf Denissow, bald auf den Kosakenhauptmann und bald auf die Franzosen, die den Weg entlang nach dem Dorf zogen.
»Ob nun Dolochow kommt oder nicht, nehmen müssen wir den Transport! … Nicht wahr?« sagte Denissow mit lustig blitzenden Augen.
»Die Stelle ist günstig«, erwiderte der Kosakenhauptmann.
»Die Infanterie schicken wir dort unten vor, durch die Sümpfe«, fuhr Denissow fort. »Die schleichen bis an den Garten heran. Sie mit ihren Kosaken reiten dort herum«, Denissow zeigte auf einen Wald hinter dem Dorf, »und ich mit meinen Husaren hier. Und dann auf einen Schuß …«
»Durch das Tal wird es nicht gehen, dort ist Sumpf«, erwiderte der Kosakenhauptmann. »Da bleiben die Pferde stecken, wir müssen mehr nach links …«
Während sie so halblaut miteinander sprachen, krachte unten im Tal am Teich ein Schuß, ein Rauchwölkchen stieg auf, dann knallte es noch einmal, und man hörte das freudige, einstimmige Aufschreien von Hunderten von Franzosen, die sich auf dem Abhang befanden. Im ersten Augenblick fuhren Denissow und der Kosakenhauptmann zurück. Sie waren so nahe, daß es ihnen vorkam, als seien sie der Grund dieser Schüsse und dieses Geschreis. Doch das Schießen und Schreien galt nicht ihnen: unten durch die Sümpfe lief ein Mann, der etwas Rotes anhatte. Offenbar schossen und schrien die Franzosen seinetwegen.
»Das ist ja unser Tichon«! rief der Kosakenhauptmann.
»Bei Gott, das ist er!«
»So ein Halunke!« brummte Denissow.
»Er kommt durch!« rief der Kosakenhauptmann und kniff die Augen zusammen.
Der Mann, den sie Tichon nannten, lief an den kleinen Fluß und stürzte sich hinein, daß das Wasser hoch aufspritzte. Eine Weile blieb er verschwunden, dann kroch er, ganz schwarz vom Schlamm, auf allen vieren wieder ans Ufer und lief weiter. Die Franzosen, die hinter ihm her waren, machten halt.
»Ein Sapperlotskerl!« sagte der Kosakenhauptmann.
»So eine Bestie!« murmelte Denissow mit demselben ärgerlichen Ausdruck.
»Was hat er nur so lange gemacht?«
»Wer ist denn das?« fragte Petja.
»Das ist unser Schleichposten. Ich hatte ihn ausgeschickt, um einen ›Aussager‹ zu fangen.«
»Ach so, ja, ja«, sagte Petja und nickte schon bei Denissows ersten Worten, als sei ihm alles klar, obgleich er in Wirklichkeit gar nichts davon verstand.
Tichon Schtscherbaty war einer der nützlichsten Leute in der ganzen Freischar. Er war ein Bauer aus Pokrowskoje bei Gshatj. Als Denissow zu Anfang seiner Tätigkeit nach Pokrowskoje gekommen war und, wie immer, den Dorfschulzen gerufen und gefragt hatte, was ihm über die Franzosen bekannt sei, hatte dieser, als wolle er sich entschuldigen, wie alle Schulzen, zur Antwort gegeben, er wisse von nichts und habe nichts gesehen. Doch nachdem Denissow ihm erklärt hatte, sein Ziel sei, die Franzosen zu schlagen, und an ihn die Frage gerichtet hatte, ob der Feind sich nicht auch hier gezeigt habe, antwortete der Schulze, »Mirodeure« seien allerdings dagewesen, aber bei ihnen im Dorf gebe sich nur ein Mann mit solchen Dingen ab, und das sei Tischka Schtscherbaty. Denissow ließ nun diesen Tichon zu sich rufen, lobte ihn wegen seines Eifers und sagte in Gegenwart des Schulzen noch ein paar Worte über Treue gegen Kaiser und Vaterland und Haß gegen die Franzosen, deren sich alle Söhne Rußlands zu befleißigen hätten.
»Wir tun den Franzosen nichts Böses«, erklärte Tichon, der durch diese Worte Denissows sichtlich zaghaft geworden war. »Wir haben nur sozusagen aus Liebhaberei mit diesen Bürschchen unsern Schabernack getrieben. ›Mirodeure‹ haben wir allerdings zu Dutzenden totgeschlagen, aber etwas Böses haben wir ihnen nicht angetan …«
Als Denissow, der diesen Bauer bereits vollständig vergessen hatte, am nächsten Tag von Pokrowskoje aufbrach, wurde ihm gemeldet, Tichon sei bei der Freischar geblieben und bitte, mitziehen zu dürfen. Denissow befahl, ihn unter seinen Leuten zu lassen.
Tichon, der anfänglich mit groben Arbeiten wie Feuer anzünden, Wasser holen, Pferde abhäuten und dergleichen beschäftigt wurde, legte bald große Lust und Fähigkeit zum Freischärlerkrieg an den Tag. Nachts ging er auf Beute aus und brachte jedesmal französische Uniformen oder Waffen mit und, wenn es ihm befohlen worden war, auch Gefangene. Denissow befreite Tichon von den schweren Arbeiten, nahm ihn mit sich auf Patrouille und zählte ihn den Kosaken bei.
Tichon saß nicht gern auf einem Pferd, ging lieber zu Fuß, blieb aber nie hinter den Berittenen zurück. Seine Waffenausrüstung bestand aus einer Muskete, die er mehr zum Spaß trug, einer Pike und einem Beil, das er zu handhaben verstand wie ein Wolf seine Zähne, mit denen dieser ebenso leicht einen Floh aus seinem Fell holt, wie er dicke Knochen zerbeißt. So spaltete Tichon, weit ausholend, mit seinem Beil gleich sicher einen Balken, wie er, das Beil am Kopf fassend, feine Holzkeile schnitt und Löffel schnitzte. In Denissows Freischar nahm er eine Ausnahmestellung ein. Sollte etwas besonders Schwieriges und Garstiges ausgeführt werden: war eine Fuhre, die im Schmutz steckengeblieben war, durch Anstemmen der Schulter wieder flottzumachen, war ein Gaul am Schwanz aus dem Sumpf zu ziehen, ein totes Pferd abzuhäuten, sollte einer mitten unter die Franzosen schleichen oder fünfzig Werst an einem Tag zurücklegen, so wiesen alle immer lachend auf Tichon.
»Was macht das diesem Satan aus, der mit seiner Pferdenatur«, sagte man von ihm.
Einmal hatte ein Franzose, den Tichon zum Gefangenen gemacht hatte, mit der Pistole auf ihn geschossen und ihn in die Weichteile des Rückens getroffen. Diese Wunde, die Tichon von außen wie von innen nur mit Branntwein heilte, wurde zum Gegenstand der lustigsten Späße in der ganzen Abteilung, auf die Tichon auch selber gern einging.
»Na, Bruder, hast wohl nun die Nase voll? Hat’s bei dir eingeschlagen?« fragten ihn lachend die Kosaken.
Tichon krümmte sich übertrieben, zog Grimassen, stellte sich grimmig und schimpfte in den komischsten Redewendungen auf die Franzosen. Doch dieser Vorfall hatte auf Tichon den Einfluß, daß er nach seiner Verwundung seltener Gefangene einbrachte.
Tichon war der nützlichste und tapferste Mensch in der ganzen Freischar. Niemand entdeckte öfter Gelegenheiten zu Überfällen, niemand fing und erschlug mehr Franzosen als er, und infolgedessen war er der Possenreißer für alle Kosaken und Husaren und spielte selbst gern diese Rolle. Auch jetzt hatte Denissow Tichon noch in der Nacht nach Schamschewo geschickt, um einen »Aussager« zu fangen. War er nun mit nur einem Franzosen nicht zufrieden gewesen oder hatte er es in der Nacht verschlafen – genug, er war am Tag durchs Gebüsch mitten unter die Franzosen geschlichen und nun, wie Denissow vom Berg aus sah, von ihnen entdeckt worden.
Nachdem Denissow noch einige Zeit mit dem Kosakenhauptmann über den Überfall von morgen gesprochen hatte, zu dem er jetzt bei der Nähe der Franzosen endgültig entschlossen zu sein schien, wandte er sein Pferd und ritt zurück.
»Na, Bruder, jetzt wollen wir zureiten und uns trocknen«, sagte er zu Petja.
Auf dem Weg nach dem Wächterhäuschen im Wald machte Denissow plötzlich noch einmal halt und spähte in den Wald hinein. Zwischen den Bäumen ging mit großen leichten Schritten ein Mann mit langen Beinen und langen, pendelnden Armen in Jacke, Bastschuhen und Kasanschem Hut dahin, eine Flinte über der Schulter und ein Beil im Gürtel. Als dieser Mann Denissow erblickte, warf er eilig etwas in die Büsche, nahm seinen nassen Hut mit der herunterhängenden Krempe ab und trat auf den Vorgesetzten zu. Es war Tichon. Sein pockennarbiges faltiges Gesicht mit den kleinen, zusammengekniffenen Augen strahlte selbstzufrieden und froh. Er warf den Kopf zurück und blickte Denissow starr an, als ob er ein Lachen unterdrücken wollte.
»Na, wo hast du dich herumgetrieben?« fragte Denissow.
»Wo ich mich herumgetrieben habe? Hinter den Franzosen her«, erwiderte Tichon dreist und schnell mit seiner heiseren, singenden Baßstimme.
»Warum bist du denn am Tag hingeschlichen? Du Rindvieh! Na, und wie ist’s? Hast du keinen erwischt?«
»Erwischt schon«, sagte Tichon.
»Wo ist er denn?«
»Ich kriegte ihn gleich zuallererst beim Morgengrauen zu packen«, fuhr Tichon fort und stellte seine flachen, umwickelten Beine in den Bastschuhen noch breiter auseinander, »ja, und schleppte ihn in den Wald. Ich sehe ihn mir an: nichts Gescheites. Na, denke ich, läufst wieder runter und holst dir einen besseren.«
»So ein Halunke, wahrhaftig«, sagte Denissow zu dem Kosakenhauptmann.
»Warum hast du denn den nicht hergebracht?«
»Wozu ihn herbringen?« unterbrach ihn Tichon hastig und ärgerlich. »Er taugte ja nichts. Weiß ich etwa nicht, was für einen ihr braucht?«
»So eine Bestie!… Nun, und?«
»Ich ging also hin, um einen anderen zu holen«, fuhr Tichon fort, »schlich durch den Wald und legte mich so hin.« Tichon warf sich plötzlich geschickt auf den Bauch, um anschaulich darzustellen, wie er das gemacht hatte. »Da kommt auch einer gegangen«, fuhr er fort. »Ich so auf ihn zu und kriege ihn zu packen.« Tichon sprang schnell und leichtfüßig auf. »Komm mit, sage ich, zum Oberst. Fängt der Kerl an zu brüllen! Gleich waren ihrer viere zur Stelle. Fallen mit ihren elenden kleinen Säbeln über mich her. Ich aber mit meinem Beil so auf sie los: nun aber, gnade euch Gott!« schrie Tichon, fuchtelte mit den Armen und warf sich mit drohend gefalteter Stirn in die Brust.
»Ja, ja, wir haben es von oben mit angesehen, wie du durch die Pfützen hindurch das Hasenpanier ergriffen hast«, warf der Kosakenhauptmann ein und kniff seine lustigen Augen zusammen.
Petja hätte am liebsten laut aufgelacht, aber er sah, daß sich alle anderen das Lachen verbissen. Schnell ließ er seine Augen von Tichons Gesicht auf Denissow und den Kosakenhauptmann hinübergleiten, ohne zu begreifen, was dies alles zu bedeuten hatte.
»Spiel doch nicht immer den Hanswurst«, sagte Denissow, ärgerlich hüstelnd. »Warum hast du den ersten nicht hergebracht?«
Tichon kratzte sich mit der einen Hand den Rücken, mit der anderen den Kopf, und plötzlich verzog sich seine ganze Fratze zu einem strahlenden, dummen Lächeln, so daß seine Zahnlücke sichtbar wurde. Davon hatte er seinen Namen, Schtscherbaty, das heißt der mit der Zahnlücke. Denissow lächelte und Petja brach in lustiges Gelächter aus, in das auch Tichon nun selber mit einstimmte.
»Aber er war ja zu nichts zu gebrauchen«, sagte Tichon. »Elende Sachen trug er auf dem Leib, wozu ihn da erst herschleppen? Und grob war er, Euer Wohlgeboren. ›Was fällt dir ein‹, sagt er zu mir, ›bin selber ein $Jeneralssohn, ich komme nicht mit‹, sagt er zu mir.«
»Du Rindvieh!« brummte Denissow. »Ich mußte ihn doch ausfragen …«
»Ich habe ihn ja ausgefragt«, erwiderte Tichon. »Er sagt, er ist schlecht unterrichtet. Wir sind zwar, sagt er, unser viele, aber alle nicht viel wert, nur Namen und Titel, weiter nichts. Brüllt nur ordentlich, sagt er, dann kriegt ihr sie alle«, schloß Tichon und sah Denissow lustig und frech in die Augen.
»Ich werde dir mal hundert Gepfefferte aufzählen lassen, dann wirst du das Hanswurstspielen schon verlernen«, erwiderte Denissow streng.
»Warum so grimmig?« versetzte Tichon. »Habe ich etwa eure Franzosen nicht gesehen? Laßt’s nur erst dunkel werden, dann hole ich dir ihrer dreie, so wie du sie haben willst.«
»Also reiten wir weiter«, entschied Denissow und ritt mit ärgerlich gefalteter Stirn schweigend bis zum Wächterhäuschen.
Tichon lief hinter ihnen her, und Petja hörte, wie die Kosaken ihn wegen irgendwelcher Stiefel, die er in die Büsche geworfen haben sollte, hänselten.
Als die Heiterkeit, die sich bei Tichons Worten und seinem Lächeln der anderen bemächtigt hatte, vorüber war, wurde Petja auf einmal klar, daß dieser Tichon einen Menschen getötet hatte, und ein Gefühl des Unbehagens beschlich ihn. Er sah sich nach dem gefangenen kleinen Tambour um, und es fuhr ihm wie ein Stich durchs Herz. Aber dieses unbehagliche Gefühl dauerte nur einen Augenblick. Dann empfand er es als Notwendigkeit, den Kopf höher zu heben und sich Mut zu machen, und befragte den Kosakenhauptmann mit wichtiger Miene über das für morgen geplante Unternehmen, um sich der Gesellschaft, in der er sich befand, nicht unwürdig zu zeigen.
Der ausgeschickte Offizier kam Denissow noch auf dem Weg mit der Nachricht entgegen, daß Dolochow sogleich persönlich kommen werde, und daß auf seiner Seite alles vorzüglich klappe.
Denissows Stimmung heiterte sich mit einemmal auf, und er rief Petja zu sich heran.
»Nun erzähle mir mal, was du alles erlebt hast«, sagte er.
Nachdem Petja mit seinen Eltern aus Moskau ausgezogen war, hatte er sich von diesen verabschiedet und zu seinem Regiment begeben. Bald darauf war er Ordonnanz bei einem General geworden, der eine große Abteilung kommandierte. Seit er zum Offizier befördert und vor allem seit er in die aktive Armee eingetreten war und an der Schlacht bei Wjasma teilgenommen hatte, befand er sich in einer fortwährenden glücklichen Erregung und Freude darüber, daß er nun zu den Erwachsenen zählte, und war mit begeistertem Eifer ständig darauf bedacht, ja keine Gelegenheit zu einer wahren Heldentat zu versäumen. Über alles, was er in der Armee sah und erlebte, war er überglücklich, hatte aber dabei doch stets den Eindruck, daß nur immer dort, wo er gerade nicht war, die wirklich großen Heldentaten vollbracht würden. Und deshalb zog es ihn immer mit aller Hast dorthin, wo er nicht war.
Als sein General am 21. Oktober den Wunsch ausgesprochen hatte, jemanden zu Denissows Abteilung zu schicken, hatte Petja so flehentlich gebeten, ihn zu senden, daß der General es ihm nicht hatte abschlagen können. Aber der hohe Vorgesetzte hatte sich auch an Petjas unvernünftiges Verhalten in der Schlacht bei Wjasma erinnerte, wo dieser, statt auf dem Weg dorthin zu reiten, wohin man ihn geschickt hatte, mitten im Feuer der Franzosen durch die Vorpostenkette gesprengt war und dort zweimal seine Pistole abgefeuert hatte. Deshalb hatte ihm der General, als er ihn abschickte, ausdrücklich verboten, sich an irgendwelchen Unternehmungen Denissows zu beteiligen, welcher Art sie auch seien. Dies war auch der Grund, weshalb Petja rot und verlegen geworden war, als ihn Denissow gefragt hatte, ob er dableiben dürfe. Noch auf dem Ritt bis zum Waldsaum hatte es Petja für unumgänglich gehalten, daß er streng seine Pflicht erfülle und augenblicklich zurückkehre. Als er aber dann die Franzosen und Tichon gesehen und erfahren hatte, daß noch diese Nacht unbedingt angegriffen werden sollte, war er, nach Art junger Leute schnell von einer Ansicht zur anderen übergehend, zu dem Schluß gelangt, sein General, den er bisher sehr geachtet hatte, sei ein Waschlappen, ein Deutscher, Denissow dagegen und der Kosakenhauptmann und Tichon seien wahre Helden, und es sei eine Schmach für ihn, sie in einem so schweren Augenblick zu verlassen.
Es dämmerte bereits, als Denissow, Petja und der Kosakenhauptmann zum Wächterhäuschen kamen. Im Halbdunkel sah man gesattelte Pferde, Kosaken und Husaren, die auf einer Waldblöße Reisighütten bauten und in einer Schlucht – damit die Franzosen den Rauch nicht sähen – ein rotleuchtendes Feuer angezündet hatten. Im Flur der kleinen Hütte zerhackte ein Kosak mit aufgestreiften Ärmeln Hammelfleisch. In der Hütte selber befanden sich drei Offiziere von Denissows Schar, die eben dabei waren, aus einer Tür einen Tisch herzustellen. Petja legte seine nassen Sachen ab, gab sie zum Trocknen und machte sich dann gleich daran, den Offizieren beim Aufstellen des Tisches für die Abendmahlzeit behilflich zu sein.
Nach zehn Minuten stand die Tafel, mit einem Tischtuch bedeckt, bereit. Darauf standen Schnaps, Rum in einem Fläschchen, Weißbrot und Hammelbraten mit Salz.
Als Petja mit den Offizieren am Tisch saß und mit den Fingern, an denen das Fett entlang tropfte, das lecker duftende Hammelfleisch auseinanderriß, befand er sich in einem kindlich verzückten Zustand zärtlicher Liebe zu allen Menschen und war deshalb auch überzeugt, daß alle Menschen ihn ebenso wiederliebten.
»Was denken Sie, Wassilij Fjodorowitsch«, wandte er sich an Denissow, »das macht doch nichts, wenn ich einen Tag bei Ihnen bleibe.« Und sich selber die Antwort gebend, fuhr er sogleich fort: »Ich habe doch den Befehl, Kundschaft einzuziehen, und das tue ich doch damit … Nur müssen Sie mich an den wichtigsten Punkt lassen … an die Hauptstelle … Ich brauche keine Auszeichnungen … ich will nur …«
Petja biß die Zähne zusammen, sah sich um, warf den erhobenen Kopf zurück und fuhr mit dem einen Arm durch die Luft.
»Also an die Hauptstelle …« wiederholte Denissow lächelnd.
»Oder übergeben Sie mir doch bitte das Kommando ganz, daß ich kommandieren kann«, fuhr Petja fort. »Das können Sie doch ganz leicht tun. Ach, Sie möchten wohl ein Messer?« wandte er sich an einen Offizier, der sich ein Stück Hammelbraten abschneiden wollte.
Er reichte ihm sein Taschenmesser. Der Offizier sprach sich lobend über das Messer aus.
»Behalten Sie es doch, ich bitte Sie darum. Ich besitze viele solche …« sagte Petja errötend. »Kinder! Das habe ich ja ganz vergessen!« rief er plötzlich aus. »Ich habe doch noch Rosinen mit, herrliche Rosinen! Solche ohne Kerne! Wir haben nämlich einen neuen Marketender, er hat ganz prächtige Sachen. Ich habe mir gleich zehn Pfund gekauft. Ich bin so an Süßigkeiten gewohnt. Wollen Sie welche?« Und Petja eilte auf den Flur zu seinem Kosaken und holte eine Tasche herein, in der fünf Pfund Rosinen waren. »Essen Sie, meine Herren, essen Sie!«
»Brauchen Sie nicht eine Kaffeemaschine?« wandte er sich dann an den Kosakenhauptmann. »Ich habe eine wundervolle bei unserem Marketender gekauft. Er hat famose Sachen. Und ist dabei ein ehrlicher Mann. Das ist doch die Hauptsache. Ich schicke sie Ihnen, unbedingt. Und wenn Ihnen die Feuersteine ausgegangen oder abgenutzt sein sollten – das kommt doch vor –, ich habe welche bei mir, da hier …« – er zeigte auf die Tasche – »sind hundert Stück. Ganz billig gekauft. Nehmen Sie nur bitte, soviel Sie brauchen, oder auch alle …«
Doch plötzlich bekam es Petja mit der Angst, ob er auch nicht zuviel schwatze, hielt inne und wurde rot.
Er dachte nach, ob er nicht noch andere Dummheiten begangen habe. Und wie er so in Gedanken den heutigen Tag noch einmal vorüberziehen ließ, fiel ihm der kleine französische Tambour wieder ein. Uns geht es so ausgezeichnet, ihm aber? Wo mögen sie ihn hingesteckt haben? Ob er auch etwas zu essen bekommen hat? Sie werden ihn doch nicht schlecht behandeln? dachte er. Da er aber nun einmal bemerkt hatte, daß er mit den Feuersteinen zu sehr ins Schwatzen gekommen war, hatte er Angst, seine Gedanken auszusprechen.
Wenn ich nur danach fragen könnte, dachte er, aber sie werden sagen: Er ist selber noch ein Knabe, drum hat er mit dem Burschen Mitleid. Doch ich werde es ihnen morgen schon zeigen, was für ein Knabe ich bin! Ob ich mich schämen muß, wenn ich danach frage? dachte Petja. Na, es ist ja alles einerlei! Und dann sagte er, während er rot wurde und schüchtern die Offiziere ansah, ob auf ihren Gesichtern kein Spott zu bemerken war: »Dürfte ich wohl diesen Knaben einmal herrufen, den Sie gefangengenommen haben, und ihm etwas zu essen geben? … Vielleicht …«
»Ja, der arme Junge«, sagte Denissow, der sichtlich an dieser Frage nichts Beschämendes fand. »Man soll ihn rufen. Vincent Bosse heißt er. Ruft ihn herein!«
»Ich werde ihn holen«, rief Petja.
»Ja, hole ihn nur, der arme Junge«, sagte Denissow noch einmal.
Petja stand schon an der Tür, als Denissow dies sagte. Aber er wand sich noch einmal zwischen den Offizieren hindurch und trat ganz nahe an Denissow heran.
»Darf ich Sie dafür küssen, Liebster, Bester?« sagte er. »Wie prächtig, wie wundervoll von Ihnen!«
Und er küßte Denissow und lief auf den Hof hinaus.
»Bosse! Vincent!« schrie Petja von der Tür aus.
»Wen wünschen Sie, Herr?« fragte eine Stimme aus der Finsternis.
Petja antwortete, er suche den französischen Knaben, den man heute gefangen habe.
»Ach, den Wessenni?« sagte der Kosak.
Die Kosaken hatten den Namen Vincent bereits in Wessennij[*] umgewandelt, die Bauern und Soldaten sagten Wissennja. In beiden Ummodelungen vereinigte sich die Erinnerung an den Frühling mit der Vorstellung der Jugendfrische des Knaben.
»Er wärmt sich dort am Feuer. He, Wissenja! Wissenja! Wessenni!« klangen lachende Stimmen durch die Dunkelheit, die den Ruf weitergaben. »Ein anstelliger Bursche ist das«, fuhr der Husar fort, der neben Petja stand. »Vorhin haben wir ihm zu essen gegeben. Der hatte ja einen Wolfshunger!«
Man hörte Schritte in der Dunkelheit, und der kleine Tambour trat, mit seinen nackten Füßen durch den Schmutz patschend, auf die Tür zu.
»Ah, da bist du ja«, sagte Petja auf französisch. »Möchtest du etwas zu essen haben? Fürchte dich nicht, wir tun dir nichts Böses«, fügte er hinzu und berührte schüchtern und freundlich seine Hand. »Komm mit herein.«
»Merci, monsieur«, erwiderte der kleine Tambour mit zitternder, kindlicher Stimme und strich sich an der Schwelle seine schmutzigen Füße ab.
Petja hätte ihm gern noch vieles gesagt, aber er hatte nicht den Mut dazu. Er stand neben ihm auf dem Flur und trat von einem Fuß auf den andern. Dann griff er in der Dunkelheit nach seiner Hand und drückte sie.
»Komm mit herein«, sagte er noch einmal zärtlich flüsternd. Ach, was könnte ich nur für ihn tun, dachte er, machte die Tür auf und ließ den Knaben vor sich eintreten.
Als der kleine Tambour im Zimmer war, nahm Petja etwas entfernt von ihm Platz, da er es für herabwürdigend hielt, wenn er ihm hier seine Aufmerksamkeit schenkte. Er fühlte nur in der Tasche nach seinem Geld und war sich nicht darüber klar, ob es beschämend sei oder nicht, wenn er das dem kleinen Tambour gab.
Von dem kleinen Tambour, dem man auf Denissows Befehl Schnaps und Hammelbraten gab, und dem Denissow einen russischen Kaftan anziehen ließ, um ihn nicht mit den anderen Gefangenen wegzuschicken, sondern bei der Freischar zu behalten, wurde Petjas Aufmerksamkeit durch die Ankunft Dolochows abgelenkt. Petja hatte bei der Armee schon viel von Dolochows außergewöhnlicher Tapferkeit und Grausamkeit gegen die Franzosen gehört und blickte deshalb, wie Dolochow nur in die Hütte eingetreten war, unverwandt zu ihm hin, warf sich noch mehr in die Brust und hielt den erhobenen Kopf noch höher, um sogar einer solchen Gesellschaft wie der Dolochows würdig zu scheinen.
Dolochows Äußeres fiel Petja durch seine Einfachheit seltsam auf.
Denissow war im Kosakenrock, hatte sich den Bart wachsen lassen, trug auf der Brust das Bild des heiligen Nikolaus, des Wundertäters, und in der Art, wie er sprach, und in seinem ganzen Benehmen drückte sich das Besondere seiner Lage aus. Dolochow dagegen, der früher in Moskau persische Tracht getragen hatte, sah jetzt wie der gepflegteste Gardeoffizier aus. Sein Gesicht war sauber rasiert, er trug einen wattierten Gardeüberrock mit dem Georgskreuz im Knopfloch und eine einfache, gerade aufgesetzte Mütze. Er nahm in der Ecke seinen nassen Filzmantel ab, trat, ohne jemanden zu begrüßen, auf Denissow zu und begann sogleich, sachliche Fragen zu stellen. Denissow erzählte ihm, daß die großen Abteilungen ebenfalls Absichten auf den Transport hätten, daß Petja aus diesem Grund abgesandt sei, und was er den beiden Generälen zur Antwort gegeben habe. Dann berichtete ihm Denissow alles, was er über die Lage der französischen Abteilung wußte.
»So, so. Aber wir müssen wissen, was das für Truppen sind und wie viele«, sagte Dolochow. »Es muß einer hinreiten. Wenn man nicht genau weiß, wie viele es sind, kann man sich unmöglich in ein solches Unternehmen einlassen. Ich gehe gern gewissenhaft vor. Will nicht einer der Herren mit mir ins feindliche Lager hinüberreiten? Uniformen habe ich bei mir.«
»Ich, ich … ich reite mit Ihnen!« rief Petja.
»Es ist ganz unnötig, daß du hinreitest«, sagte Denissow zu Dolochow. »Und gar den hier lasse ich um keinen Preis mit.«
»Das wäre!« rief Petja. »Warum soll ich denn nicht mitreiten?«
»Einfach deshalb, weil ich nicht wüßte, wozu.«
»Sie werden mir das nicht übelnehmen, aber … aber … genug, ich reite. Sie nehmen mich doch mit?« wandte er sich an Dolochow.
»Wohin?« erwiderte Dolochow zerstreut und warf einen Blick auf den französischen Tambour. »Hast du diesen jungen Burschen schon lange?« fragte er Denissow.
»Heute haben wir ihn gefangengenommen, aber er weiß nichts. Ich will ihn bei mir behalten.«
»Was fängst du denn mit den übrigen an?« fragte Dolochow.
»Was ich mit denen anfange? Ich schicke sie mit einer Liste weg«, antwortete Denissow plötzlich errötend. »Ich kann wohl kühn behaupten, daß ich nicht einen einzigen Menschen auf dem Gewissen habe. Fällt dir das etwa schwerer, dreißig oder dreihundert Mann mit einem Geleit nach der Stadt zu schicken, als, ich nenne die Dinge mit ihrem wahren Namen, die Soldatenehre zu beflecken?«
»Dem jungen Gräflein hier mit seinen sechzehn Jahren würde eine solche Gefühlsduselei eher anstehen«, erwiderte Dolochow mit kaltem Spott. »Für dich aber wäre es wohl an der Zeit, das beiseite zu lassen.«
»Aber ich habe doch gar nichts gesagt, ich habe doch nur gesagt, daß ich unbedingt mit Ihnen reiten möchte«, warf Petja schüchtern ein.
»Wir beide, du und ich, sollten über solch übertriebene Liebenswürdigkeit doch hinaus sein«, fuhr Dolochow fort, als fände er ein besonderes Vergnügen daran, sich über dieses Thema, das Denissow reizte, zu unterhalten. »Na, und warum nimmst du denn diesen hier mit?« fragte er kopfschüttelnd und zeigte auf den Tambour. »Wohl weil er dir leid tut? Aber deine Listen, die kennen wir ja. Hundert Mann schickst du ab und ihrer dreißig kommen hin. Sind Hungers gestorben oder totgeschlagen. Ist das nicht ganz dasselbe, wie wenn man sie gar nicht erst gefangennimmt?«
Der Kosakenhauptmann kniff seine klaren Augen zusammen und nickte zustimmend.
»Das ist ganz dasselbe, zweifellos. Aber ich möchte es doch nicht auf mein Gewissen nehmen. Du sagst, sie sterben. Nun schön. Wenn es nur nicht meine Schuld ist.«
Dolochow lachte.
»Wer verbietet ihnen, auch mich zwanzigmal gefangen zu nehmen? Sie sollten uns nur kriegen, mich oder dich mit deiner Ritterlichkeit, dann machen sie gewiß keinen Unterschied und knüpfen uns beide an denselben Baum.« Er schwieg. »Aber wir müssen uns an die Arbeit machen. Laßt meinen Kosaken mit dem Bündel holen. Ich habe zwei französische Uniformen. Nun, wie steht’s, reiten wir zusammen?« fragte er Petja.
»Ja, ja, unbedingt!« rief Petja, wurde so rot, daß ihm fast die Tränen kamen, und sah Denissow an.
Während Dolochow mit Denissow darüber gestritten hatte, was man mit den Gefangenen anfangen solle, hatte sich Petja abermals unbehaglich und unruhig gefühlt, denn wieder war es ihm nicht geglückt, richtig zu verstehen, wovon sie sprachen. Wenn große, berühmte Männer so denken, so muß das wohl nötig und gut so sein, dachte er. Die Hauptsache aber ist, daß Denissow nicht etwa zu denken wagt, ich gehorchte ihm und er könne mir etwas befehlen. Ich reite unbedingt mit Dolochow ins französische Lager. Was der kann, kann ich auch!
Auf alle Vorstellungen Denissows, nicht mitzureiten, erwiderte Petja, er sei ebenfalls gewöhnt, in allen Dingen gewissenhaft vorzugehen und nicht so ins Blaue hinein etwas zu unternehmen, und an Gefahr für seine eigne Person denke er überhaupt niemals.
»Denn – das müssen Sie doch selber zugeben – wenn man nicht ganz genau weiß, wie viele da drüben sind … davon hängt doch vielleicht das Leben von Hunderten ab, wir aber sind nur zwei. Und dann möchte ich doch so furchtbar gern mit. Ich reite unbedingt, unbedingt. Halten Sie mich nicht zurück«, rief er, »Sie erreichen nur das Gegenteil …«
Petja und Dolochow legten Franzosenmäntel und Tschakos an und ritten nach jener Lichtung, von wo aus Denissow das feindliche Lager betrachtet hatte. Dann sprengten sie bei völliger Dunkelheit aus dem Wald heraus und den Abhang hinunter. Im Tal angelangt, befahl Dolochow den Kosaken, die ihn begleiteten, hier zu warten, und ritt in scharfem Trabe den Weg entlang auf die Brücke zu. Petja, halbtot vor Aufregung, ritt neben ihm.
»Wenn wir erwischt werden, lebend ergebe ich mich nicht«, flüsterte Petja. »Ich habe eine Pistole bei mir …«
»Sprich nicht russisch«, flüsterte Dolochow hastig zurück, und im selben Augenblick erscholl durch die Dunkelheit der Anruf: »Qui vive?« und eine Flinte klirrte.
Petja schoß das Blut ins Gesicht, und er griff nach seiner Pistole.
»Lanzenreiter vom sechsten Regiment«, antwortete Dolochow, ohne sein Pferd zurückzuhalten oder anzutreiben.
Auf der Brücke stand die schwarze Gestalt eines Postens.
»Die Parole?«
Dolochow hielt das Pferd an und ritt im Schritt.
»Sagen Sie, ist Oberst Gerard hier?« fragte er.
»Die Parole«, wiederholte der Posten, ohne eine Antwort zu geben, und stellte sich in den Weg.
»Wenn ein Offizier seine Runde macht, haben die Wachen nicht nach der Parole zu fragen«, schrie ihn Dolochow, plötzlich zornig werdend, an und trieb sein Pferd gerade auf den Posten vor. »Ich habe Sie gefragt, ob der Oberst hier ist?«
Und ohne eine Antwort der beiseite tretenden Wache abzuwarten, ritt Dolochow im Schritt den Berg hinan.
Als er den schwarzen Schatten eines über den Weg laufenden Mannes erblickte, hielt er diesen an und fragte ihn, wo der Kommandeur und die Offiziere seien. Dieser Mann, ein Soldat mit einem Sack auf dem Rücken, blieb stehen, trat dicht an Dolochows Pferd heran, berührte es mit der Hand und erzählte einfach und freundlich, der Kommandeur und die Offiziere seien oben rechts auf dem Berg auf dem Hof der Farm, wie er das Herrenhaus nannte.
Nachdem sie den Weg entlang geritten waren, wo sie von beiden Seiten von den Lagerfeuern her französische Stimmen hörten, bog Dolochow in den Hof des Herrenhauses ein. Er ritt durch das Tor, sprang vom Pferd und ging auf ein großes, loderndes Wachtfeuer zu, um das mehrere Gestalten herumsaßen, die laut miteinander sprachen. In einem Kessel kochte etwas, und ein Soldat in Zipfelmütze und blauem Mantel, der davor auf den Knien lag und vom Feuer beleuchtet wurde, rührte mit einem Ladestock darin herum.
»Da kannst du lange kochen, das kriegst du nie weich«, sagte einer der Offiziere, der auf der anderen Seite des Wachtfeuers im Dunkeln saß.
»Er wird den Kaninchen schon Beine machen«, erwiderte ein anderer lachend.
Beide schwiegen und blickten, da sie das Geräusch von Dolochows und Petjas Schritten gehört hatten, die mit ihren Pferden an das Feuer herantraten, in die Dunkelheit hinein.
»Bonjour, messieurs!« sagte Dolochow laut und deutlich.
Die Offiziere im Schatten des Wachtfeuers drehten sich um, und ein großer, schlanker mit langem Hals ging um das Feuer herum und trat auf Dolochow zu.
»Sind Sie es, Clément?« fragte er. »Woher zum Teufel …« Aber er bemerkte sogleich seinen Irrtum, sprach nicht zu Ende, sondern begrüßte Dolochow mit leicht gerunzelter Stirn wie einen Fremden und fragte ihn, womit er ihm dienen könne.
Dolochow erzählte, er reite mit einem Kameraden seinem Regiment nach, und fragte, indem er sich an alle zusammen wandte, ob die Offiziere nicht etwas vom sechsten Regiment wüßten. Niemand wußte etwas und es kam Petja vor, als ob die Offiziere ihn und Dolochow mit feindseligen und argwöhnischen Blicken musterten. Ein paar Augenblicke schwiegen alle.
»Wenn Sie noch auf die Abendsuppe gerechnet haben, kommen Sie zu spät«, sagte mit verhaltenem Lachen eine Stimme hinter dem Feuer.
Dolochow erwiderte, sie seien satt und müßten noch in der Nacht weiterreiten.
Er gab die Pferde dem Soldaten, der im Kessel umgerührt hatte, und kauerte am Wachtfeuer neben dem Offizier mit dem langen Hals nieder. Dieser verwandte kein Auge von Dolochow und fragte ihn noch einmal, von welchem Regiment er sei. Dolochow gab keine Antwort, als habe er die Frage gar nicht gehört, zog eine kurze französische Pfeife aus der Tasche, fing an zu rauchen und fragte die Offiziere, ob der Weg vor ihnen vor Kosaken sicher sei.
»Dieses Raubgesindel ist überall«, erwiderte einer der Offiziere hinter dem Wachtfeuer.
Dolochow entgegnete, die Kosaken seien nur für solche Zurückgebliebene wie er und sein Kamerad zu fürchten. Größere Abteilungen würden sie wohl nicht anzugreifen wagen, fügte er fragend hinzu. Niemand gab eine Antwort.
Na, jetzt wird er doch wieder gehen, dachte Petja jeden Augenblick, während er am Wachtfeuer stand und der Unterhaltung zuhörte.
Aber Dolochow fing das abgebrochene Gespräch wieder an und fragte geradeheraus, wieviel Mann sie noch beim Bataillon hätten, wieviel Bataillone es seien, und ob sie viele Gefangene mit sich führten. Als er nach den Gefangenen, die bei ihnen waren, gefragt hatte, fügte er hinzu: »Eine widerliche Sache, diese Leichen hinter sich her zu schleppen. Man sollte doch diese Canaillen einfach erschießen.« Und er brach in ein lautes, so eigentümliches Gelächter aus, daß Petja, der glaubte, die Franzosen müßten sofort den Betrug merken, unwillkürlich einen Schritt vom Feuer zurücktrat.
Niemand gab auf Dolochows Worte und Lachen eine Antwort, und ein französischer Offizier, der vorher nicht sichtbar gewesen war – er hatte, in seinen Mantel gehüllt, auf der Erde gelegen –, erhob sich und flüsterte einem Kameraden etwas zu. Dolochow stand auf und rief den Soldaten mit den Pferden.
Wird man uns die Pferde geben oder nicht? dachte Petja und trat unwillkürlich näher an Dolochow heran.
Die Pferde wurden gebracht.
»Leben Sie wohl, meine Herren«, sagte Dolochow.
Petja wollte auch guten Abend sagen, konnte aber kein Wort hervorbringen. Die Offiziere flüsterten einander etwas zu. Dolochow brauchte längere Zeit, um sein Pferd zu besteigen, da es nicht stillstehen wollte, dann ritt er im Schritt aus dem Tor. Petja ritt neben ihm und hätte sich gern einmal umgeschaut, um zu sehen, ob die Franzosen hinter ihnen herkamen oder nicht, aber er wagte es nicht.
Als sie auf die Straße hinauskamen, ritt Dolochow nicht nach dem Feld zurück, sondern weiter im Dorf entlang. An einer Stelle hielt er an und lauschte.
»Hörst du?« sagte er.
Petja vernahm den Klang russischer Stimmen und sah bei den Feuern die schwarzen Gestalten der russischen Gefangenen. Die beiden Reiter begaben sich zur Brücke hinunter, wieder an dem Posten vorbei, der, ohne ein Wort zu sagen, finster dort auf und ab ging, und erreichten dann das Tal, wo die Kosaken warteten.
»So, nun lebe wohl! Sage Denissow: ›Beim Morgengrauen auf den ersten Schuß‹«, sagte Dolochow und wollte weiterreiten, aber Petja faßte seine Hand.
»Nein!« rief er. »Sie sind ein solcher Held! Ach wie schön, wie herrlich war das! Wie ich Sie liebe!«
»Schon gut, schon gut«, entgegnete Dolochow.
Aber Petja ließ seine Hand nicht los, und Dolochow sah in der Dunkelheit, daß er sich zu ihm hinneigte. Er wollte ihn küssen. Dolochow küßte ihn, lachte, wandte sein Pferd und verschwand in der Finsternis.
Petja kehrte zum Wächterhäuschen zurück und fand Denissow im Flur. Er hatte in Aufregung und Unruhe auf Petja gewartet und bereut, daß er ihn fortgelassen hatte.
»Gott sei Dank!« rief er aus. »Na, Gott sei Dank!« sagte er dann noch einmal, nachdem er Petjas begeisterten Bericht angehört hatte. »Hol dich der Teufel, deinetwegen habe ich kein Auge zutun können!« brummte er. »Na, aber Gott sei Dank, jetzt kann ich mich ruhig hinlegen. Bis zum Morgen können wir noch einmal herumschlafen.«
»Ja … nein«, erwiderte Petja. »Ich möchte noch nicht schlafen. Denn ich kenne mich: wenn ich jetzt einschlafe, ist alles aus. Und dann bin ich auch gewohnt, vor einer Schlacht niemals zu schlafen.«
Petja saß noch eine Zeitlang in der Hütte, rief sich in glückseliger Erinnerung alle Einzelheiten seines Rittes ins Gedächtnis zurück und malte sich lebhaft aus, was morgen alles kommen werde. Als er aber dann merkte, daß Denissow eingeschlafen war, stand er auf und ging auf den Hof.
Draußen war es noch ganz dunkel. Es regnete nicht mehr, nur von den Bäumen fielen noch einige Tropfen. In nächster Nähe des Wächterhäuschens sah man die schwarzen Umrisse der von den Kosaken gebauten Reisighütten und ihrer zusammengekoppelten Pferde. Hinter dem Häuschen standen wie eine schwarze Masse die beiden Fuhrwerke, neben ihnen ebenfalls Pferde, und von der Schlucht her schimmerte rot das verglimmende Feuer. Nicht alle Kosaken und Husaren schliefen: hier und da hörte man zwischen dem Aufklatschen der fallenden Tropfen und dem Geräusch der fressenden Pferde flüsternde Stimmen.
Petja trat aus dem Flur, sah sich in der Dunkelheit um und ging auf die Fuhren zu. Unter den Wagen schnarchte jemand, und um sie herum standen die gesattelten Pferde, ihren Hafer kauend. Trotz der Dunkelheit erkannte Petja sein Pferd, das er Karabach genannt hatte, obwohl es ein kleinrussisches Tier war[225]. Er ging zu ihm hin.
»Na, Karabach, morgen wollen wir beide brav unsere Pflicht tun«, sagte er, näherte sein Gesicht den Nüstern des Tieres und küßte es.
»Schlafen denn der Herr nicht?« fragte ein Kosak, der unter dem Wagen saß.
»Nein. Bist du nicht Lidiatschow? Ich bin ja eben erst zurückgekommen. Wir waren bei den Franzosen.«
Und ausführlich erzählte Petja dem Kosaken nicht nur von seinem Ritt, sondern auch, warum er hingeritten sei und warum er es für besser halte, sein eignes Leben aufs Spiel zu setzen, als so ins Blaue hinein anzugreifen.
»So, so, aber schlafen sollten Sie doch«, sagte der Kosak.
»Nein, ich bin es so gewöhnt«, erwiderte Petja. »Sind auch die Feuersteine an euren Pistolen noch ganz? Ich habe eine Menge bei mir. Braucht ihr welche? Du kannst dir welche nehmen.«
Der Kosak kroch unter dem Wagen vor, um sich Petja näher anzusehen.
»Weißt du, ich bin gewohnt, alles gewissenhaft zu tun«, sagte Petja, »Manche machen alles so, wie es gerade kommt, bedenken nichts im voraus, und dann bereuen sie es. Das kann ich nicht leiden.«
»Das ist richtig«, meinte der Kosak.
»Ach ja, und dann noch eins, mein Lieber, schleife mir doch bitte meinen Säbel, er ist so ab …« Petja scheute sich zu lügen, denn der Säbel war noch gar nicht geschliffen. »Kannst du das machen?«
»Warum nicht? Das geht schon.«
Lichatschow stand auf, suchte etwas in einem Bündel, und gleich darauf hörte Petja den kriegerischen Klang von Stahl und Wetzstein. Er kletterte auf das Fuhrwerk und setzte sich auf dessen Rand. Der Kosak unter dem Wagen schliff den Säbel.
»Hör mal, schlafen denn die Leute alle?« fragte Petja.
»Manche schlafen, manche auch nicht.«
»Und was macht der Junge?«
»Der Wessenni? Der hat sich in den Flur gelegt. Ist vor Angst eingeschlafen. Der war aber froh.«
Dann schwieg Petja lange still und lauschte dem Klang des Schleifens. Durch die Dunkelheit hörte er Schritte, und eine schwarze Gestalt tauchte auf.
»Was schleifst du denn da?« fragte ein Mann und trat an den Wagen.
»Ich schleife den Säbel für den jungen Herrn.«
»Ein nützliches Geschäft«, antwortete der Mann, den Petja für einen Husaren hielt. »Gibt’s hier noch einen Becher?«
»Ja, dort beim Rad.«
Der Husar nahm den Becher.
»Nun wird’s bald hell«, sagte er, gähnte und ging wieder weg.
Petja wußte nicht, daß er sich bei Denissows Freischar[226] im Walde befand, eine Werst von der Straße entfernt, daß er auf einem von den Franzosen erbeuteten Fuhrwerk saß, an das man rundum Pferde angebunden hatte, daß unten der Kosak Lichatschow kauerte und ihm den Säbel schliff, daß der große schwarze Punkt rechts das Wächterhäuschen und der rote, grelle Fleck unten links das verglimmende Lagerfeuer war, und daß der Mann, der den Becher holen kam, ein Husar gewesen, der trinken wollte. Nichts von alledem wußte er, und er wollte sich dessen auch gar nicht bewußt werden. Er befand sich in einem Wunderland, in dem nichts so war wie in der Wirklichkeit. War der große schwarze Punkt wirklich ein Wächterhäuschen? War es nicht vielleicht eine Höhle, die bis ins Innerste der Erde führte? Und der rote Fleck dort sollte ein Feuer sein? War das nicht vielmehr das Auge eines gewaltigen Ungeheuers? Es war ja möglich, daß er jetzt auf einem Fuhrwerk saß, oder befand er sich nicht etwa auf einem schrecklich hohen Turm? Auf einem Turm, der so hoch war, daß er, wenn er herabstürzte, einen ganzen Tag, einen ganzen Monat nur immer fallen und fallen und doch nicht bis zur Erde gelangen würde? War der Mann, der unter der Fuhre saß, nur der Kosak Lichatschow? War das nicht vielleicht der beste, der tapferste, der wunderbarste, der vortrefflichste Mensch in der ganzen Welt, und keiner kannte ihn? Vielleicht war da wirklich eben ein Husar nach Wasser vorübergegangen und im Hohlweg verschwunden, vielleicht war aber auch der, den er eben aus den Augen verloren hatte, tatsächlich verschwunden und gar nicht mehr auf der Erde vorhanden.
Was Petja auch jetzt gesehen hätte, nichts hätte ihn in Verwunderung gesetzt. Er befand sich in einem Wunderland, in dem kein Ding unmöglich war.
Er blickte zum Himmel empor. Und der schien ihm ebenso zauberhaft wie die Erde. Er fing an sich aufzuklären. Über den Wipfeln der Bäume huschten eilig die Wolken dahin, als wollten sie die Sterne enthüllen. Manchmal schien es, als wolle es nun ganz klar werden, und der dunkle, reine Himmel wurde sichtbar. Waren diese schwarzen Flecke auch wirklich Wolken? Hob sich nicht dieser hohe Himmel hoch, hoch über seinem Kopf? Nein, er senkte sich, senkte sich ganz tief, daß er ihn mit der Hand hätte greifen können.
Petja schloß die Augen und wiegte sich hin und her.
Tropfen fielen. Ein leises Flüstern lief ringsum. Die Pferde wieherten und schlugen aus. Irgend jemand schnarchte.
Shiig, shiig, shiig … pfiff der Säbel beim Schleifen, und plötzlich vernahm Petja einen harmonischen Chor, der eine unbekannte, feierlich süße Hymne spielte. Petja war ebenso musikalisch wie Natascha, viel mehr als Nikolaj, aber er hatte sich nie mit Musik beschäftigt und gar nicht an Musik gedacht, und darum waren auch die Motive, die ihm da plötzlich durch den Kopf gingen, für ihn besonders neu und anziehend. Die Musik wurde immer lauter und lauter. Die Melodie wuchs und wuchs und pflanzte sich von einem Instrument auf das andere fort. Es entstand das, was man eine Fuge zu nennen pflegt, obgleich Petja keine Ahnung davon hatte, was eine Fuge ist. Jedes Instrument, bald eins, das an eine Geige erinnerte, bald ein trompetenähnliches, nur besser und reiner als Geige und Trompete, spielte erst die Melodie für sich und vereinigte sich dann, noch ehe es das Motiv zu Ende gebracht hatte, mit einem zweiten, einem dritten und vierten Instrument, die fast alle dasselbe spielten. Sie gingen ineinander über, trennten sich wieder, um dann von neuem zu einer bald feierlich frommen, bald hell jauchzenden, siegreichen Weise zusammenzuklingen.
Ach so, das träume ich ja nur, sagte sich Petja, und der Kopf fiel ihm vornüber. Das klingt mir nur so in den Ohren. Aber vielleicht ist es meine eigne Musik. Da schon wieder. Klinge nur, klinge nur zu!
Er schloß die Augen. Wie aus weiten Fernen schwebten zitternd von allen Seiten die Töne herbei, vermischten sich, liefen auseinander, flossen zusammen, und wieder vereinigten sich alle zu jener süßen, feierlichen Weise.
Ach, wie wunderbar das ist! Soviel ich will und wie es mir beliebt! sagte sich Petja. Und er versuchte, den gewaltigen Chor der Instrumente zu leiten.
Nun leiser, leiser, immer schwächer werdend! Die Töne gehorchten ihm. Jetzt voller, lustiger! Noch, noch freudiger! Aus unbekannter Tiefe stiegen immer stärker werdende, feierliche Klänge auf.
Jetzt die Stimmen einsetzen! befahl Petja. Aus weiter Ferne ertönten anfänglich Männerstimmen, dann Frauenstimmen. Sie wuchsen mit gleichmäßiger, feierlicher Kraft. Bang und freudig nahm Petja ihren außerordentlichen Wohllaut in sich auf.
Mit einem feierlichen Siegesmarsch floß der Gesang zusammen. Die Tropfen fielen. Shiig, shiig, shiig … pfiff der Säbel, wieder schlugen und wieherten die Pferde, aber das alles störte nicht den Chor, sondern verband sich mit ihm zu einer Harmonie.
Petja wußte nicht, wie lange dies dauerte. Er gab sich ganz dem Genuß hin, wunderte sich über sein Entzücken und bedauerte nur, daß er niemanden daran teilnehmen lassen konnte. Die freundliche Stimme Lichatschows weckte ihn endlich auf.
»Der Säbel ist fertig, Euer Wohlgeboren. Mittendurch können Sie damit die Franzosen spalten.«
Petja kam zu sich.
»Es wird schon hell, wahrhaftig, ganz hell!« rief er.
Die Pferde, die man bisher nicht hatte sehen können, waren jetzt bis zum Schwanz sichtbar. Durch die kahlen Zweige drang ein feuchtes Licht. Petja schüttelte sich, sprang auf, zog einen Rubel aus der Tasche und reichte ihn Lichatschow. Dann prüfte er schwingend den Säbel und steckte ihn in die Scheide. Die Kosaken banden die Pferde los und zogen die Sattelriemen fest.
»Da ist auch der Kommandeur«, meinte Lichatschow.
Denissow trat aus dem Wächterhäuschen und rief Petja den Befehl zum Aufbruch zu.
Rasch suchten alle im Halbdunkel ihre Pferde, zogen die Gurte an und reihten sich ihrem Zug ein. Denissow stand am Wächterhäuschen und erteilte die letzten Befehle. Die Infanterie der Freischar, mit hundert Beinen durch die Pfützen patschend, marschierte auf dem Weg voran und verschwand in dem Nebel der Morgendämmerung schnell zwischen den Bäumen. Der Kosakenhauptmann traf bei seinen Kosaken noch einige Anordnungen. Petja hielt sein Pferd am Zügel und wartete mit Ungeduld auf den Befehl zum Aufsitzen. Sein Gesicht, das er mit kaltem Wasser gewaschen hatte, und vor allem seine Augen brannten wie Feuer. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und durch seinen ganzen Körper ging ein schnelles, gleichmäßiges Beben.
»Na, ist bei euch alles fertig?« fragte Denissow. »Bring die Pferde!«
Die Pferde wurden gebracht. Denissow fuhr den Kosaken an, weil die Sattelgurte nicht fest waren, und saß schimpfend auf. Petja faßte den Steigbügel. Sein Pferd wollte wie gewöhnlich nach seinem Bein schnappen, aber Petja sprang, als habe er kein Gefühl für sein Gewicht, rasch in den Sattel, sah sich nach den Husaren um, die hinter ihm in Bewegung waren, und ritt auf Denissow zu.
»Wassilij Fjodorowitsch, nicht wahr, Sie erteilen mir heute einen Auftrag? Ich bitte Sie … um Gottes willen …« sagte er.
Denissow schien Petjas Anwesenheit ganz vergessen zu haben. Er blickte sich nach ihm um.
»Ich bitte dich nur um eines«, sagte er streng, »gehorche mir und mische dich nirgends ein.«
Dann sprach er während des ganzen Weges kein Wort mehr mit Petja und ritt schweigend dahin. Als sie an den Waldsaum kamen, fing es über den Feldern schon merklich zu dämmern an. Denissow wechselte flüsternd ein paar Worte mit dem Kosakenhauptmann, worauf die Kosaken an Petja und Denissow vorüberritten. Als sie alle vorbei waren, gab Denissow seinem Pferd die Sporen und sprengte den Abhang hinunter. Die Pferde setzten sich fast auf ihre Hinterteile und stiegen rutschend mit ihren Reitern ins Tal hinab. Petja ritt neben Denissow. Das Zittern, das durch seinen ganzen Körper lief, verstärkte sich mehr und mehr. Es wurde immer heller und heller. Nur alles, was in der Ferne lag, hüllte der Nebel noch ein.
Als sie unten angelangt waren, sah sich Denissow um und machte dem Kosaken, der neben ihm stand, mit dem Kopf ein Zeichen.
»Das Signal!« sagte er.
Der Kosak hob den Arm, ein Schuß ertönte. Und im selben Augenblick hörte man von verschiedenen Seiten den Hufschlag vorwärtssprengender Pferde, Schreien und weitere Schüsse.
In dem Augenblick, als die ersten Hufschläge und das erste Schreien laut wurden, hieb Petja auf sein Pferd ein, ließ die Zügel locker und jagte vor, ohne auf Denissow zu hören, der ihm etwas nachschrie. Er hatte den Eindruck, als sei es in dem Augenblick, als der Schuß gefallen war, taghell geworden. Er galoppierte auf die Brücke zu. Vor ihm auf dem Weg sprengten die Kosaken. Als er unten war, prallte er mit einem zurückgebliebenen Kosaken zusammen, aber er jagte weiter. Vor ihm liefen viele Menschen – das mußten die Franzosen sein – von der rechten Seite des Weges auf die linke hinüber. Einer fiel unter den Füßen von Petjas Pferd in den Schmutz.
Vor einem Bauernhaus drängten sich viele Kosaken zusammen und nahmen dort irgend etwas vor. Aus der Mitte des Haufens ertönte fürchterliches Schreien. Petja sprengte auf die Menge zu, und das erste, was er sah, war ein Franzose mit bleichem Gesicht und zitterndem Kinn, der den Schaft einer auf ihn gerichteten Lanze mit den Händen umklammert hatte.
»Hurra! … Kinder … Wir haben sie …« schrie Petja, ließ seinem immer wilder werdenden Pferd die Zügel und jagte die Straße hinauf.
Vorn hörte man Schüsse. Kosaken, Husaren und zerlumpte russische Gefangene, die von beiden Seiten des Weges angerannt kamen, schrien laut und mißtönend durcheinander. Ein junger, kräftiger Franzose ohne Mütze, im blauen Mantel, mit rotem, finsterem Gesicht, wehrte mit einem Flintenspieß die Husaren von sich ab. Doch als Petja heransprengte, war er bereits gefallen. Wieder zu spät! schoß es Petja durch den Kopf, und er jagte dorthin, von wo man die meisten Schüsse hörte. Das Schießen kam von dem Hof jenes Herrenhauses, wo er gestern nacht mit Dolochow gewesen war. Die Franzosen hatten sich dort hinter dem geflochtenen Zaun in dem dichten, mit Buschwerk verwachsenen Garten verschanzt und schossen auf die Kosaken, die sich am Tor zusammendrängten.
Als Petja bis ans Tor gelangt war, erblickte er im Pulverdampf Dolochow, der mit bleichem, grünlichem Gesicht seinen Leuten etwas zuschrie. »Im Bogen umgehen! Auf die Infanterie warten!« schrie er gerade in dem Augenblick, als Petja heransprengte.
»Warten? … Hurraaa! …« schrie Petja und jagte, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, nach der Stelle hin, wo die Schüsse ertönten und der Pulverdampf am dichtesten war.
Eine Salve krachte. Kugeln pfiffen, einige sausten vorbei, andere schlugen auf irgend etwas auf. Die Kosaken und Dolochow jagten durch das Tor hinter Petja her. Von den Franzosen in dem dichten, wogenden Rauch warfen die einen die Waffen beiseite und liefen aus den Büschen heraus, den Kosaken entgegen, die anderen flohen den Berg hinunter, nach dem Teich zu. Petja sprengte auf seinem Pferd quer durch den Herrenhof, aber statt die Zügel zu halten, fuhr er seltsam und schnell mit beiden Armen in die Luft und neigte sich im Sattel immer mehr und mehr nach der einen Seite hinüber. Das Pferd lief auf ein im Morgenlicht verglimmendes Wachtfeuer zu, prallte zurück, und Petja fiel schwer auf die feuchte Erde. Die Kosaken sahen, wie seine Arme und Beine hastig zuckten, obgleich sein Kopf starr und still dalag. Eine Kugel war ihm durch den Kopf gegangen.
Der dienstälteste französische Offizier kam mit einem weißen Tuch am Degen hinter dem Hause vor und erklärte, daß sie sich ergäben. Dolochow stieg vom Pferd und trat auf den mit ausgebreiteten Armen unbeweglich daliegenden Petja zu.
»Aus«, sagte er finster und ging durch das Tor auf Denissow zu, der auf ihn zuritt.
»Ist er tot?« schrie Denissow auf, als er schon von weitem Petjas Körper in jener Lage daliegen sah, die ihm nur zu wohl bekannt war und keinen Zweifel mehr aufkommen ließ.
»Aus«, sagte Dolochow noch einmal, als bereite ihm die Wiederholung dieses Wortes Vergnügen, und trat dann schnell auf die Gefangenen zu, um die sich die Kosaken hastig geschart hatten. »Die nehmen wir nicht mit«, schrie er Denissow zu.
Denissow gab keine Antwort. Er ritt zu Petja hin, stieg vom Pferd und wandte mit zitternden Händen dessen schon bleich gewordenes Gesicht, das ganz mit Blut und Schmutz bespritzt war, zu sich um.
Ich bin so an Süßigkeiten gewöhnt … herrliche Rosinen … nehmt sie nur alle … fielen ihm Petjas Worte ein. Und die Kosaken blickten sich erstaunt um, als sie die an Bellen erinnernden Laute vernahmen, mit denen sich Denissow rasch von Petja abwandte, an den Zaun trat und sich gegen ihn stützte.
Unter den durch Denissow und Dolochow befreiten russischen Gefangenen war auch Pierre Besuchow.
Über den Zug der Gefangenen, unter denen sich Pierre befand, war von der französischen Behörde während des ganzen Marsches von Moskau nichts Neues verfügt worden. Am 22. Oktober war dieser Zug bereits nicht mehr mit jenen Truppenteilen und Fuhrparkkolonnen zusammen, mit denen sie von Moskau ausgerückt waren. Von den Fuhren mit Zwieback, die während der ersten Zeit des Marsches hinter ihnen hergefahren waren, hatten die Kosaken die eine Hälfte weggenommen, die andere Hälfte war vorausgefahren. Von der Kavallerie zu Fuß, die die Spitze des Zuges gebildet hatte, war auch nicht ein Mann mehr da; sie waren allesamt verschwunden. An Stelle der Artillerie, die man während der ersten Zeit des Marsches hatte voranfahren sehen, war jetzt der gewaltige Train des Marschalls Junot getreten, der von westfälischen Truppen begleitet wurde. Den Gefangenen folgten Fuhren mit Kavalleriesachen.
Von Wjasma an bildeten die französischen Truppen, die bis hierher in drei Kolonnen marschiert waren, nur noch einen einzigen Haufen. Jene Anzeichen von Unordnung, die Pierre bereits auf dem ersten Rastort hinter Moskau wahrgenommen hatte, waren jetzt bis zum äußersten gestiegen.
Zu beiden Seiten des Weges, den sie marschierten, lagen tote Pferde. Zerlumpte Mannschaften, von verschiedenen Truppenteilen zurückgeblieben, gesellten sich, fortwährend wechselnd, bald der vorwärts marschierenden Kolonne bei, bald blieben sie wieder zurück.
Einige Male während des Marsches gab es falschen Alarm; die Soldaten der Geleitmannschaft griffen nach den Flinten, schossen und liefen, einander drängend und stoßend, Hals über Kopf davon. Dann aber sammelten sie sich wieder und schimpften aufeinander wegen dieser grundlosen Furcht.
Diese drei Abteilungen, die zusammen marschierten: das Kavalleriedepot, die Gefangenen und Junots Train, bildeten immer noch ein Ganzes für sich, obgleich sie alle drei zusehends zusammengeschmolzen waren.
Von dem Depot, das anfänglich aus hundertundzwanzig Fuhrwerken bestanden hatte, waren kaum mehr als sechzig Wagen übriggeblieben, die einen hatten die Kosaken weggenommen, die anderen hatte man im Stich gelassen. Auch von Junots Train waren einige Fuhren zurückgeblieben und weggenommen worden. Drei Wagen hatten herbeigelaufene Nachzügler des Korps Davoust geplündert. Pierre hörte aus den Gesprächen der Deutschen, daß sich bei diesen Fuhren eine größere Wache befand als bei den Gefangenen, und daß einer ihrer Kameraden, ein deutscher Soldat, auf persönlichen Befehl des Marschalls erschossen worden war, weil man bei ihm einen silbernen Löffel gefunden hatte, der dem Marschall gehörte.
Aber von allen diesen drei Zügen am meisten zusammengeschmolzen war doch der Gefangenentransport. Von den dreihundertdreißig Mann, die man von Moskau abtransportiert hatte, waren kaum noch hundert übriggeblieben. Die Soldaten der Geleitmannschaft hielten die Gefangenen für eine größere Last als die Sättel des Kavallierdepots und den Train Junots. Die Sättel und Junots silberne Löffel konnte man noch einmal brauchen, das sahen sie ein, warum aber hungernde und frierende Soldaten bei ebenso hungrigen und frierenden Russen Posten stehen und sie bewachen sollten, von denen die meisten doch später ohnehin halbtot am Weg liegenblieben, so daß man sie auf höheren Befehl erschießen mußte – das war nicht nur unverständlich, sondern sogar widersinnig. Und so behandelten die Geleitmannschaften die Gefangenen besonders streng und finster, als hätten sie bei der trostlosen Lage, in der sie sich selber befanden, Angst, sich dem Gefühl des Mitleids für die anderen, das in ihnen lag, hinzugeben und so ihre eigne Lage noch zu verschlimmern.
In Dorogobusch hatten ein paar Gefangene, die man in einen Pferdestall eingesperrt hatte, während die Soldaten der Geleitmannschaft fortgegangen waren, um ihre eignen Magazine zu plündern, die Stallwand untergraben und waren geflohen. Doch die Franzosen hatten sie wieder eingefangen und erschossen.
Die frühere Ordnung, die man beim Auszug aus Moskau beobachtet hatte, nach der die gefangenen Offiziere von den Soldaten getrennt marschierten, war schon längst nicht mehr eingehalten worden. Alle, die laufen konnten, gingen zusammen, und Pierre hatte sich schon vom dritten Marschtag an wieder Karatajew und dem grauen, krummbeinigen Hund zugesellt, der sich Karatajew zum Herrn auserwählt hatte.
Am dritten Tag nach ihrem Abmarsch von Moskau hatte Karatajew wieder jenes Fieber bekommen, an dem er im Moskauer Lazarett gelitten hatte, und je schwächer er wurde, um so mehr hielt sich Pierre von ihm fern. Pierre wußte nicht warum, aber von der Zeit an, da Karatajew schwächer wurde, mußte er sich Gewalt antun, um zu ihm zu gehen. Und war er dann einmal zu ihm hingegangen und hatte jenes leise Stöhnen, mit dem sich Karatajew gewöhnlich an den Rastorten niederlegte, gehört, und den immer stärker werdenden Geruch, der von ihm ausströmte, gespürt, so ging er gleich wieder möglichst weit von ihm weg und dachte nicht mehr an ihn.
In der Gefangenschaft, in der Baracke, war Pierre nicht durch seinen Verstand, sondern durch sein ganzes Wesen und Leben zu der Erkenntnis gekommen, daß der Mensch für das Glück geschaffen sei, daß das Glück in ihm selber liege, in der Befriedigung aller natürlichen Bedürfnisse, und daß alles Unglück nicht vom Mangel herrührte, sondern vom Überfluß. Jetzt aber, in diesen letzten drei Wochen des Marsches, hatte er noch eine neue, tröstende Wahrheit erkannt: er hatte erkannt, daß es auf der Welt nichts Fürchterliches gibt, hatte erkannt, daß es für den Menschen keinen Zustand geben konnte, wo er völlig unglücklich und unfrei gewesen wäre, ebenso wie für ihn kein Zustand völligen Glückes und uneingeschränkter Freiheit vorhanden war. Er hatte erkannt, daß es eine Grenze für alles Leid und eine Grenze für alle Freiheit gibt, und daß diese Grenze nicht allzu weit gezogen ist: daß ein Mensch, der darunter leidet, daß in sein rosa Bett ein Blättchen gefallen ist, dieselben Schmerzen empfindet wie er jetzt, wenn er auf dem bloßen, feuchten Erdboden einschlief, wo die eine Seite seines Körpers kalt und die andere warm war. Er hatte erkannt, daß er früher ebenso gelitten hatte, wenn er seine engen Ballschuhe anzog, wie er jetzt litt, wo er bereits vollständig barfuß ging – sein Schuhwerk war längst in Fetzen – und seine Füße wundgelaufen waren. Er hatte erkannt, daß er damals, als er aus freiem Willen, wie er glaubte, seine Frau geheiratet hatte, nicht freier gewesen war als jetzt, wo man ihn nachts in einen Pferdestall einsperrte.
Von allem, was auch er später Leiden nannte, was er aber jetzt kaum spürte, waren das Schlimmste die bloßen, wundgelaufenen, mit Schorf bedeckten Füße. Das Pferdefleisch schmeckte ganz gut und war nahrhaft. Der Salpetergeruch des Pulvers, das man statt des Salzes verwandte, war sogar angenehm. Große Kälte gab es nicht, tagsüber beim Marschieren war es immer heiß, nachts hatten sie ein Feuer, und die Läuse, die ihn bald auffraßen, wärmten seinen Körper. So war nur eines schwer in der ersten Zeit, und das waren die Füße.
Am zweiten Marschtag besah Pierre am Wachtfeuer seine mit Schorf bedeckten Füße und hielt es für unmöglich, mit solchen Füßen weiterzumarschieren. Als aber dann alle aufbrachen, ging auch er, anfänglich zwar hinkend, dann aber, als ihm die Füße warm geworden waren, taten sie ihm nicht einmal mehr weh, obgleich sie am Abend einen noch fürchterlicheren Anblick boten. Aber er sah sie nicht an und dachte an etwas anderes.
Jetzt erst begriff Pierre den ganzen Umfang menschlicher Lebenskraft, und wie erlösend das dem Menschen innewohnende Vermögen ist, seine Aufmerksamkeit abzulenken, ebenso erlösend wie das Ventil eines Dampfkessels, das den überflüssigen Dampf herausläßt, sobald seine Dichtigkeit ein bestimmtes Maß überschritten hat.
Er sah und hörte nicht, wie die zurückgebliebenen Gefangenen erschossen wurden, obgleich schon über hundert von ihnen auf solche Weise umgekommen waren. Er dachte nicht an Karatajew, der von Tag zu Tag schwächer wurde und zweifellos bald dasselbe Schicksal erleiden mußte. Noch weniger dachte Pierre an sich selber. Je schwieriger seine Lage wurde, je furchtbarer die Zukunft ihm drohte, um so unabhängiger von jener Lage, in der er sich befand, kamen ihm die freudigen, tröstenden Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen.
Am 22. Oktober, gegen Mittag, ging Pierre auf der schmutzigen, schlüpfrigen Heerstraße bergan und schaute auf seine Füße und auf die Unebenheiten des Weges. Manchmal warf er einen Blick über die ihm bekannte Menge, die ihn umgab, dann aber schaute er wieder auf seine Füße. Sowohl das eine wie das andere war sein und ihm wohlbekannt. Der bläuliche, krummbeinige Graue lief lustig an der Seite des Weges, hob zum Beweis seiner Geschicklichkeit und inneren Befriedigung ab und zu das eine Hinterbein und lief auf dreien, galoppierte dann wieder auf allen vieren und stürzte sich bellend auf die Krähen, die auf den Leichen saßen. Der Graue sah lustiger und gepflegter aus als in Moskau. Auf allen Seiten lagen die Überreste der verschiedensten Lebewesen, vom Menschenfleisch bis zum Pferdefleisch, in den unterschiedlichsten Stadien der Zersetzung, die Wölfe wurden von den vorüberziehenden Menschen abgehalten, so daß der Graue sich nach Herzenslust sattfressen konnte.
Es regnete seit dem frühen Morgen. Manchmal schien es, wie wenn es nun aufhören und der Himmel sich aufklären wollte, aber immer setzte nach solch einer kurzen Pause das Unwetter nur noch stärker ein. Die vom Regen durchweichte Straße nahm das Wasser schon gar nicht mehr auf, so daß in den Wagenspuren ganze Bäche dahinflossen.
Pierre marschierte, warf hier und da einen Blick zur Seite und zählte die Schritte, immer drei auf einmal, indem er dafür einen Finger einbog. Was den Regen anbetraf, so sagte er sich innerlich: Immer zu, immer zu, nur immer toller!
Es kam ihm vor, als denke er an nichts, aber in der Ferne und Tiefe hing seine Seele großen und tröstlichen Gedanken nach. Es war dies der feinste geistige Auszug aus seinem gestrigen Gespräch mit Karatajew.
Gestern während der Nachtrast hatte Pierre an seinem niedergebrannten Feuer gefroren, war deshalb aufgestanden und zum nächsten Feuer gegangen, das besser brannte. An diesem Feuer, zu dem er nun trat, saß Platon, hatte den Mantel wie ein Meßgewand über den Kopf gezogen und erzählte den Soldaten mit seiner fließenden, angenehmen, aber schwachen und kranken Stimme eine Geschichte, die Pierre kannte. Es war schon nach Mitternacht. Um diese Zeit lebte Karatajew gewöhnlich von seinen Fieberanfällen wieder auf und pflegte besonders lebhaft zu sein. Als Pierre zum Feuer trat, die schwache, kranke Stimme Platons hörte und sein von der Flamme grell beleuchtetes, jammervolles Gesicht sah, fühlte er einen unangenehmen Stich durchs Herz. Er erschrak über sein Mitleid mit diesem Menschen und wollte wieder fortgehen, aber ein anderes Feuer war nicht da, und so nahm er denn an dieser Stelle Platz, bemüht, Platon nicht anzusehen.
»Nun, wie steht’s mit deiner Gesundheit?« fragte er.
»Was ist Gesundheit? Man weint wohl über eine Krankheit, aber Gott schickt nicht gleich den Tod«, erwiderte Karatajew und kehrte sogleich zu seiner angefangenen Erzählung zurück.
»Siehst du, Kamerad«, fuhr er mit einem Lächeln auf dem abgezehrten, blassen Gesicht und einem besonders frohen Glanz in den Augen fort: »Siehst du, Kamerad …«
Pierre kannte diese Geschichte schon längst. Ihm allein hatte sie Karatajew wohl schon sechsmal erzählt, und immer mit einem besonderen, freudigen Gefühl. Doch wie genau Pierre diese Geschichte auch kennen mochte, er lauschte ihr doch jetzt wieder wie etwas Neuem, und das stille Entzücken, das Karatajew sichtlich beim Erzählen empfand, ging auch auf Pierre über. Es war die Geschichte von einem alten Kaufmann, der mit seiner Familie ehrsam und gottesfürchtig lebte und einmal mit einem Geschäftsfreund, einem reichen Krämer, zur Messe fuhr.
Die beiden Kaufleute stiegen in einem Gasthof ab und legten sich schlafen. Am nächsten Morgen wurde der Geschäftsfreund des Kaufmanns ermordet und beraubt aufgefunden. Das blutige Messer fand man unter dem Kopfkissen des alten Kaufmanns. Dieser wurde nun vor Gericht gestellt, mit der Knute bestraft, es wurden ihm die Nasenlöcher aufgerissen – »ordnungsgemäß und wie es sich gehört«, sagte Karatajew – und man schickte ihn zur Zwangsarbeit nach Sibirien.
»Und siehst du, Kamerad« – an dieser Stelle von Karatajews Erzählung trat Pierre gerade hinzu –, »nach dieser Geschichte mochten nun wohl ein Dutzend Jahre vergangen sein oder noch mehr. Der Alte lebt als Sträfling in Sibirien. Er fügt sich, wie es sich gehört, und tut nichts Böses. Nur um seinen Tod bittet er den lieben Gott. Also schön … Da sitzen nun einmal nachts die Sträflinge zusammen, so wie jetzt wir, und der Alte ist auch dabei. Und sie kommen darauf zu sprechen, wofür jeder leidet, womit er sich gegen Gott versündigt hat. Und sie fangen an zu erzählen: Der hat einen Menschen erschlagen, der zwei, der ist ein Brandstifter, und der hat sich ohne jeden Grund aus dem Staub gemacht. Nun fragt man den Alten: ›Wofür mußt denn du büßen, Alterchen?‹ ›Ich, meine lieben Brüder‹, sagte er, ›ich büße für meine eignen Sünden und für die Sünden der Menschheit. Ich habe keinen Menschen erschlagen, habe nicht fremdes Gut genommen, sondern immer nur dem bedürftigen Nächsten von dem Meinen abgegeben. Ich war Kaufmann, liebe Brüder, und besaß großen Reichtum.‹ So und so, sagt er und erzählt ihnen, wie sich die Sache zugetragen hat, alles der Reihe nach. ›Ich murre nicht‹, sagt er. ›Gott hat mich heimgesucht. Nur meine Frau und meine Kinder tun mir leid‹, sagt er. Dabei bricht der Alte in Tränen aus. Und da ist nun zufällig unter den Sträflingen derselbe Mensch, weißt du, der damals den Kaufmann ermordet hatte. ›Wo war das, Alterchen?‹ fragt er. ›Wann und in welchem Monat?‹ Und er fragt immer weiter. Es drückt ihm fast das Herz ab. Und er geht so auf den Alten zu, und auf einmal, plumps, liegt er ihm zu Füßen. ›Deinetwegen Alterchen‹, sagt er, ›bist du ins Elend geraten. Es ist die reine Wahrheit‹, sagt er, ›dieser Mann leidet ganz und gar unschuldig, Kinder. Ich selber‹, sagt er, ›habe die Tat begangen und dir, als du schliefest, das Messer unter den Kopf gelegt. Vergib mir, Alterchen‹, sagt er, ›vergib mir um Christi willen.‹«
Karatajew schwieg, blickte mit seligem Lächeln ins Feuer und schob das Brennholz zurück.
»Der Alte aber sagt: ›Mag dir Gott verzeihen, denn wir alle‹, sagt er, ›sind vor Gott Sünder. Ich büße für meine Sünden‹, und er brach in bittere Tränen aus. Und was glaubst du, mein Falke«, sagte Karatajew, und sein Lächeln wurde immer heller und strahlender vor Begeisterung, als läge in dem, was er jetzt erzählen wollte, der Hauptreiz und ganze Sinn der Geschichte: »Was glaubst du, mein Falke? Dieser Mörder stellt sich selber der Obrigkeit. ›,Ich habe sechs Menschenleben auf dem Gewissen‹, sagt er – er war ein großer Bösewicht –, ›aber am meisten bereue ich das mit dem Alten. Er soll meinetwegen keine Träne mehr vergießen.‹ Er klärt alles auf, es wird zu Protokoll genommen und das Papier an die zuständige Stelle weitergeleitet. Das war weit weg, und es dauerte lange, bis das Gericht den Fall erledigt hatte und alles zu Papier gebracht worden war, wie das bei den Behörden so sein muß. Die Sache kam bis zum Zaren. Endlich kam ein Befehl vom Zaren: Der Kaufmann sei freizulassen, und man solle ihm eine Entschädigung geben, soviel, wie das Gericht festgesetzt hatte. Das Papier kommt zurück, und man fängt an, nach dem Alten zu sehen. ›Wo ist denn jener Alte, der unschuldig verurteilt worden ist? Es ist ein Schreiben vom Zaren eingelaufen!‹ Und sie suchen und suchen.« Karatajews Kinn fing an zu zittern. »Gott hatte ihn erlöst – er war tot. Ja, so war es, mein Falke«, schloß Karatajew und blickte lange mit stillem Lächeln vor sich hin.
Nicht diese Erzählung selber, aber ihr geheimer Sinn und jene begeisterte Freude, die beim Erzählen aus Karatajews Antlitz gestrahlt hatte, und der verborgene Sinn dieser Freude – das war es, was jetzt unklar und freudig Pierres Seele erfüllte.
»A vos places!« schrie plötzlich eine Stimme. Durch die Reihen der Gefangenen und Geleitmannschaften lief eine zitternde Erregung und Erwartung von etwas Freudigem. Von allen Seiten hörte man Kommandorufe. Von links her zeigte sich Kavallerie, die in guten Uniformen und auf guten Pferden im Trab um die Gefangenen herumritt. Auf allen Gesichtern lag jener Ausdruck der Spannung, wie ihn die Mannschaften beim Herannahen hoher Befehlshaber zu zeigen pflegen. Die Gefangenen drängten sich zu einem Haufen zusammen, man stieß sie vom Weg hinunter, und die Soldaten der Geleitmannschaft stellten sich in Reih und Glied.
»L’empereur! L’empereur! Le marechal! Le duc!«
Kaum waren die wohlgenährten Vorreiter vorüber, als eine Karosse, von vier Grauschimmeln gezogen, donnernd vorbeirollte. Pierre sah für einen Augenblick in das ruhige, schöne, dicke und weiße Gesicht eines Mannes im Dreispitz. Es war einer der Marschälle. Der Blick des Marschalls blieb an der grobkörnigen, auffallenden Gestalt Pierres haften, und der Ausdruck, mit dem der Marschall die Stirn in Falten legte und das Gesicht abwandte, schien Pierre Mitleid zu zeigen, aber auch den Wunsch, dieses Gefühl zu verbergen.
Der General, der das Depot leitete, trieb mit rotem, erschrockenem Gesicht sein mageres Pferd an und sprengte der Karosse nach. Einige Offiziere traten zusammen, Soldaten umringten sie. Sie alle hatten erregte, gespannte Gesichter.
»Qu’est-ce qu’il a dit? Qu’est-ce qu’il a dit?« hörte Pierre.
Während der Marschall vorüberfuhr, hatten sich die Gefangenen zu einem Haufen zusammengedrängt, und Pierre hatte Karatajew bemerkt, den er an diesem Morgen noch nicht gesehen hatte. Karatajew in seinem Mäntelchen saß an eine Birke gelehnt da. Auf seinem Gesicht lag noch der Ausdruck freudiger Rührung über seine gestrige Erzählung von den unschuldigen Leiden des Kaufmanns, aber er erstrahlte heute in noch besonderer Feierlichkeit.
Karatajew blickte Pierre mit seinen guten, runden Augen an, die jetzt von Tränen verschleiert waren, und wollte ihn offenbar zu sich rufen und ihm etwas sagen. Aber Pierre hatte Angst vor sich selbst. Er tat, als habe er Karatajews Blick nicht gesehen, und ging hastig fort.
Als sich die Gefangenen wieder in Bewegung setzten, sah sich Pierre noch einmal um. Karatajew saß am Wegrand neben der Birke, zwei Franzosen standen daneben und sagten etwas zu ihm. Pierre sah sich nicht mehr um. Hinkend stieg er den Berg hinan.
Hinter ihm, von da her, wo Karatajew gesessen hatte, krachte ein Schuß. Pierre hörte diesen Schuß deutlich, aber in dem Augenblick, als er ihn hörte, fiel ihm ein, daß er mit der vor der Durchfahrt des Marschalls begonnenen Berechnung, wieviel Tagemärsche ihnen noch bis Smolensk verblieben, ja noch nicht fertig war. Er fing an zu rechnen. Zwei französische Soldaten, von denen der eine sein von der Schulter genommenes, noch rauchendes Gewehr in der Hand hielt, liefen an ihm vorbei. Sie sahen beide blaß aus, und in dem Ausdruck ihrer Gesichter – der eine warf einen scheuen Blick auf Pierre – lag etwas, wie es Pierre bei der Hinrichtung auf dem Gesicht des jungen Soldaten gesehen hatte. Pierre sah den Franzosen an und erinnerte sich, wie dieser Soldat vorgestern sein Hemd beim Trocknen am Wachtfeuer verbrannt hatte, und wie er deshalb von den Kameraden ausgelacht worden war.
Hinten, an der Stelle, wo Karatajew gesessen hatte, heulte der Hund.
Dummes Vieh, was heult es nur? dachte Pierre.
Die gefangenen Kameraden, die neben Pierre gingen, sahen sich ebenfalls nicht nach jener Stelle um, von woher der Schuß und dann das Heulen des Hundes gekommen waren, aber ein harter Zug lag auf allen Gesichtern.
Im Dorf Schamschewo machten das Depot, die Gefangenen und der Train des Marschalls halt. Alle drängten sich dicht um die Wachtfeuer. Auch Pierre trat auf ein Feuer zu, aß von dem gebratenen Pferdefleisch, legte sich mit dem Rücken gegen die Flamme und schlief sofort ein. Er versank wieder in einen solchen Schlaf, wie er nach der Schlacht bei Borodino in Moshaisk über ihn gekommen war.
Wieder gingen in seiner Seele tatsächliche Ereignisse und Traumvorstellungen ineinander über, wieder teilte ihm jemand – war er es selber oder ein anderer? – seine Gedanken mit, und zwar dieselben Gedanken wie in Moshaisk.
Das Leben ist alles. Das Leben ist Gott. Alles verändert sich, alles bewegt sich, und diese Bewegung ist Gott. Und solange Leben ist, gibt es auch die Wonne des Selbsterkennens in sich selbst. Das Leben lieben heißt Gott lieben. Das Schwerste und Seligste von allem ist, das Leben zu lieben im eignen Leiden, im eignen unschuldigen Leiden.
Karatajew! fuhr es Pierre durch den Sinn.
Und plötzlich stand vor Pierres Seele wie lebend ein längst vergessener, alter, milder Lehrer, der ihn in der Schweiz in Geographie unterrichtet hatte. Paß auf, sagte der Alte und zeigte Pierre einen Globus. Dieser Globus war eine lebendige, fließende Kugel, ohne bestimmte Umrisse. Ihre ganze Oberfläche bestand aus Tropfen, die eng aneinander gedrückt waren. Diese Tropfen waren in steter Bewegung und veränderten sich: bald flossen mehrere in einen zusammen, bald teilte sich ein großer in viele kleine. Jeder Tropfen hatte das Bestreben, sich auszudehnen und so viel Platz wie nur möglich einzunehmen, doch die anderen, die denselben Wunsch hatten, engten ihn ein, vernichteten ihn manchmal oder flossen auch mit ihm zusammen.
Da hast du das Leben, sagte der alte Lehrer.
Wie klar und einfach das ist! dachte Pierre. Daß ich das nicht früher gewußt habe!
Im Mittelpunkt ist Gott, und jeder Tropfen sucht sich auszubreiten, um Ihn in möglichst großen Ausmaßen widerzuspiegeln. Und so wächst jeder Tropfen, fließt zusammen, wird eingepreßt, verschwindet von der Oberfläche, sinkt in die Tiefe und steigt wieder empor. Auch er, Karatajew … auseinandergeflossen … verschwunden … Vous avez compris, mon enfant? sagte der Lehrer.
»Vous avez compris, sacré nom!« schrie eine Stimme, und Pierre erwachte.
Er richtete sich hoch und setzte sich auf. Am Feuer kauerte ein Franzose, der soeben einen russischen Soldaten beiseitegestoßen hatte, und briet sich an seinem Ladestock ein Stück Fleisch. Geschickt drehte sein muskulöser, behaarter, roter Arm mit aufgestreiftem Ärmel und kurzen Fingern den Ladestock. Sein verbranntes, finsteres Gesicht mit den zusammengezogenen Brauen war im Schein des Feuers deutlich zu sehen.
»Ça lui est bien égal«, brummte er, hastig zu einem Soldaten gewandt, der neben ihm stand. »Brigand! Va!«
Der Soldat drehte seinen Ladestock und warf Pierre einen finsteren Blick zu. Pierre wandte sich ab und blickte ins Dunkle. Ein russischer Soldat, ein Gefangener, der, den der Franzose weggestoßen hatte, saß abseits vom Feuer und streichelte etwas mit der Hand. Pierre sah näher hin und erkannte das graue Hündchen, das neben dem Gefangenen saß und mit dem Schwanz wedelte.
»Na, bist du auch gekommen?« sagte Pierre. »Aber Pla…« fing er an, sprach aber nicht zu Ende.
Und plötzlich stieg vor seiner Seele, gleichzeitig und in andere Erinnerungen übergehend, der Gedanke an jenen Blick auf, mit dem ihn Platon, als er unter dem Baum saß, angesehen hatte, und er dachte an den Schuß, den er dann von dieser Stelle her vernommen hatte, an das Heulen des Hundes, an die schuldigen Gesichter der beiden Franzosen, die an ihm vorbeigelaufen waren, an das noch rauchende Gewehr in der einen Hand und an Karatajews Fehlen an diesem Rastort. Schon war er nahe daran, sich bewußt zu werden, daß Karatajew erschossen worden war, aber im selben Augenblick stieg in seiner Seele, Gott weiß woher, die Erinnerung an einen Sommerabend auf, den er mit einer schönen Polin auf dem Balkon seines Hauses in Kiew verbracht hatte. Und ohne die einzelnen Erinnerungen des heutigen Tages zu verbinden und einen Schluß aus ihnen zu ziehen, schloß Pierre die Augen, und das Bild des Sommerabends verschmolz mit der Erinnerung an ein Bad und an jene fließende, wogende Kugel, und er versank irgendwohin in eine tiefe Flut, so daß das Wasser über seinem Kopf zusammenschlug.
Kurz vor Sonnenaufgang weckten ihn laute, schnell aufeinander folgende Schüsse und Geschrei. Franzosen liefen an Pierre vorüber.
»Les cosaques!« schrie einer von ihnen, und gleich darauf sah sich Pierre von einer Menge russischer Gesichter umringt.
Lange konnte Pierre nicht fassen, was geschehen war. Von allen Seiten vernahm er das Freudengeschrei seiner Leidensgefährten.
»Brüder! Landsleute! Kameraden!« schrien weinend vor Freude alte Soldaten und umarmten die Kosaken und Husaren.
Die Husaren und Kosaken umringten die Gefangenen, und in aller Eile gaben sie dem einen ein Kleidungsstück, einem anderen ein Paar Stiefel, einem dritten ein Stück Brot. Pierre saß mitten unter ihnen, schluchzte und konnte kein Wort hervorbringen; er umarmte den ersten besten Soldaten, der auf ihn zutrat, und küßte ihn unter Tränen.
Dolochow stand am Tor des zertrümmerten Gutshauses und ließ die Schar der entwaffneten Franzosen an sich vorüberziehen. Die Franzosen waren durch alles, was geschehen war, aufgeregt und redeten laut durcheinander, doch als sie an Dolochow vorübergingen, der sich mit seiner Peitsche leicht gegen die Stiefel schlug und sie mit seinen kalten, gläsernen, nichts Gutes versprechenden Augen ansah, verstummte ihr Gespräch. Dolochow gegenüber stand einer seiner Kosaken und zählte die Gefangenen, indem er nach jedem Hundert einen Kreidestrich an das Tor machte.
»Wieviel sind es jetzt?« fragte Dolochow den Kosaken, der die Gefangenen zählte.
»Bald das zweite Hundert voll«, erwiderte der Kosak.
»Filez, filez«, sagte Dolochow, der diesen Ausdruck von den Franzosen gelernt hatte, und in seinen Augen leuchtete, wenn seine Blicke denen der vorüberziehenden Gefangenen begegneten, ein grausamer Glanz auf.
Denissow ging mit finsterem Gesicht, die Mütze in der Hand, hinter den Kosaken her, die Petja Rostows Leiche zu der Grube hintrugen, die man im Garten für ihn gegraben hatte.
Vom 28. Oktober an, als der Frost einsetzte, nahm die Flucht der Franzosen einen noch tragischeren Charakter an: die Leute erfroren oder sie erhitzten sich an den Wachtfeuern zu Tode, während der Kaiser, die Könige und Herzöge in ihren Pelzen und Kutschen mit dem geraubten Gut unbeirrt weiterfuhren. Seinem innersten Wesen nach blieb der Prozeß der Flucht und Zersetzung der französischen Armee jedoch ganz derselbe.
Von Moskau bis Wjasma waren von der dreiundsiebzigtausend Mann starken französischen Armee – die Garde nicht eingerechnet, die in dem ganzen Krieg weiter nichts getan hat, als zu plündern – nur sechsunddreißigtausend Mann übriggeblieben, während die Verluste durch Schlachten kaum mehr als fünftausend Mann betrugen. Dies war das erste Glied der Progression, aus dem sich die folgenden mathematisch genau bestimmen ließen. Von Moskau bis Wjasma, von Wjasma bis Smolensk, von Smolensk bis zur Beresina, von der Beresina bis nach Wilna schmolz die französische Armee im selben Umfang zusammen und ging zugrunde, ganz unabhängig von höheren oder geringeren Kältegraden, von Verfolgung, Wegversperrung und allen sonstigen Umständen, jeder für sich genommen. Hinter Wjasma rotteten sich die Franzosen, die bis dahin drei Kolonnen gebildet hatten, zu einem einzigen Haufen zusammen und marschierten so bis zum Schluß.
Man weiß ja, welche Abweichungen von der Wahrheit größere Heerführer bei der Schilderung der Lage ihrer Truppen sich zu erlauben pflegen. Berthier schrieb an den Kaiser:
»Ich halte es für meine Pflicht, Euer Majestät von dem Zustand Dero Truppen bei den verschiedenen Armeekorps in Kenntnis zu setzen, die ich in den letzten zwei, drei Tagen an verschiedenen Durchgangsstellen zu beobachten in der Lage war. Sie befinden sich fast in Auflösung. Die Zahl der Soldaten, die ihren Fahnen folgen, beträgt bei allen Regimentern höchstens ein Viertel, die anderen marschieren für sich nach verschiedenen Richtungen und auf eigne Faust, in der Hoffnung, Nahrungsmittel zu finden, und um von der Disziplin befreit zu sein. Im allgemeinen sehen sie Smolensk als den Punkt an, wo sie sich wieder sammeln sollen. In den letzten Tagen hat man auch beobachtet, daß viele Soldaten ihre Waffen und Munition wegwerfen. Wie die Dinge jetzt liegen, erfordert es das Dienstinteresse, daß Euer Majestät, welches auch Dero fernere Absichten sein mögen, die Truppen in Smolensk sammeln und anfangen lassen, sie von allem Überflüssigen zu befreien: von Kampfunfähigen wie Mannschaften ohne Pferde und Waffen, von unnützem Gepäck und Artilleriematerial, das zu den gegenwärtigen Kräften in keinem Verhältnis mehr steht. Außerdem müssen unsere Soldaten jetzt unbedingt ein paar Ruhetage und Proviant haben, denn sie sind von Hunger und Müdigkeit erschöpft, und in den letzten Tagen sind viele unterwegs und in den Biwaks gestorben. Dieser Zustand wird immer ärger und gibt zu der Befürchtung Anlaß, daß, wenn nicht baldige Abhilfe geschaffen wird, man in einer Schlacht kaum mehr Herr über die Truppen sein wird. Den 9. November, dreißig Werst von Smolensk.«
Die Franzosen fielen über Smolensk her, das ihnen wie das Gelobte Land vor Augen geschwebt hatte, schlugen hier einander des Proviants wegen tot, plünderten ihre eignen Magazine, und nachdem sie alles ausgeraubt hatten, liefen sie weiter.
Alle marschierten, ohne selber zu wissen, warum und wohin sie gingen. Noch weniger als alle anderen wußte dies das Genie Napoleon, da ihm niemand etwas befahl. Und doch behielten er und seine Umgebung ihre bisherigen Gewohnheiten bei: man schrieb Befehle, Briefe, Rapporte, ordres du jour und nannte sich gegenseitig: Sire, mon cousin, prince d’Eckmühl, roi de Naples und so weiter. Aber die Befehle und Rapporte standen nur auf dem Papier, niemand führte sie aus, weil man sie eben nicht ausführen konnte, und wenn sie einander auch Majestät, Hoheit und Vetter titulierten, so fühlten doch alle, daß sie jämmerliche, schändliche Menschen waren, die viel Unheil angerichtet hatten, wofür sie jetzt büßen mußten. Und wenn sie auch so taten, als kümmerten sie sich um die Armee, so dachte doch jeder nur an sich und daran, wie er so bald wie möglich von hier fortkommen und sich retten könne.
Die Operationen der russischen und französischen Truppen während des Rückzugs von Moskau bis zum Njemen waren wie ein Blindekuhspiel, wo zwei Spielenden die Augen verbunden werden, und der eine von ihnen ab und zu mit einem Glöckchen läutet, um dem, der ihn fangen soll, kundzutun, wo er sich befindet. Zuerst klingelt der, der gefangen werden soll, munter darauflos und fürchtet sich nicht vor dem Feind, wenn es ihm aber dann schlecht geht, bemüht er sich, unhörbar weiterzuschleichen, flieht seinen Feind und rennt meist, obwohl er meint, vor ihm davonzulaufen, geradewegs in seine Arme.
Anfangs ließ die Napoleonische Armee noch von sich hören – dies war in der ersten Zeit des Rückzugs auf der Kalugaer Straße –, dann aber, nachdem sie den Weg nach Smolensk eingeschlagen hatten, liefen sie davon, indem sie mit der Hand den Klöppel des Glöckchens festhielten, und rannten oft, in der Meinung, zu entkommen, geradewegs auf die Russen zu.
Bei der Schnelligkeit der fliehenden Franzosen und der verfolgenden Russen und bei der dadurch hervorgerufenen Erschöpfung der Pferde war an das Hauptmittel, eine annähernde Kenntnis der Lage zu erhalten, in der sich der Feind befand, nämlich an Kavalleriepatrouillen, nicht zu denken. Außerdem konnten Nachrichten, wenn man auch wirklich welche hatte, infolge des häufigen und schnellen Stellungswechsels beider Heere nie zur rechten Zeit eintreffen. Wenn am Zweiten die Nachricht einlief, daß die feindliche Armee am Ersten dort und dort gewesen sei, so hatte am Dritten, wenn man etwas hätte unternehmen können, der Feind schon wieder zwei Tagemärsche hinter sich und befand sich nun in einer ganz anderen Stellung.
Die eine Armee floh, die andere jagte hinterher. Von Smolensk aus standen den Franzosen viele verschiedene Wege offen, und man hätte meinen sollen, daß sie während der vier Rasttage hier Zeit gehabt hätten, auszukundschaften, wo sich der Feind befand, um sich etwas Vorteilhaftes auszudenken und etwas Neues zu unternehmen. Aber nach einem Aufenthalt von vier Tagen liefen ihre Scharen weder nach rechts noch nach links, sondern ohne Manöver und ohne alle Überlegung wieder auf der alten, schlechtesten Straße nach Krasnoje und Orscha – in der alten, selbstgetretenen Spur.
Da die Franzosen den Feind hinter sich, nicht vor sich wähnten, dehnten sich bei der Flucht ihre Scharen aus und waren oft vierundzwanzig Stunden voneinander entfernt. Allen voran floh der Kaiser, dann folgten die Könige, dann die Herzöge. Die russische Armee glaubte, Napoleon werde nach rechts über den Dnjepr gehen, was das einzig Vernünftige gewesen wäre, wandte sich deshalb nach rechts und kam auf die große Straße nach Krasnoje. Und wie beim Blindekuhspiel stießen hier die Franzosen auf unsere Vorhut. Als sie so unvermutet den Feind erblickten, gerieten sie in Verwirrung, machten in plötzlichem Schrecken halt, fingen dann aber wieder an zu fliehen und ließen die hinter ihnen herkommenden Kameraden im Stich. Hier zogen nun im Verlauf von drei Tagen die einzelnen französischen Abteilungen, eine nach der anderen, mitten durch die Reihen russischer Truppen hindurch: zuerst die Abteilung des Vizekönigs, dann die Davousts, dann die des Marschalls Ney. Sie alle ließen sich gegenseitig im Stich, gaben ihr Gepäck, ihre Artillerie und die Hälfte ihrer Leute preis und entkamen nur dadurch, daß sie in den Nächten nach rechts hin einen Bogen um die Russen machten.
Ney, der als letzter zog, weil er trotz der bedenklichen Lage der Franzosen oder gerade infolge dieser Lage die Diele, an der sie sich gestoßen hatten, schlagen wollte und sich mit der Sprengung der Mauern von Smolensk aufgehalten hatte, die doch keinem mehr im Weg waren – Ney, der mit seinem zehntausend Mann starken Korps als letzter zog, kam zu Napoleon nach Orscha mit nur tausend Mann, weil er alle seine Leute und alle seine Kanonen hatte im Stich lassen müssen und nur heimlich in der Nacht, vom Wald gedeckt, über den Dnjepr gelangt war.
Von Orscha flohen sie weiter, die Wilnaer Straße entlang, und setzten ihr Blindekuhspiel mit der Armee, die sie verfolgte, fort. An der Beresina gerieten wieder alle in Verwirrung, viele ertranken, viele ergaben sich; aber die, die über den Fluß kamen, flohen weiter. Ihr höchster Heerführer hüllte sich in seinen Pelz, setzte sich in einen Schlitten und jagte allein davon, alle seine Kameraden ihrem Schicksal überlassend. Wer konnte, floh ebenfalls, wer das nicht vermochte, ergab sich oder ging zugrunde.
Man sollte meinen, in diesem Feldzug, bei dieser Flucht der Franzosen, wo sie alles taten, was nur möglich war, um sich zugrunde zu richten, wo nicht eine einzige Bewegung dieser Massen irgendeinen Sinn hatte, vom Abschwenken auf die Kalugaer Straße angefangen bis zur Flucht ihres obersten Befehlshabers – man sollte meinen, in diesem Abschnitt des Feldzugs sei es jenen Historikern, die alle Bewegungen der Masse dem Willen eines einzigen Menschen zuzuschreiben pflegen, schlechterdings doch unmöglich, diesen Rückzug in ihrem Sinn zu schildern. Aber nein: Berge von Büchern sind von Geschichtsschreibern über diesen Feldzug geschrieben worden, und überall werden Napoleons Anordnungen, seine tiefsinnigen Pläne und Manöver, mit denen er die Truppen geleitet habe, sowie die genialen Dispositionen seiner Marschälle besonders hervorgehoben.
Der Rückzug von Malo-Jaroslawez, wo Napoleon den Weg durch einen fruchtbaren Landstrich hätte einschlagen können und ihm die Parallelstraße offenstand, auf der ihn dann Kutusow verfolgte, dieser verfehlte Rückzug auf einem verödeten Weg wird uns aus verschiedenen, tiefsinnigen Erwägungen erklärt. Auf Grund ebensolcher tiefsinniger Erwägungen wird uns dann auch sein Rückzug von Smolensk nach Orscha geschildert. Außerdem wird seines Heldenmutes bei Krasnoje Erwähnung getan, wo er Vorbereitungen getroffen habe, eine Schlacht anzunehmen und sie selbst zu kommandieren, und einen Birkenstock in der Hand gehabt und gesagt haben soll: »Ich bin lange genug Kaiser gewesen, jetzt ist es an der Zeit, General zu sein.« Trotz alledem aber flieht er gleich darauf weiter und überläßt die auseinandergesprengten Teile seines Heeres, die hinter ihm sind, ihrem Schicksal.
Dann wird uns die Großzügigkeit der Marschälle vor Augen geführt, insbesondere die des Marschalls Ney, darin bestehend, daß er in der Nacht den Feind durch den Wald umgeht, über den Dnjepr setzt und ohne Fahnen und Artillerie mit nur einem Zehntel seines Armeekorps in Orscha ankommt.
Und endlich schildern uns die Historiker die letzte Abreise des großen Kaisers von seiner heldenmütigen Armee als etwas Erhabenes und Geniales. Sogar dieser letzte Schritt einer Flucht, die jeder Laie als letzten Grad der Gemeinheit bezeichnen wird, dessen sich zu schämen man jedes Kind lehrt, sogar dieser letzte Schritt findet bei den Historikern seine Rechtfertigung.
Und wo es schlechterdings unmöglich ist, den zwar dehnbaren Faden geschichtlicher Beurteilung noch weiter zu strecken, wo eine Handlung zu klar allem widerspricht, was die Menschheit gut oder auch nur gerecht nennt, da greifen die Historiker zu dem rettenden Begriff der Größe. Die Größe scheint bei ihnen den Maßstab für Gut und Böse auszuschließen[227]. Für einen Großen gibt es nichts Böses. Es gibt keine Schandtat, die man einem, der groß ist, als Schuld ankreiden könnte.
»C’est grand!« sagen die Historiker, und schon gibt es kein Gut und Böse mehr, sondern nur ein »grand« oder »nicht grand«. »Grand« ist gut, »nicht grand« ist böse. »Grand« ist ihrer Ansicht nach eine Eigenschaft ganz besonderer Wesen, die sie Helden nennen. Und als sich Napoleon in seinen warmen Pelz hüllte, nach Hause fuhr und die Umkommenden im Stich ließ, die nicht nur seine Kameraden, sondern Leute waren, die er, wie er glaubte, selber dorthin geführt hatte, da fühlte er: »que c’est grand«, und sein Gewissen war beruhigt.
Vom Erhabenen – er fühlte etwas Erhabenes in sich – zum Lächerlichen ist nur ein Schritt, sagte er, und die ganze Welt wiederholt fünfzig Jahre lang dasselbe: Erhaben! Groß! Napoleon der Große! Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.
Und keinem kommt es in den Sinn, daß das Zugeben einer Größe, an die der Maßstab von Gut und Böse nicht mehr angelegt werden kann, nur ein Eingestehen der eignen Bedeutungslosigkeit und maßlosen Nichtigkeit ist.
Für uns, die wir von Christus den Maßstab für Gut und Böse erhalten haben, gibt es nichts, was damit nicht zu messen wäre. Und wo keine Schlichtheit, Güte und Wahrhaftigkeit ist, da ist auch keine Größe.
Welcher Russe hätte beim Lesen der Schilderungen der letzten Feldzugsperiode von 1812 nicht das bedrückende Gefühl des Ärgers, der Unzufriedenheit und Unklarheit empfunden? Wer hätte sich nicht die Fragen vorgelegt: Warum hat man nicht alle Franzosen gefangengenommen und vernichtet, wo doch alle drei Armeen den Feind in überlegener Zahl umringt hatten, wo die in Auflösung begriffenen Feinde, von Hunger und Kälte bezwungen, sich haufenweise ergaben, und wo doch gerade das Ziel der Russen, wie uns die Geschichtsschreiber berichten, darin bestanden haben soll, die Franzosen aufzuhalten, ihnen den Weg zu verlegen und sie alle gefangen zu nehmen?
Wie kam es, daß jenes russische Heer, das mit unterlegenen Streitkräften den Franzosen eine Schlacht bei Borodino lieferte, sein Ziel nicht erreichte, als es die Franzosen von drei Seiten umringt hatte, um sie gefangen zu nehmen? Hatten die Franzosen wirklich so gewaltig viel vor uns voraus, daß wir sie selbst mit überlegenen Kräften, als wir sie schon umzingelt hielten, nicht hätten schlagen können? Wie konnte dies geschehen?
Die Geschichte oder vielmehr das, was man als solche bezeichnet, beantwortet diese Fragen, indem sie behauptet, dies sei geschehen, weil Kutusow und Tormasow und Tschitschagow und der und der nicht diese und jene Manöver ausgeführt hätten.
Doch warum haben sie alle diese Manöver nicht ausgeführt? Warum zog man sie nicht vor Gericht und bestrafte sie, wenn sie wirklich daran schuld waren, daß das vorherbestimmte Ziel nicht erreicht wurde? Und selbst wenn man zugibt, daß Kutusow und Tschitschagow und andere an dem Mißerfolg der Russen schuld waren, so kann man immer noch nicht begreifen, warum unter solchen Umständen, wie sie für die russischen Truppen bei Krasnoje und an der Beresina vorlagen – in beiden Fällen waren sie an Streitkräften überlegen –, nicht die ganze französische Armee gefangengenommen wurde – samt ihren Marschällen, Königen und Kaisern, wenn dies nun einmal das Ziel der Russen war.
Eine Erklärung dieser sonderbaren Erscheinung, wie sie uns russische Geschichtsschreiber geben: daß Kutusow jeden Angriff verhindert habe, ist unbegründet, weil wir wissen, daß selbst Kutusows Wille die Truppen bei Wjasma und Tarutino vom Angreifen nicht zurückhalten konnte.
Warum wurde das russische Heer, das bei Borodino mit schwächeren Kräften den Sieg über einen auf der Höhe seiner Kraft stehenden Feind davontrug, nun mit überlegenen Streitkräften bei Krasnoje und an der Beresina von den in Auflösung begriffenen Franzosenhaufen besiegt?
Wenn das Ziel der Russen darin bestanden hat, Napoleon und seinen Marschällen den Weg abzuschneiden und sie gefangen zu nehmen, und wenn dieses Ziel nicht nur nicht erreicht, sondern auch jeder Versuch dazu immer wieder aufs schmachvollste vereitelt wurde, so haben die Franzosen vollkommen recht, wenn sie das letzte Stück des Feldzugs als eine Reihe von Siegen darstellen, und die russischen Geschichtsschreiber haben ganz und gar unrecht, wenn sie diese Periode als für Rußland siegreich bezeichnen.
Soweit die russischen Historiker die Logik für verpflichtend ansehen, kommen auch sie unwillkürlich, trotz aller lyrischen Ergüsse über Heldenmut und Hingabe und so weiter, zu diesem Ergebnis und müssen wider Willen zugeben, daß der Rückzug der Franzosen aus Moskau eine Reihe von Siegen für Napoleon und eine Niederlage für Kutusow gewesen ist.
Und doch merkt man, auch wenn sie den Nationalstolz ganz beiseite lassen, daß dieser Schluß einen Widerspruch in sich einschließt, da ja die Reihe der Siege auf seiten der Franzosen zu ihrer völligen Niederlage, die Reihe von Niederlagen auf seiten der Russen dagegen zur gänzlichen Vernichtung des Feindes und Befreiung des Vaterlandes geführt hat.
Die Quelle dieses Widerspruches liegt darin, daß die Geschichtsschreiber, die die Ereignisse auf Grund der Briefe von Herrschern und Generälen, auf Grund der Berichte, Meldungen, Pläne und so weiter erforschen, irrtümlicherweise ein Ziel voraussetzen, das im letzten Abschnitt des Feldzugs von 1812 nie bestanden hat, das Ziel nämlich, Napoleon mit seinen Märschällen und seiner ganzen Armee den Weg abzuschneiden und sie gefangen zu nehmen.
Ein solches Ziel hat man sich nie gesetzt und konnte man sich nicht setzen, weil es keinen Sinn gehabt hätte und ganz unerreichbar gewesen wäre.
Es hätte keinen Sinn gehabt, erstens weil Napoleons aufgelöste Armee sowieso mit einer Geschwindigkeit, wie sie größer nicht möglich war, aus Rußland floh, das heißt sie tat ganz von selber das, was jeder Russe nur wünschen konnte. Wozu noch allerlei Operationen gegen einen Feind unternehmen, der auch so schon davonlief, was er nur laufen konnte?
Zweitens wäre es sinnlos gewesen, Leute, deren ganze Energie auf die Flucht gerichtet war, auf ihrem Weg aufhalten zu wollen.
Drittens wäre es sinnlos gewesen, zur Vernichtung der französischen Armee eigne Truppen zu opfern, da sich jene schon ohne äußeren Anlaß von selber so fortschreitend zugrunde richtete, daß sie auch bei Wegversperrung nicht weniger Leute über die Grenze hätte bringen können, als sie im Dezember tatsächlich hinübergebracht hat, nämlich den hundertsten Teil des Gesamtheeres.
Sinnlos wäre viertens auch die Absicht gewesen, den Kaiser, die Könige und Herzöge gefangen zu nehmen, Leute, deren Gefangenschaft im höchsten Grad die weiteren Aktionen Rußlands behindert hätte, was die geschicktesten Diplomaten jener Zeit, wie Joseph de Maistre[228] und andere, auch zugegeben haben. Noch sinnloser wäre der Plan gewesen, die gesamten französischen Korps gefangen zu nehmen, da die eignen Truppen bis Krasnoje auf die Hälfte zusammengeschmolzen waren, und man zum Geleit der gefangenen Korps Divisionen hätte abtrennen müssen, wo schon die eignen Soldaten nicht immer volle Proviantrationen erhielten und die bisher gefangenen Franzosen bereits Hungers starben.
Der ganze tiefsinnige Plan, Napoleon und seiner Armee den Weg zu verlegen und sie gefangen zu nehmen, wäre wie das Vorgehen eines Gärtners gewesen, der, um das Vieh aus dem Garten zu jagen, das ihm die Beete zerstampft, an die Pforte rennt und das Vieh vor den Kopf schlägt. Das einzige, was sich zur Rechtfertigung einer solchen Tat sagen ließe, wäre, daß dieser Mann eben voll Gift und Galle gewesen sei. Aber nicht einmal dies hätte man von den Urhebern eines Einkreisungsplanes behaupten können, da nicht sie es waren, die unter den zerstampften Beeten litten.
Doch ganz abgesehen davon, daß ein Abfangen Napoleons und seiner Armee sinnlos gewesen wäre, war es sogar ein Ding der Unmöglichkeit.
Unmöglich war es erstens, weil die Wahrscheinlichkeit, daß Tschitschagow, Kutusow und Wittgenstein rechtzeitig an einer bestimmten Stelle zusammenkamen, so gut wie Null war und fast einer Unmöglichkeit gleichkam, wie sich ja erfahrungsgemäß schon die Bewegungen weniger Kolonnen auf eine Entfernung von fünf Werst in einer Schlacht nie mit den vorher entworfenen Dispositionen decken. So dachte auch Kutusow, als er bei Empfang des Planes äußerte, Dispositionen auf große Entfernungen zeitigten nie die gewünschten Erfolge.
Unmöglich war es zweitens, weil unvergleichlich mehr Truppen, als die Russen zur Verfügung hatten, dazu gehört hätten, um dem Beharrungsvermögen entgegenzuwirken, mit dem sich Napoleons Heer rückwärts bewegte.
Unmöglich war es drittens, weil der militärische Ausdruck »abschneiden« gar keinen Sinn hat. Abschneiden kann man ein Stück Brot, aber keine Armee. Eine Armee abzuschneiden, ihr den Weg zu versperren, ist schlechterdings unmöglich, da es ja rundherum immer noch genug Raum gibt, wohin sie durch einen Umweg gelangen kann, und dann ist ja auch noch die Nacht da, in der nichts gesehen werden kann, wovon sich die Kriegsgelehrten schon aus den Beispielen von Krasnoje und Beresina überzeugen könnten. Es ist unmöglich, jemanden gefangen zu nehmen, wenn er damit nicht einverstanden ist, wie man eine Schwalbe nicht fangen kann, obwohl man sie greifbar nah hat, wenn sie sich einem auf die Hand setzt. Gefangennehmen kann man nur jemanden, der sich wie die Deutschen nach den Regeln der Strategie und Taktik ergibt. Aber die französischen Truppen fanden dies begreiflicherweise nicht vorteilhaft, da ihnen in der Gefangenschaft ja ebenso bevorstand, vor Hunger und Kälte zu sterben, wie auf der Flucht.
Unmöglich war es viertens vor allem deswegen, weil noch nie, solange die Welt steht, ein Krieg unter so furchtbaren Umständen zum Austrag gekommen ist wie im Jahre 1812, und weil die russischen Truppen schon bei der Verfolgung der Franzosen alle ihre Kräfte anspannten und, ohne sich selber zugrunde zu richten, nicht mehr erreichen konnten.
Während ihres Marsches von Tarutino nach Krasnoje verlor die russische Armee fünfzigtausend Mann an Kranken und Zurückbleibenden, also eine Zahl, die der Bevölkerungsziffer einer kleinen Gouvernementsstadt gleichkommt. So verlor die Armee ohne jede Schlacht die Hälfte ihrer Leute.
Und von einer Periode des Feldzugs, wo unsere Truppen ohne Stiefel und Pelze, ohne Schnaps und bei halben Rationen monatelang bei fünfzehn Grad Kälte im Schnee übernachteten, wo es nur sieben oder acht Stunden Tag war und die übrige Zeit Nacht, in der jeder Einfluß der Disziplin aufhört; wo die Leute nicht wie in der Schlacht nur auf wenige Stunden in den Todesbereich hineingeführt wurden, in dem es keine Disziplin mehr gibt, sondern monatelang jeden Augenblick mit dem Hunger- oder Kältetod rangen; wo binnen vier Wochen die Hälfte einer Armee zugrunde ging – von einer solchen Periode des Feldzuges erzählen uns nun die Historiker, daß Miloradowitsch einen Flankenmarsch hierhin hätte machen müssen und Tormasow dahin, während Tschitschagow dort hätte eintreffen müssen – auf Wegen, wo man bis über die Knie im Schnee einsank! – und wie der und der wirklich den Feind zurückgeworfen und abgeschnitten hat und so weiter, und so weiter.
Die russischen Truppen, von denen die Hälfte dabei umkam, taten alles, was möglich war und was sie tun mußten, um ein der Nation würdiges Ziel zu erreichen, und es ist nicht ihre Schuld, wenn andere Russen, die zu Hause im warmen Zimmer saßen, die Vorstellung nährten, daß etwas getan werde, das unmöglich war.
Dieser ganze sonderbare, jetzt unbegreifliche Widerspruch zwischen Tatsachen und Geschichtsschreibung rührt nur davon her, daß die Historiker, die diese Ereignisse geschildert haben, nur eine Geschichte der schönen Gefühle und Worte verschiedener Generäle geschrieben haben, aber nicht die Geschichte der Ereignisse.
Ihnen erscheinen diese und jene Worte Miloradowitschs, die Auszeichnungen, die der und der General erhielt, und die Annahmen der Heerführer interessant, doch die Frage der Fünfzigtausend, die in den Lazaretten und Gräbern zurückblieben, berührt sie überhaupt nicht, da dies nicht zu ihrem Forschungsgebiet gehört.
Und dabei braucht man nur das Studium aller Berichte und Pläne der Generäle beiseite zu lassen und in die Bewegung jener Hunderttausende von Menschen, die an den Ereignissen unmittelbaren Anteil nahmen, einzudringen, und alle Vorher unentwirrbar scheinenden Fragen sind auf einmal außerordentlich leicht und einfach und ohne jeden Zweifel zu lösen.
Die Absicht, Napoleon mit seiner Armee abzuschneiden, hat niemals bestanden außer in der Einbildung etwa eines Dutzends Menschen. Sie konnte gar nicht bestehen, weil sie sinnlos und unmöglich war.
Das Volk hatte nur das eine Ziel, die Heimat von den Eindringlingen zu befreien. Dieses Ziel wurde erreicht, erstens ganz von selbst, da ja die Franzosen flohen und es nur nötig war, diese Bewegung nicht aufzuhalten, zweitens durch die Wirkungen des Volkskrieges, der den Feind vernichtete, und drittens dadurch, daß die große russische Armee die Franzosen verfolgte und Gewalt angewendet hätte, wenn die Bewegung der Feinde ins Stocken geraten wäre.
Die russische Armee mußte wirken, wie eine Knute auf ein davonlaufendes Tier wirkt. Und der erfahrene Treiber wußte, daß es das vorteilhafteste ist, die Knute geschwungen zu halten und mit ihr zu drohen, nicht aber das davonlaufende Tier auf den Kopf zu schlagen.