Neunter Teil

1

Gegen Ende des Jahres 1811 hatte eine verstärkte Rüstung und Konzentration aller Streitkräfte im westlichen Europa eingesetzt, und im Jahre 1812 bewegten sich nun diese Kräfte – Millionen Menschen, wenn man die mit einrechnet, die mit dem Transport und Proviant der Truppen zu tun hatten – vom Westen nach Osten auf die Grenzen Rußlands zu, wo man ebenfalls schon seit dem Jahre 1811 Rußlands Streitkräfte zusammengezogen hatte. Am 12. Juni überschritten diese westeuropäischen Streitkräfte die Grenzen Rußlands, und der Krieg brach aus, das heißt, es vollzog sich ein Ereignis, das aller menschlichen Vernunft und Natur zuwiderlief: Millionen Menschen begingen gegeneinander eine so unzählige Menge von Verbrechen, Betrügereien, Verrat, Diebstahl, Fälschung von Banknoten und deren Weitergabe, Räubereien, Brandstiftungen und Mord- und Greueltaten, wie sie die Chronik aller Gerichte der Welt während ganzer Jahrhunderte nicht zu verzeichnen hat, und die die Menschen jener Zeitperiode, die sie verübten, nicht einmal für Verbrechen hielten.

Wodurch war dieses außergewöhnliche Ereignis hervorgerufen worden? Was waren die Gründe dafür? Die Historiker behaupten mit naiver Überzeugung, daß dieses Ereignis durch folgende Ursachen herbeigeführt worden sei: durch Beleidigungen, die man dem Herzog von Oldenburg zugefügt habe[121], durch Übertretung des Kontinentalsystems[122], durch die Herrschsucht Napoleons, die Unbeugsamkeit Alexanders, die Fehler der Diplomaten und so weiter, und so weiter.

Demnach hätten nur Metternich, Rumjanzew oder Talleyrand bei einer Audienz oder Cour sich mehr Mühe zu geben und kunstvollere Noten abzufassen, oder Napoleon hätte nur an Alexander zu schreiben brauchen: »Monsieur mon frère, je consens à rendre le duché au duc d’Oldenbourg« – und der Krieg wäre vermieden worden.

Man kann verstehen, daß den Zeitgenossen die Sache in diesem Licht erschien. Man kann verstehen, daß Napoleon der Ansicht war, die Intrigen Englands hätten den Krieg verursacht, wie er es später auf der Insel Sankt Helena behauptet hat. Man kann verstehen, daß die Mitglieder des englischen Parlaments Napoleons Herrschsucht für die Ursache des Krieges ansahen; daß der Herzog von Oldenburg meinte, die ihm angetane Gewalt habe dazu geführt; daß die Kaufleute glaubten, das Kontinentalsystem, das ganz Europa verheere, sei schuld daran; daß die alten Soldaten und Generäle der Ansicht waren, es sei nur zum Krieg gekommen, weil es ohne sie eben nicht ging, und die Legitimisten[123] damals meinten, man müsse unbedingt les bons principes wiederherstellen; und daß die Diplomaten jener Zeitperiode fest davon überzeugt waren, dies alles komme nur daher, weil das Bündnis Rußlands mit Österreich vom Jahre 1809 nicht kunstvoll genug vor Napoleon geheimgehalten und das Memorandum Nummer 178 nicht geschickt genug abgefaßt worden sei. Man kann verstehen, daß diese und noch eine zahllose Menge anderer Gründe, deren Masse durch die unendliche Vielgestalt der Gesichtspunkte bedingt ist, den Zeitgenossen glaubhaft erschienen. Uns aber, den Nachfahren, die wir die damaligen Ereignisse in ihrem ganzen gewaltigen Umfang überschauen und ihrem klaren, fürchterlichen Sinn bis auf den Grund gehen können, uns erscheinen alle diese Gründe unzulänglich. Uns ist es unbegreiflich, daß Millionen Christenmenschen einander gequält und totgeschlagen haben sollen, nur weil Napoleon herrschsüchtig und Alexander unbeugsam war, nur weil die englische Politik nicht ehrlich und ein Herzog von Oldenburg beleidigt war. Es ist schlechterdings nicht zu begreifen, in was für einem Zusammenhang diese Umstände mit den Tatsachen an Mord und Gewalt selber stehen, und warum nur deshalb, weil ein Herzog beleidigt worden war, Tausende von Menschen vom andern Ende Europas die Einwohner aus den Gouvernements Moskau und Smolensk totschlagen und zugrunde richten mußten oder von ihnen niedergemacht wurden.

Für uns Nachfahren, die wir keine Historiker sind, die wir uns durch den Forschertrieb nicht hinreißen lassen und deshalb die Ereignisse mit ungetrübten, gesunden Sinnen überschauen, stellen sich Gründe für diesen Krieg in ungezählten Mengen dar. Je tiefer wir uns in die Erforschung dieser Gründe versenken, um so mehr von ihnen werden uns offenbar, und jeder einzelne Grund oder jede einzelne Folge von Gründen für sich allein genommen erscheint uns an und für sich gleich richtig, ebenso aber auch gleich falsch, wenn wir die Nichtigkeit dieser einzelnen Gründe mit der gewaltigen Tragweite der Ereignisse vergleichen, gleich falsch, wenn wir an ihr Unvermögen denken, ohne Mithilfe all der anderen, mit ihnen zusammenfallenden Gründe das stattgefundene Ereignis herbeizuführen. Solche Gründe, wie die Weigerung Napoleons, seine Truppen hinter die Weichsel zurückzuziehen oder das Herzogtum Oldenburg wieder herauszugeben, erscheinen uns wie der Wunsch oder die Weigerung des ersten besten französischen Korporals, zum zweitenmal wieder in den Militärdienst einzutreten, denn wenn er nicht den Wunsch gehabt hätte, wieder einzutreten und ein zweiter, ein dritter, ein tausendster Korporal oder Soldat seinem Beispiel gefolgt wäre, so hätte Napoleons Armee um soviel weniger Mannschaften gehabt, und der Krieg wäre unmöglich gewesen.

Hätte Napoleon sich durch die Forderung, hinter die Weichsel zurückzugehen, nicht beleidigt gefühlt und seinen Truppen nicht vorzurücken befohlen, so wäre es nicht zum Krieg gekommen; hätten aber alle Sergeanten nicht zum zweitenmal in den Dienst eintreten mögen, so wäre der Krieg gleichfalls unmöglich gewesen. Ebenso unmöglich wäre der Krieg aber auch gewesen, wenn es keine Intrigen Englands und keinen Herzog von Oldenburg gegeben hätte, wenn sich Alexander nicht gekränkt gefühlt und Rußland keine autokratische Regierung gehabt hätte, wenn die französische Revolution und die darauf folgende Diktatur, das Kaiserreich und alles das, was die Revolution selbst erst verursacht hat, nicht gewesen wären und so weiter, und so weiter. Ohne einen einzigen von all diesen Gründen wäre der Krieg nicht möglich gewesen. Demnach mußten alle diese Tausende von Gründen zusammentreffen, um das hervorzubringen, was sich ereignet hat, und folglich gibt es keinen ausschließlichen Grund für dieses Ereignis, sondern es ist alles so gekommen, weil eben alles so hat kommen müssen. Millionen Menschen mußten also, aller ihrer Menschengefühle und all ihres Menschenverstandes bar, von Westen nach Osten ziehen und ihresgleichen totschlagen, ganz ebenso wie vor ein paar Jahrhunderten Scharen von Menschen von Osten nach Westen gezogen[124] waren und ihresgleichen erschlagen hatten.

Die Handlungen eines Napoleon und Alexander, von deren Befehlen es abzuhängen schien, ob das Ereignis zur Tatsache werden solle oder nicht, waren ebenso wenig ihrem eignen Willen unterworfen wie die eines jeden Soldaten, der, durch das Los oder die Aushebung dazu bestimmt, mit ins Feld zog. Anders konnte das gar nicht sein, denn um den Willen eines Napoleon oder Alexander und überhaupt all jener Leute, von denen die Ereignisse abzuhängen schienen, in Erfüllung gehen zu lassen, mußten zahllose Umstände zusammentreffen, und wenn deren einer gefehlt hätte, würde sich alles Geschehene nicht ereignet haben. Es war notwendig, daß die Millionen von Menschen, in deren Händen die wirkliche Gewalt lag: die Soldaten, die schossen und Proviant und Kanonen transportierten, einverstanden waren, diesen Willen der beiden einzelnen, schwachen Männer zu erfüllen, und daß sie durch eine zahllose Menge mannigfaltiger, verwickelter Ursachen dazu getrieben wurden.

Der Fatalismus in der Geschichte ist unentbehrlich zur Erklärung all jener sinnlosen Erscheinungen, das heißt jener Erscheinungen, deren Sinn wir nicht begreifen können. Denn je mehr wir uns bemühen, diese Erscheinungen in der Geschichte vernünftig zu erklären, um so sinnloser und unbegreiflicher erscheinen sie uns.

Jeder Mensch lebt um seiner selbst willen, benutzt seine Willensfreiheit, um seine persönlichen Ziele zu erreichen, und ist ganz von dem Bewußtsein durchdrungen, daß er jede beliebige Handlung ausführen oder auch unterlassen kann. Sobald er aber eine Handlung ausgeführt hat, die in einem bestimmten Augenblick vollendet ist, wird diese unwiderruflich und zu einem Bestandteil der Geschichte, in der sie dann nicht mehr die Bedeutung einer vorausbestimmten Tatsache hat.

Das Leben eines jeden Menschen hat zwei Seiten: das persönliche Leben, das um so freier ist, je abstrakter seine Interessen sind, und das elementare Leben in der Masse, in dem der Mensch unabänderlich die ihm vorgeschriebenen Gesetze erfüllt. Der Mensch lebt bewußt um seiner selbst willen, dient aber unbewußt als Werkzeug zur Erfüllung historischer, allgemein menschlicher Ziele. Jeder einmal unternommene Schritt ist unabänderlich, und seine Wirkung, die zeitlich mit den Wirkungen der Handlungen von Millionen anderer Menschen zusammenfällt, erlangt historische Bedeutung. Je höher ein Mensch auf der gesellschaftlichen Stufenleiter steht, je enger er mit hochgestellten Leuten verbunden ist, je mehr Macht er über andere Menschen hat, um so augenscheinlicher tritt die Vorbestimmung und Unumgänglichkeit aller seiner Handlungen zutage.

»Des Königs Herz ist in der Hand des Herrn[125]

Der König ist der Sklave der Geschichte.

Die Geschichte, das heißt das unbewußte, allgemeine Massenleben der Menschheit, nutzt jeden Augenblick im Leben eines Herrschers für sich aus als Werkzeug zur Erfüllung ihrer Ziele.

Wenn auch Napoleon jetzt, im Jahre 1812, mehr denn je davon überzeugt war, daß es nur von ihm abhing »verser ou ne pas verser le sang de ses peuples«, wie Alexander ihm im letzten Brief geschrieben hatte, so war er doch niemals mehr als eben jetzt jenen unentrinnbaren Gesetzen unterworfen, die ihn zwangen – obgleich er nach freiem Willen zu handeln wähnte –, für die Allgemeinheit, für die Geschichte gerade das zu tun, was sich vollziehen mußte.

Menschen des Westens strömten nach dem Osten, um dort ihresgleichen totzuschlagen. Und nach dem Gesetz des Zusammentreffens der Ursachen fielen tausend unbedeutende Gründe für diese Truppenbewegung und für den Krieg wie von selbst ergänzend mit diesen Ereignissen zusammen: Vorwürfe wegen der Übertretung des Kontinentalsystems, der Herzog von Oldenburg, das Einrücken der Truppen in Preußen, das, wie es Napoleon schien, nur unternommen worden war, um einen Frieden in Waffen zu erzwingen, die Kriegsleidenschaft und Kriegserfahrung des französischen Kaisers, die mit der Stimmung seines Volkes zusammentraf, der Reiz der Vorbereitungen im großen Stil, und die Kosten dieser Vorbereitungen, die Sucht, Vorteile dabei herauszuschlagen, die all die Kosten wieder wettgemacht hätten, die Sand in die Augen streuenden Ehrenbezeigungen in Dresden, die diplomatischen Unterhandlungen, die nach Ansicht der Zeitgenossen in dem aufrichtigen Bestreben geführt wurden, den Frieden zu erhalten, aber doch nur die Eigenliebe auf dieser oder jener Seite verletzten, und die Millionen und Abermillionen von anderen Gründen, die das Ereignis, das sich vollziehen sollte, unterstützten und mit ihm zusammentrafen.

Wenn der Apfel reif ist und vom Baume fällt – warum fällt er? Weil sein Gewicht ihn zur Erde zieht? Weil sein Stengel vertrocknet ist? Weil er in der Sonne dürr geworden ist? Weil er zu schwer ist? Weil der Wind ihn abschüttelt? Weil der Knabe, der unter dem Baum steht, ihn gern essen möchte?

Nicht einer dieser Gründe allein ist es, sondern alle zusammen und nur das Zusammentreffen all der Bedingungen, unter denen sich jedes organische, elementare Ereignis im Leben vollzieht. Und jener Botaniker, der herausgefunden hat, daß der Apfel deshalb zur Erde fällt, weil sich sein Zellgewebe zersetzt und dergleichen mehr, hat ebenso recht wie jenes Kind, das unter dem Baum steht und sagt, der Apfel falle nur aus dem Grund herab, weil es ihn essen wolle und darum gebetet habe. Und wer da sagt, daß Napoleon nur deshalb nach Moskau vorgerückt sei, weil ihm eben der Sinn danach gestanden habe, und dort nur deshalb zugrunde gerichtet worden sei, weil Alexander seinen Untergang gewollt habe, der hat genauso recht und unrecht wie derjenige, der da sagt, daß ein Millionen Pud schwerer Berg, der untergraben ist, deshalb zusammengestürzt sei, weil der letzte Arbeiter unter ihm den letzten Spatenstich getan habe. Bei historischen Ereignissen sind die sogenannten großen Persönlichkeiten nur Etiketten, die dem Ereignis den Namen geben, haben aber, ganz wie die Etiketten, in Wirklichkeit am allerwenigsten mit den Ereignissen zu tun.

Jede ihrer Handlungen, die ihnen aus eigenem Wunsch und nur um ihrer selbst willen ausgeführt zu sein scheint, ist im historischem Sinn nicht freiwillig, sondern mit dem ganzen Gang der Geschichte verknüpft und von Ewigkeit her vorausbestimmt.

2

Am 29. Mai reiste Napoleon aus Dresden ab, wo er, umgeben von einem Hofstaat, der aus Prinzen, Herzögen, Königen und sogar einem Kaiser bestand, drei Wochen verlebt hatte. Vor seiner Abreise schmeichelte Napoleon all den Fürsten, Königen und dem Kaiser, die das um ihn verdient hatten, tadelte alle Herrscher und Prinzen, mit denen er unzufrieden war, schenkte die Perlen und Brillanten, die er anderen Königen geraubt hatte, der Kaiserin von Österreich, umarmte, wie sein Geschichtsschreiber erzählt, die Kaiserin Marie Luise zärtlich, jene Marie Luise, die sich für seine Frau hielt, obgleich in Paris noch eine zweite Gattin zurückgeblieben war, und ließ sie tiefbekümmert über die Trennung allein, die sie anscheinend kaum zu ertragen vermochte. Obgleich die Diplomaten noch fest an eine Friedensmöglichkeit glaubten und eifrig auf dieses Ziel hinarbeiteten, obgleich Kaiser Napoleon noch eigenhändig einen Brief an Kaiser Alexander schrieb, in dem er ihn »Monsieur mon frère« anredete, ihm herzlich versicherte, daß er ihn immer lieben und achten werde und den Krieg nicht wünsche – begab sich Napoleon dennoch zu seiner Armee und erteilte auf jeder Station neue Befehle, die die Beschleunigung der Truppenbewegung von Westen nach Osten bezweckten. Er fuhr in einem sechsspännigen Reisewagen über Posen, Thorn, Danzig und Königsberg, von Pagen, Adjutanten und Gefolge begleitet. In jeder Stadt wurde er von einer tausendköpfigen Menge mit zitternder Furcht und Begeisterung empfangen.

Die Armee rückte von Westen nach Osten vor, und unter stetem Pferdewechsel eilte Napoleon ihr nach. Am 10. Juni hatte er die Truppen eingeholt und übernachtete im Wald von Wilkowiski in einem eigens für ihn vorbereiteten Quartier auf dem Gut eines polnischen Grafen.

Am nächsten Tag fuhr Napoleon in seinem Wagen der Armee voraus bis an den Njemen, legte, um die Gegend des Übergangs zu besichtigen, polnische Uniform an und begab sich bis ans Ufer.

Als er auf der anderen Seite die Kosaken sah und die endlosen Steppen, in deren Herzen Moskau, la ville sainte[126], lag, die Hauptstadt eines Reiches, das mit jenem Skythenreich[127] zu vergleichen war, in das Alexander der Große zog, da erteilte Napoleon, unerwartet für alle und allen strategischen und diplomatischen Plänen zuwiderlaufend, den Befehl zum Vormarsch, und am nächsten Tag setzten seine Truppen über den Njemen.

Am 12. in der Frühe trat er aus seinem Zelt, das für diesen Tag am abschüssigen linken Ufer des Njemen aufgeschlagen worden war, und beobachtete durch den Fernstecher seine aus dem Wald von Wilkowiski herausströmenden Truppenmassen, die nach den drei über den Njemen geschlagenen Brücken auseinanderfluteten. Die Mannschaften wußten, daß ihr Kaiser da war, und suchten ihn mit den Augen, und wenn sie dann jene Gestalt in Rock und Mütze, die auf dem Berg etwas abseits vom Gefolge stand, erspäht hatten, warfen sie die Mützen in die Luft und schrien: »Vive l’empereur!« Und so flutete und flutete der gewaltige Strom, ein Truppenteil nach dem anderen, ohne zu versiegen, aus dem ungeheuren Wald, der ihn bis dahin verborgen hatte, floß nach den drei Brücken zu auseinander und ergoß sich auf das jenseitige Ufer.

»Diesmal werden wir aber zu marschieren haben. Ja, wenn er die Sache selber in die Hand nimmt, da wird man warm … Bei Gott … Da ist er! … Vive l’empereur! … Also das sind die asiatischen Steppen! Scheußliche Gegend, keine Frage … Auf Wiedersehen, Beauché, ich reserviere dir das schönste Palais von ganz Moskau! … Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen! … Viel Glück! … Hast du den Kaiser gesehen? Vive l’empereur … preur! … Wenn ich zum Gouverneur von Indien ernannt werde, Gerard, mache ich dich zum Minister von Kaschmir, abgemacht! … Vive l’empereur! Vive! Vive! Vive! Diese Lumpenhunde, die Kosaken, wie sie sich aus dem Staube machen! … Vive l’empereur! Le voilà! Siehst du ihn? … Ich habe ihn zweimal ganz deutlich gesehen, so wie ich dich jetzt sehe. Le petit caporal[128]… Ich war dabei, wie er einem von jenen alten Soldaten das Ehrenkreuz gegeben hat … Vive l’empereur!« so schwirrte es durcheinander bei alt und jung, bei Leuten von verschiedensten Charakteren und gesellschaftlichen Stellungen. Auf den Gesichtern all dieser Menschen strahlte nur der eine allen gemeinsame Ausdruck der Freude, daß der so lang ersehnte Feldzug nun endlich begonnen hatte, der Ausdruck der Begeisterung und Hingebung für den Mann im grauen Rock, der dort auf dem Berg stand.

Am 13. Juni führte man Napoleon einen kleinen Araberhengst von reiner Rasse vor, er bestieg ihn und ritt im Galopp auf eine der über den Njemen geschlagenen Brücken zu, fortwährend umbraust von Jubelgeschrei, das er offenbar nur deshalb ertrug, weil er den Soldaten nicht gut verbieten konnte, ihre Liebe zu ihm durch dieses Geschrei zum Ausdruck zu bringen. Aber er empfand das Geschrei, das ihn überallhin begleitete, als Last, weil es ihn von seinen militärischen Ideen ablenkte, die ihn, sobald er sich nur den Truppen beigesellt hatte, völlig in Anspruch nahmen. Über eine dieser auf Kähnen schwankenden Brücken ritt er auf das jenseitige Ufer, bog hier scharf nach links ab und sprengte im Galopp in der Richtung auf Kowno zu. Gardejäger zu Pferd, deren Begeisterung über das ihnen zuteil gewordene Glück keine Grenzen kannte, ritten voraus und machten ihm den Weg durch die Truppen frei. Als er bis an den breiten Wilijafluß gekommen war, machte er neben einem polnischen Ulanenregiment, das am Ufer stand, halt.

»Vivat!« schrien die Polen ebenso begeistert, traten aus der Front und stießen und drängten sich, um ihn sehen zu können.

Napoleon überschaute den Fluß, stieg vom Pferd und setzte sich auf einen Baumstamm, der am Ufer lag. Auf ein wortloses Zeichen reichte man ihm ein Fernrohr, er legte es auf den Rücken eines herbeispringenden, glückseligen Pagen und fing an, das jenseitige Ufer zu betrachten. Dann versenkte er sich in das Studium einer über die Stämme ausgebreiteten Landkarte. Ohne den Kopf aufzuheben, sagte er irgend etwas, und zwei seiner Adjutanten sprengten auf die polnischen Ulanen zu.

»Wie? Was hat er gesagt?« tönte es aus den Reihen der Polen, als der Adjutant bei ihnen angelangt war.

Er hatte befohlen, eine Furt zu suchen und auf das jenseitige Ufer überzusetzen. Der Oberst des polnischen Ulanenregiments, ein hübscher alter Herr, bekam einen roten Kopf und fragte den Adjutanten, wobei er vor Aufregung kaum die Worte fand, ob es ihm erlaubt sei, mit seinen Ulanen, ohne erst eine Furt zu suchen, den Fluß zu durchschwimmen. Während er seine Bitte vorbrachte, war ihm die Angst vor einer ablehnenden Antwort deutlich anzusehen, wie einem Knaben, der um die Erlaubnis bittet, sich auf ein Pferd zu setzen. Der Adjutant erwiderte, der Kaiser werde wohl mit diesem zwar überflüssigen Eifer kaum unzufrieden sein.

Kaum hatte der Adjutant dies gesagt, riß der alte, bärtige Offizier mit strahlendem Gesicht und leuchtenden Augen den Säbel hoch, schrie: »Vivat!«, befahl seinen Ulanen, ihm zu folgen, gab dem Pferd die Sporen und sprengte an den Fluß hinunter. Wütend spornte er das unter ihm zurückbäumende Tier an, setzte, daß es nur so klatschte, ins Wasser und schwamm nach der Mitte zu, wo die Strömung am stärksten war. Die Ulanenschwadronen jagten ihm nach. In der Mitte des Flusses war das Wasser sehr kalt, und eine starke Strömung machte sich bemerkbar. Die Ulanen hielten sich aneinander fest und rutschten aus den Sätteln. Einige Pferde ertranken, es ertranken auch mehrere Soldaten, die übrigen versuchten, teils im Sattel sitzend, teils sich an den Mähnen festhaltend, zu schwimmen. So mühten sie sich damit ab, auf die andere Seite hinüberzuschwimmen und waren stolz darauf, vor den Augen jenes Mannes, der auf dem Balken saß und gar nicht zusah, was sie taten, den Fluß zu durchschwimmen und in ihm ertrinken zu dürfen, obgleich der Übergang nur eine halbe Werst entfernt war. Als der Adjutant zurückgekehrt war und sich in einem günstigen Augenblick erlaubte, die Aufmerksamkeit des Kaisers auf die ihm persönlich geltende Ergebenheit der Polen zu lenken, stand der kleine Mann im grauen Oberrock auf, rief Berthier zu sich heran, ging mit ihm am Ufer des Flusses auf und ab und erteilte ihm Befehle, wobei er ab und zu einen mißmutigen Blick auf die ertrinkenden Ulanen warf, die nur seine Aufmerksamkeit ablenkten.

Es war für ihn nichts Neues, mit anzusehen, wie seine Gegenwart an allen Enden der Welt, von Afrika bis zu den Steppen Rußlands, alle Menschen berauschte und zu sinnloser Selbstaufopferung trieb. Er ließ sich sein Pferd bringen und ritt in sein Quartier.

Gegen vierzig Ulanen ertranken in dem Fluß, obgleich man ihnen Boote zu Hilfe schickte. Die meisten wurden an das Ufer, das sie soeben verlassen hatten, zurückgetrieben. Der Oberst und nur wenige Mann durchquerten den Fluß und krochen mühselig auf der anderen Seite die Uferböschung hinauf. Aber kaum hatten sie in ihren durchnäßten Uniformen, von denen das Wasser in Bächen ablief, das Ufer erklommen, als sie schon wieder »Vivat!« schrien und begeistert nach der Stelle hinübersahen, wo Napoleon gestanden hatte. Der aber war gar nicht mehr da. Trotzdem waren sie in diesem Augenblick glückselig.

Gegen Abend traf Napoleon zwischen zwei Verfügungen – die eine betraf die beschleunigte Herbeischaffung der im voraus angefertigten, gefälschten russischen Banknoten, um sie in Rußland in Umlauf setzen zu können, und die andere die an einem Sachsen durch Erschießen zu vollstreckende Todesstrafe, weil man einen Brief von ihm mit Angaben über die Pläne der französischen Armee aufgefangen hatte – noch eine dritte Verfügung: der polnische Oberst, der sich so zwecklos in den Fluß gestürzt hatte, wurde in die légion d’honneur aufgenommen, an deren Spitze Napoleon selber stand.

Quos Deus perdere vult, dementat.

3

Inzwischen weilte der russische Kaiser schon über vier Wochen in Wilna, wo er Besichtigungen und Manöver abhielt. Nichts war fertig für den Krieg, den alle erwarteten und zu dessen Vorbereitungen der Kaiser selbst aus Petersburg hergekommen war. Man hatte nicht einmal einen allgemeinen Operationsplan. Nach dem vierwöchigen Aufenthalt des Kaisers im Hauptquartier war das Schwanken, welchen von all den vorliegenden Plänen man wählen sollte, noch heftiger geworden. Jede der drei Armeen hatte ihren eigenen Oberkommandierenden, aber einen gemeinsamen Oberbefehlshaber über alle Armeen gab es nicht, und der Kaiser selbst wollte dieses Amt nicht übernehmen.

Je länger der Kaiser in Wilna verweilte, um so weniger Fortschritte machten die Kriegsvorbereitungen, man war bereits vom Warten müde. Das ganze Bestreben all der Leute, die den Kaiser umgaben, schien nur darauf gerichtet zu sein, ihm die Zeit so angenehm wie möglich zu vertreiben und ihn den bevorstehenden Krieg vergessen zu machen.

Nach den zahlreichen Bällen und Festessen bei den polnischen Magnaten, den Mitgliedern des Hofes und dem Kaiser selber kam einem der polnischen Generaladjutanten im Juni der Gedanke, dem Kaiser im Namen aller seiner Generaladjutanten ein Festessen und einen Ball zu veranstalten. Dieser Gedanke wurde von allen mit Begeisterung aufgenommen. Auch der Kaiser gab seine Zustimmung. Das Geld sammelten die Generaladjutanten durch eine Subskriptionsliste. Eine Dame, der der Kaiser sehr gewogen sein sollte, wurde aufgefordert, auf dem Ball die Wirtin zu spielen. Graf Bennigsen, der im Gouvernement Wilna seine Güter besaß, stellte seine vor der Stadt gelegene Besitzung für diesen Festtag zur Verfügung, und so sollte denn am 12. Juni der Ball, das Festessen, eine Kahnfahrt und Feuerwerk in Sakret, dem Landsitz Bennigsens, stattfinden.

Am selben Tag, an dem Napoleon den Befehl zum Überschreiten des Njemen gegeben hatte und seine Vorhut die Kosaken verdrängte und die russische Grenze überschritt, verlebte Alexander den Abend auf Bennigsens Landhaus, auf dem Ball, den ihm seine Generaladjutanten gaben. Es war ein lustiges, glänzendes Fest. Sachkenner haben behauptet, es seien selten so viele schöne Frauen auf einem Platz versammelt gewesen. Auch die Gräfin Besuchowa, die mit anderen russischen Damen dem Kaiser aus Petersburg nach Wilna gefolgt war, nahm an diesem Ball teil und stellte durch ihre üppige, echt russische Schönheit die zierlichen polnischen Damen in den Schatten. Sie erregte die allgemeine Aufmerksamkeit, und der Kaiser würdigte sie eines Tanzes.

Auch Boris Drubezkoj nahm, da er seine Frau in Moskau gelassen hatte, wie er sagte, »en garçon« an dem Ball teil und hatte, obgleich er nicht Generaladjutant war, eine große Summe für dieses Fest gezeichnet. Er war jetzt ein reicher Mann, der es zu hohen Ehren gebracht hatte, keine Protektion mehr zu suchen brauchte und mit den angesehensten seiner Altersgenossen auf gleichem Fuße stand. In Wilna traf er Helene, die er lange nicht gesehen hatte, rührte jedoch nicht an das Vergangene, und da Helene die Gunst einer sehr einflußreichen Persönlichkeit genoß und Boris jungverheiratet war, begegneten sie einander wie gute alte Freunde.

Um zwölf Uhr nachts wurde noch getanzt. Helene, die gerade keinen würdigen Partner gefunden hatte, forderte Boris selber zu einer Masurka auf. Sie saßen als drittes Paar vorn. Boris betrachtete kaltblütig Helenes glänzende, nackte Schultern, die sich aus der dunklen, goldgestickten Gaze-Robe heraushoben, und erzählte von alten Bekannten, ließ aber dabei, ohne daß er selber und andere es merkten, den Kaiser, der sich im selben Saal befand, nicht einen Augenblick aus den Augen. Der Kaiser tanzte nicht. Er stand in der Tür und hielt mit jenen liebenswürdigen Worten, die nur er zu sagen verstand, bald diesen, bald jenen an.

Als die Masurka begann, sah Boris, wie der Generaladjutant Balaschew, eine Persönlichkeit, die dem Kaiser sehr nahestand, auf diesen zutrat und ganz gegen die Hofsitte dicht neben ihm stehenblieb, obgleich der Kaiser mit einer polnischen Dame sprach. Nachdem der Kaiser noch ein paar Worte zu der Dame gesagt hatte, sah er sich fragend um, begriff anscheinend, daß Balaschew nur stehengeblieben war, weil er einen wichtigen Grund hatte, nickte der Dame leicht zu und wandte sich an Balaschew. Kaum hatte dieser zu reden angefangen, als sich auf dem Gesicht des Kaisers ein sichtliches Staunen ausprägte. Er nahm Balaschews Arm und schritt mit ihm durch den Saal, wobei er sich, ohne es gewahr zu werden, dadurch, daß alle vor ihm beiseite traten, einen etwa sechs Meter breiten Weg bahnte. Im selben Augenblick, als der Kaiser mit Balaschew durch den Saal ging, bemerkte Boris, wie Araktschejew in Aufregung geriet. Er schielte zum Kaiser hinüber, schnaufte durch seine rote Nase und schob sich durch die Menge, als erwarte er, daß sich der Kaiser an ihn wende. Boris begriff, daß Araktschejew auf Balaschew neidisch und ungehalten darüber war, daß irgendeine anscheinend sehr wichtige Neuigkeit dem Kaiser nicht zuerst durch ihn mitgeteilt wurde.

Aber der Kaiser ging mit Balaschew vorbei, ohne Araktschejew zu bemerken, und begab sich durch die Ausgangstür in den erleuchteten Garten. Araktschejew legte die Hand auf den Degen, blickte sich grimmig um und ging in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten hinter ihnen her.

Während Boris fortfuhr, die einzelnen Touren der Masurka zu tanzen, ließ ihm der Gedanke keine Ruhe, was für eine Nachricht Balaschew wohl überbracht haben mochte und auf welche Weise er dies eher als alle übrigen in Erfahrung bringen könne.

Als die Tour kam, wo er eine Dame zu engagieren hatte, flüsterte er Helene zu, er wolle die Gräfin Potocka holen, die wohl auf die Terrasse hinausgetreten sei, chassierte über das Parkett und eilte auf die Ausgangstür zu, die in den Garten führte, blieb aber plötzlich dort stehen, als er den Kaiser mit Balaschew über die Terrasse zurückkommen sah. Sie kamen in der Richtung auf die Tür zu. Boris drückte sich eilig, als habe er keine Zeit mehr gehabt, zurückzutreten, an den Türpfosten und senkte den Kopf.

Der Kaiser, erregt wie ein Mensch, der persönlich beleidigt worden ist, sagte gerade die Worte: »Ohne Kriegserklärung in Rußland einzufallen! Ich werde erst dann Frieden schließen, wenn kein bewaffneter Feind mehr auf meinem Grund und Boden steht.«

Es schien Boris, als bereite es dem Kaiser Vergnügen, diese Worte auszusprechen: er war mit der Form, in die er seine Gedanken gekleidet hatte, zufrieden, aber ungehalten darüber, daß Boris sie gehört hatte.

»Niemand darf etwas davon erfahren!« fügte der Kaiser hinzu und zog finster die Stirn zusammen.

Boris verstand, daß sich das auf ihn bezog, schloß die Augen und neigte leicht den Kopf. Der Kaiser trat wieder in den Saal und blieb noch eine halbe Stunde auf dem Ball.

So erfuhr Boris als erster die Nachricht von dem Übergang der französischen Truppen über den Njemen und hatte somit Gelegenheit, einigen wichtigen Persönlichkeiten zu zeigen, daß vieles, was anderen verborgen blieb, ihm bekannt zu sein pflegte, wodurch er sich wiederum im Ansehen dieser Persönlichkeiten noch höher schraubte.

Die plötzliche Nachricht vom Übergang der Franzosen über den Njemen kam nach diesem ganzen Monat vergeblichen Wartens besonders überraschend, und nun noch dazu während des Balles. Im ersten Augenblick nach dem Eintreffen der Nachricht, noch ganz von Empörung und beleidigtem Gefühl beeinflußt, hatte der Kaiser diesen Ausspruch getan, der nachher berühmt geworden ist, der ihm selber gefiel, und der seine Gefühle ganz zum Ausdruck brachte.

Vom Ball nach Hause zurückgekehrt, schickte der Kaiser um zwei Uhr nachts nach seinem Sekretär Schischkow und befahl ihm, den Kriegsbefehl an die Truppen und einen Erlaß an den Feldmarschall Fürsten Saltykow zu schreiben, und verlangte dabei unbedingt, daß darin die Worte angebracht werden sollten, daß er nicht Frieden schließen werde, solange noch ein bewaffneter Franzose auf russischen Grund und Boden stehe.

Am folgenden Tag wurde folgender Brief auf französisch an Napoleon geschrieben:

»Mein Herr Bruder!

Gestern habe ich erfahren, daß trotz der Treue, mit der ich meine Verpflichtungen gegen Euer Majestät erfüllt habe, Dero Truppen die Grenzen Rußlands überschritten haben, und soeben erhalte ich aus Petersburg eine Note, in der Graf Lauriston mir als Grund dieses Einbruches angibt, Euer Majestät hätten sich von dem Augenblick an, als Fürst Kurakin seine Pässe gefordert habe, als im Kriegszustand mit mir stehend betrachtet. Die Gründe, mit denen der Herzog von Bassano seine Weigerung, sie ihm auszuliefern, erklärt hat, hätten mich nie vermuten lassen, daß dieser Schritt je als Vorwand zu einem Angriff dienen könne. Tatsächlich ist mein Botschafter, wie er es auch selber erklärt hat, niemals dazu ermächtigt gewesen, und ich habe ihm, sobald ich nur darüber informiert wurde, unverzüglich meine Mißbilligung über sein Verhalten ausgesprochen, ihm aber befohlen, auf seinem Posten zu bleiben. Wenn Euer Majestät nicht willens sind, das Blut unserer Völker eines derartigen Mißverständnisses wegen zu vergießen, und sich bereit finden, Dero Truppen aus russischem Gebiet zurückzuziehen, werde ich das, was vorgefallen ist, als nicht geschehen betrachten, und eine Verständigung zwischen uns wäre noch möglich. Im entgegengesetzten Fall jedoch, Euer Majestät, werde ich mich gezwungen sehen, einen Angriff zurückzuschlagen, den ich durch nichts herausgefordert habe. Noch hängt es von Euer Majestät ab, der Menschheit das Elend eines neuen Krieges zu ersparen.

Ich bin und so weiter

(gez.) Alexander.«

4

In der Nacht vom 13. zum 14. Juni um zwei Uhr ließ der Kaiser Balaschew zu sich rufen, las ihm seinen Brief an Napoleon vor und befahl ihm, diesen Brief zu überbringen und dem französischen Kaiser persönlich zu überreichen. Als der Kaiser Balaschew verabschiedete, wiederholte er ihm noch einmal die Worte, daß er nicht Frieden schließen werde, solange noch ein einziger bewaffneter Feind auf russischem Boden stehe, und trug ihm auf, diese Worte unbedingt Napoleon zu übermitteln. In seinem Brief an Napoleon hatte der Kaiser diese Worte deshalb nicht angeführt, weil sein Takt ihm eingab, daß in einem Augenblick, da der letzte Versuch einer friedlichen Verständigung unternommen wurde, ein solcher Ausspruch nicht am Platze sei. Aber er trug Balaschew ausdrücklich auf, diese Worte Napoleon mündlich zu überbringen.

Balaschew ritt noch in derselben Nacht, von einem Trompeter und zwei Kosaken begleitet, fort und stieß in der Morgendämmerung bei dem Dorf Rikonti auf französische Vorposten diesseits des Njemen. Er wurde von einer französischen Kavalleriewache angehalten.

Ein französischer Husarenunteroffizier in roter Uniform und zottiger Pelzmütze rief den herbeireitenden Balaschew an und befahl ihm, haltzumachen. Balaschew hielt nicht sogleich an, sondern ritt im Schritt auf dem Wege weiter.

Der Unteroffizier machte ein finsteres Gesicht, brummte ein Schimpfwort vor sich hin, drängte sich mit der Brust seines Pferdes dicht an Balaschew, zog den Säbel und schnauzte den russischen General grob an, indem er ihn fragte, ob er wohl taub sei, daß er nicht höre, was man ihm sage. Balaschew nannte seinen Namen. Der Unteroffizier schickte einen Soldaten zu seinem Offizier.

Ohne Balaschew weiter irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, unterhielt sich der Unteroffizier dann mit seinen Kameraden über dienstliche Angelegenheiten und würdigte den russischen General keines Blickes mehr.

Es befremdete Balaschew außerordentlich, hier auf russischem Boden diesem feindlichen und vor allem unehrerbietigen Benehmen einer rohen Gewalt ausgesetzt zu sein, nachdem er stets in nächster Nähe der höchsten herrschenden Macht gewesen war und noch vor drei Stunden eine Unterredung mit dem Kaiser gehabt hatte und überhaupt in seiner dienstlichen Stellung an die höchsten Ehrenbezeigungen gewöhnt war.

Eben fing die Sonne an, aus den Wolken hervorzusteigen. Die Luft war frisch und feucht vom Tau. Auf dem Weg vom Dorfe her wurde eine Viehherde getrieben. Die Lerchen stiegen, eine nach der anderen wie Bläschen im Wasser, jubilierend in den Feldern auf.

Balaschew schaute sich rings um, während er auf die Ankunft des Offiziers aus dem Dorfe wartete. Ab und zu blickten sich die russischen Kosaken und der Trompeter und die französischen Husaren stumm an.

Der französische Husarenoberst, der sichtlich soeben erst aus dem Bett aufgestanden war, kam auf einem hübschen, feisten Grauschimmel, von zwei Husaren begleitet, vom Dorf herangeritten. Der Offizier, die Soldaten und auch ihre Pferde machten einen satten, stutzerhaften Eindruck.

Es war ja auch in jener ersten Zeit des Feldzuges, in der sich die Truppen noch in tadellosem Zustand befanden, fast wie bei einer Besichtigung oder im Friedensdienst, nur mit einem leisen Anflug schmucker Feldzugsmäßigkeit im Äußeren und jener Lustigkeit und Unternehmungslust im Innern, die mit jedem Feldzugsbeginn Hand in Hand geht.

Der französische Oberst konnte nur mit Mühe das Gähnen unterdrücken, aber er war höflich und begriff augenscheinlich Balaschews Bedeutung voll und ganz. Er geleitete ihn an seinen Soldaten vorbei bis hinter die Vorpostenkette und teilte ihm mit, daß sein Wunsch, dem Kaiser vorgestellt zu werden, wahrscheinlich gleich erfüllt werden könne, da, soviel er wisse, das Quartier des Kaisers nicht allzu weit entfernt sei.

Sie ritten durch den Ort Rikonti, an den Koppeln französischer Husarenpferde, an Wachen und Soldaten vorbei, die ihrem Oberst Ehrenbezeigungen erwiesen und neugierig die russische Uniform betrachteten, und verließen dann auf der anderen Seite das Dorf. Der Oberst sagte, der Divisionskommandeur befinde sich zwei Kilometer von hier, er werde Balaschew empfangen und seiner Bestimmung zuführen.

Die Sonne war nun ganz aufgegangen und bestrahlte heiter das leuchtende Grün.

Kaum waren sie hinter der Schenke bergauf geritten, als ihnen von der anderen Seite der Anhöhe von unten her ein Reitertrupp entgegenkam. Voraus ritt auf einem Rappen mit in der Sonne glitzerndem Geschirr ein hochgewachsener Mann in Federhut, schwarzem bis auf die Schultern herabwallendem Haar und einem roten Mantel. Er ritt, die langen Beine nach vorn gestreckt, wie die Franzosen zu reiten pflegen. Dieser Mann kam Balaschew im Galopp entgegen, wobei seine Edelsteine und goldenen Tressen in der grellen Junisonne blitzten und die Federn am Hut im Winde flatterten.

Balaschew war nur noch zwei Pferdelängen von dem ihm entgegensprengenden, mit Armbändern, Federn, Orden und Gold überladenen Reiter, der eine feierlich theatralische Miene zur Schau trug, entfernt, als der französische Husarenoberst ihm respektvoll zuflüsterte: »Le roi de Naples.«

Und wirklich war es Murat, der sich jetzt König von Neapel nannte. Obgleich es vollkommen unverständlich war, warum er gerade König von Neapel hieß, wurde er doch so genannt, und er selbst war von dieser Würde so sehr durchdrungen, daß er nunmehr eine noch feierlichere und wichtigere Miene aufsetzte als früher. Er war von seiner Wichtigkeit als König von Neapel so überzeugt, daß er, als er am Vorabend seiner Abreise aus Neapel mit seiner Frau durch die Straßen gegangen war und einige Italiener ihm zugerufen hatten: »Viva il re!«, sich mit trübem Lächeln an seine Gattin gewandt und gesagt hatte: »Les malheureux, ils ne savent pas, que je les quitte demain.«

Doch wenn er auch fest daran glaubte, König von Neapel zu sein, und Mitleid mit seinen von ihm verlassenen Untertanen fühlte, hatte er doch jetzt, als ihm befohlen worden war, wieder in den Militärdienst einzutreten, und besonders nach dem Wiedersehen mit Napoleon in Danzig, wo der erlauchte Schwager zu ihm gesagt hatte: »Je vous ai fait roi pour régner à ma manière, mais pas à la vôtre …«, das ihm so wohlvertraute Kriegshandwerk freudig wieder aufgenommen und galoppierte nun wie ein wohlgenährtes, aber nicht überfüttertes Pferd, das sich wieder eingeschirrt fühlt und, so bunt und kostbar wie nur möglich herausgeputzt, spielend an der Deichsel zieht, heiter und zufrieden auf den Straßen Polens einher, ohne selber zu wissen, wohin und zu welchem Zweck.

Als er den russischen General erblickte, warf er feierlich und auf königliche Art den Kopf mit dem bis auf die Schultern herabwallenden Haar zurück und warf dem französischen Obersten einen fragenden Blick zu. Der Oberst setzte Seiner Majestät ehrerbietigst Balaschews Bedeutung auseinander, dessen Namen er nicht aussprechen konnte.

»De Bal-Machève!« sagte der König, mit der ihm eigenen Energie die Schwierigkeit, die dieser Name dem Obersten bereitete, überwindend, und fügte dann mit einer königlich gnädigen Gebärde hinzu: »Charmé de faire votre connaissance, général.«

Sobald der König laut und schnell zu sprechen anfing, ließ ihn seine ganze königliche Würde augenblicklich im Stich, und er ging, ohne es selber zu merken, in einen Ton gutmütiger Familiarität über. Er legte seine Hand auf den Hals von Balaschews Pferd.

»Eh bien, général, tout est à la guerre, à ce qu’il paraît«, sagte er, als wolle er über eine Tatsache, die er nicht beurteilen könne, sein Bedauern aussprechen.

»Sire«, erwiderte Balaschew, »l’empereur mon maître ne désire point la guerre, comme Votre Majesté le voit.« Balaschew gebrauchte den Titel: Votre Majesté in allen nur möglichen Fällen und wiederholte somit einer Person gegenüber, für die dieser Titel noch etwas Neues war, mit einer zwar unvermeidlichen Geziertheit diese Anrede immer wieder und wieder.

Die ganze Zeit über, die Murat Monsieur de Balacheff anhörte, strahlte sein Gesicht in törichter Befriedigung. Aber royauté oblige: und so fühlte er als König und Verbündeter Napoleons die Verpflichtung, mit dem Gesandten Alexanders von Staatsangelegenheiten zu sprechen. Er stieg vom Pferd, nahm Balaschews Arm, führte ihn ein paar Schritte von seinem ehrerbietig wartenden Gefolge beiseite, ging mit ihm auf und ab und gab sich Mühe, ein bedeutsames Gespräch in Gang zu bringen. Er erinnerte daran, daß sich Kaiser Napoleon durch die Forderung, seine Truppen aus Preußen zurückzuziehen, beleidigt gefühlt habe, hauptsächlich deshalb, weil diese Forderung zu aller Kenntnis gelangt und dadurch die Würde Frankreichs verletzt worden sei.

Balaschew erwiderte, in dieser Forderung könne nichts Beleidigendes liegen, das ja … Aber Murat unterbrach ihn.

»So halten Sie also Kaiser Alexander gar nicht für den Anstifter des Krieges?« fragte er plötzlich mit einem einfältig gutmütigen Lächeln.

Balaschew erklärte ihm, warum er der Ansicht sei, daß in Wirklichkeit Napoleon den Krieg angefangen habe.

»Eh, mon cher général«, unterbrach ihn wieder Murat, »je désire de tout mon cœur, que les empereurs s’arrangent entre eux et que la guerre commencée malgré moi se termine le plus tôt possible.« Er sagte das in einem Ton, wie Diener sprechen, wenn sie, ungeachtet der Streitigkeiten zwischen ihren Herrschaften, untereinander Freunde bleiben wollen.

Dann leitete er das Gespräch auf den Großfürsten über, fragte, wie es ihm gehe, und gedachte der heiteren, ergötzlichen Zeiten, die er mit ihm zusammen in Neapel verlebt hatte. Dann aber richtete sich Murat, als fiele ihm seine königliche Würde plötzlich wieder ein, auf einmal feierlich gerade, nahm die Pose an, die er bei der Krönung gezeigt haben mochte, winkte mit der rechten Hand und sagte: »Je ne vous retiens plus, général; je souhaite le succès de votre mission«, und mit seinem roten gestickten Mantel, dem Federhut und den blitzenden Edelsteinen trat er wieder auf sein Gefolge zu, das ehrerbietig auf ihn gewartet hatte.

Balaschew setzte seinen Weg fort und nahm nach den Worten Murats an, daß er Napoleon selbst nun sehr bald vorgestellt werden würde. Aber statt der ersehnten Zusammenkunft mit Napoleon hielt ihn eine Infanteriewache des Davoustschen Korps am nächsten Dorf wieder ebenso an, wie er schon an der Vorpostenkette angehalten worden war, und der herbeigerufene Adjutant des Korpskommandeurs geleitete ihn ins Dorf hinein zu Marschall Davoust.

5

Davoust war der Araktschejew Kaiser Napoleons. Ebenso wie Araktschejew war auch er kein Feigling, aber er war auch ebenso pedantisch und tyrannisch und wußte seiner Ergebenheit für den Kaiser nicht anders Ausdruck zu verleihen als durch Grausamkeit.

Im Räderwerk eines Staates sind solche Leute notwendig, ebenso notwendig wie die Wölfe im Haushalt der Natur, und immer und überall sind sie da, tauchen immer wieder auf und behaupten sich, wie sinnwidrig auch ihre Gegenwart in der Nähe eines Regierungshauptes scheint. Nur aus dieser Notwendigkeit ist es zu erklären, daß ein so ungebildeter, linkischer, grausamer Mensch wie Araktschejew, der den Grenadieren eigenhändig die Schnurrbärte herausriß, dabei aber aus Nervenschwäche keine Gefahr ertragen konnte, sich mit einer solchen Macht in der Nähe des ritterlich edlen und zarten Alexander behaupten konnte.

Balaschew fand den Marschall Davoust im Schuppen eines Bauernhauses vor, wo er auf einem Fäßchen saß und schriftliche Arbeiten erledigte: er prüfte Rechnungen nach. Sein Adjutant stand neben ihm. Sicherlich hätte er ein besseres Quartier finden können, aber Marschall Davoust gehörte zu den Leuten, die absichtlich unangenehme Lebensbedingungen suchen, nur, um das Recht zu haben, selber unangenehm zu sein. Aus eben dem selben Grund sind sie auch immer hastig und hartnäckig beschäftigt. Wie kann ich an die glücklichen Seiten des Lebens denken, wenn ich, wie Sie sehen, hier in einem schmutzigen Schuppen auf einem Fasse sitze und arbeite! schien sein Gesicht zu sagen. Das hauptsächlichste Vergnügen und Bedürfnis dieser Leute besteht darin, wenn sie mit lebenslustigen Menschen zusammentreffen, diesen ihre eigne finstere und hartnäckige Geschäftigkeit vor Augen zu halten. Dieses Vergnügen leistete sich Davoust, als man Balaschew zu ihm führte. Er vertiefte sich noch mehr in seine Arbeit, warf, als der russische General eintrat, über seine Brille hinweg einen kurzen Blick auf das durch die Eindrücke des herrlichen Morgens und die Unterhaltung mit Murat belebte Gesicht Balaschews, stand aber nicht auf, ja rührte sich nicht einmal, sondern machte ein noch finstereres Gesicht und lächelte feindselig.

Als er in Balaschews Mienen den unangenehmen Eindruck wahrnahm, den dieser Empfang bei ihm auslöste, hob er endlich den Kopf und fragte kalt, was ihm gefällig sei.

Balaschew nahm an, ein solcher Empfang könne ihm nur darum zuteil werden, weil Davoust nicht wisse, daß er der Generaladjutant Kaiser Alexanders und sogar dessen Vertreter Napoleon gegenüber sei, und beeilte sich deshalb, seinen Namen und seinen Auftrag zu nennen. Doch ganz gegen seine Erwartung wurde Davoust, nachdem er Balaschew angehört hatte, noch finsterer und gröber.

»Wo ist Ihr Brief?« fragte er. »Donnez-le moi, je l’enverrai à l’empereur.«

Balaschew erwiderte, daß ihm befohlen sei, den Brief dem Kaiser nur persönlich zu übergeben.

»Die Befehle Ihres Kaisers werden in Ihrer Armee ausgeführt, hier aber«, fuhr Davoust fort, »müssen Sie das tun, was Ihnen gesagt wird.«

Und wie um den russischen General seine Abhängigkeit von der rohen Gewalt noch mehr fühlen zu lassen, ließ Davoust durch einen Adjutanten den Offizier vom Dienst rufen.

Balaschew zog das Päckchen hervor, das den Brief des Kaisers enthielt, und legte es auf den Tisch. Dieser Tisch bestand aus einer Tür, die man über zwei Fäßchen gelegt hatte und an der noch die herausgerissenen Angeln steckten.

Davoust nahm den Brief in die Hand und las die Anschrift.

»Es steht vollkommen in Ihrem Ermessen, mir Achtung zu erweisen oder nicht«, sagte Balaschew, »aber erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß ich die Ehre habe, das Amt eines Generaladjutanten bei Seiner Majestät zu bekleiden.«

Davoust sah ihn schweigend an, und die Erregung und Verwirrung, die sich auf Balaschews Gesicht ausprägte, schien ihm sichtlich Vergnügen zu bereiten.

»Man wird Ihnen erweisen, was Ihnen gebührt«, sagte er dann, steckte den Brief in die Tasche und verließ den Schuppen.

Einen Augenblick darauf kam der Adjutant des Marschalls, de Castré, und führte Balaschew in das für ihn vorbereitete Quartier.

An jenem Tag speiste Balaschew mit dem Marschall zusammen im Schuppen an jener Brettertür, die auf den Fässern ruhte.

Tags darauf ritt Davoust zeitig am Morgen fort, nachdem er Balaschew zu sich befohlen und eindringlich gesagt hatte, er bitte ihn, hier zu bleiben und sich nur mit der Bagage vorwärts zu bewegen, falls hierzu der Befehl eintreffen sollte, auch dürfe er mit keinem Menschen reden, außer mit Herrn de Castré.

Nach vier Tagen der Einsamkeit und Langweile, in der sich Balaschew seiner Ohnmacht und Nichtigkeit voll bewußt wurde, was er ganz besonders deshalb so drückend empfand, weil er sich noch unlängst selber im Zentrum der Macht befunden hatte, nach verschiedentlichen Märschen zusammen mit der Bagage des Marschalls und den französischen Truppen, die das ganze Gelände besetzt hatten, wurde Balaschew nach Wilna gebracht, das jetzt von den Franzosen eingenommen worden war, und zwar gelangte er durch denselben Schlagbaum wieder in die Stadt, durch den er vor vier Tagen ausgeritten war.

Am nächsten Morgen kam der Kammerherr des Kaisers, Monsieur de Turenne, zu Balaschew und setzte ihn vom Wunsch Kaiser Napoleons in Kenntnis, ihn einer Audienz zu würdigen.

Vor vier Tagen hatten vor demselben Haus, wohin man nun Balaschew führte, die Wachen des Preobraschenskij-Regiments gestanden, jetzt standen dort zwei französische Grenadiere in ihren blauen, über der Brust offenen Uniformen und zottigen Pelzmützen, eine Eskorte von Husaren und Ulanen und ein glänzendes Gefolge von Adjutanten, Pagen und Generälen, das sich um das vor der Freitreppe stehende Reitpferd Napoleons und seinen Mamelucken Rustan[129] drängte und auf das Herauskommen des Kaisers wartete. Napoleon empfing Balaschew in demselben Haus in Wilna, wo ihn Kaiser Alexander entlassen hatte.

6

Obgleich Balaschew an einen glänzenden Hofstaat gewöhnt war, setzte ihn Napoleons prächtige und üppige Hofhaltung doch in Erstaunen.

Graf Turenne führte ihn in ein großes Empfangszimmer, wo schon viele Generäle und Kammerherren sowie polnische Magnaten warteten, von denen Balaschew gar manche auch am Hof des russischen Kaisers gesehen hatte. Duroc sagte, Kaiser Napoleon wolle den russischen General noch vor seinem Spazierritt empfangen.

Nachdem Balaschew ein paar Minuten gewartet hatte, trat der Kammerherr vom Dienst in das große Empfangszimmer, verbeugte sich höflich vor Balaschew und forderte ihn auf, ihm zu folgen.

Balaschew trat aus dem großen in ein kleineres Empfangszimmer, von wo aus eine Tür in das Arbeitszimmer führte, in jenes selbe Arbeitszimmer, wo ihn Kaiser Alexander verabschiedet hatte. Hier mußte er noch ein paar Minuten warten. Hinter der Tür hörte man eilige Schritte. Dann taten sich beide Flügel auf, alles wurde still, aus dem Arbeitszimmer kamen feste, energische Schritte: das war Napoleon. Er hatte soeben erst seine Toilette zum Ausreiten beendet, trug eine blaue Uniform, die eine weiße, über seinen rundlichen Bauch herabhängende Weste sehen ließ, weiße, die feisten Schenkel seiner kurzen Beine prall umspannende Lederhosen und Schaftstiefel. Sein kurzes Haar war offenbar soeben erst gekämmt, nur eine einzelne Haarsträhne hing mitten über seine breite Stirn. Der weiße, fleischige Hals hob sich scharf von dem schwarzen Uniformkragen ab; er roch nach Eau de Cologne. Auf seinem jugendlich erscheinenden vollen Gesicht mit dem hervortretenden Kinn lag der Ausdruck einer gnädigen, kaiserlich majestätischen Bewillkommnung.

Hastig trat er ein, zuckte bei jedem Schritt etwas zusammen und hielt den Kopf ein wenig zurückgeworfen. Seine ganze wohlbeleibte, gedrungene Gestalt mit den breiten, vollen Schultern und dem unwillkürlich vorgereckten Bauch und Brustkasten bot jenes Achtung heischende, stattliche Aussehen, das Männer von vierzig Jahren zu haben pflegen, die das Leben verwöhnt und verhätschelt hat. Zudem war deutlich zu sehen, daß er sich heute in der denkbar besten Laune befand.

Als Antwort auf die tiefe und ehrerbietige Verbeugung Balaschews nickte er, trat auf ihn zu und fing sogleich zu reden an wie ein Mensch, dem jede Minute seiner Zeit kostbar ist und der sich nicht dazu herabläßt, seine Worte vorzubereiten, sondern davon überzeugt ist, daß er immer das sagen wird, was richtig und notwendig ist.

»Guten Tag, General!« sagte er. »Ich habe den Brief Kaiser Alexanders, den Sie überbracht haben, erhalten und freue mich sehr, Sie zu sehen.« Er warf mit seinen großen Augen einen Blick in Balaschews Gesicht, sah aber dann sogleich wieder an ihm vorbei.

Augenscheinlich interessierte ihn Balaschews Persönlichkeit nicht im geringsten. Augenscheinlich hatte nur das, was in seiner eignen Seele vorging, Interesse für ihn. Alles, was außerhalb seiner Person war, hatte für ihn keine Bedeutung, da ja doch alles in der Welt – so schien es ihm wenigstens – nur von seinem Willen abhing.

»Ich wünsche den Krieg nicht und habe ihn niemals gewünscht«, fuhr er fort, »aber man hat ihn mir aufgenötigt. Auch jetzt« – er betonte dieses Wort scharf – »bin ich noch bereit, alle Erklärungen, die Sie mir geben können, entgegenzunehmen.«

Und kurz und klar setzte er alle Gründe seiner Unzufriedenheit mit der russischen Regierung auseinander. Der ruhige, gemessene und freundliche Ton, in dem der französische Kaiser sprach, erweckte in Balaschew die feste Überzeugung, daß er den Frieden wünsche und gesonnen sei, in Unterhandlungen zu treten.

»Sire! L’empereur mon maître …«, fing Balaschew seine schon längst vorbereitete Rede an, als Napoleon zu Ende gesprochen hatte und den russischen Gesandten fragend ansah. Aber dieser Blick der auf ihn gerichteten Augen des Kaisers verwirrte Balaschew. Sie sind verwirrt, fassen Sie sich! schien Napoleon zu sagen, während er mit einem kaum merklichen Lächeln Balaschews Uniform und Degen musterte.

Balaschew nahm sich zusammen und fing an zu sprechen. Er sagte, daß Kaiser Alexander die Tatsache, daß Kurakin seine Pässe gefordert habe, nicht für einen hinreichenden Grund zum Krieg ansehe, weil Kurakin auf eigne Faust und ohne Einwilligung des Kaisers gehandelt habe, daß Kaiser Alexander den Krieg nicht wolle und daß von einem Einvernehmen mit England gar keine Rede sein könne.

»Noch nicht«, warf Napoleon ein, zog aber dann, als fürchte er, seinen Gefühlen nachzugeben, die Stirn kraus und nickte leicht, um dadurch Balaschew zu verstehen zu geben, daß er fortfahren könne.

Nachdem Balaschew alles gesagt hatte, was ihm befohlen worden war, fügte er noch hinzu, daß Kaiser Alexander den Frieden wünsche, aber nur unter der Bedingung in Unterhandlungen eintreten werde, daß … Hier stockte Balaschew: er dachte an jene Worte, die Kaiser Alexander nicht in den Brief geschrieben hatte, die er aber unbedingt in den Erlaß an Saltykow aufgenommen wissen wollte und die auch Balaschew, wie er befohlen hatte, Napoleon übermitteln sollte. Balaschew dachte an die Worte:

»Solange noch ein bewaffneter Feind auf russischem Grund und Boden steht«, aber ein verworrenes Gefühl hielt ihn zurück. Er war nicht imstande, diese Worte auszusprechen, obgleich er es tun wollte. So stockte er und sagte: »Unter der Bedingung, daß die französischen Truppen sich hinter den Njemen zurückziehen.«

Napoleon bemerkte Balaschews Verwirrung, als dieser die letzten Worte aussprach. Des Kaisers Gesicht zuckte, und seine linke Wade fing leise zu zittern an. Aber er blieb ruhig stehen und begann nur mit etwas erhöhter und hastigerer Stimme zu reden. Balaschew senkte während der nun folgenden Rede Napoleons mehrmals die Augen und beobachtete unwillkürlich das Zittern seiner linken Wade, das um so heftiger wurde, je mehr er die Stimme erhob.

»Ich wünsche den Frieden nicht weniger als Kaiser Alexander«, fing er an. »Habe ich nicht achtzehn Monate lang alles getan, um ihn zu erhalten? Achtzehn Monate lang habe ich auf eine Erklärung gewartet. Und was verlangt man nun von mir, um in Verhandlungen einzutreten?« sagte er, zog finster die Stirn kraus und machte eine energische, fragende Gebärde mit seiner kleinen weißen, vollen Hand.

»Daß die Truppen sich hinter den Njemen zurückziehen, Majestät«, erwiderte Balaschew.

»Hinter den Njemen?« wiederholte Napoleon. »So wollen Sie also jetzt, daß ich meine Truppen hinter den Njemen zurückziehe – nur bis hinter den Njemen?« sagte Napoleon noch einmal und sah Balaschew gerade ins Gesicht.

Balaschew neigte ehrerbietig den Kopf.

»Statt der vor vier Monaten von mir geforderten Räumung Pommerns verlangt man jetzt nur, daß ich mich hinter den Njemen zurückziehe?« Napoleon wandte sich schnell um und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Sie sagen, daß man, um die Verhandlungen beginnen zu können, von mir fordert, ich solle hinter den Njemen zurückgehen; aber ebenso hat man vor zwei Monaten von mir verlangt, ich solle mich hinter die Oder oder Weichsel zurückziehen, und trotzdem sind Sie jetzt wieder zu Unterhandlungen bereit.«

Schweigend ging er von einer Ecke zur anderen und blieb dann wieder vor Balaschew stehen. Balaschew bemerkte, daß sich das Zittern seines linken Beines noch verstärkt hatte, und daß sein Gesicht in einem strengen Ausdruck wie versteinert schien. Napoleon kannte dieses Zittern seiner linken Wade an sich sehr wohl und äußerte sich einmal darüber: »La Vibration de mon mollet gauche est un grand signe chez moi.«

»Eine solche Forderung, die Gegend bis zur Oder oder Weichsel zu räumen, kann man wohl einem Prinzen von Baden stellen, nicht aber mir«, schrie Napoleon plötzlich und auch für sich selber ganz unerwartet heraus. »Und wenn ihr mir Petersburg oder Moskau anbötet, ich würde diese Bedingungen nicht annehmen! Ihr sagt, ich hätte den Krieg angefangen? Wer aber hat sich zuerst zu seiner Armee begeben? Kaiser Alexander und nicht ich. Jetzt schlagt ihr mir Unterhandlungen vor, wo ich Millionen verausgabt habe? Jetzt, wo ihr ein Bündnis mit England geschlossen habt und eure Lage kritisch ist? Jetzt kommt ihr mir mit Unterhandlungen! Und was für einen Zweck hat euer Bündnis mit England? Was habt ihr von England dafür erhalten?« fuhr er hastig fort und beabsichtigte durch seine Rede offenbar nicht mehr, die Vorteile eines Friedensschlusses und seine Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, sondern nur seinen Standpunkt zu rechtfertigen, seine Macht zu zeigen und Alexanders Unrecht und Fehler klarzulegen.

Augenscheinlich hatte er seine Rede begonnen, um die Vorteile seiner Lage auseinanderzusetzen und zu zeigen, daß er trotz alledem zu Unterhandlungen bereit sei. Aber er hatte nun einmal angefangen, und je länger er sprach, um so weniger war er imstande, seinen Worten eine bestimmte Richtung zu geben.

Das ganze Ziel seiner Rede schien jetzt offenbar nur darin zu bestehen, sich selbst in den Himmel zu heben und Alexander zu beleidigen, das heißt, gerade das zu tun, was er zu Anfang der Unterredung am allerwenigsten gewollt hatte.

»Man sagt, daß ihr mit den Türken Frieden geschlossen[130] habt?«

Balaschew neigte bestätigend den Kopf.

»Der Friede ist geschlossen …« fing er an.

Aber Napoleon ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er hatte offenbar das Bedürfnis, immer nur allein zu sprechen, und fuhr mit der Beredsamkeit und dem nervösen Redeeifer, zu dem verwöhnte Leute so leicht neigen, in seinen Erklärungen fort.

»Ja, ich weiß, ihr habt mit den Türken Frieden geschlossen, ohne die Moldau und die Walachei erhalten zu haben. Ich aber hätte eurem Kaiser diese Provinzen ebenso geben können, wie ich ihm Finnland gegeben habe. Ja«, fuhr er fort, »ich hatte es Kaiser Alexander sogar versprochen und hätte ihm die Moldau und die Walachei auch ganz sicherlich gegeben, jetzt aber wird er nun auf diese schönen Provinzen verzichten müssen. Er hätte sie seinem Reich einverleiben und auf diese Weise Rußlands Herrschaft vom Bottnischen Meerbusen bis zu den Mündungen der Donau befestigen können. Mehr hätte eine Katharina die Große nicht zustande gebracht!« rief Napoleon aus, der sich immer mehr ereiferte, während er im Zimmer auf und ab ging und Balaschew fast dieselben Worte wiederholte, die er in Tilsit zu Alexander selber gesagt hatte. »Tout cela il l’aurait du à mon amitié. Ah, quel beau règne, quel beau règne!« wiederholte er mehrmals, blieb stehen, zog die goldene Schnupftabaksdose aus der Tasche und nahm gierig eine Prise.

»Quel beau règne aurait pu être celui de l’empereur Alexandre!«

Mit sichtlichem Bedauern blickte er Balaschew an, sobald aber dieser nur irgend etwas bemerken wollte, unterbrach er ihn sogleich wieder hastig.

»Was hätte er wünschen und suchen können, das er in meiner Freundschaft nicht gefunden hätte?« sagte er und zuckte ungläubig mit den Schultern. »Aber nein, er hat es vorgezogen, sich mit Feinden von mir zu umgeben, und mit wem noch dazu?« fuhr Napoleon fort. »Diesen Stein [131] hat er zu sich herangezogen, diesen Armfelt, diesen Bennigsen, diesen Wintzingerode. Stein ist ein Verräter, den man aus seinem Vaterland vertrieben hat, Armfelt – ein Wüstling und Intrigant, Wintzingerode – ein entlaufener Untertan Frankreichs, Bennigsen hat zwar als Soldat vor den anderen etwas voraus, ist aber dabei doch unfähig, da er ja im Jahre 1807 auch nichts zu erreichen verstanden hat, und müßte doch bei Kaiser Alexander schlimme Erinnerungen wecken … Gesetzt den Fall, sie wären wirklich fähig, dann könnte man sie ja verwenden«, fuhr Napoleon fort, der kaum mit Worten den unaufhörlich in ihm aufkeimenden Ideen folgen konnte, die alle sein Recht und seine Macht – was nach seiner Auffassung dasselbe war – bewiesen, »aber das sind sie ja eben nicht: sie taugen weder für den Krieg noch für den Frieden! Es heißt ja, dieser Barclay soll tüchtiger sein als die anderen alle, aber nach seinen ersten Schritten zu urteilen, kann ich das nicht sagen. Und was tun, ja was tun sie denn eigentlich, all diese Herren vom Hofe? Pfuel bringt etwas in Vorschlag, Armfelt behauptet das Gegenteil, Bennigsen überprüft die ganze Sache, Barclay aber, der operieren soll, weiß nicht, wofür er sich entscheiden muß, und so vergeht die Zeit, und es wird nichts erreicht. Der einzige, der etwas vom Krieg versteht, ist Bagration. Er ist zwar dumm, aber er hat Erfahrung, Augenmaß und weiß, was er will … Und was für eine Rolle spielt nun euer junger Kaiser in diesem wirren Knäuel? Sie stellen ihn bloß, bürden ihm aber dann die Verantwortung für alles auf, was geschieht. Un souverain ne doit être à l’armée que quand il est général«, fügte er hinzu, als schleudere er diese letzten Worte Kaiser Alexander als direkte Herausforderung ins Gesicht, da er wußte, daß es Alexanders sehnlichster Wunsch war, ein guter Feldherr zu sein.

»Seit acht Tagen haben wir nun schon Krieg, und trotzdem habt ihr Wilna nicht zu schützen verstanden. Ich habe eure Armee in zwei Hälften gespalten und sie aus den polnischen Provinzen hinausgejagt. Eure Truppen murren.«

»Im Gegenteil, Euer Majestät«, fiel Balaschew ein, der sich nur mit Mühe alles das, was ihm Napoleon sagte, merken und diesem Feuerwerk von Worten kaum folgen konnte, »unsere Truppen brennen vor Begier …«

»Ich weiß, weiß alles«, unterbrach ihn wieder Napoleon, »und kenne sogar die Zahl eurer Bataillone ebenso genau wie die der meinigen. Ihr habt keine zweimalhunderttausend Mann, ich aber habe das Dreifache. Auf Ehrenwort«, fuhr Napoleon fort, ohne daran zu denken, daß sein Ehrenwort von gar keiner Bedeutung sein konnte, »ich gebe Ihnen ma parole d’honneur que j’ai cinq cent trente mille hommes de ce côté de la Vistule. Die Türken können euch keinen Beistand leisten: sie haben noch nie zu etwas getaugt und haben das erneut bewiesen, indem sie mit euch Frieden geschlossen haben. Und die Schweden? Deren Geschick ist es nun einmal, von verrückten Königen regiert zu werden. Ihr König war unzurechnungsfähig, sie vertauschten ihn gegen einen anderen, diesen Bernadotte, der aber scheint auch gleich den Verstand verloren zu haben, denn nur ein Tollhäusler kann als Schwede ein Bündnis mit Rußland schließen.«

Napoleon lächelte hämisch und führte abermals die Tabaksdose an die Nase.

Auf jeden Ausspruch Napoleons hatte Balaschew etwas zu erwidern und wollte es auch tun, immer wieder machte er die Geste eines Menschen, der gern etwas sagen möchte, aber Napoleon unterbrach ihn jedesmal. Gegen die Unvernunft der Schweden wollte Balaschew erwidern, daß Schweden eine Insel sei, sobald Rußland hinter ihm stünde, aber Napoleon schrie zornig drauflos, um seine Stimme zu übertönen. Napoleon befand sich in so gereiztem Zustand, daß er reden und reden und immer nur reden mußte, nur um vor sich selber seinen Standpunkt zu rechtfertigen. Balaschew empfand seine Lage als drückend: als Gesandter fürchtete er, seiner Würde etwas zu vergeben, und fühlte die Notwendigkeit, Entgegnungen vorzubringen, als Mensch aber ließ ihn innerlich der ohnmächtige, grundlose Zorn, in den Napoleon hineingeraten zu sein schien, völlig kalt. Er wußte, daß all diese Worte, die jetzt Napoleon zu ihm sprach, von keinerlei Bedeutung waren, ja daß er selber sich ihrer schämen werde, wenn er wieder zu sich komme. So stand Balaschew da, hielt die Augen gesenkt, verfolgte die Bewegungen, die Napoleons dicke Beine machten, und bemühte sich, seinen Blicken auszuweichen.

»Was gehen mich eure Verbündeten an?« fuhr Napoleon fort. »Ich habe meine eignen Verbündeten – die Polen: das sind achtzigtausend Mann, die schlagen sich wie die Löwen. Und bald werden es Zweihunderttausend sein.«

Wahrscheinlich geriet er deshalb noch mehr in Erregung, weil er mit diesen Worten eine offenkundige Unwahrheit gesagt hatte, und weil Balaschew, ergeben in sein Schicksal, immer noch in derselben Ruhe vor ihm stand. Plötzlich wandte er sich jäh um, trat dicht an Balaschew heran und schrie ihm mit einer energischen, schnellen Bewegung seiner weißen Hände ins Gesicht:

»Das sollt ihr wissen: wenn ihr Preußen gegen mich aufwiegelt, so wische ich es von der Landkarte Europas weg, das merkt euch!« sagte er mit bleichem, zornentstelltem Gesicht und klappte dabei mit der einen kleinen Hand energisch gegen die andere. »Ja, und ich werde euch hinter die Düna, hinter den Dnjepr zurückwerfen und jenen Grenzwall[132] wieder gegen euch errichten, den zerstören zu lassen Europa verbrecherisch und blind genug war. Das wird euer Schicksal sein, das habt ihr dadurch gewonnen, daß ihr von mir abgefallen seid!« schrie er, ging schweigend ein paarmal im Zimmer auf und ab und zuckte mit seinen dicken Schultern.

Er steckte die Tabaksdose in die Tasche, zog sie wieder heraus, führte sie ein paarmal an die Nase und blieb dann vor Balaschew stehen. Er schwieg, sah Balaschew spöttisch gerade ins Gesicht und sagte dann mit leiser Stimme: »Et cependant quel beau règne aurait pu avoir votre maître!«

Balaschew, der es für notwendig hielt, etwas zu entgegnen, erwiderte, daß Rußland die Angelegenheit nicht in einem so finsteren Licht sehe. Napoleon schwieg, sah ihn weiter spöttisch an und hörte offenbar gar nicht auf das, was er sagte. Balaschew äußerte, daß man in Rußland nur alles Gute vom Krieg erwarte. Napoleon nickte herablassend, als wolle er sagen: Ich weiß, daß es Ihre Pflicht ist, so zu reden, aber Sie glauben das ja doch selber nicht, weil meine Worte Sie überzeugt haben.

Als Balaschew mit seiner Rede zu Ende war, zog Napoleon wieder seine Tabaksdose hervor, schnupfte und stampfte, wie um ein Signal zu geben, zweimal mit dem Fuß auf den Boden. Die Tür tat sich auf: mit ehrerbietiger Verbeugung reichte ihm ein Kammerherr Hut und Handschuhe, ein anderer das Taschentuch. Napoleon schenkte ihnen keinen Blick, sondern wandte sich zu Balaschew:

»Versichern Sie Kaiser Alexander in meinem Namen«, sagte er, während er nach dem Hut griff, »daß ich ihm wie früher ergeben bin. Ich kenne ihn genau und schätze seine vortrefflichen Eigenschaften sehr. Je ne vous retiens plus, général, vous recevrez ma lettre à l’empereur.«

Eilig schritt Napoleon nach der Tür, und auch aus dem Wartezimmer stürmten alle die Treppe hinunter.

7

Nach all dem, was Napoleon zu Balaschew gesagt hatte, nach seinen Zornausbrüchen und seinen letzten trockenen Worten: »Je ne vous retiens plus, général, vous recevrez ma lettre« war Balaschew überzeugt, daß Napoleon ihn nicht nur nicht wiederzusehen wünsche, sondern sogar einem weiteren Zusammentreffen mit ihm als beleidigtem Gesandten und vor allem als Zeugen seiner ungebührlichen Heftigkeit aus dem Weg gehen werde. Doch zu seiner Verwunderung erhielt Balaschew noch am selben Tag durch Duroc eine Einladung zur Tafel des Kaisers.

Bei diesem Mittagessen waren Bessières, Caulaincourt und Berthier anwesend.

Napoleon kam Balaschew mit heiterer und freundlicher Miene entgegen. Weder Verlegenheit noch Vorwürfe über sein Aufbrausen am Vormittag machten sich in seinem Gesichtsausdruck bemerkbar, ja, er war im Gegenteil bemüht, Balaschew aufzumuntern. Man merkte deutlich, daß es für Napoleon die Möglichkeit, einen Fehler zu begehen, in seinem Gewissen schon lang nicht mehr gab und daß seiner Ansicht nach alles, was er tat, gut war, und nicht etwa deshalb, weil es mit der allgemeinen Vorstellung von Gut und Böse übereinstimmte, sondern einfach nur darum, weil er es war, der es getan hatte.

Der Kaiser war nach seinem Spazierritt durch Wilna, wo das Volk in Scharen ihn mit Begeisterung begrüßt und begleitet hatte, sehr aufgeräumt. Alle Fenster der Straßen, durch die er geritten war, waren mit Teppichen, Fahnen und seinen Initialen geschmückt gewesen, und die polnischen Damen hatten zu seiner Begrüßung mit Tüchern gewinkt.

Bei Tisch saß Balaschew neben dem Kaiser, und Napoleon behandelte ihn nicht nur freundlich, sondern auf eine Art, als rechne er Balaschew zu seinen Höflingen oder wenigstens zu den Leuten, die an seinen Plänen teilnahmen und sich über seine Erfolge freuen müßten. Unter anderem lenkte er die Unterhaltung auch auf Moskau und fing an, Balaschew über die russische Hauptstadt auszufragen, wie sich ein neugieriger Reisender nach einer fremden Stadt, die er zu besuchen gedenkt, erkundigt, und zwar in der festen Überzeugung, daß sich Balaschew als Russe durch eine solche Wißbegierde geschmeichelt fühlen müsse.

»Wieviel Einwohner hat Moskau? Wieviel Häuser? Ist es wahr, daß man Moskau die heilige Stadt nennt? Wieviel Kirchen gibt es dort?« fragte er.

Und auf die Antwort, daß es dort über zweihundert Kirchen gebe, erwiderte er: »Wozu denn eine solche Masse von Kirchen?«

»Die Russen sind sehr gottesfürchtig«, sagte Balaschew.

»Übrigens sind die vielen Kirchen und Klöster in einem Land immer ein Zeichen für die Rückständigkeit seines Volkes«, bemerkte Napoleon und blickte Caulaincourt an, damit er dieses Urteil bestätigen solle.

Balaschew erlaubte sich untertänigst, dieser Ansicht des französischen Kaisers nicht beizustimmen.

»Jedes Land hat seine Sitten«, sagte er.

»Aber es gibt in ganz Europa nichts, was dem zu vergleichen wäre«, meinte Napoleon.

»Ich bitte Euer Majestät um Verzeihung«, erwiderte Balaschew. »Nicht nur in Rußland, sondern auch in Spanien gibt es eine solche Menge Kirchen und Klöster.«

Diese Antwort Balaschews, die eine Anspielung auf die letzte Niederlage der Franzosen in Spanien[133] enthielt, fand später, als Balaschew davon erzählte, am Hof Kaiser Alexanders großen Beifall. Jetzt aber an der Tafel Napoleons wurde sie wenig gewürdigt und blieb fast unbeachtet.

Aus den gleichgültigen, erstaunten Gesichtern der Herren Marschälle war zu ersehen, daß sie sich darüber nicht klar waren, wohin der Pfeil zielte, den Balaschew, seinem Ton nach zu urteilen, abgeschossen hatte. Wenn das eine Anspielung sein soll, so haben wir sie nicht verstanden oder sie ist nicht gerade sehr geistreich gewesen, war auf den Gesichtern der Marschälle zu lesen. So wenig wurde diese Antwort gewürdigt, daß nicht einmal Napoleon darauf aufmerksam wurde und Balaschew in naiver Weise die Frage vorlegte, über welche Städte von hier aus der direkte Weg nach Moskau führe. Balaschew, der während des ganzen Essens sehr auf seiner Hut war, erwiderte, daß comme tout chemin mène à Rome, tout chemin mène à Moscou, daß es sehr viele Wege gebe, und daß unter der Zahl der verschiedenen Wege da zum Beispiel der Weg über Poltawa sei, den Karl XII. gewählt habe[134]. Während er das sagte, wurde Balaschew unwillkürlich ganz rot vor Vergnügen, weil ihm diese Antwort so gut gelungen war. Aber er hatte noch nicht das letzte Wort »Poltawa« zu Ende gesprochen, als auch Caulaincourt schon wieder anfing, von den Unbequemlichkeiten des Weges von Petersburg nach Moskau zu erzählen und seine Petersburger Erinnerungen anbrachte.

Nach Tisch ging man in das Arbeitszimmer Napoleons, um dort den Kaffee einzunehmen, in jenen selben Raum, der noch vor vier Tagen Kaiser Alexanders Arbeitszimmer gewesen war. Napoleon setzte sich, berührte kaum den Kaffee in der Sèvrestasse und wies Balaschew einen Stuhl neben sich an.

Nach dem Essen überkommt den Menschen meist jene bekannte Gemütsverfassung, die ihn stärker als alle Vernunftbeweise zwingt, mit sich selber zufrieden zu sein und alle Welt für Freunde zu halten. In dieser Stimmung befand sich jetzt Napoleon. Er glaubte sich von Menschen umgeben, die ihn vergötterten, und war fest davon überzeugt, daß auch Balaschew nach diesem Essen sein Freund und Verehrer geworden sei. Er wandte sich an ihn mit einem liebenswürdigen, leicht spöttischen Lächeln.

»Das ist dasselbe Zimmer, wie man mir gesagt hat, in dem auch Kaiser Alexander gearbeitet hat. Ist das nicht merkwürdig, General«, sagte er, augenscheinlich ohne daran zu zweifeln, daß diese Bemerkung seinem Gegenüber angenehm sein müsse, weil sie seine, Napoleons, Überlegenheit über Alexander bewies.

Balaschew vermochte darauf keine Antwort zu geben und senkte schweigend den Kopf.

»Ja, in diesem Zimmer berieten sich vor vier Tagen noch Wintzingerode und Stein«, fuhr Napoleon mit demselben überzeugten, spöttischen Lächeln fort. »Was ich aber nicht begreifen kann«, sagte er, »ist der Umstand, daß Kaiser Alexander alle meine persönlichen Feinde zu sich heranzieht. Ich kann dies einfach nicht … verstehen. Denkt er denn gar nicht daran, daß ich es ebenso machen könnte?« wandte er sich fragend an Balaschew, und diese Erinnerung schien ihn wieder in das Geleise seines Zornes von heute morgen, der noch frisch war, hineinzubringen.

»Mag er erfahren, daß ich das tun werde«, sagte Napoleon, stand auf und schob die Tasse zurück. »Ich werde alle seine Verwandten aus Deutschland vertreiben[135], die Württemberger, die Badener, die Weimarer … sie alle jage ich hinaus. Mag er für sie nur einen Unterschlupf in Rußland bereithalten!«

Balaschew senkte den Kopf und gab durch seine Miene zu erkennen, daß er den Wunsch habe, sich zu empfehlen, und nur aus dem Grund zuhöre, weil er nicht anders könne als das mitanhören, was man zu ihm sage. Doch Napoleon bemerkte seinen Gesichtsausdruck nicht; er wandte sich an Balaschew nicht wie an den Abgesandten seines Feindes, sondern wie an einen Menschen, der ihm jetzt ganz ergeben ist und sich nur über die Demütigung seines ehemaligen Herrn freuen kann.

»Und warum hat Kaiser Alexander das Kommando über seine Truppen angenommen? Wozu das? Der Krieg ist mein Handwerk, seine Aufgabe aber ist, zu regieren und nicht Truppen zu befehligen. Warum hat er sich diese Verantwortung aufgeladen?«

Napoleon zog wieder die Tabaksdose hervor, ging schweigend ein paarmal im Zimmer auf und ab, trat dann plötzlich unerwartet auf Balaschew zu, hob rasch und natürlich und mit leisem Lächeln, überzeugt, daß das, was er vorhatte, nicht nur etwas Wichtiges, sondern auch etwas Angenehmes für Balaschew war, seine Hand zum Gesicht des vierzigjährigen russischen Generals auf, faßte ihn am Ohr und zog leicht daran, wobei er nur mit den Lippen lächelte.

Avoir l’oreille tirée par l’empereur galt am französischen Hof für die größte Ehre und Gnade.

»Eh bien, vous ne dites rien, admirateur et courtisan de l’empereur Alexandre?« sagte er, als käme es ihm komisch vor, daß in seiner Gegenwart jemand einen anderen umschmeichle und bewundere als ihn, Napoleon. »Stehen Pferde für den General bereit?« fügte er dann hinzu und neigte auf Balaschews Verbeugung hin leicht den Kopf. »Geben Sie ihm von meinen Pferden, er wird weit zu reiten haben!«

Der Brief, den Balaschew zurückbrachte, war das letzte Schreiben Napoleons an Alexander. Alle Einzelheiten der Unterredung wurden dem russischen Kaiser mitgeteilt, und der Krieg nahm seinen Anfang.

8

Nachdem Fürst Andrej Pierre in Moskau wiedergesehen hatte, fuhr er nach Petersburg, in geschäftlichen Angelegenheiten, wie er seinen Angehörigen sagte, in Wirklichkeit aber, um dort den Fürsten Anatol Kuragin zu treffen, was er für unumgänglich nötig hielt. Doch als er ankam, war Kuragin, nach dem er gleich bei seiner Ankunft Erkundigungen einzog, bereits nicht mehr in Petersburg. Pierre hatte seinen Schwager wissen lassen, daß Fürst Andrej ihm auf der Spur sei, und da Anatol gerade vom Kriegsminister eine Berufung zur Moldauarmee erhalten hatte, war er sogleich dorthin abgereist.

In Petersburg traf Fürst Andrej mit Kutusow, seinem früheren General, der ihm stets sehr gewogen gewesen war, zusammen, und Kutusow machte ihm den Vorschlag, ebenfalls in die Moldauarmee einzutreten, zu deren Oberkommandierendem der alte General ernannt worden war. Fürst Andrej nahm diese Berufung in den Stab des Hauptquartiers an und reiste nach der Türkei ab.

An Kuragin zu schreiben und ihn zu fordern, hielt er nicht für angebracht. Da eine neue Veranlassung zum Duell nicht gegeben war, glaubte Fürst Andrej, daß er durch eine Forderung die Komtesse Rostowa nur kompromittieren würde, und suchte deshalb persönlich mit Kuragin zusammenzutreffen in der Absicht, bei dieser Gelegenheit einen Grund zum Duell zu finden. Aber auch bei der Moldauarmee gelang es ihm nicht, Kuragin zu treffen, der sogleich nach Fürst Andrejs Ankunft in der Türkei nach Rußland zurückgefahren war.

In der neuen Umgebung und unter neuen Lebensbedingungen fiel dem Fürsten Andrej das Leben leichter. Nach dem Treubruch seiner Braut, der ihn um so tiefer getroffen hatte, je emsiger er bemüht war, seinen Schmerz vor allen zu verheimlichen, wurde ihm jenes Leben, das ihn früher so glücklich gemacht hatte, zur Last, und noch drückender empfand er seine Freiheit und Unabhängigkeit, die ihm erst so teuer gewesen war. Er hatte nicht nur jene früheren Gedanken alle beiseite geschoben, die ihm beim Anblick des Himmels von Austerlitz zum erstenmal gekommen waren, die er dann mit Pierre zusammen so gern weitergesponnen und mit denen er all die einsamen Stunden in Bogutscharowo und dann später in der Schweiz und in Rom ausgefüllt hatte, sondern fürchtete sich jetzt sogar davor, sich auch nur an diese Gedanken zu erinnern, die ihm einen so unendlichen, lichten Horizont erschlossen hatten. Ihn fesselten jetzt nur die zu allernächst liegenden, praktischen Interessen, die mit allem, was früher gewesen war, keinen Zusammenhang hatten, und er griff nach ihnen mit um so größerer Gier, je dichter sie alles Frühere zudeckten. Es war, als hätte sich jener endlos weite Himmel, der sich früher über ihm ausgedehnt hatte, plötzlich in ein niedriges, begrenztes, schwer auf ihm lastendes Gewölbe verwandelt, in dem zwar alles hell und klar war, wo es aber nichts Ewiges und Geheimnisvolles gab.

Von all den Geschäften, die seiner warteten, war ihm der Militärdienst das einfachste und vertrauteste. Als diensttuender General im Stab Kutusows stürzte er sich eifrig und hartnäckig in die Geschäfte und setzte selbst Kutusow durch seine Arbeitsgier und Gewissenhaftigkeit in Erstaunen.

Da er Kuragin in der Türkei nicht gefunden hatte, hielt Fürst Andrej es nicht für unbedingt nötig, ihm nun gleich wieder nach Rußland nachzusetzen; aber das eine wußte er: wenn er ihn einmal traf, dann mußte er ihn fordern, wieviel Zeit bis dahin auch vergehen mochte, mußte ihn fordern, wie ein Hungriger gar nicht anders kann als über die endlich erbeutete Nahrung herfallen, mußte ihn fordern trotz der Verachtung, die er für ihn empfand, trotz aller sich selbst gelieferten Beweise, daß er sich nicht zu einem Zusammenstoß mit ihm erniedrigen durfte. Und dieses Bewußtsein, daß die Beleidigung noch nicht gerächt war, der Zorn noch keinen Ausfluß gefunden hatte und noch auf seinem Herzen lastete, vergiftete ihm jene künstliche Ruhe, die er sich durch seine emsig geschäftige, etwas ehrgeizige und ruhmsüchtige Tätigkeit in der Türkei geschaffen hatte.

Im Jahre 1812, als die Kunde vom Krieg mit Napoleon bis Bukarest gedrungen war, wo Kutusow seit zwei Monaten wohnte und Tage und Nächte bei seiner Walachin zubrachte, bat Fürst Andrej Kutusow, ihn zur Westarmee zu versetzen. Kutusow, dem Bolkonskijs Diensteifer, der ihm wie ein Vorwurf für seine eigne Trägheit erschien, schon seit geraumer Zeit langweilig geworden war, entließ ihn gern und versetzte ihn zu Barclay de Tolly.

Ehe sich Fürst Andrej zur Armee begab, die im Mai das Lager an der Drissa bezogen hatte, reiste er nach Lysyja-Gory, das ihm sogar am Weg lag, da es nur drei Werst von der großen Smolensker Landstraße entfernt war. Die letzten drei Jahre in seinem Leben hatten so viele Umwälzungen für ihn gebracht, er hatte so vieles durchdacht, durchfühlt und durchschaut, hatte den Westen und Osten durchreist, daß es ihm bei seiner Ankunft in Lysyja-Gory als etwas Merkwürdiges und Unerwartetes auffiel, daß hier das Leben bis in die kleinsten Einzelheiten noch ganz so war wie früher. Als er durch das steinerne Tor in die Allee des Herrenhauses von Lysyja-Gory einbog, war es ihm, als käme er in ein schlafendes Zauberschloß. In diesem Haus herrschte dieselbe gemessene Würde, dieselbe Sauberkeit, dieselbe Stille, hier gab es noch dieselben Möbel, dieselben Wände, dieselben Laute, ja auch denselben Geruch und dieselben verschüchterten Gesichter, die nur ein wenig älter geworden waren. Prinzessin Marja war noch das gleiche scheue, häßliche, alternde Mädchen, das in steter Furcht und ewigen seelischen Qualen ohne Zweck und Freude ihre besten Lebensjahre hinbrachte. Auch Mademoiselle Bourienne war noch dasselbe selbstzufriedene, kokette Geschöpf, das jeden Augenblick seines Lebens froh genoß und für sich selbst die freudigsten Hoffnungen hegte; nur war sie, wie es dem Fürsten Andrej schien, noch zuversichtlicher geworden. Der Erzieher Dessalles, den er aus der Schweiz mitgebracht hatte, trug jetzt einen Rock von russischem Schnitt und brach sich fast die Zunge, wenn er mit den Dienern Russisch sprach, sonst aber war er noch derselbe beschränkt kluge, gebildete, tugendsame Pedant und Schulmeister. Der alte Fürst hatte sich äußerlich nur insofern verändert, als an der einen Seite seines Mundes eine Zahnlücke zu bemerken war, innerlich war er aber noch ganz wie früher, nur zeigte er sich noch grimmiger und mißtrauischer gegen alles, was jetzt in der Welt vorging. Nur Nikoluschka hatte sich verändert: er war gewachsen, hatte rote Backen und dichtes Lockenhaar bekommen und zog, wenn er vergnügt war und lachte, ohne es selber zu wissen, die Oberlippe seines hübschen Mündchens ganz so in die Höhe, wie es die verstorbene kleine Fürstin getan hatte. Er allein gehorchte dem Gesetz der starren Unabänderlichkeit in diesem verwunschenen, schlafenden Schlosse nicht.

Doch wenn auch äußerlich alles beim alten geblieben war, so hatten sich doch die inneren Beziehungen aller Bewohner in der Zeit, in der sie Fürst Andrej nicht gesehen hatte, stark verändert. Die Hausgenossen hatten sich in zwei Lager geteilt, die sich fremd und feindlich gegenüberstanden. Nur jetzt in seiner Gegenwart vertrugen sie sich und änderten seinetwegen ihre Lebensgewohnheiten. Zum einen Lager gehörten der alte Fürst, Mademoiselle Bourienne und der Architekt, zum anderen Prinzessin Marja, Dessalles, Nikoluschka und alle Kinderwärterinnen und Ammen.

Während Fürst Andrej in Lysyja-Gory weilte, speisten alle Hausgenossen zusammen, aber keinem war dabei wohl zumute, und Fürst Andrej fühlte, daß er als Gast angesehen wurde, der alle durch seine Gegenwart störte und um dessentwillen man eine Ausnahme machte. So verhielt sich Fürst Andrej, eben weil er unwillkürlich diese Empfindung hatte, am ersten Tag während des Mittagessens schweigend, und der alte Fürst, dem das Unnatürliche dieses Benehmens auffiel, schwieg ebenfalls finster und zog sich gleich nach Tisch auf sein Zimmer zurück. Als gegen Abend Fürst Andrej zu ihm kam und, um ihn ein wenig zu zerstreuen, vom Feldzug des jungen Grafen Kamenskij zu erzählen begann, fing der alte Fürst ganz unerwartet von Prinzessin Marja zu reden an, tadelte ihre Frömmelei und ihre Abneigung gegen Mademoiselle Bourienne, die, wie er sagte, die einzige war, die ihm wahrhaft ergeben sei.

Der alte Fürst sagte, nur Prinzessin Marja sei schuld, wenn er krank sei: sie quäle und reize ihn absichtlich und verderbe durch Verhätschelung und dumme Redereien nun auch schon den kleinen Fürsten Nikolaj. Der alte Fürst wußte sehr wohl, daß er seine Tochter quälte und sie kein leichtes Leben hatte, aber er wußte ebenso, daß er gar nicht anders konnte als sie quälen, und war überzeugt, daß sie das verdiente. Warum spricht Fürst Andrej, der doch dies alles sieht, mit mir nie über seine Schwester? dachte der alte Fürst. Denkt er vielleicht, daß ich ein Bösewicht oder alter Narr bin, der sich ohne allen Grund der Tochter entfremdet und dafür die Französin an sich herangezogen hat? Er begreift es nicht, und deshalb muß ich es ihm erklären. Es ist unbedingt nötig, daß er mich anhört, dachte der alte Fürst. Und er begann ihm die Gründe auseinanderzusetzen, warum er den blödsinnigen Charakter seiner Tochter nicht ertragen könne.

»Wenn Sie mich danach fragen«, erwiderte Fürst Andrej, ohne den alten Fürsten anzusehen – es war das erste Mal in seinem Leben, daß er seinen Vater tadelte –, »ich hatte nicht davon anfangen wollen, wenn Sie mich aber selber danach fragen, so werde ich Ihnen auch ganz offen meine Meinung über diesen Punkt sagen. Wenn es Mißverständnisse und Uneinigkeiten zwischen Ihnen und Mascha gibt, so kann ich Mascha unter keinen Umständen die Schuld geben, denn ich weiß, wie außerordentlich meine Schwester Sie liebt und achtet. Wenn Sie mich also danach fragen«, fuhr Fürst Andrej erregter fort, da er in letzter Zeit wieder zur Heftigkeit neigte, »so kann ich Ihnen nur das eine sagen: wenn es Mißverständnisse zwischen Ihnen und Mascha gibt, so ist die Ursache nur jenes erbärmliche Frauenzimmer, die gar kein Umgang für meine Schwester sein dürfte.«

Der alte Fürst sah anfänglich seinen Sohn mit starren Augen an, dann lächelte er unnatürlich, wobei wieder die Zahnlücke sichtbar wurde, an die sich Fürst Andrej noch nicht hatte gewöhnen können.

»Wieso kein Umgang, mein Verehrtester? Wie? Ihr habt wohl schon alles zusammen durchgehechelt? Was?«

»Lieber Vater, ich möchte nicht Ihr Richter sein«, erwiderte Fürst Andrej in galligem, harten Ton. »Aber Sie haben mich dazu aufgefordert, und so habe ich gesagt und werde es auch immer aufrechterhalten, daß Prinzessin Marja nicht schuld daran ist, schuld daran sind … schuld daran ist nur diese Französin …«

»Er gibt mir unrecht … gibt mir unrecht!« murmelte der alte Fürst mit leiser Stimme und, wie es dem Fürsten Andrej schien, etwas verlegen; dann aber sprang er plötzlich auf und schrie: »Hinaus! Hinaus! Daß du mir nicht wieder unter die Augen kommst!«

Fürst Andrej wollte sofort abreisen, aber Prinzessin Marja bat ihn, noch einen Tag zu bleiben. An diesem Tag sah Fürst Andrej seinen Vater nicht, der nicht aus seinem Zimmer kam und niemanden zu sich einließ außer Mademoiselle Bourienne und Tichon, aber mehrmals danach gefragt hatte, ob sein Sohn abgereist sei. Am nächsten Tag ging Fürst Andrej vor seiner Abreise noch einmal in die Hälfte des Hauses hinüber, wo sein Söhnchen wohnte. Er setzte das muntere, gesunde Kind, das ebenso lockiges Haar hatte wie seine Mutter, auf seine Knie und fing an, ihm das Märchen vom Blaubart zu erzählen. Aber noch ehe er damit zu Ende war, versank er in Gedanken. Er dachte nicht an den hübschen Knaben, den er auf dem Schoß hielt, sondern an sich selber. Er suchte in sich die Reue, daß er seinen Vater in Zorn versetzt hatte, suchte ein Bedauern, daß er zum erstenmal in seinem Leben im Bösen von ihm ging, fand aber zu seinem Entsetzen in seinem Herzen weder das eine noch das andere. Vor allem aber erschrak er darüber, daß er die frühere zärtliche Liebe zu seinem Sohn, die er dadurch, daß er den Knaben liebkoste und auf seine Knie zog, wieder aufzuwecken gehofft hatte, vergeblich in seinem Herzen suchte.

»Aber so erzähle doch weiter«, drängte der Knabe.

Fürst Andrej gab keine Antwort, hob ihn von seinen Knien und ging aus dem Zimmer.

Seit Fürst Andrej seine tägliche Beschäftigung niedergelegt hatte, und hauptsächlich seit er in die alten Lebensbedingungen wieder eingetreten war, die ihn damals umgeben hatten, als er so glücklich gewesen war, packte ihn der Ekel vor dem Leben mit seiner ganzen früheren Gewalt, und er beeilte sich, so schnell wie möglich von diesen Erinnerungen loszukommen und eine neue Tätigkeit zu finden.

»Also du fährst nun bestimmt?« fragte ihn die Schwester.

»Gott sei Dank, daß ich abfahren kann«, erwiderte Fürst Andrej. »Mir tut nur leid, daß du hier bleiben mußt.«

»Wie kannst du nur so reden!« sagte Prinzessin Marja. »Wie kannst du nur so reden jetzt, wo du in diesen schrecklichen Krieg ziehst, und er so alt ist! Mademoiselle Bourienne sagte, daß er nach dir gefragt hat …«

Wenn sie nur davon anfing, begannen ihre Lippen zu zittern, und die Tränen traten ihr in die Augen. Fürst Andrej wandte sich von ihr ab und ging im Zimmer auf und nieder.

»Ach, mein Gott! Mein Gott!« sagte er. »Und wenn man sich überlegt, was und wer … was für Nullen und Nichtigkeiten das Unglück eines Menschen verursachen können!« rief er in einer Wut, über die Prinzessin Marja erschrak.

Sie verstand, daß, wenn er von Leuten sprach, die er Nullen und Nichtigkeiten nannte, er damit nicht nur Mademoiselle Bourienne meinte, die ihr Unglück geworden war, sondern auch jenen Menschen, der sein Glück zunichte gemacht hatte.

»Andre, ich bitte dich nur um eins, ich flehe dich an«, sagte sie, legte ihre Hand auf seinen Ellbogen und sah ihn mit tränenschimmernden Augen an. »Ich verstehe dich nicht.« Prinzessin Marja schlug die Augen nieder. »Du darfst doch nicht denken, daß unser Leid von anderen Menschen herrührt. Die Menschen sind nur Seine Werkzeuge.« Sie blickte mit jenem festen, gewohnten Blick, mit dem man auf den bekannten Platz eines Bildes hinschaut, etwas über den Kopf des Fürsten Andrej hinweg. »Das Leid schickt Er dir, es kommt nicht von den Menschen. Die Menschen sind nur Seine Werkzeuge, sie sind nicht schuld daran. Und wenn du glaubst, daß sich jemand gegen dich vergangen hat, vergiß es und verzeih ihm! Wir haben nicht das Recht, Böses mit Bösem zu vergelten. Dann wirst du das Glück, das im Verzeihen liegt, kennen lernen.«

»Wenn ich eine Frau wäre, würde ich das tun, Marie. Das ist eine Tugend für Weiber. Ein Mann aber darf und kann nicht vergessen und verzeihen«, sagte er, und obgleich er bis zu diesem Augenblick nicht an Kuragin gedacht hatte, stand der ganze ungelöschte Zorn plötzlich in seinem Herzen auf.

Wenn schon Prinzessin Marja mich zu überreden sucht, ihm zu verzeihen, so bedeutet das soviel, daß ich schon lange über ihn Gericht hätte halten müssen, dachte er. Er gab Prinzessin Marja keine Antwort mehr und malte sich jenen frohen, grimmigen Augenblick aus, wo er mit Kuragin, der sich, wie er wußte, bei der Armee befand, zusammentreffen mußte.

Prinzessin Marja flehte den Bruder an, noch einen Tag zu warten, und sagte ihm, sie wisse, wie unglücklich der Vater sein werde, wenn Andrej, ohne sich mit ihm auszusöhnen, fortführe; aber Fürst Andrej erwiderte, er komme wahrscheinlich sehr bald von der Armee wieder zurück, werde außerdem sogleich an den Vater schreiben und fürchte, wenn er jetzt noch länger bliebe, daß dann der Zwiespalt nur noch größer werde.

»Adieu, Andre. Rappelez-vous que les malheurs viennent de Dieu, et que les hommes ne sont jamais coupables«, waren die letzten Worte, die er von seiner Schwester hörte, als er von ihr Abschied nahm.

So muß es nun kommen! dachte Fürst Andrej, während er aus der Allee von Lysyja-Gory hinausfuhr. Sie, dieses schuldlose, bemitleidenswerte Geschöpf, muß zeit ihres Lebens zu Hause sitzen als Opfer dieses alten Mannes, der aus Altersschwäche den Verstand verloren hat. Er fühlt selber, daß er schuldig ist, kann sich aber nicht mehr ändern. Mein Junge wächst und freut sich seines Lebens, eines Lebens, in dem er auch nichts anderes sein wird, als wir alle sind: ein Betrüger oder ein Betrogener. Ich selber begebe mich zur Armee, warum – das weiß ich nicht, und habe nur den einen Wunsch, jenen Menschen zu treffen, den ich verachte, um ihm Gelegenheit zu geben, mich zu töten und sich dann über mich lustig zu machen.

Alle diese Dinge waren schon früher in seinem Leben gewesen, nur hatten sie damals einen bestimmten Zusammenhang gehabt, jetzt aber war alles wirr durcheinandergerüttelt. Nur sinnlose Erscheinungen zogen ohne jedes verknüpfende Band eine nach der anderen an seinem Auge vorüber.

9

Es war Ende Juni, als Fürst Andrej im Hauptquartier eintraf. Die Truppen der ersten Armee, bei der sich auch der Kaiser befand, lagen in einer befestigten Stellung an der Drissa. Die Truppen der zweiten Armee waren zurückgewichen, nachdem sie versucht hatten, mit der ersten Armee zusammenzukommen, von der sie, wie es hieß, durch gewaltige französische Streitkräfte abgeschnitten worden waren. Alle waren mit dem Gesamtverlauf des Krieges für die russische Armee unzufrieden, aber keiner dachte an die Gefahr eines Einbruchs der Feinde in die russischen Gouvernements, keiner nahm an, daß der Krieg über die westlichen polnischen Provinzen hinausgehen werde.

Fürst Andrej fand Barclay de Tolly, zu dem er versetzt worden war, am Ufer der Drissa. Da es in der Umgebung des Lagers weder einen größeren Marktflecken noch eine Ortschaft gab, so hatte sich die große Anzahl der Generäle und Höflinge, die sich bei der Armee befand, in einem Umkreise von zehn Werst in den besten Häusern der Dörfer diesseits und jenseits des Flusses einquartiert. Barclay de Tollys Quartier lag vier Werst von dem des Kaisers entfernt. Er empfing Bolkonskij kalt und trocken und sagte ihm mit seiner deutschen Aussprache, er werde dem Kaiser seine Ankunft melden, damit er ihm eine Stellung zuweise, inzwischen ersuche er ihn, bei seinem Stabe zu bleiben.

Anatol Kuragin, den Fürst Andrej bei der Armee zu finden gehofft hatte, war nicht hier: er befand sich in Petersburg. Diese Nachricht berührte Bolkonskij angenehm. Die Interessen hier im Zentrum dieses gewaltigen, sich vor seinen Augen abrollenden Krieges nahmen den Fürsten Andrej voll in Anspruch, und er war froh, die aufreizenden Gefühle, die der Gedanke an Kuragin immer bei ihm auslöste, für einige Zeit los zu sein.

Während der ersten vier Tage, in denen man noch von nirgendsher Anforderungen an ihn stellte, ritt Fürst Andrej das ganze befestigte Lager ab, bemüht, sich auf Grund seiner Kenntnisse und durch Auseinandersetzungen mit Sachkundigen ein bestimmtes Urteil darüber zu bilden. Aber die Frage, ob dieses Lager nun vorteilhaft oder ungünstig sei, konnte Fürst Andrej doch nicht entscheiden. Durch seine Kriegserfahrung war er bereits zu der Überzeugung gelangt, daß im Kriege selbst der tiefsinnigst ausgedachte Schlachtenplan, wie er bei Austerlitz gesehen hatte, nichts zu bedeuten hat, sondern daß alles nur davon abhängt, wie man auf die plötzlichen und nicht vorauszusehenden Operationen des Feindes reagiert, und besonders auch davon, wie und von wem die ganze Sache geführt wird. Um sich über diese letzte Frage klar zu werden, bemühte sich Fürst Andrej kraft seiner Stellung und seiner Bekanntschaften in den Charakter der Heeresleitung, der Personen und Parteien, die daran beteiligt waren, einzudringen, und gelangte dabei zu folgender Ansicht über die Lage der Dinge:

Als sich der Kaiser noch in Wilna befunden hatte, war die Armee in drei Teile eingeteilt gewesen: die erste Armee stand unter dem Oberkommando Barclay de Tollys, die zweite unter Bagration, die dritte unter Tormasow. Der Kaiser hielt sich bei der ersten Armee auf, aber nicht in der Eigenschaft eines Oberkommandierenden. In den Armeebefehlen war nicht gesagt worden, daß der Kaiser kommandieren werde, sondern nur, daß er sich bei der Armee aufhalten werde. Außerdem hatte auch der Kaiser persönlich nicht den Stab eines Oberkommandierenden, sondern nur den Stab eines Kaiserlichen Hauptquartiers um sich. Bei ihm befanden sich nur der Kommandeur des kaiserlichen Stabes, der Generalquartiermeister Fürst Wolkonskij, sowie Generäle, Flügeladjutanten, Diplomaten und eine große Menge von Ausländern, aber kein Armeestab. Außerdem hielten sich bei ihm, ohne ein Amt zu versehen, noch auf: der ehemalige Kriegsminister Araktschejew, Graf Bennigsen als ältester General dem Rang nach, der Großfürst und Thronfolger Konstantin Pawlowitsch, der Kanzler Graf Rumjanzew, der ehemalige preußische Minister Stein, der schwedische General Armfelt, der Haupturheber des Feldzugsplanes Pfuel, der sardinische Emigrant und Generaladjutant Paulucci, Wolzogen und viele andere mehr.

Obgleich alle diese Persönlichkeiten kein militärisches Amt bekleideten, besaßen sie doch durch ihre Stellung großen Einfluß, und oft wußte ein Korpskommandeur oder selbst ein Oberkommandierender nicht, in welcher Eigenschaft Graf Bennigsen oder der Großfürst und Thronfolger oder Araktschejew oder Fürst Wolkonskij dieses oder jenes fragte oder anriet, wußte nicht, ob ein solcher Befehl in Form eines Rates von jenen Herren persönlich oder vom Kaiser herrührte, und ob er ihn zu befolgen hatte oder nicht. Aber das waren alles nur Äußerlichkeiten: der wahre Sinn der Anwesenheit des Kaisers und all dieser Persönlichkeiten war vom höfischen Standpunkt aus – und wenn der Kaiser zugegen war, wurden alle zu Hofleuten – allen ganz klar und war folgender: der Kaiser hatte zwar das Amt eines Oberkommandierenden nicht angenommen, befehligte aber trotzdem alle Armeen, und die Persönlichkeiten, die ihn umgaben, halfen ihm dabei. Araktschejew war der gewissenhafte Vollstrecker, der Hüter der Ordnung und Leibtrabant des Kaisers. Bennigsen als Gutsbesitzer im Wilnaer Gouvernement sollte offiziell nur die Honneurs in der Gegend machen, in Wirklichkeit aber brauchte man ihn, weil er ein vorzüglicher General und nützlich im Rat war, und um ihn immer in Bereitschaft zu haben, Barclay abzulösen. Der Großfürst hielt sich deshalb beim Kaiser auf, weil es ihm so beliebte, der ehemalige Minister Stein deshalb, weil er im Rat gut zu gebrauchen war und weil Kaiser Alexander seine persönlichen Eigenschaften sehr hoch schätzte. Armfelt war ein grimmiger Feind Napoleons und selbstbewußter General, der immer großen Einfluß auf Alexander ausübte. Paulucci war da, weil er verwegen und entschlossen zu reden verstand. Die Generaladjutanten befanden sich hier, weil sie stets da zu sein pflegen, wo der Kaiser ist, und endlich die Hauptperson, Pfuel, war da, weil er den Feldzugsplan gegen Napoleon aufgestellt und Alexander gezwungen hatte, an die Zweckmäßigkeit dieses Planes zu glauben, und weil er nun infolgedessen alle Kriegsoperationen leitete. Bei Pfuel, der ein scharfer Kabinettstheoretiker und so selbstbewußt war, daß er jede fremde Ansicht verachtete, hielt sich wiederum Wolzogen auf, der Pfuels Gedanken in greifbarere Form zu kleiden wußte als dieser selbst.

Außer den genannten Russen und Ausländern, von denen besonders die Ausländer mit jener Unverfrorenheit, die Leuten beim Arbeiten in einem fremden Milieu eigen ist, jeden Tag mit neuen, unerwarteten und unpraktischen Ideen hervortraten, gab es noch eine Menge Persönlichkeiten zweiten Ranges, die sich nur deshalb bei der Armee befanden, weil ihre Vorgesetzten hier waren.

Aus der Fülle all dieser Ansichten und Stimmen in dieser gewaltigen, wogenden, glänzenden und stolzen Welt unterschied Fürst Andrej folgende scharf getrennte Richtungen und Parteien:

Die erste Partei bestand aus Pfuel und seinen Anhängern, Kriegstheoretikern, die daran glaubten, daß es eine Kriegswissenschaft gebe und in dieser Kriegswissenschaft unabänderliche Gesetze wie Überführungen, Umgehungsbewegungen und so weiter. Nach diesen genauen, von ihrer vermeintlichen Kriegstheorie vorgeschriebenen Gesetzen forderten nun Pfuel und seine Anhänger den Rückzug der Truppen bis ins Innere des Landes und betrachteten jede Abweichung von diesen Theorien als Barbarentum, Unbildung oder Böswilligkeit. Zu dieser Partei gehörten die deutschen Fürsten, Wolzogen, Wintzingerode und andere, vorwiegend Deutsche.

Die zweite Partei war der Gegenpol der ersten. Wie das immer so zu sein pflegt, standen dem einen Extrem die Vertreter des anderen gegenüber. Die Anhänger der zweiten Partei waren es gewesen, die in Wilna den Vormarsch in Polen und eine Freimachung von allen im voraus kombinierten Plänen gefordert hatten. Sie waren nicht nur für forsches Losschlagen, sondern waren außerdem auch noch die Vertreter der nationalen Gesinnung, was sie bei Diskussionen noch einseitiger machte. Es waren die Russen Bagration, der soeben erst im Aufstieg begriffene Jermolow und andere mehr. Damals war gerade jenes bekannte Scherzwort Jermolows im Umlauf: er wolle den Kaiser nur um die eine Gnade bitten, ihn zum Deutschen zu befördern. Die Anhänger dieser Partei sagten in Erinnerung an Suworow, man solle nicht lange überlegen und die Landkarte mit Stecknadeln spicken, sondern zuschlagen, dem Feind eins überziehen, ihn nicht nach Rußland hereinlassen und die Truppen bei guter Laune erhalten.

Zur dritten Partei, die mehr als alle anderen das Vertrauen des Kaisers besaß, gehörten die Höflinge, die einen Ausgleich zwischen den beiden ersten Parteien suchten. Die Männer dieser Partei, die zum größten Teil aus Zivilisten bestand und zu der auch Araktschejew gehörte, dachten und sagten das, was Leute, die keine eigne Überzeugung haben, sich aber den Anschein geben möchten, eine solche zu besitzen, meist denken und sagen. Sie sagten, ohne Zweifel verlange der Krieg, und noch dazu ein Krieg mit einem solchen Genie wie Bonaparte – man nannte ihn wieder Bonaparte –, einen fein durchdachten Feldzugsplan und eine tiefgehende Kenntnis der Kriegswissenschaft, in der ja Pfuel einfach genial sei, gleichzeitig dürfe man aber auch nicht verkennen, daß Theoretiker oft einseitig seien, und dürfe ihnen deshalb nicht uneingeschränkt trauen, sondern müsse auch auf das hören, was Pfuels Gegner und andere praktische, im Kriegshandwerk erfahrene Leute meinten, und müsse dann vor allem die Mittelstraße wählen. Die Anhänger dieser Partei bestanden darauf, das Lager an der Drissa nach Pfuels Plan zu halten, die Bewegungen der anderen Armeen aber abzuändern. Obgleich man bei einer solchen Art des Vorgehens weder das eine noch das andere Ziel erreichte, schien es den Anhängern dieser Partei doch so am besten.

Die vierte Partei war die, deren ansehnlichster Vertreter der Großfürst und Thronfolger war, der seine Enttäuschung bei Austerlitz nicht vergessen konnte, wo er wie bei einer Besichtigung in Helm und Koller vor seiner Garde hergeritten war in dem Wahn, wie ein Held die Franzosen in Grund und Boden zu schlagen, dabei aber unversehens in die vorderste Linie geraten war und in dem allgemeinen Tohuwabohu nur mit Mühe hatte entkommen können. Die Leute dieser Partei bewiesen durch ihr Urteil sowohl die Vorzüge als auch die Nachteile der Ehrlichkeit. Sie fürchteten Napoleon, sahen ihn als die verkörperte Macht und sich selber als die verkörperte Schwäche an und sprachen dies auch offen aus. Sie sagten: »Nichts als Elend, Schande und Verderben kommt bei der ganzen Sache heraus. Da haben wir nun Wilna aufgegeben, haben Witebsk geräumt und werden auch die Drissa nicht halten können. Das einzig Gescheite, was uns noch zu tun übrigbleibt, ist Frieden zu schließen, und zwar so bald wie möglich, solange man uns noch nicht aus Petersburg hinausgejagt hat.« Diese in den höchsten Kreisen der Armee stark verbreitete Ansicht fand sowohl in Petersburg als auch beim Kanzler Rumjanzew Unterstützung, der aus Staatsgründen ebenfalls für den Frieden eintrat.

Die fünfte Partei waren die Anhänger Barclay de Tollys, die in ihm weniger den Menschen als den Kriegsminister und Oberkommandierenden verehrten. Sie sagten: »Mag er sonst sein, wie er will« – mit diesen Worten fingen sie stets an –, »aber er ist ein ehrenhafter, tüchtiger Kerl, und einen besseren haben wir nicht. Gebt ihm nur eine ordentliche Macht in die Hand – denn ohne einheitliches Oberkommando kann der Krieg nie erfolgreich ausgehen –, und er wird zeigen, was er leisten kann, wie er es schon in Finnland gezeigt hat. Wenn sich unsere Armee, ohne irgendwelche Niederlage erlitten zu haben, stark und geschlossen bis zur Drissa zurückgezogen hat, so verdanken wir dies nur Barclay. Wenn Barclay jetzt durch Bennigsen ersetzt werden soll, so ist alles verloren. Denn Bennigsen hat sein Unvermögen schon im Jahre 1807 erwiesen«, sagten die Männer dieser Partei.

Die sechste, die Bennigsenpartei, behauptete hinwiederum, daß es keinen tüchtigeren und erfahreneren Feldherrn gebe als Bennigsen, und daß, welche Wendung die Dinge auch nähmen, man doch immer nur auf ihn zurückkommen werde. »Laßt sie nur jetzt Fehler auf Fehler machen« – und die Leute dieser Partei bewiesen, daß unser ganzer Rückzug bis zur Drissa eine beschämende Niederlage und ununterbrochene Kette von Fehlern gewesen sei –, »je mehr Fehler sie machen, desto besser! Wenigstens wird man dann um so eher begreifen, daß es so nicht weitergehen kann«, sagten sie. »Wir brauchen keinen Barclay, aber einen Mann wie Bennigsen, der sich schon im Jahre 1807 ausgezeichnet hat und dem selbst Napoleon Gerechtigkeit widerfahren ließ, einen Mann, dem wir getrost die ganze Macht anvertrauen können, und dieser Mann ist niemand anders als Bennigsen.«

Zur siebenten Partei gehörten Männer, wie es solche immer und überall gibt, hauptsächlich in der Nähe junger Herrscher und ganz besonders am Hof Kaiser Alexanders: Generäle und Flügeladjutanten, die dem Kaiser leidenschaftlich ergeben waren und aufrichtig und uneigennützig nicht den Regenten, sondern den Menschen in ihm vergötterten, wie ihn Rostow im Jahre 1807 vergöttert hatte, und die an ihm nicht nur alle Tugenden des Herzens, sondern auch alle Gaben des menschlichen Geistes erblickten. Obgleich diese Männer von der Bescheidenheit des Kaisers, mit der er das Oberkommando über die Truppen abgelehnt hatte, entzückt waren, so tadelten sie doch diese übergroße Bescheidenheit und wünschten nur das eine und bestanden darauf: daß der vergötterte Kaiser den übergroßen Mangel an Selbstvertrauen überwinden und offen erklären möge, daß er sich an die Spitze der Truppen stelle, daß er bei sich das Hauptquartier eines Oberkommandierenden formieren und von erfahrenen Theoretikern und Praktikern, wo es nötig war, beraten, selber seine Truppen anführen solle, weil diese nur dadurch in den Zustand höchster Begeisterung zu versetzen seien.

Die achte Gruppe, die sich der Menge ihrer Anhänger nach zu den anderen Parteien wie neunundneunzig zu eins verhielt, bestand aus Leuten, die weder den Krieg noch den Frieden, weder die Offensive noch ein Defensivlager an der Drissa oder sonst wo wünschten, die keinen Barclay, keinen Kaiser, keinen Pfuel, keinen Bennigsen vorzogen, sondern nur von dem einen für sie wesentlichen. Wunsch beseelt waren: für sich selber soviel Vorteil und Vergnügen wie nur möglich herauszuschlagen. In dem trüben Wasser der sich kreuzenden und ineinander verwickelnden Intrigen, von denen es im Hauptquartier des Kaisers wimmelte, war gut zu fischen, und man konnte gar vieles erreichen, woran zu anderer Zeit gar nicht zu denken gewesen wäre. So stimmte einer, nur um seine vorteilhafte Stellung nicht zu verlieren, heute Pfuel bei, während er morgen seinem Gegner recht gab und übermorgen versicherte, in dieser Sache kein Urteil fällen zu können, nur um keine Verantwortung auf sich zu laden und dem Kaiser gefällig zu sein. Ein anderer lenkte, um einen Vorteil herauszuschlagen, die Aufmerksamkeit des Kaisers dadurch auf sich, daß er bei einer Beratung jene Ansicht, die der Kaiser tags zuvor als seine eigne angedeutet hatte, laut schreiend vortrug, sich auf die Brust schlug und herumstritt, andere, die ihm nicht beistimmten, zum Duell herausforderte und dadurch bewies, daß er bereit war, sich für das Allgemeinwohl aufzuopfern. Ein dritter verlangte einfach zwischen zwei Sitzungen und in Abwesenheit seiner Feinde ein Sonderentgelt für seine treuen Dienste, weil er wußte, daß jetzt keine Zeit war, es ihm abzuschlagen. Ein vierter kam dem Kaiser wie zufällig gerade dann vor Augen, wenn er von Arbeit überlastet war. Und um ein längst ersehntes Ziel, eine Einladung zur Tafel des Kaisers, zu erreichen, bewies ein fünfter ganz erbittert die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer neu auftauchenden Idee, indem er zu diesem Zweck mehr oder weniger zugkräftige und richtige Beweisgründe ins Feld führte. Alle Anhänger dieser Partei haschten nach Rubeln, Orden und Rangerhöhungen und folgten bei diesem Hasten immer nur der Wetterfahnenrichtung der kaiserlichen Gnade. Kaum hatte man bemerkt, daß sich diese Wetterfahne nach einer Seite drehte, als auch schon dieser ganze Drohnenschwarm in der Armee nach derselben Seite auszuschwärmen begann, so daß es dem Kaiser um so schwerer fiel, die Wetterfahne wieder umzudrehen. Bei der unbestimmten Lage, bei der drohenden, ernsten Gefahr, die jedem Vorfall einen besonders erregten Charakter verlieh, mitten in diesem Wirbel von Intrigen, ehrgeizigen Plänen und Zusammenprallen all dieser verschiedenen Meinungen und Gefühle und endlich bei der Verschiedenheit der Nationalität all dieser Personen trug jene achte, größte Partei, deren Anhänger nur ihren persönlichen Vorteil im Auge hatten, nur dazu bei, die allgemeine Sache noch mehr zu verwirren und zu trüben. Was für eine Frage auch immer aufgeworfen wurde, dieser Drohnenschwarm flog sofort, ohne das alte Thema noch zum Abschluß gebracht zu haben, zu dem neuen hinüber und brachte durch sein Summen die ehrlich streitenden Stimmen zum Schweigen und übertönte sie.

Zur selben Zeit, als Fürst Andrej zur Armee kam, bildete sich aus all diesen Parteien gerade noch eine neunte heraus, die eben erst anfing, ihre Stimme zu erheben. Das war die Partei der alten, vernünftigen, im Staatswesen erfahrenen Leute, die, weil sie keine der sich widersprechenden Ansichten teilten, imstande waren, unparteiisch alles zu überschauen, was im Hauptquartier vor sich ging, und auf Mittel und Wege zu sinnen, aus dieser Unbestimmtheit, diesem Schwanken, diesem Wirrwarr und dieser Schwäche herauszukommen. Die Leute dieser Partei sagten und dachten, alles Übel komme vorzugsweise daher, daß Kaiser Alexander samt seinem ganzen Hofstaat bei der Armee weile, wodurch jene konventionelle Unsicherheit der Beziehungen, die an einem Hof ja ganz angebracht, im Heer aber schädlich sei, auf die Armee übergegangen sei. Ein Kaiser habe zu regieren, aber nicht Truppen zu befehligen, und der einzige Ausweg aus dieser Lage sei die Abreise des Kaisers samt seinem Hofstaat von der Armee, denn seine Anwesenheit allein schon lähme fünfzigtausend Mann, die zur Sicherung seiner Person benötigt würden, und ein schlechter, aber unabhängiger Oberkommandierender wäre besser als der vorzüglichste, dem des Kaisers Gegenwart die Hände feßle.

Zur selben Zeit, als Fürst Andrej untätig im Lager an der Drissa weilte, schrieb der Staatssekretär Schischkow, einer der Hauptvertreter dieser Partei, an den Kaiser einen Brief, den zu unterzeichnen auch Balaschew und Araktschejew eingewilligt hatten. In diesem Brief unterbreitete Schischkow, von der ihm vom Kaiser selbst erteilten Erlaubnis, seine Ansicht über den allgemeinen Gang der Angelegenheiten auszusprechen, Gebrauch machend, dem Kaiser ehrfurchtsvoll den Vorschlag, das Heer zu verlassen, und begründete dies mit dem Vorwand, des Kaisers Anwesenheit in der Hauptstadt sei unbedingt erforderlich, um das Volk zum Krieg zu begeistern.

So wurde dem Kaiser, damit er das Heer verlasse, als Vorwand der Vorschlag angetragen, den er dann auch annahm, die Begeisterung des Volkes in der Hauptstadt zu entflammen und es zum Schutz des Vaterlandes aufzurufen, was durch persönliche Anwesenheit des Kaisers in Moskau auch in hohem Grad erreicht wurde, die Begeisterung des Volkes, die dann eine der Hauptursachen zu Rußlands Triumph werden sollte.

10

Dieser Brief war dem Kaiser noch nicht übergeben worden, als Barclay beim Mittagessen Bolkonskij mitteilte, daß der Kaiser den Fürsten Andrej persönlich zu empfangen wünsche, um ihn über die Türkei zu befragen, und daß sich Fürst Andrej zu diesem $Behuf um sechs Uhr abends bei Bennigsen im Quartier einzufinden habe.

Am selben Tag war im kaiserlichen Hauptquartier die Nachricht von einem neuen Schachzug Napoleons eingetroffen, der der Armee ziemlich gefährlich werden konnte, eine Nachricht, die sich aber in der Folge als unwahr erwies. Am selben Morgen hatte Oberst Michaud mit dem Kaiser die befestigte Stellung an der Drissa abgeritten und dem Kaiser bewiesen, daß dieses besichtigte Lager, das von Pfuel errichtet und bisher als ein Meisterstück der Taktik angesehen worden war, das Napoleons Untergang herbeiführen werde – daß dieses Lager ein Wahnsinn und für die russische Armee verderbenbringend sei.

Als Fürst Andrej in General Bennigsens Quartier anlangte, der ein kleines Gutshaus dicht am Fluß bewohnte, war weder Bennigsen noch der Kaiser da. Aber der Flügeladjutant des Kaisers, Tschernyschow, empfing Bolkonskij und sagte ihm, der Kaiser sei heute schon zum zweitenmal mit General Bennigsen und Marquis Paulucci zu den Befestigungen des Lagers an der Drissa geritten, über dessen Tauglichkeit starke Zweifel aufkeimten.

Tschernyschow saß im ersten Zimmer am Fenster und las einen französischen Roman. Dieses Zimmer schien früher ein Gesellschaftssaal gewesen zu sein, es befand sich noch ein Musikinstrument darin, das jetzt mit Teppichen verhangen war. In einer Ecke stand das Feldbett des Adjutanten Bennigsens. Der Adjutant selber war auch da. Er schien Kater zu haben oder von Geschäften übermüdet zu sein, saß auf der zusammengerollten Bettdecke und döste. Der Saal hatte noch zwei andere Türen: die eine führte geradeaus in einen großen Salon, die andere nach rechts in das Arbeitszimmer. Durch die erste Tür hörte man ein Gewirr von Stimmen, die deutsch und seltener auch französisch sprachen. Hier in diesem ehemaligen Salon war auf Wunsch des Kaisers nicht ein Kriegsrat versammelt – der Kaiser liebte das Unoffizielle –, sondern nur ein Kreis von Personen, deren Ansichten über die bevorstehenden Komplikationen er zu erfahren wünschte. Es war kein Kriegsrat, sondern nur eine Zusammenberufung von Männern, die ausgewählt waren, um den Kaiser persönlich über einige Fragen aufzuklären. Zu dieser halboffiziellen Beratung waren geladen: der schwedische General Armfelt, Generaladjutant Wolzogen, Wintzingerode, den Napoleon einen entlaufenen französischen Untertanen genannt hatte, Michaud, Toll, der ganz und gar unmilitärische Freiherr vom Stein und endlich Pfuel selber, der, wie Fürst Andrej hörte, die Haupttriebfeder der ganzen Sache war. Da Pfuel gleich nach dem Fürsten Andrej gekommen war, einen Augenblick bei Tschernyschow stehenblieb, ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte und erst dann in den Salon hinübergegangen war, hatte Fürst Andrej Gelegenheit gehabt, sich diesen Mann genauer anzusehen.

Auf den ersten Blick kam Pfuel in seiner schlecht gearbeiteten russischen Generalsuniform, die ihm so wenig paßte, daß er aussah, als trüge er ein Maskenkostüm, dem Fürsten Andrej merkwürdig bekannt vor, obgleich er ihn noch nie gesehen hatte. Er hatte etwas von Weyrother, aber auch von Mack, von Schmidt und überhaupt von allen diesen deutschen militärischen Theoretikern, die Fürst Andrej im Jahre 1805 kennen gelernt hatte, aber er war noch typischer als alle die anderen. Einen solch ausgesprochenen deutschen Theoretiker, der all das in sich vereinte, was die übrigen Deutschen einzeln charakterisierte, hatte Fürst Andrej noch nie gesehen.

Pfuel war nicht allzu groß, sehr mager, aber derb, grob und gesund gebaut mit breiten Hüften und Schulterknochen. Sein Gesicht war sehr faltig, die Augen lagen tief in den Höhlen. Das Haar war vorn an den Schläfen mit der Bürste offenbar sehr eilig glatt gekämmt, während es hinten in einzelnen Büscheln aufwärts strebte. Als er ins Zimmer trat, blickte er sich unruhig und erbost um, als sei er darauf gefaßt, daß sich in dem großen Salon, in den er hineinging, alles mögliche Unangenehme ereignen werde. Mit einer linkischen Gebärde legte er die Hand an den Degen, wandte sich an Tschernyschow und fragte ihn auf deutsch, wo der Kaiser sei. Man sah ihm an, daß er so bald wie möglich durch das Zimmer hindurchkommen und mit den Verbeugungen und Begrüßungen fertig werden wollte, um sich zur Arbeit hinter die Landkarten setzen zu können, wo er sich an seinem Platz fühlte. Hastig nickte er zu den Worten Tschernyschows und lächelte ironisch, als er hörte, daß der Kaiser die Befestigungen besichtige, die er, Pfuel, nach seiner Theorie selber entworfen hatte. Mit jener rauhen und tiefen Stimme, mit der selbstbewußte Deutsche zu sprechen pflegen, brummte er auf deutsch etwas vor sich hin wie: »Dummheit … die ganze Geschichte werden sie noch verpfuschen … ’s wird was Gescheites draus werden«, aber Fürst Andrej konnte es nicht recht verstehen. Er wollte vorübergehen, doch Tschernyschow machte ihn mit Pfuel bekannt, wobei er bemerkte, daß Bolkonskij soeben aus der Türkei komme, wo der Krieg ja jetzt glücklich beendet sei. Pfuel sah den Fürsten Andrej kaum an, sondern über ihn hinweg und sagte dabei lächelnd auf deutsch: »Das muß ein schöner taktischer Krieg gewesen sein!« Und mit einem geringschätzigen Lächeln ging er in den Salon hinein, aus dem die Stimmen herüberklangen.

Pfuel, der offenbar immer zu ironischer Reizbarkeit neigte, war heute ganz besonders dazu aufgelegt, weil man gewagt hatte, ohne ihn das Lager zu besichtigen und einer Begutachtung zu unterziehen. Dank seinen Erfahrungen bei Austerlitz konnte sich Fürst Andrej aus diesem kurzen Zusammensein mit Pfuel dennoch ein klares Bild vom Charakter dieses Menschen machen. Pfuel war einer jener hoffnungslos, unabänderlich und bis zur Selbstqual von sich überzeugten Menschen, wie man sie nur bei den Deutschen findet, und zwar aus dem Grund, weil nur die Deutschen ihr Selbstbewußtsein auf eine abstrakte Idee, auf die Wissenschaft, gründen, das heißt also auf die vermeintliche Kenntnis der reinen Wahrheit. Der Franzose ist selbstbewußt, weil er sich persönlich geistig sowie auch körperlich Frauen und Männern gegenüber für bezaubernd und unwiderstehlich hält. Beim Engländer fußt das Selbstbewußtsein auf der Tatsache, daß er ein Bürger des bestfundierten Staates in der Welt ist, und auf der Überzeugung, daß er als Engländer immer weiß, was er zu tun hat, weil das, was er als Engländer tut, immer zweifellos gut ist. Der Italiener ist selbstbewußt, weil er immer in Wallung ist und leicht sich selber und andere vergißt. Der Russe aber ist gerade deshalb selbstbewußt, weil er eben nichts weiß und auch gar nichts wissen will, und zwar deshalb nichts wissen will, weil er nicht glaubt, daß es überhaupt möglich ist, irgend etwas zu wissen. Das Selbstbewußtsein des Deutschen ist schlimmer, unwandelbarer und widerlicher als das der anderen, weil er sich einbildet, die Wahrheit zu kennen, und zwar in Gestalt einer Wissenschaft, die er sich selber ausgedacht hat und nun für die reine Wahrheit hält.

Ein solcher Mensch war offenbar auch Pfuel. Er hatte seine Wissenschaft: eine Theorie, die er aus der Geschichte der Kriege Friedrichs des Großen abgeleitet hatte, und alles, was ihm nun in der neueren Kriegsgeschichte entgegentrat, erschien ihm als unsinniges, barbarenhaftes, unordentliches Aufeinanderprallen, bei dem von beiden Seiten Fehler über Fehler gemacht wurden, so daß derartige Raufereien kaum noch den Namen Krieg verdienten.

Im Jahre 1806 hatte Pfuel mit anderen zusammen den Plan jenes Krieges aufgestellt, der mit Jena und Auerstedt seinen Abschluß fand. Dennoch sah er im Ausgang dieses Krieges nicht den geringsten Beweis für die Unrichtigkeit seiner Theorien. Im Gegenteil, seiner Ansicht nach war die einzige Ursache des ganzen Mißerfolges eine kleine Abweichung von seinem Plan gewesen, die man sich erlaubt hatte, und mit der ihm eignen hämischen Ironie sagte er dann: »Ich wußte ja, daß die ganze Geschichte deshalb zum Teufel gehen werde.« Pfuel war einer jener Theoretiker, die dermaßen in ihre Wissenschaft vernarrt sind, daß sie den Zweck aller Theorien: ihre Anwendung auf die Praxis, ganz aus dem Auge verlieren. In seiner Schwärmerei für die Theorie haßte er jede Praxis. Er freute sich sogar über Mißerfolge, denn da seiner Ansicht nach jeder Mißerfolg nur daher kam, daß man in der Praxis von seinen Plänen abwich, so war das für ihn nur ein Beweis, wie richtig seine Theorien waren.

Er hatte die wenigen Worte, die er zu Andrej und Tschernyschow über den jetzigen Krieg geäußert hatte, mit einem Ausdruck gesagt, als wisse er im voraus, daß alles schief gehen werde, und als sei er damit nicht einmal unzufrieden. Und sogar seine im Nacken ungekämmt aufstrebenden Haarbüschel und das eilig über die Schläfen glattgestrichene Vorderhaar schienen das beredt zum Ausdruck zu bringen. Er ging ins Nebenzimmer, und sogleich vernahm man von drüben die tiefen, brummigen Töne seiner Stimme.

11

Fürst Andrej hatte kaum Zeit gehabt, den hinausgehenden Pfuel mit den Augen zu verfolgen, als Bennigsen hastig ins Zimmer trat, ihm zunickte, seinem Adjutanten einige Befehle erteilte und, ohne stehenzubleiben, in sein Arbeitszimmer ging. Der Kaiser mußte gleich kommen, und Bennigsen war vorausgeeilt, um noch einige Vorbereitungen zu seinem Empfang zu treffen. Tschernyschow und Fürst Andrej traten auf die Freitreppe hinaus.

Mit müdem Gesichtsausdruck stieg der Kaiser vom Pferde. Marquis Paulucci unterhielt sich mit ihm. Der Kaiser hielt den Kopf etwas nach links geneigt und hörte mit unzufriedener Miene Paulucci an, der mit großem Eifer auf ihn einredete. Dann ging er vorwärts, in dem sichtlichen Wunsch, dem Gespräch ein Ende zu machen, aber der Italiener, der vor Aufregung schon einen ganz roten Kopf bekommen hatte, ließ alle Regeln der Etikette außer acht und redete, hinter dem Kaiser hergehend, immer weiter auf ihn ein: »Quant à celui, qui à conseillé ce camp, le camp de Drissa«, sagte Paulucci, als der Kaiser die Stufen hinaufstieg, den Fürsten Andrej bemerkte und in dessen ihm unbekanntes Gesicht blickte, »quant à celui, Sire«, fuhr Paulucci unentwegt fort, als wäre er nicht imstande, innezuhalten, »qui à conseillé le camp de Drissa je ne vois pas d’autre alternative que la maison jaune ou le gibet.«

Aber der Kaiser erkannte Bolkonskij und wandte sich ihm gnädig zu, als wolle er die Worte des Italieners gar nicht zu Ende hören oder als habe er sie gar nicht verstanden.

»Freue mich sehr, dich zu sehen; geh hinein in die Versammlung und warte dort auf mich.«

Der Kaiser begab sich ins Arbeitszimmer. Ihm folgten Fürst Peter Michailowitsch Wolkonskij und der Freiherr vom Stein. Hinter ihnen wurden die Türen geschlossen. Fürst Andrej machte von der Erlaubnis des Kaisers Gebrauch und ging mit Paulucci, den er von der Türkei her kannte, in den Salon, wo sich der Rat versammelt hatte.

Fürst Peter Michailowitsch Wolkonskij schien das Amt eines Chefs beim kaiserlichen Stabe zu versehen. Er kam aus dem Arbeitszimmer, brachte die Karten in den Salon, breitete sie auf dem Tisch aus und teilte die Fragen mit, über die er die Ansichten der versammelten Herren zu hören wünschte. Es handelte sich darum, daß in der Nacht die Nachricht eingelaufen war, daß die Franzosen vorrückten, um das Lager an der Drissa zu umzingeln, eine Nachricht, die sich später als unrichtig erwies.

General Armfelt eröffnete die Diskussion, indem er zur Behebung der sich einstellenden Schwierigkeiten unerwarteterweise einen ganz neuen Vorschlag machte, der nur durch den Wunsch, zu zeigen, daß auch er eine eigne Ansicht besaß, zu erklären war. Er schlug nämlich vor, eine Stellung seitlich der Petersburg-Moskauer Straße zu beziehen, die seiner Ansicht nach der einzige Punkt war, wo die vereinigten Truppen den Feind erwarten mußten. Man merkte, daß Armfelt diesen Plan schon lange vorbereitet hatte und ihn jetzt vortrug, weniger um auf die gestellte Frage zu antworten, auf die der Plan gar nicht paßte, als um sich die Gelegenheit, ihn endlich einmal anzubringen, nicht entgehen zu lassen. Es war dies einer aus jenen Tausenden von Vorschlägen, die alle mit der gleichen Begründung gemacht werden konnten, da ja doch niemand einen Begriff davon hatte, welchen Charakter der Krieg noch annehmen werde. Einige der Anwesenden bestritten seine Ansicht, andere nahmen sie in Schutz. Der junge Oberst Toll zog hitziger als alle übrigen gegen den Plan des schwedischen Generals zu Felde, zog während der Debatte ein geschriebenes Heft aus der Tasche und bat um die Erlaubnis, es vorlesen zu dürfen. In diesem weitläufig abgefaßten Schriftstück schlug Toll einen anderen Operationsplan vor, der den Vorschlägen Armfelts und Pfuels vollkommen zuwiderlief. Paulucci widersprach ihm und beantragte eine Attacke und Offensivbewegung, die uns seiner Ansicht nach aus der unsicheren Lage, in der wir uns befanden, und aus der Mausefalle, wie er das Lager an der Drissa nannte, allein noch retten konnte. Während all dieser Streitigkeiten schwiegen Pfuel und sein Dolmetscher Wolzogen, der ihm auch in allen seinen Beziehungen zum Hof eine Brücke war, vollkommen still. Pfuel schnaufte nur ein paarmal verächtlich und wandte sich ab, um zu zeigen, daß er sich nie zu einer Entgegnung auf solchen Stuß, wie er ihn jetzt mit anhören müsse, herablassen werde. Und als Fürst Wolkonskij, der die Beratung leitete, ihn aufforderte, seine Ansicht darzulegen, sagte er nur: »Wozu fragt man mich denn noch? General Armfelt hat ja eine prächtige Stellung mit ungedecktem Rücken vorgeschlagen. Wir können uns ja auch für die Attacke von diesem italienischen Herrn da entscheiden – sehr schön. Oder für den Rückzug – auch gut. Wozu also fragt man mich denn noch? Sie wissen ja doch alles besser als ich.«

Als aber Wolkonskij finster die Stirn zusammenzog und sagte, er frage ihn im Namen des Kaisers nach seiner Meinung, wurde Pfuel plötzlich lebhafter, stand auf und fing an zu reden: »Man hat alles verfahren, alles in Verwirrung gebracht, alle haben es besser wissen wollen als ich, und nun kommt man zu mir: ›Wie können wir das wiedergutmachen?‹ Nichts ist wieder gutzumachen. Alle grundlegenden Dispositionen, die ich dargelegt habe, müssen Punkt für Punkt eingehalten werden«, sagte er und klopfte mit seinen knöchernen Fingern auf den Tisch. »Wo liegt hier eine Schwierigkeit? Unsinn, Kinderspiel!«

Er trat auf die Karte zu und fing an, sehr schnell zu reden, indem er mit seinem hageren Finger dann und wann auf die Karte stieß und bewies, daß der Zweckmäßigkeit des Lagers an der Drissa durch keinerlei Zufälligkeiten Abbruch getan werden könne, daß alles vorgesehen sei und daß der Feind, wenn er wirklich das Lager umzingeln sollte, sich damit unstreitig sein eignes Grab graben werde.

Paulucci, der kein Deutsch verstand, fing an, auf französisch Fragen zu stellen. Wolzogen kam seinem Chef, der das Französische nur schlecht beherrschte, zu Hilfe, und fing an, seine Worte zu übersetzen, konnte aber Pfuel kaum folgen, der immer schneller sprach und bewies, daß alles, alles – nicht nur das, was geschehen war, sondern auch das, was hätte geschehen können –, daß alles dies in seinem Plan vorgesehen war, und daß, wenn sich wirklich jetzt Schwierigkeiten ergeben sollten, die ganze Schuld nur darin liege, daß nicht alles Punkt für Punkt so ausgeführt worden sei. Dabei lachte er fortwährend ironisch, brachte Gründe vor und brach schließlich verächtlich seine Beweisführung ab, wie ein Mathematiker darauf verzichtet, die einmal bewiesene Richtigkeit einer Aufgabe noch auf anderen Wegen nachzuprüfen. Wolzogen löste ihn ab und fuhr fort, die Ideen seines Chefs auf französisch auseinanderzusetzen, wobei er sich ab und zu an Pfuel wandte: »Nicht wahr, Exzellenz?« Pfuel aber schrie, wie ein vom Kampf erhitzter Mensch auf die eigenen Parteigenossen losschlägt, seinen Anhänger Wolzogen wütend an: »Nun ja, was soll denn da noch expliziert werden?«

Paulucci und Michaud fielen nun zu zweit auf französisch über Wolzogen her.

Armfelt wandte sich in deutscher Sprache an Pfuel. Toll erklärte dem Fürsten Wolkonskij etwas auf russisch. Fürst Andrej hörte schweigend zu und beobachtete.

Von all diesen Persönlichkeiten erweckte der erbitterte, resolute, unsinnig selbstbewußte Pfuel beim Fürsten Andrej die größte Teilnahme. Er schien von allen hier anwesenden Männern der einzige zu sein, der nichts für sich selber wünschte, gegen niemanden feindselige Gefühle hegte, sondern nur von dem einen Wunsch beseelt war, seinen Plan in Aktion zu setzen, den Plan, der aus seiner Theorie, die er sich durch jahrelange Arbeit aufgebaut hatte, abgeleitet war. Er wirkte durch seine Ironie lächerlich, ja sogar unangenehm, aber er flößte unwillkürlich Achtung ein, weil er sich seiner Idee so grenzenlos hingab.

Dazu kam, daß alle anderen Redner mit Ausnahme Pfuels noch den einen Zug gemeinsam hatten, der dem Fürsten Andrej im Jahre 1805 in keinem Kriegsrat aufgefallen war: eine zwar versteckte, aber panische Furcht vor dem Genie Napoleons, die in allen ihren Reden zum Ausdruck kam. Man hielt bei Napoleon alles für möglich, erwartete ihn an allen Ecken und Enden, und schon mit seinem furchtbaren Namen allein zertrümmerte einer des anderen Vorschlag. Nur Pfuel schien Napoleon für einen ebensolchen Barbaren zu halten wie alle diejenigen, die seiner Theorie widersprachen.

Doch außer diesem Gefühl der Achtung flößte Pfuel dem Fürsten Andrej auch Mitleid ein. Aus dem Ton, in dem die Höflinge mit ihm verkehrten, aus der Bemerkung, die sich Paulucci zum Kaiser erlaubt hatte, und vor allem aus einer gewissen Verzweiflung in Pfuels Ausdrucksweise war zu erkennen, daß sein Sturz nahe bevorstand, was andere bereits wußten und er selber auch fühlte. Und deshalb erregte er mit seinem gebürsteten Schläfenhaar und den abstehenden Haarbüscheln im Nacken trotz seines Selbstbewußtseins, trotz seiner deutschen, brummigen Ironie doch Mitleid. Obgleich er es unter seiner gereizten und verächtlichen Miene verbergen wollte, schien er doch verzweifelt zu sein, weil ihm jetzt die einzige Gelegenheit zu entschlüpfen drohte, wo er seine Theorie an einem gewaltigen Versuch prüfen und der ganzen Welt ihre Richtigkeit beweisen konnte.

Die Auseinandersetzungen dauerten lange, und je länger sie dauerten, um so heißer entbrannte der Streit, der in Anschreien und persönliche Anzüglichkeiten ausartete, und um so unmöglicher wurde es, aus all dem Gesagten einen allgemeinen Schluß zu ziehen. Fürst Andrej hörte diesen in verschiedenen Sprachen geführten Gesprächen, Vorschlägen, Plänen, Einwänden, und Zwischenrufen zu und staunte nur darüber, was sie da alles redeten. Jener Gedanke, der ihm während seiner Kriegstätigkeit schon früher öfter gekommen war, daß es eine Kriegswissenschaft gar nicht gibt und auch gar nicht geben kann, und daß deshalb ein sogenanntes Kriegsgenie etwas ganz Unmögliches ist, erschien ihm jetzt als volle, augenscheinliche Wahrheit. Wie kann es eine Theorie und Wissenschaft in einer Sache geben, deren Bedingungen und äußere Umstände unbekannt und gar nicht zu bestimmen sind, in einer Sache, bei der die Kräfte der Operierenden noch viel weniger festgestellt werden können. Niemand weiß und hat je wissen können, in was für einem Zustand unsere oder des Feindes Armee am nächsten Tag sein wird, und niemand kann wissen, was für eine Kraft dieser oder jener Abteilung innewohnt. Bisweilen, wenn vorn kein Feigling steht, der schreit: »Wir sind abgeschnitten!« und davonläuft, sondern ein lustiger, forscher Kerl, der »Hurra!« brüllt, ist eine Abteilung von fünftausend Mann ebensoviel wert wie eine von dreißigtausend, wie wir das bei Schöngrabern erlebt haben, und dann laufen fünfzigtausend vor achttausend davon, wie bei Austerlitz. Wie kann es eine Wissenschaft in einer solchen Sache geben, bei der, wie bei jeder praktischen Handlung, nichts vorausbestimmt werden kann, sondern alles nur von den zahllosen Umständen abhängt, deren Bedeutung sich in einem Augenblick fixiert, von dem niemand im voraus weiß, wann und wo er eintreten wird? Armfelt sagt, daß unsere Armee abgeschnitten worden ist, aber Paulucci behauptet, wir hätten die französische Armee zwischen zwei Feuer genommen; Michaud meint, der Fehler des Lagers an der Drissa bestehe darin, daß es den Fluß im Rücken habe, während Pfuel versichert, gerade darin liege seine Stärke. Toll schlägt einen Plan vor, Armfelt einen anderen; sie alle sind gleich gut und schlecht, denn die Vorteile eines jeden Vorschlags treten erst in dem Augenblick zutage, wo sich das Ereignis vollzieht. Warum reden nun alle von einem Kriegsgenie? Ist der Mann vielleicht ein Genie, der rechtzeitig für die Zufuhr von Zwieback sorgt oder der einen Truppenteil nach rechts und den anderen nach links marschieren läßt? Diese Menschen werden nur deshalb zu Genies, weil Kriegsführer stets von Glanz und Macht umflossen sind und eine Masse von Schurken stets dieser Macht schmeichelt, indem sie ihnen die Eigenschaften eines Genies andichten, die gar nicht die ihren sind. Das Gegenteil trifft zu: die besten Generäle, die ich gekannt habe, waren dumme oder zerstreute Menschen. Der beste von ihnen war Bagration, den selbst Napoleon anerkannt hat. Und Napoleon selber? Ich muß immer an seinen selbstzufriedenen, beschränkten Gesichtsausdruck auf dem Schlachtfeld bei Austerlitz denken. Ein guter Heerführer braucht weder ein Genie zu sein noch irgendwelche besonderen Vorzüge zu besitzen, im Gegenteil, ihm müssen sogar die höchsten, besten menschlichen Eigenschaften wie Menschenliebe, poetisches und zartes Empfinden, philosophisches Zweifeln und Forschertrieb fehlen. Er muß einen engen Gesichtskreis haben, muß fest davon überzeugt sein, daß das, was er tut, von großer Wichtigkeit ist, weil er sonst nicht genug Ausdauer hätte, und nur dann wird er ein tapferer Heerführer sein. Bewahre ihn Gott davor, ein Mensch zu sein, jemanden zu lieben, Mitleid zu empfinden, sich Gedanken darüber zu machen, was gerecht und ungerecht ist! Man kann verstehen, warum man schon von alters her ihnen zuliebe die Theorie eines Feldherrngenies erdichtet hat – eben darum, weil sie die Macht in Händen haben. Die Niederlage oder der Erfolg im Krieg hängt nicht von ihnen ab, sondern von jenem Menschen, der auf der vordersten Reihe: »Wir sind verloren!« oder: »Hurra!« schreit. Und deshalb kann man auch nur in diesen Reihen mit der Überzeugung dienen, nützlich zu sein.

So dachte Fürst Andrej, während er den Beratungen zuhörte, und schrak erst dann aus seinen Gedanken auf, als Paulucci ihn anrief und alle bereits auseinandergingen.

Am nächsten Tag bei der Besichtigung fragte der Kaiser den Fürsten Andrej, wo er in den Dienst eintreten möchte, und Fürst Andrej verscherzte sich für immer alles Ansehen in höfischen Kreisen, weil er nicht darum bat, beim Kaiser bleiben zu dürfen, sondern um die Erlaubnis ersuchte, bei der Armee zu dienen.

12

Vor Beginn des Feldzuges hatte Rostow von seinen Eltern einen Brief erhalten, in dem sie ihn in aller Kürze von Nataschas Krankheit und ihrem Bruch mit dem Fürsten Andrej in Kenntnis setzten – sie führten diesen Bruch auf eine Absage Nataschas zurück – und ihn abermals baten, seinen Abschied zu nehmen und nach Hause zu kommen. Als Nikolaj diesen Brief erhielt, machte er gar nicht erst den Versuch, um Urlaub oder Abschied einzukommen, sondern schrieb seinen Eltern, es tue ihm sehr leid, daß Natascha krank und ihre Verlobung zurückgegangen sei, und er werde alles, was ihm möglich sei, tun, um ihren Wunsch zu erfüllen. An Sonja schrieb er besonders.

»Angebetete Freundin meiner Seele«, schrieb er. »Nichts als die Ehre könnte mich von einer Heimkehr aufs Land zurückhalten. Jetzt aber, vor Beginn des Feldzuges, käme ich mir nicht nur vor allen Kameraden, sondern auch vor mir selber entehrt vor, wenn ich mein persönliches Glück der Pflicht und Liebe zum Vaterland vorzöge. Aber es ist unsere letzte Trennung. Glaube mir, sogleich nach dem Krieg, wenn ich dann noch am Leben bin und Du mich noch liebst, werde ich hier alles aufgeben und zu Dir eilen, um Dich auf ewig an mein glühendes Herz zu drücken.«

Und in der Tat hielt nur der Beginn des Feldzuges Rostow davon ab, heimzukehren und Sonja zu heiraten, wie er versprochen hatte. Der Herbst in Otradnoje und der Winter mit seinen Weihnachtsfeiertagen und seiner Liebe zu Sonja hatten ihm einen Ausblick auf ländliches Glück und ländliche Beschaulichkeit eröffnet, der ihm vorher fremd gewesen war und ihn jetzt lockte. Eine prächtige Frau, Kinder, eine brave Meute Hetzhunde, zehn bis zwölf Koppeln flinker Windhunde, die Gutswirtschaft, die Nachbarn, Ehrenämter nach Wahl …, so schwebte ihm sein künftiges Leben vor. Aber jetzt war Krieg, und deshalb mußte er beim Regiment bleiben. Und da es nun einmal so sein mußte, war Nikolaj Rostow seinem Charakter gemäß auch mit diesem Leben, das er beim Regiment führte, zufrieden und wußte es sich angenehm zu machen.

Nachdem er vom Urlaub zurückgekehrt und von seinen Kameraden freudig begrüßt worden war, hatte Rostow sogleich das Kommando erhalten, Remonten auszuheben[136]. Er hatte aus Kleinrußland prächtige Pferde mitgebracht, die ihm selber viel Spaß machten und ihm das Lob seiner Vorgesetzten eintrugen. Während seiner Abwesenheit war er zum Rittmeister befördert worden, und als das Regiment dann ergänzt und verstärkt und auf Kriegsfuß gebracht wurde, erhielt er wieder seine alte Eskadron.

Der Feldzug begann; das Regiment rückte in Polen ein; der Sold wurde verdoppelt; neue Offiziere, neue Mannschaften, neue Pferde trafen ein; vor allem aber verbreitete sich jene angeregt heitere Stimmung, die mit jedem Kriegsausbruch Hand in Hand zu gehen pflegt, und Rostow, der sich seiner bevorzugten Stellung im Regiment wohl bewußt war, gab sich ganz den Freuden und Interessen des Militärdienstes hin, obgleich er wußte, daß er sich früher oder später von ihm zu trennen hatte.

Aus verschiedenen undurchsichtigen, politischen und taktischen Gründen mußten sich die Truppen aus Wilna zurückziehen. Jeden Schritt dieses Rückzuges begleitete ein verworrenes Spiel von Interessen, Schlüssen und Leidenschaften im Hauptquartier. Doch für die Husaren des Pawlograder Regimentes war dieser ganze Rückzug, in der besten Jahreszeit und bei genügender Verproviantierung, eine höchst einfache und ergötzliche Sache. Den Kopf hängen lassen, sich beunruhigen und Intrigen spinnen, das konnte man nur im Hauptquartier, bei der Armee aber fragte man nicht einmal danach, wohin man marschierte und warum. Klagte man wirklich einmal darüber, daß es abermals zurückging, so geschah das nur aus dem Grund, weil man ein liebgewordenes Quartier oder ein hübsches Mädchen verlassen mußte. Und wenn es wirklich einem durch den Kopf ging, daß die Sache wohl schlecht stehen müsse, so bemühte er sich, wie es einem braven Soldaten geziemt, erst recht lustig zu sein und nicht an den allgemeinen Gang der Dinge zu denken, sondern nur an das, was ihm am nächsten lag.

Anfänglich hatten sie vergnügt bei Wilna gestanden, Bekanntschaften mit polnischen Gutsbesitzern angeknüpft und Besichtigungen durch den Kaiser und andere hohe Vorgesetzte erwartet und über sich ergehen lassen. Dann war der Befehl zum Rückzug nach Swenziany unter Vernichtung aller Vorräte, die sie nicht mitnehmen konnten, gekommen. Swenziany blieb den Husaren deshalb in Erinnerung, weil es ein richtiges »Sauflager« gewesen war, wie es dann in der ganzen Armee auch genannt wurde, und weil in Swenziany deshalb viele Klagen über die Mannschaften eingelaufen waren, weil die Leute den Befehl, Proviant zu requirieren, ausgenutzt hatten, um den polnischen Pans[137] außer Nahrungsmitteln auch Pferde, Equipagen und Teppiche wegzunehmen. Rostow vergaß Swenziany deshalb nicht, weil er gleich am ersten Tag ihres Einrückens in dieses Städtchen seinen Wachtmeister wechseln mußte und mit den Leuten seiner Eskadron, die ohne sein Wissen fünf Fässer alten Bieres beiseitegebracht hatten, nicht fertig werden konnte, da sie alle betrunken waren. Von Swenziany hatten sie sich dann weiter und weiter bis zur Drissa zurückgezogen, und von der Drissa noch weiter rückwärts und näherten sich nun wieder den russischen Grenzen.

Am 13. Juli kamen die Pawlograder zum erstenmal ernstlich ins Gefecht. In der Nacht vom 12. zum 13. hatte ein furchtbarer Sturm mit Regen- und Hagelschauern gehaust, wie überhaupt der Sommer des Jahres 1812 merkwürdig reich an Stürmen war.

Zwei Schwadronen des Pawlograder Regimentes hatten ihr nächtliches Feldlager inmitten eines Roggenfeldes aufgeschlagen, das schon fast zur Ernte reif gewesen, nun aber durch Ochsen und Pferde gänzlich zerstampft worden war. Es goß in Strömen, und Rostow saß mit einem jungen, von ihm protegierten Offizier namens Iljin unter einem in aller Eile errichteten Unterstand. Ein Offizier seines Regimentes mit einem langen, bis über die Backen reichenden Schnurrbart, der zum Stabe geritten und vom Regen überrascht worden war, trat bei Rostow unter.

»Ich komme soeben vom Stab, Graf. Haben Sie schon von Rajewskijs Heldentat gehört?«

Und der Offizier erzählte alle Einzelheiten aus der Schlacht bei Saltanowka, die er beim Stab erfahren hatte.

Rostow saß mit eingezogenem Hals da, an dem der Regen herunterlief, und rauchte seine Pfeife. Er hörte nur unaufmerksam zu und warf hin und wieder einen Blick auf den jungen Iljin, der dicht neben ihn gerückt war. Dieser Offizier, noch ein junger Bursche von sechzehn Jahren, war erst kürzlich ins Regiment eingetreten und stand jetzt zu Rostow in demselben Verhältnis, wie dieser selber vor sieben Jahren zu Denissow gestanden hatte. Iljin gab sich Mühe, Rostow alles nachzumachen, und war wie ein Frauenzimmer in ihn verliebt.

Der Offizier mit dem langen Schnurrbart, Zdrzinski, erzählte aufgeblasen und schwülstig, wie der Damm von Saltanowka für die Russen zu einem Engpaß von Thermopylä geworden sei, und wie General Rajewskij auf diesem Damm eine den Heldentaten des Altertums ebenbürtige Leistung vollbracht habe. Zdrzinski erzählte, wie Rajewskij seine beiden Söhne im stärksten Feuer der Feinde auf den Damm geführt und an ihrer Seite zum Angriff vorgegangen sei. Rostow hörte seinen Bericht an, sagte aber kein Wort, um der Begeisterung Zdrzinskis beizustimmen, sondern machte im Gegenteil ein Gesicht, als schäme er sich dessen, was man ihm da erzählte, und wolle nur nicht widersprechen. Rostow wußte von Austerlitz her und aus dem Feldzug von 1807 aus eigner Erfahrung, daß bei Erzählungen von Kriegserlebnissen immer gelogen wird, wie er es ja selber auch getan hatte, und besaß außerdem genug Erfahrung, um zu wissen, daß alles, was im Krieg vor sich geht, durchaus nicht so geschieht, wie man es sich vorstellen und dann wiedererzählen kann. Deshalb gefiel ihm die Erzählung Zdrzinskis nicht, wie ihm auch Zdrzinski selber mißfiel, der die Gewohnheit hatte, sich mit seinem langen, bis über die Backen reichenden Schnurrbart dicht über das Gesicht dessen zu beugen, dem er etwas erzählte, wodurch sich Rostow in dem sowieso schon engen Unterstand nur noch mehr beengt fühlte. Nikolaj sah ihn schweigend an. Erstens einmal, dachte er, ist auf dem Damm, wo sie angegriffen haben, todsicher ein solcher Wirrwarr und ein solches Gedränge gewesen, daß, wenn Rajewskij wirklich seine Söhne vorgeführt hat, diese Tat höchstens auf die zehn, zwölf Leute Eindruck gemacht haben kann, die gerade um ihn waren. Die übrigen haben gar nicht sehen können, wie und mit wem Rajewskij auf dem Damm vorgegangen ist. Und auch die, die es wirklich sehen konnten, werden sich schwerlich daran begeistert haben, denn was kümmerten sie Rajewskijs zärtliche Gefühle als Vater in einem Augenblick, wo es um die eigne Haut ging? Außerdem hing das Schicksal unseres Vaterlandes ganz und gar nicht davon ab, ob der Damm bei Saltanowka genommen wurde oder nicht, wie uns das von Thermopylä überliefert worden ist. Warum ist also dieses Opfer gebracht worden? Und dann, wozu überhaupt Kinder in den Krieg verwickeln? Ich würde meinen Bruder Petja niemals mitnehmen, ja ich würde sogar diesen Iljin, der mir zwar fremd, aber ein guter Junge ist, immer dorthin zu stellen suchen, wo er sicher ist, fuhr Rostow in seinen Gedanken fort, während er Zdrzinski zuhörte. Aber er sprach seine Ansichten nicht aus, auch darin hatte er bereits seine Erfahrungen. Er wußte, daß diese Erzählung ein Beitrag zum Ruhm unserer Wehrmacht war und er sich deshalb den Anschein geben mußte, als zweifle er nicht daran. Und das tat er denn auch.

»Es ist nicht zum Aushalten«, sagte Iljin, der bemerkt hatte, daß Zdrzinskis Erzählung Rostow mißfiel. »Mein Hemd, meine Strümpfe, alles ist naß, und unter mir schwimmt es. Ich werde einen besseren Unterschlupf suchen gehen. Ich glaube, der Regen hat nachgelassen.«

Iljin ging hinaus, und auch Zdrzinski ritt weiter.

Nach fünf Minuten kam Iljin, durch den Schlamm patschend, wieder in den Unterstand zurückgelaufen.

»Hurra! Rostow, komm schnell! Ich habe etwas gefunden! Zweihundert Schritte von hier ist eine Schenke, dort haben sich schon welche von den Unsrigen versammelt. Da können wir uns wenigstens trocknen. Marja Genrichowna ist auch dort.«

Marja Genrichowna war die Frau des Regimentsarztes, eine junge hübsche Deutsche, die der Doktor in Polen geheiratet hatte. Der Doktor führte sie beim Regiment überall mit sich herum, wohl weil er nicht genügend Mittel besaß oder weil er sich in der ersten Zeit seiner Ehe nicht von der jungen Frau trennen wollte, und seine Eifersucht bildete für die Späße der Husarenoffiziere eine beliebte Zielscheibe.

Rostow warf den Mantel über, rief seinem Burschen Lawrenti zu, trockene Sachen nachzubringen, und schritt mit Iljin, bald die Schmutzlachen umgehend, bald gerade durch sie hindurchpatschend, unter dem schwächer werdenden Regen in das Dunkel der Nacht hinein, das ab und zu durch einen fernen Blitz erhellt wurde.

»Rostow, wo bist du?«

»Hier. Sieh nur die Blitze!« klang es mehrmals hin und zurück.

13

In der Schenke, vor welcher der Wagen des Arztes stand, befanden sich schon etwa fünf Offiziere. Marja Genrichowna, eine volle blonde Deutsche, saß in Jacke und Nachthaube vorn auf der Ecke einer breiten Bank. Hinter ihr lag ihr Mann und schlief. Rostow und Iljin traten ins Zimmer, von lustigen Zurufen und Gelächter empfangen.

»Na, bei euch geht’s ja fidel her«, sagte Rostow lachend.

»Warum seid ihr denn solche Schlafmützen? … Die sehen ja schön aus! Das trieft ja nur so! … Überschwemmt uns unseren Salon nicht! … Macht Marja Genrichownas Kleid nicht naß! …« so schwirrte es durcheinander.

Rostow und Iljin suchten sich eilig ein Eckchen, wo sie, ohne Marja Genrichownas Schamgefühl zu verletzen, ihre nassen Kleider wechseln konnten. Sie wollten, um sich umzuziehen, hinter die Halbwand gehen, aber in dem kleinen Verschlag saßen bereits drei Offiziere, die ihn vollständig ausfüllten. Sie hatten auf eine leere Kiste ein Licht gestellt, spielten Karten und waren nicht zu bewegen, ihren Platz abzutreten. So überließ ihnen Marja Genrichowna für die Zeit des Umkleidens ihren Unterrock, damit sie ihn als Vorhang benutzen könnten, und hinter diesem Vorhang zogen nun Rostow und Iljin mit Hilfe Lawrentins, der einen Packen Kleidungsstücke mitgebracht hatte, die nassen Sachen vom Leibe und trockene an.

In dem halbzerfallenen Ofen wurde Feuer gemacht. Andere schleppten ein Brett herbei, legten es über zwei Sättel und bedeckten es mit einer Pferdedecke. Dann wurde ein Samowar aufgestellt, ein Proviantkorb mit einer halben Flasche Rum entdeckt, Marja Genrichowna gebeten, die Wirtin zu spielen, und alle drängten sich um sie. Der eine bot ihr ein frisches Taschentuch an, damit sie sich ihre reizenden Händchen daran abtrocknen könne, ein anderer breitete ihr seinen Dolman unter die Füßchen, damit sie nicht feucht werden sollten, ein dritter hängte seinen Mantel über das Fenster, damit es nicht ziehe, und wieder ein anderer verscheuchte die Fliegen vom Gesicht ihres Mannes, damit er nicht aufwache.

»Lassen Sie ihn nur«, sagte Marja Genrichowna mit scheuem, glücklichem Lächeln, »er wird nach der letzten schlaflosen Nacht auch so schon gut schlafen.«

»Nicht doch, Marja Genrichowna«, erwiderte der Offizier. »Mit dem Doktor muß man es halten. Dann hat er vielleicht auch ein bißchen Mitleid, wenn er einem mal den Arm oder das Bein absäbelt.«

Man hatte nur drei Gläser; das Wasser war so schmutzig, daß sich nicht erkennen ließ, ob der Tee stark oder schwach war. Der Samowar faßte nur das Wasser für sechs Gläser, aber um so angenehmer war es dann, der Reihe und dem Rang nach sein Glas aus Marja Genrichownas molligen Händchen mit den kurzen, nicht ganz sauberen Fingernägeln entgegenzunehmen. Alle Offiziere schienen in sie verliebt zu sein oder waren es an diesem Abend wirklich. Sogar jene drei, die im Verschlag ein Spielchen gemacht hatten, warfen die Karten beiseite, kamen zum Samowar herüber, stimmten in den allgemeinen Ton mit ein und umschwärmten sie. Obgleich sich die kleine Doktorsfrau nichts anmerken lassen wollte, strahlte sie doch über das Glück, sich von so vielen vornehmen und höflichen jungen Herren umringt zu sehen, sah sich dabei aber mit sichtlicher Bangigkeit jedesmal um, sobald sich der hinter ihr liegende Gatte im Schlaf rührte.

Löffel gab es nur einen einzigen, dafür aber Zucker in Mengen, doch ließ keiner dem anderen Zeit, ihn umzurühren, und deshalb wurde beschlossen, daß Marja Genrichowna der Reihe nach jedem den Zucker umrühren solle. Als Rostow sein Glas Tee erhielt, goß er Rum hinein und bat Marja Genrichowna, es umzurühren.

»Aber Sie haben ja noch gar keinen Zucker drin?« sagte sie, ununterbrochen lächelnd, als ob alles, was sie und andere sagten, sehr spaßig sei und noch eine andere Bedeutung habe.

»Aus dem Zucker mache ich mir gar nichts, mir liegt nur daran, daß Sie es mir mit Ihren Händchen umrühren«, erwiderte Rostow.

Marja Genrichowna nahm bereitwillig das Glas und suchte nach dem Löffel, den irgendeiner schon wieder stibitzt hatte.

»Nehmen Sie doch Ihr Fingerchen, Marja Genrichowna!« rief Rostow. »Das wäre mir noch lieber.«

»Das ist doch so heiß«, sagte sie, wurde aber vor Vergnügen ganz rot dabei.

Iljin nahm einen Eimer mit Wasser, goß etwas Rum hinein, ging zu Marja Genrichowna und bat sie, auch ihm dies mit ihrem Fingerchen umzurühren.

»Das ist meine Tasse«, sagte er. »Stecken Sie nur Ihr Fingerchen hinein, dann trinke ich alles, alles aus.«

Als sie den Samowar ausgetrunken hatten, holte Rostow die Karten und schlug vor, mit Marja Genrichowna »König« zu spielen. Durch das Los wurde bestimmt, wer zu ihrer Partei gehören sollte. Dann erklärte Rostow die Spielregeln und schlug vor, daß der, der »König« werde, das Recht haben solle, Marja Genrichowna die Hand zu küssen, der aber, der »Profos« werde, müsse, wenn der Doktor aufwache, für diesen einen neuen Samowar zurechtmachen.

»Wenn aber nun Marja Genrichowna selber ›König‹ wird?« fragte Iljin.

»Sie ist ohnehin schon unsere Königin! Und ihre Befehle sind uns Gesetz.«

Doch kaum hatte ihr Spiel begonnen, als sich hinter Marja Genrichownas Rücken plötzlich der zerzauste Kopf des Doktors erhob. Er hatte schon lange nicht mehr geschlafen, die ganze Unterhaltung mit angehört und fand offenbar all das, was gesagt und getan wurde, durchaus nicht so komisch und ergötzlich. Sein Gesicht war trübe und finster. Er begrüßte die Offiziere nicht, strich sich die Haare glatt und bat darum, ihn hinauszulassen, da ihm der Weg ringsum versperrt war. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, so brachen alle Offiziere in ein lautes Gelächter aus, Marja Genrichowna aber wurde so rot, daß ihr die Tränen kamen, was sie in den Augen aller Offiziere nur noch anziehender machte. Als der Doktor wieder von draußen hereinkam, sagte er zu seiner Frau, die schon nicht mehr so selig lächelte, sondern ihn in Erwartung seines Machtspruches ängstlich anblickte, der Regen habe aufgehört und man müsse sich nun zum Schlafen in den Reisewagen begeben, da sonst alles weggestohlen werde.

»Ich werde einen Posten davor stellen lassen … zwei!« sagte Rostow. »Da können Sie ganz ruhig sein.«

»Ich selber werde Wache stehen!« rief Iljin.

»Nein, meine Herren, sie haben alle ausgeschlafen, ich aber habe zwei Nächte lang kein Auge zugetan«, erwiderte der Doktor und setzte sich finster neben seine Frau, um das Ende des Spieles abzuwarten.

Als die Offiziere das griesgrämige Gesicht des Doktors, der immer nach seiner Frau schielte, sahen, wurden sie noch ausgelassener, und viele konnten sich ein Lachen nicht mehr verbeißen, das sie dann schleunigst mit einem beliebigen Vorwand zu begründen suchten.

Als der Doktor mit seiner Frau hinausgegangen war und mit ihr in seinem Reisewagen Platz genommen hatte, legten sich die Offiziere in der Schenke hin und deckten sich mit ihren nassen Mänteln zu. Aber sie konnten lange nicht einschlafen: bald schwatzten sie miteinander und erinnerten sich an den Ärger des Doktors und an die lustige kleine Frau, bald liefen sie vor die Tür, um zu erkunden, was in dem Reisewagen vor sich ging. Ein paarmal schlug sich Rostow den Mantel um den Kopf und wollte einschlafen, aber immer weckte ihn irgendeine Bemerkung wieder, die Unterhaltung setzte abermals ein, und wieder brachen alle wie die Kinder ohne jeden Grund in lustiges Gelächter aus.

14

Es war drei Uhr und noch hatte niemand geschlafen, als ein Wachtmeister mit dem Befehl zum Abmarsch nach dem Flecken Ostrowno erschien.

Immer noch unter denselben Gesprächen und unter demselben Gelächter machten sich die Offiziere in aller Eile fertig; wieder wurde der Samowar mit dem schmutzigen Wasser aufgestellt. Doch Rostow wartete den Tee nicht ab, sondern begab sich sogleich zu seiner Eskadron. Es fing bereits an zu dämmern, der Regen hatte aufgehört, die Wolken teilten sich. Es war feucht und kalt, besonders in den noch nicht ganz trocken gewordenen Kleidern. Als Rostow und Iljin aus der Schenke traten, warfen beide im Dunkel der Morgendämmerung einen Blick auf das vom Regen glänzende Lederverdeck des Reisewagens, unter dessen Schurz die Füße des Doktors hervorragten, während man aus dem Innern auf einem Kissen das Häubchen der kleinen Doktorsfrau schimmern sah und die Atemzüge der Schlafenden hörte.

»Sie ist wirklich ganz reizend«, sagte Rostow zu Iljin, der mit ihm aus der Tür trat.

»Ein Prachtweib«, erwiderte Iljin mit dem ganzen Ernst eines Sechzehnjährigen.

Eine halbe Stunde später stand die Schwadron marschbereit auf der Landstraße. Das Kommando: »Aufsitzen!« ertönte. Die Soldaten bekreuzigten sich und stiegen zu Pferde. Rostow gab das Kommando: »Marsch!« und ritt voraus, ihm folgten in langem Zug zu vieren die Husaren mit klirrenden Säbeln und unter leisen Gesprächen, wobei die Hufe ihrer Pferde geräuschvoll durch den Schmutz der großen, rechts und links von Birken umsäumten Landstraße patschten. So zogen sie hinter der vor ihnen marschierenden Infanterie her.

Die blauvioletten Wolkenfetzen, die sich nach Osten zu schon zu röten begannen, wurden vom Wind bald auseinandergefegt. Es wurde heller und heller. Deutlich erkannte man schon jenes krausblättrige, vom gestrigen Regen noch ganz feuchte Gewächs, das immer an ländlichen Straßen wuchert. Die herabhängenden, ebenfalls noch ganz nassen Zweige der Birken schaukelten leise im Wind und ließen glänzende Tropfen schräg niederfallen. Immer deutlicher waren die Gesichter der Soldaten zu erkennen.

Rostow ritt neben Iljin, der nicht von ihm wich, an der Seite der Landstraße zwischen zwei Reihen von Birken. Er hatte sich während des Feldzuges die Freiheit herausgenommen, statt eines Dienstgauls ein Kosakenpferd zu reiten. Als Pferdekenner und Pferdefreund hatte er sich vor kurzem ein gutes, stämmiges, isabellfarbenes Donpferd verschafft, das so flink war, daß keiner ihn überholen konnte. Dieses Pferd zu reiten war für Rostow ein Genuß. So war er mit seinen Gedanken bei seinem Pferd, bei dem sich aufklärenden Morgen, bei der kleinen Doktorsfrau und dachte nicht ein einziges Mal an die bevorstehende Gefahr.

Früher hatte sich Rostow gefürchtet, wenn es ins Treffen ging, jetzt aber empfand er nicht die geringste Angst mehr. Nicht etwa, weil er sich an das Feuer gewöhnt hätte – an eine Gefahr kann man sich nie gewöhnen –, sondern nur deshalb, weil er gelernt hatte, seinen Gedanken vor der Gefahr die rechte Richtung zu geben. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, wenn er ins Treffen ging, an alles mögliche zu denken, nur nicht an das, was augenblicklich am packendsten schien: an die bevorstehende Gefahr. Soviel er sich während der ersten Zeit seines Dienstes auch Mühe gegeben und sich immer wieder der Feigheit beschuldigt hatte, es war ihm früher doch nie geglückt, jetzt aber mit den Jahren kam das ganz von selber.

So ritt er jetzt mit einer so ruhigen, sorglosen Miene, als befände er sich auf einem Spazierritt, neben Iljin zwischen den Birken hin, zupfte ab und zu ein paar Blätter von den Zweigen, die ihm gerade unter die Hände kamen, berührte mit dem Fuß die Weichen seines Pferdes oder reichte dem hinter ihm reitenden Burschen, ohne sich umzuwenden, seine ausgerauchte Pfeife hin. Es tat ihm leid, wenn er in Iljins erregtes Gesicht sah, der viel und unruhig redete; er kannte diesen qualvollen Zustand der Furcht und Todeserwartung, in dem sich der Kornett befand, aus Erfahrung und wußte, daß ihm nichts darüber hinweghelfen könne als die Zeit.

Kaum trat die Sonne hinter den Wolken auf einen lichten Streifen am Horizont hervor, so legte sich sogleich der Wind, als wage er nicht, die Pracht dieses nach dem Gewitter doppeltschönen Sommermorgens zu stören. Es tropfte noch von den Bäumen, aber jetzt nur senkrecht – und dann war alles ganz still. Nun stieg die Sonne ganz hervor und zeigte sich am Horizont, verschwand aber sogleich wieder hinter einer langen schmalen Wolke, die über ihr stand. Doch nach ein paar Minuten zeigte sie sich noch leuchtender am oberen Rand der Wolke und zerriß deren Saum. Alles fing an zu leuchten und zu strahlen. Und im selben Augenblick, als sich dieses Licht ergoß, hörte man vorn, wie zur Antwort darauf, die ersten Kanonenschüsse.

Rostow hatte noch nicht Zeit gehabt, sich zu überlegen und festzustellen, wieweit wohl diese Schüsse entfernt seien, als von Witebsk her ein Adjutant des Grafen Ostermann-Tolstoi herangesprengt kam mit dem Befehl, den vorgeschriebenen Weg im Trab vorzurücken.

Die Eskadron überholte die Infanterie und Artillerie, die sich ebenfalls bemühte, schneller vorwärtszukommen, sprengte einen Abhang hinunter, durchquerte ein ödes, von seinen Bewohnern verlassenes Dorf und ritt dann wieder bergauf. Die Pferde kamen in Schweiß, die Leute hatten rote Gesichter.

»Halt! $Richt’t euch!« hörte man vorn das Kommando des Divisionschefs. »Linke Schulter vor! Im Schritt marsch!« kommandierte man vorn.

Die Husaren zogen an der Truppenlinie entlang auf den linken Flügel der Stellung zu und nahmen hinter unsern Ulanen, die in der ersten Linie standen, Aufstellung. Rechts stand unsere Infanterie in dichter Kolonne, das war die Reserve; und über ihr auf dem Berg erblickte man in der schrägen, klaren Morgenbeleuchtung und der hellen, reinen Luft ganz hinten am Horizont unsere Geschütze. Vorn, auf der andern Seite des Tals, standen die feindlichen Kolonnen und Geschütze. Unten hörte man unsere Vorpostenkette schießen, die bereits in den Kampf eingetreten war und ein lustiges Gewehrfeuer gegen den Feind eröffnet hatte.

Bei diesem so lang nicht mehr gehörten Geknatter wurde es Rostow ganz heiter zumute wie bei den Klängen der lustigsten Musik. »Tapp-ta-ta-tapp!« knallten bald gleichzeitig, bald schnell aufeinander die Schüsse. Wieder war alles still, aber gleich darauf fing es von neuem an zu knattern, als trete jemand auf Knallerbsen.

Wohl eine Stunde standen die Husaren auf einem Fleck. Auch das Geschützfeuer war eröffnet worden. Hinter der Eskadron ritt Graf Ostermann mit seinem Gefolge vorbei, hielt an, sprach mit dem Regimentskommandeur und setzte dann seinen Weg zu den Kanonen auf dem Berg fort.

Kurz nachdem Ostermann weggeritten war, hörte man bei den Ulanen das Kommando: »In Kolonne, zur Attacke! – Fertig!« Die Infanterie vor ihnen ließ ihre Züge hinter einander treten, um die Kavallerie durchzulassen. Die Ulanen rührten sich, die Fähnchen an den Lanzen fingen an zu flattern, und im Trabe ging es den Berg hinunter auf die französische Kavallerie zu, die links unterhalb der Anhöhe zum Vorschein kam.

Kaum waren die Ulanen den Abhang hinuntergeritten, als die Husaren den Befehl erhielten, zum Schutz der Batterie am Berg vorzurücken, und während die Husaren den Platz der Ulanen einnahmen, flogen aus der feindlichen Vorpostenkette zischend und pfeifend ferne, ihr Ziel verfehlende Kugeln zu ihnen herüber.

Dieses lange nicht mehr gehörte Pfeifen ermunterte und freute Rostow noch mehr als die Schüsse von vorhin. Er richtete sich hoch im Sattel auf, überschaute das Schlachtfeld, das sich vom Berg aus frei seinem Auge darbot, und folgte mit ganzer Seele dem Vorstürmen der Ulanen. Diese sprengten bis dicht an die französischen Dragoner heran, dann entstand dort ein Knäuel, den ein dichter Pulverrauch verhüllte, und nach etwa fünf Minuten jagten die Ulanen zurück, aber nicht nach der Seite, wo sie gestanden hatten, sondern mehr nach links. Zwischen den orangefarbenen Ulanen auf ihren Füchsen und hinter ihnen her sah man jetzt Scharen von blauen französischen Dragonern auf grauen Pferden.

15

Rostow mit seinem scharfen Jägerauge war einer der ersten gewesen, die diese blauen französischen Dragoner gesehen hatten, die unsere Ulanen verfolgten. Immer näher und näher kamen unsere Ulanen in aufgelösten Scharen und die französischen Dragoner, die ihnen nachsetzten. Schon konnte man sehen, wie diese unten am Berg klein erscheinenden Menschen zusammenstießen, einander nachjagten und mit Armen und Säbeln um sich schlugen.

Wie eine Hetzjagd verfolgte Rostow das, was sich vor seinen Augen abspielte. Instinktmäßig fühlte er, daß, wenn er jetzt mit seinen Husaren über die französischen Dragoner herfiele, diese nicht standhalten könnten. Wenn er aber angreifen wollte, so mußte es gleich geschehen, noch in diesem Augenblick, sonst würde es zu spät sein. Er sah sich um. Der Rittmeister neben ihm hatte die Kavallerie unten ebenfalls nicht aus dem Auge gelassen.

»Andrej Sewastianytsch«, sagte Rostow, »die könnten wir über den Haufen reiten …«

»Das wäre ein forscher Streich«, erwiderte der Rittmeister, »tatsächlich …«

Aber Rostow hörte ihn nicht bis zu Ende an; er gab seinem Pferde die Sporen, sprengte vor seine Eskadron und hatte kaum Zeit gehabt, das Kommando zu erteilen, als schon die ganze Schwadron, die dasselbe Empfinden gehabt hatte wie er, hinter ihm herjagte. Rostow wußte selber nicht, wie und warum er das getan hatte. Er war hier genauso vorgegangen, wie er es auf der Jagd getan hätte, ohne zu denken und zu überlegen. Er hatte gesehen, daß die Dragoner in der Nähe waren, gesehen, wie sie aufgelöst herangaloppierten, gewußt, daß sie nicht standhalten würden, wußte aber auch, daß dies nur ein einziger Augenblick des Vorteils war, der nie wiederkehren würde, wenn man ihn vorübergehen ließ. Die Kugeln hatten ihn so aufmunternd umsaust und umpfiffen, sein Pferd hatte so hitzig vorwärts gedrängt, daß er sich selber nicht mehr hatte zurückhalten können. Er hatte seinem Pferd die Sporen gegeben, das Kommando erteilt, und war im selben Augenblick, als er hinter sich das Hufestampfen seiner losstürmenden Eskadron vernommen hatte, in vollem Trab den Berg hinuntergesprengt, den Dragonern entgegen.

Kaum waren sie den Abhang hinuntergeritten, als ihr Traben unwillkürlich in Galoppieren überging, das immer schneller und schneller wurde, je näher sie ihren Ulanen und den ihnen nachsetzenden französischen Dragonern kamen. Schon waren die Dragoner ganz nahe. Die vordersten machten beim Anblick der Husaren kehrt, die hinteren hielten an. Mit demselben Gefühl, mit dem Rostow auf der Jagd losgaloppierte, um einem Wolf den Weg abzuschneiden, ließ er seinem Donpferd jetzt freien Lauf und jagte quer in die aufgelösten Reihen der französischen Dragoner hinein. Ein Ulan hielt an, ein anderer, der sein Pferd verloren hatte, warf sich auf die Erde, um nicht überritten zu werden. Ein reiterloses Pferd mischte sich unter die Husaren. Fast alle französischen Dragoner hatten die Flucht ergriffen. Rostow faßte einen von ihnen auf einem grauen Pferd ins Auge und jagte ihm nach. Auf dem Weg stieß er auf einen Busch, aber sein braves Pferd trug ihn darüber hinweg. Kaum hatte sich Nikolaj wieder im Sattel zurechtgesetzt, so sah er, daß er in wenigen Augenblicken jenen Feind, den er aufs Korn genommen hatte, eingeholt haben würde. Dieser Franzose, seiner Uniform nach wohl ein Offizier, stürmte in gebückter Haltung auf seinem grauen Pferd dahin, das er mit dem Säbel antrieb. Im nächsten Augenblick prallte Rostows Pferd mit der Brust so gegen das Hinterteil des Dragonerpferdes an, daß dieses beinahe gestürzt wäre, und zu gleicher Zeit zog Rostow, ohne selber zu wissen warum, seinen Säbel und hieb auf den Franzosen ein.

Doch im selben Augenblick, als er dies tat, war Rostows lebhafte Kampflust plötzlich geschwunden. Der französische Offizier stürzte vom Pferd, weniger durch den Säbelhieb, der ihm nur leicht den Arm oberhalb des Ellbogens geritzt hatte, als infolge des Zusammenpralls der Pferde und wohl auch aus Furcht. Rostow hielt sein Pferd an und suchte seinen Feind mit den Augen, um zu sehen, wen er besiegt habe. Der französische Dragoneroffizier war mit dem einen Bein auf die Erde gesprungen, mit dem anderen hing er im Steigbügel fest. Er kniff ängstlich die Augen zusammen, als erwarte er jeden Augenblick einen neuen Hieb, faltete die Stirn und blickte von unten her mit einem Ausdruck des Entsetzens zu Rostow auf. Sein blasses schmutzbespritztes, blondes, junges Gesicht mit dem Grübchen am Kinn und den hellen, blauen Augen paßte ganz und gar nicht auf ein Schlachtfeld, es war nicht das Gesicht eines Feindes, sondern das eines harmlosen Stubenmenschen.

Noch ehe sich Rostow entschlossen hatte, was er mit dem Offizier anfangen sollte, rief dieser ihm zu: »Je me rends!« Hastig wollte er den Fuß aus dem Steigbügel befreien, brachte es aber nicht fertig und blickte Rostow mit seinen erschrockenen blauen Augen unverwandt an. Herbeisprengende Husaren machten ihm den Fuß frei und halfen ihm wieder in den Sattel.

Überall machten sich die Husaren mit gefangenen Dragonern zu schaffen: einer von diesen war verwundet, wollte aber trotz seines blutüberströmten Gesichtes nicht von seinem Pferd lassen; ein anderer hielt einen Husaren umschlungen und saß vor diesem vorn im Sattel; ein dritter bestieg mühsam, von einem Husaren unterstützt, wieder sein Pferd.

Da kam von vornher französische Infanterie im Sturmschritt näher und schoß. Eilig sprengten die Husaren mit ihren Gefangenen zurück. Auch Rostow jagte mit den anderen dahin. Ein unangenehmes Gefühl lag ihm beklemmend auf dem Herzen. Etwas Unklares, Verworrenes, das er sich nicht zu erklären vermochte, war in dem Augenblick in ihm aufgestiegen, als er den Offizier gefangengenommen und ihm den Hieb versetzt hatte.

Graf Ostermann-Tolstoi kam den zurückkehrenden Husaren entgegen, ließ Rostow rufen, dankte ihm und sagte, er werde dem Kaiser seine Heldentat melden und ihn für das Georgskreuz vorschlagen. Als Rostow zum Grafen Ostermann gerufen wurde, fiel ihm plötzlich ein, daß er diesen Angriff ja ohne Befehl unternommen hatte, und er war fest überzeugt, daß der Vorgesetzte ihn nur deshalb zu sich beordere, um wegen dieses eigenmächtigen Vorgehens eine Strafe über ihn zu verhängen. Aus diesem Grund hätten die schmeichelhaften Worte Ostermanns und das Versprechen einer Auszeichnung Rostow um so freudiger überraschen müssen, und doch war ihm infolge jenes unklaren, unangenehmen Gefühls innerlich dies alles zuwider.

Ja, aber was quält mich nur eigentlich? fragte er sich selbst, während er vom General wegritt. Iljin? Nein, der ist heil und unversehrt. Oder habe ich mich irgendwie mit Schande bedeckt? Nein, nein, auch das ist es nicht. Ihn quälte etwas anderes, etwas wie Reue. Ja, ja, dieser französische Offizier mit dem Grübchen. Und wie genau ich noch weiß, daß meine Hand nicht weiter wollte, als ich sie gegen ihn erhob.

Da erblickte Rostow die Gefangenen, die eben abtransportiert werden sollten, und sprengte ihnen nach, um sich seinen Franzosen mit dem Grübchen im Kinn noch einmal anzusehen. Dieser saß in seiner seltsamen Uniform jetzt auf einem Husarendienstpferd und sah sich unruhig um. Seine Wunde am Arm war kaum eine Wunde zu nennen. Mit verstellter Freundlichkeit lächelte er Rostow an und winkte ihm zur Begrüßung mit der Hand zu. Trotzdem empfand Rostow ein peinliches Gefühl, als müsse er sich über irgend etwas schämen.

An diesem und dem folgenden Tag fiel es Rostows Freunden und Kameraden auf, daß dieser, wenn auch nicht verstimmt und ärgerlich, so doch schweigsam, nachdenklich und in sich gekehrt war. Er machte sich nichts mehr aus dem Trinken, suchte die Einsamkeit und grübelte immer über etwas nach.

Rostow dachte an seine glänzende Heldentat, die ihm zu seiner Verwunderung das Georgskreuz und überdies noch den Ruf eines hervorragend tapferen Offiziers eingetragen hatte, und konnte nichts von alledem begreifen. So fürchten sich also die da drüben noch mehr als wir? dachte er. Und das, was man Heldentum nennt, wäre also nichts weiter als dies? Habe ich denn das dem Vaterland zuliebe getan? Und was kann denn der mit seinen blauen Augen und dem Grübchen dafür? Wie entsetzt er war! Er dachte, ich würde ihn niederstechen. Wozu hätte ich ihn töten sollen? Mir zitterte die Hand. Und dafür erhalte ich nun das Georgskreuz. Nichts, nichts verstehe ich von alledem!

Während Nikolaj diese Fragen immer wieder in seinem Kopf hin und her wälzte und sich trotz alledem keine klare Rechenschaft davon ablegen konnte, was es eigentlich war, das ihn innerlich so aufwühlte, drehte sich im Dienste das Glücksrad zu seinen Gunsten, wie das ja oft der Fall zu sein pflegt. Er wurde nach dem Treffen bei Ostrowno zum Chef eines Husarenbataillons ernannt, und wenn man einen besonders tapferen Offizier brauchte, so wurde Rostow mit der Order betraut.

16

Obwohl die Gräfin immer noch nicht ganz gesund war und sich sehr schwach fühlte, kam sie doch auf die Nachricht von Nataschas Krankheit sofort mit Petja und dem ganzen Hausstand nach Moskau gefahren, und die ganze Familie siedelte nun von Marja Dmitrijewna in ihr eignes Haus über und ließ sich gänzlich in Moskau nieder.

Nataschas Krankheit war so ernst, daß ihr und ihren Eltern zum Glück der Gedanke an all das, was ihre Krankheit veranlaßt hatte: ihr Benehmen und ihre Absage an ihren Bräutigam, völlig in den Hintergrund trat. Sie war so krank, daß man, während sie weder aß noch schlief, zusehends abmagerte, hustete und, wie die Ärzte zu verstehen gaben, in Lebensgefahr schwebte, unmöglich daran denken konnte, inwieweit sie an allem, was geschehen war, die Schuld trug. Man mußte jetzt nur darauf bedacht sein, wie man ihr helfen könne.

Die Ärzte besuchten Natascha bald einzeln, bald gruppenweise, um miteinander zu beraten, sprachen viel auf französisch, deutsch und lateinisch, tadelten einander und verschrieben die verschiedenartigsten Heilmittel für alle ihnen nur bekannten Krankheiten, aber nicht einem von ihnen kam der so einfache Gedanke in den Kopf, daß ihnen jene Krankheit, an der Natascha litt, gar nicht bekannt sein konnte; wie überhaupt keine Krankheit, an der ein lebender Mensch leidet, bekannt sein kann: denn jeder lebende Mensch besitzt seine Besonderheiten und hat infolgedessen nicht einfach eine Krankheit der Lunge, der Leber, der Haut, des Herzens oder der Nerven und so weiter, wie sie in den medizinischen Kompendien beschrieben sind, sondern immer eine besondere, nur ihm eigne, neue, komplizierte, der Heilwissenschaft unbekannte Krankheit, die in einer der zahllosen Kombinationen von Krankheiten all dieser Organe besteht. Wie es einem Zauberer nicht in den Sinn kommen kann, daß er gar nicht imstande ist, zu zaubern, so konnten die Ärzte nicht auf diesen einfachen Gedanken kommen, weil ja ihre Lebensaufgabe darin bestand, andere zu heilen, weil sie dafür Geld einsteckten, und weil sie für diese Beschäftigung die besten Jahre ihres Lebens verausgabt hatten. Vor allem aber konnte dieser Gedanke den Doktoren deshalb nicht kommen, weil sie sahen, daß sie zweifellos nützlich waren; denn tatsächlich waren sie für alle Mitglieder des Hauses Rostow von großem Nutzen. Und zwar waren sie nicht deshalb nützlich, weil sie die Kranke zwangen, allerlei, größtenteils schädliches Zeug zu schlucken – diese Gifte machten sich weniger bemerkbar, weil die schädlichen Stoffe immer nur in kleinen Quantitäten verabreicht wurden –, aber sie waren nützlich, unumgänglich und unentbehrlich, weil sie ein seelisches Bedürfnis der Kranken und all derer, die sie liebhatten, stillten, ein Grund, warum es auch zu allen Zeiten vermeintliche Heilkundige, Wunderdoktoren, Homöopathen und Allopathen gegeben hat und immer geben wird. Sie leisteten jenem ewig menschlichen Bedürfnis nach Hoffnung auf Erleichterung Genüge, jenem Bedürfnis nach Mitgefühl und besorgter Geschäftigkeit anderer, das jeder Mensch, wenn er leidet, empfindet. Sie wurden jenem ewig menschlichen Bedürfnis gerecht, das sich bei jedem Kind in seiner einfachsten Urform beobachten läßt: die Stelle streicheln zu lassen, wo man sich weh getan hat. Wenn sich ein Kind gestoßen hat, läuft es sogleich in die Arme der Mutter oder Wärterin zurück, damit diese das Wehweh küssen oder streicheln soll, und erst dann wird ihm leichter ums Herz, wenn die schmerzende Stelle wirklich geküßt und gestreichelt worden ist. Das Kind hält es nicht für möglich, daß die großen Leute, die um so vieles stärker und weiser sind als es selber, nicht die Mittel haben sollten, seinem Schmerz abzuhelfen. Und die Hoffnung auf Erleichterung und der Ausdruck des Mitgefühls im Augenblick, da die Mutter mit der Hand über die Beule streicht, trösten das Kind. Und so waren die Ärzte für Natascha deshalb von Nutzen, weil sie ihre wunde Seele streichelten und küßten und ihr versicherten, daß alles sogleich vorübergehen werde, wenn der Kutscher in die Arbat-Apotheke fahre und für einen Rubel und siebzig Kopeken kleine Pulver und Pillen in einem netten Schächtelchen hole, und wenn dann diese Pülverchen von der Kranken pünktlich alle zwei Stunden in vorgeschriebener Menge, keinesfalls mehr oder weniger, in abgekochtem Wasser eingenommen würden.

Und was hätten Sonja, der Graf und die Gräfin anfangen sollen, wie hätten sie, ohne etwas zu unternehmen, zuschauen mögen, wenn nicht alle Stunden diese Pillen, das warme Getränk, die Hühnerkoteletts und alle die Einzelheiten der Lebensweise gewesen wären, die die Ärzte verschrieben hatten und deren Beobachtung für die Angehörigen Trost und Ablenkung war? Wie hätte der Graf die Krankheit seiner Lieblingstochter ertragen sollen, wenn er nicht gewußt hätte, daß ihn diese Krankheit Tausende von Rubeln kostete, ihn aber dennoch auch weitere Tausende nicht reuen würden, wenn nur ihr damit geholfen wäre; wenn er nicht gewußt hätte, daß, falls es ihr nicht bald besser gehe, er vor noch größeren Ausgaben nicht zurückschrecken und mit ihr ins Ausland fahren würde, um dort die berühmtesten Ärzte zu konsultieren? Wie hätte der Graf diese Krankheit ertragen können, wenn er nicht die Möglichkeit gehabt hätte, bis in alle Einzelheiten zu erzählen, wie Métivier und Feller den Fall nicht erkannt hätten, während Fries eine richtige Diagnose gestellt und Mudrow die Krankheit noch bestimmter festzustellen vermocht hätte? Was hätte die Gräfin anfangen sollen, wenn sie nicht manchmal die kranke Natascha hätte auszanken können, weil diese den Vorschriften des Arztes nicht gewissenhaft genug nachkam?

»Auf diese Weise wirst du nie gesund werden«, sagte sie und vergaß über dem Ärger ihren Kummer, »wenn du nicht auf den Arzt hörst und rechtzeitig die Medizin einnimmst. Mit so etwas ist nicht zu spaßen, wie leicht kann da eine Pneumonie draus werden«, sagte die Gräfin und empfand schon allein bei dem Aussprechen dieses nicht nur für sie unverständlichen Wortes großen Trost.

Was hätte Sonja anfangen sollen, wenn sie nicht das freudige Bewußtsein gehabt hätte, daß sie in der ersten Zeit drei Nächte hintereinander sich nicht hatte auskleiden können, um immer zur pünktlichen Erfüllung aller ärztlichen Verordnungen bereit zu sein, und daß sie auch jetzt noch die Nächte nicht schlief, nur um die Stunden nicht zu verpassen, da sie der Kranken die wenig schädlichen Pillen aus dem goldenen Schächtelchen eingeben mußte?

Und auch Natascha selber machte es Freude, zu sehen, wie alle ihretwegen so große Opfer brachten, und daß sie zu bestimmten Stunden ihre Medizin einnehmen mußte, obgleich sie immer wieder sagte, daß ihr keine Arznei der Welt helfen könne, und daß dies alles nur dummes Zeug sei. Ja, sie freute sich sogar darüber, durch Nichtbeachtung der Verordnungen zeigen zu können, daß sie an keine Genesung glaube und sich nichts mehr aus dem Leben mache.

Der Arzt kam alle Tage, fühlte den Puls, sah die Zunge an und sagte etwas Scherzhaftes zu ihr, ohne Nataschas niedergeschlagenes Gesicht zu beachten. Dafür aber setzte er dann, wenn er ins Nebenzimmer ging, wohin ihm die Gräfin eiligst folgte, eine ernsthafte Miene auf, wiegte nachdenklich den Kopf und sagte, obgleich ja noch immer eine Gefahr bestehe, hoffe er doch auf die Wirkung dieser letztverschriebenen Arznei, man müsse eben abwarten und zusehen, es handle sich hier mehr um eine Krankheit des Gemütes, jedoch …

Und verstohlen drückte die Gräfin dem Arzt ein Goldstück in die Hand, bemüht, dies vor sich selbst und vor dem Doktor zu verbergen, und kehrte jedesmal mit beruhigtem Herzen zu der Kranken zurück.

Die Symptome von Nataschas Krankheit bestanden darin, daß sie wenig aß, wenig schlief, hustete und niemals ihr früheres munteres Wesen zeigte. Die Doktoren behaupteten, man dürfe die Krankheit nicht ohne ärztlichen Beistand lassen, und hielten sie deshalb in der dumpfen Luft der Großstadt zurück. So reisten die Rostows im Sommer 1812 nicht aufs Land.

Trotz der Unmasse verschluckter Pillen, Tropfen und Pülverchen aus all den Büchschen und Schächtelchen, von denen sich Madame Schoß, die eine Liebhaberin solcher Sächelchen war, eine ganze Sammlung angelegt hatte, trotz des Verzichtes auf das gewohnte Landleben machte doch bei Natascha allmählich die Jugend ihre Rechte geltend: die Eindrücke des Alltagslebens fingen an, sich schichtweise über ihren Kummer auszubreiten, er lastete ihr nicht mehr so quälend schmerzhaft auf der Seele, sondern fing nun an, der Vergangenheit anzugehören, und so ging Natascha auch körperlich der Genesung entgegen.

17

Natascha war ruhiger geworden, aber nicht heiterer. Sie floh nicht nur alle äußeren Quellen der Freude, wie Bälle, Spazierfahrten, Konzerte, Theater, sondern brachte es auch nicht ein einziges Mal fertig, so zu lachen, daß man durch ihr Lachen nicht die Tränen hindurchgehört hätte. Singen konnte sie gar nicht mehr. Sobald sie nur zu lachen anfing oder für sich allein zu singen versuchte, erstickten Tränen ihre Stimme, Tränen der Reue, der Erinnerung an jene unwiederbringlich verlorene fleckenlose Zeit, Tränen des Unwillens, daß sie so zwecklos ihr junges Leben, das so glücklich hätte sein können, vernichtet hatte. Lachen und Singen erschien ihr besonders als eine Lästerung ihres Kummers. An Kokettieren dachte sie gar nicht, und es kam ihr deshalb auch gar nicht in den Sinn, daß sie sich dessen enthalten mußte. Sie fühlte und sprach es auch aus, daß in dieser Zeit alle Männer dasselbe für sie waren wie der Narr Nastasja Iwanowna. Vor ihrem Herzen stand eine Wache und verbot ihr jede Freude. Ja, sie hatte auch nicht mehr all die früheren Interessen aus jener sorglosen, hoffnungsreichen Mädchenzeit. Oft und in schmerzlicher Erinnerung dachte sie an die Herbstmonate, an die Jagd, den Onkel und das Weihnachtsfest, das sie mit Nicolas zusammen in Otradnoje verlebt hatte. Was hätte sie darum gegeben, auch nur einen Tag dieser Zeit zurückrufen zu können! Aber das war ja nun auf immer vorbei. Damals hatte sie die Ahnung nicht getäuscht, daß jener Zustand der Freiheit und Empfänglichkeit für alle Freuden für sie nie zurückkehren werde. Und doch mußte man das Leben zu Ende leben.

Es war ihr ein Labsal, zu denken, daß sie nicht besser, wie sie früher geglaubt, sondern schlechter, bei weitem schlechter als alle, alle Menschen auf der ganzen Welt war. Aber das war noch nicht genug. Sie war sich dessen bewußt und fragte sich nun: Was weiter? Aber ein »Weiter« gab es nicht. Das Leben machte ihr keine Freude mehr, aber es nahm seinen Lauf. Nataschas einziges, sichtliches Bestreben war, keinem zur Last zu fallen und im Weg zu sein, für sich selber wünschte und benötigte sie nichts. Sie hielt sich von allen Hausgenossen fern, und nur in der Gesellschaft ihres Bruders Petja wurde ihr leichter ums Herz. Mit ihm war sie lieber zusammen als mit den andern, und ab und zu, wenn sie mit ihm allein war, lachte sie sogar wieder.

Sie ging fast nicht aus dem Hause, und von allen Gästen, die zu ihnen kamen, freute sie sich nur über einen – und das war Pierre. Es war unmöglich, jemandem zarter, behutsamer und zugleich ernster entgegenzukommen, als sich Graf Besuchow Natascha gegenüber zeigte. Natascha fühlte unbewußt diese Zartheit in seinem Benehmen, und deshalb bereitete ihr seine Gesellschaft großes Vergnügen. Aber sie war ihm nicht einmal dankbar für diese zarte Schonung. Nichts Gutes, was Pierre tat, schien ihm irgendwelche Anstrengung zu kosten. Er war von Natur aus so gut gegen alle, daß seine Güte gar kein Verdienst weiter war.

Mitunter bemerkte Natascha an Pierre eine gewisse Verwirrung und Unsicherheit in ihrer Gegenwart, besonders wenn er ihr etwas Gutes erweisen wollte, oder wenn er fürchtete, daß durch irgend etwas in der Unterhaltung schwere Erinnerungen in ihr wachgerufen werden könnten. Sie sah dies wohl, schrieb es aber seiner allgemeinen Herzensgüte und Schüchternheit zu, die er, wie sie glaubte, ebenso wie in ihrer Gegenwart auch allen anderen zeigte. Nach jenen spontanen Worten von damals, daß er, wenn er frei wäre, auf den Knien um Nataschas Hand und Liebe bitten würde, die er ihr in einem Augenblick gesagt hatte, als er sich in höchster Erregung befand, hatte Pierre mit Natascha nie wieder über seine Gefühle gesprochen, und es war ihr ganz klar, daß er jene Worte, die ihr damals ein solcher Trost gewesen waren, nur gesagt hatte, wie man das Blaue vom Himmel herunterschwatzt, nur um ein weinendes Kind zu trösten. Nicht weil Pierre ein verheirateter Mann war, sondern weil sie zwischen sich und ihm in so hohem Grad jene moralische Schranke fühlte, die sie zwischen sich und Kuragin vermißt hatte, kam es ihr nie in den Sinn, daß aus ihren Beziehungen zu Pierre jemals Liebe von ihrer oder gar von seiner Seite entstehen könne, oder auch nur jene Art zärtlicher, sich alles bekennender, poetischer Freundschaft zwischen Mann und Frau, von der ihr Beispiele bekannt waren.

Gegen Ende der Petri-Fasten kam Agrafena Iwanowna Bjelowa, eine Gutsnachbarin der Rostows aus der Gegend von Otradnoje, nach Moskau, um vor den Moskauer Heiligen zu beten. Sie schlug Natascha vor, mit ihr zusammen die zum Abendmahl vorbereitenden Fast- und Betübungen zu machen, und Natascha ging freudig auf diesen Gedanken ein. Trotz des Verbotes der Ärzte, frühmorgens auszugehen, bestand Natascha darauf, sich zum Abendmahl vorzubereiten, aber nicht so vorzubereiten, wie es im Hause Rostow üblich war, das heißt durch Anhören von drei Messen zu Hause, sondern so, wie Agrafena Iwanowna es tat, das heißt acht Tage lang keine Früh-, Mittags- und Abendmesse zu versäumen.

Der Gräfin gefiel dieser Eifer Nataschas. Nach dem erfolglosen Herumdoktern der Ärzte hoffte sie im Grund ihrer Seele, daß Beten Natascha mehr helfen werde als alle Arzneien, und gab, zwar ein bißchen ängstlich und ohne den Ärzten etwas davon zu sagen, den Bitten Nataschas nach und vertraute sie dem Schutz der Bjelowa an. Agrafena Iwanowna kam nun täglich um drei Uhr nachts, um Natascha zu wecken und abzuholen, und fand sie meist schon wach, da Natascha große Angst hatte, die Morgenmesse einmal zu verschlafen. Sie wusch sich in aller Eile, zog demutsvoll ihr schlechtestes Kleid und ihren ältesten Mantel an und ging, in der Morgenfrische fröstelnd, auf die menschenleeren Straßen hinaus, die in der Morgendämmerung nur matt erleuchtet waren. Auf den Rat Agrafena Iwanownas bereitete sich Natascha nicht in ihrer Parochialkirche, sondern in einer anderen zum Abendmahl vor, in der ein Priester von besonders strenger und hoher Lebensauffassung amtierte, wie die fromme Agrafena Iwanowna sagte.

In dieser Kirche waren immer wenig Leute. Natascha und Agrafena Iwanowna nahmen ihre gewohnten Plätze vor dem Bild der Mutter Gottes ein, das in der Rückwand des linken Chores eingefügt war. Ein neues Gefühl der Demut vor dem Hohen, Unbegreiflichen überkam Natascha, wenn sie zu dieser ungewohnten Morgenstunde das schwarzgewordene Bild der Mutter Gottes betrachtete, das nur von den Kerzen, die davor brannten, und von dem Frührot, das durch die Scheiben fiel, erleuchtet wurde, und dabei der Messe lauschte, der mit Verständnis zu folgen sie sich Mühe gab. Verstand sie die Worte, so floß ihr persönliches Gefühl mit allen seinen Schattierungen mit dem Gebet zusammen, verstand sie sie nicht, so war ihr der Gedanke noch süßer, daß der Wunsch, alles zu verstehen, eitel Hoffart ist, weil dies ja doch unmöglich ist, und daß man nur glauben und sich Gott ganz hingeben muß, der in diesem Augenblick – das fühlte sie – ihre ganze Seele beherrschte. Sie bekreuzigte und verbeugte sich, und wenn sie die Worte nicht verstand, so betete sie nur zu Gott, entsetzt über ihre eigne Schlechtigkeit, ihr doch alles, alles zu verzeihen und sich ihrer zu erbarmen. Die Gebete, denen sie sich am inbrünstigsten hingab, waren die Bußgebete. Und wenn sie dann in dieser frühen Morgenstunde, wo man auf der Straße nur Maurer traf, die zur Arbeit gingen, und Hausknechte, die die Straße fegten, nach Hause zurückkehrte, wo noch alle schliefen, empfand Natascha ein neues Gefühl: sie hoffte ihre Fehler ablegen zu können, und ein neues, reines Leben und Glück erschien ihr wieder möglich.

Während der ganzen Woche, in der sie dieses Leben führte, erstarkte dieses Gefühl von Tag zu Tag. Und der Empfang des heiligen Sakramentes erschien ihr als ein so großes Glück, daß sie fürchtete, diesen geweihten Sonntag gar nicht zu erleben.

Aber der beseligende Sonntag brach dennoch an, und als Natascha an diesem ihr unvergeßlichen Tag in ihrem weißen Musselinkleid von der Abendmahlfeier nach Hause kam, fühlte sie sich nach vielen Monaten zum erstenmal wieder ruhig und empfand das Leben, das noch vor ihr lag, nicht mehr als Last.

An diesem Tag kam auch der Doktor, sah Natascha prüfend an und verordnete, mit dem Einnehmen jener letzten Pülverchen, die er vor vierzehn Tagen verschrieben hatte, fortzufahren.

»Unbedingt müssen Sie die morgens und abends noch weiternehmen«, sagte er, sichtlich und mit gutem Gewissen von seinem Erfolg befriedigt. »Und, wenn ich bitten darf, ja recht pünktlich und gewissenhaft.«

»Seien Sie ganz unbesorgt, Gräfin«, sagte er dann draußen in scherzendem Ton, wobei er das Goldstück geschickt im Handteller einklemmte, »bald wird sie wieder singen und herumspringen. Die letzte Arznei hat ihr sehr, sehr gut getan. Sie ist viel munterer geworden.«

Die Gräfin warf heimlich einen Blick auf ihre Fingernägel und spuckte darauf, um ja nichts zu berufen, und kehrte mit heiterem Gesicht in den Salon zurück.

18

Anfang Juli verbreiteten sich in Moskau mehr und mehr beängstigende Gerüchte über den Verlauf des Krieges: man sprach von einem Aufruf des Kaisers an das Volk, und es hieß, daß der Kaiser selber die Armee verlassen und nach Moskau kommen werde. Da aber bis zum 11. Juli weder ein Manifest noch ein Aufruf herausgekommen war, so gingen darüber und über die ganze Lage des Reiches die übertriebensten Gerüchte um. Man erzählte sich, der Kaiser komme aus dem Grund zurück, weil die Armee in Gefahr sei, Smolensk habe sich ergeben, Napoleon rücke mit einer Million Soldaten heran, und nur durch ein Wunder könne Rußland noch gerettet werden.

Am 11. Juli, einem Sonnabend, kam endlich das Manifest heraus, aber es war noch nicht gedruckt. Pierre, der gerade bei den Rostows war, versprach, am nächsten Tag, Sonntag, zu Tisch zu kommen und Manifest und Aufruf mitzubringen, die er sich vom Grafen Rastoptschin geben lassen wollte.

An diesem Sonntag fuhren die Rostows wie gewöhnlich zur Messe in die Rasumowskijsche Hauskapelle. Es war ein heißer Julitag. Schon um zehn Uhr morgens, als die Rostows vor der Kapelle aus dem Wagen stiegen, merkte man der heißen Luft, dem Geschrei der Ausrufer, den hellen, leuchtenden Sommerkleidern der Menge, den bestaubten Blättern der Boulevardbäume, den Klängen der Musik und den weißen Hosen eines zur Wachtparade vorüberziehenden Bataillons, dem Donner des Pflasters und dem grellen Glanz der brennenden Sonne jene sommerliche Mattigkeit und jenes Behagen und Unbehagen an, die sich an grellen, heißen Sommertagen in der Großstadt besonders stark fühlbar machen.

In der Rasumowskijschen Kapelle war die ganze vornehme Welt von Moskau, lauter Bekannte der Rostows, versammelt. In diesem Jahr waren sehr viele reiche Familien, die sonst immer im Sommer aufs Land fuhren, in der Stadt geblieben, als warteten sie auf etwas. Als Natascha hinter dem Diener in Livree, der ihnen einen Weg durch die Menge bahnte, und neben ihrer Mutter einherschritt, hörte sie, wie ein junger Mann in hörbarem Flüsterton eine Bemerkung über sie machte: »Das ist die Rostowa, weißt du, die, die …«

»Wie mager sie geworden ist! Aber hübsch ist sie immer noch!«

Dann hörte sie noch – oder schien es ihr nur so? –, daß die Namen Kuragin und Bolkonskij genannt wurden. Übrigens hatte sie dieses Gefühl immer. Sie glaubte fortwährend, daß alle, die sie ansahen, nur daran … dachten, was sie erlebt hatte. Mit jenem quälenden, bangen Gefühl, das sie immer in einer Menschenmenge empfand, schritt Natascha in ihrem lila, mit schwarzen Spitzen besetzten Seidenkleid dahin, wie eben nur Frauen zu gehen vermögen: um so ruhiger und erhabener, je schmerzlicher und beschämender etwas auf ihrer Seele lastet. Sie wußte, daß sie hübsch war – darin täuschte sie sich nicht –, aber jetzt machte ihr das keine Freude mehr wie früher. Im Gegenteil, dies quälte sie in letzter Zeit mehr als alles andere, und besonders heute, an diesem grellen, heißen Sommertag in der Stadt.

Wieder Sonntag, wieder eine Woche vorbei, sagte sie bei sich, während sie daran dachte, daß sie am vorigen Sonntag ebenfalls hier gewesen war. Und immer dasselbe Leben, das kein Leben ist, immer dieselben Bedingungen, unter denen das Leben mir früher so leicht war. Ich bin hübsch, ich bin jung und weiß, daß ich jetzt auch gut bin; früher war ich schlecht, jetzt aber bin ich gut, das weiß ich, dachte sie, und muß so umsonst, niemandem zur Freude, meine besten, besten Lebensjahre verstreichen lassen.

Sie stand neben der Mutter und tauschte durch Kopfnicken mit ihren in der Nähe stehenden Bekannten Grüße aus. Gewohnheitsgemäß musterte sie die Toiletten der Damen, verurteilte die Haltung einer in der Nähe stehenden Dame und ihre unpassende Art, sich so kurz zu bekreuzigen, aber sogleich fiel es ihr wieder schwer auf die Seele, daß man auch über sie abfällig urteilen werde, ebenso wie sie selber andre verurteilte, und plötzlich hörte sie die ersten Töne der Messe und erschrak über ihre eigne Schlechtigkeit und darüber, daß sie ihre wiedererlangte Reinheit schon wieder verloren hatte.

Ein ehrwürdiger, abgeklärter alter Priester las die Messe mit jener bescheidenen Feierlichkeit, die auf die Seelen der Andächtigen eine so erhabene, beruhigende Wirkung ausübt. Die Altartüren schlossen sich, langsam schob sich der Vorhang vor, und eine geheimnisvolle, milde Stimme sagte etwas von dorther. Tränen, deren Grund sie selber nicht begreifen konnte, traten Natascha in die Augen, und ein Gefühl, freudig und bedrückend zugleich, erregte sie.

»Lehre mich, was ich tun muß, wie ich mein Leben gestalten soll, wie ich mich von meinen Fehlern befreien kann für immer, für immer …« betete sie.

Der Diakonus trat auf seinen erhöhten Platz, schob mit weit weggestrecktem Daumen sein langes Haar unter dem Meßgewand hervor und brachte es in die rechte Lage, bekreuzigte sich die Brust und fing an, laut und feierlich die Worte des Gebetes vorzulesen.

»Lasset uns zu Gott in Frieden beten.«

In Frieden, alle zusammen, ohne Unterschied des Standes, ohne Feindschaft, vereint in brüderlicher Liebe – so wollen wir beten, dachte Natascha.

»Um den Frieden im Himmel und die Errettung unserer Seelen.«

Um den Frieden der Engel und der Seelen aller jener körperlosen Wesen, die über uns leben, betete Natascha.

Als für die im Felde Stehenden gebetet wurde, dachte sie an ihren Bruder und an Denissow, bei dem Gebet für Reisende zu Wasser und zu Lande an den Fürsten Andrej, betete für ihn und darum, daß Gott ihr all das Böse, das sie ihm getan hatte, verzeihen möge. Als aller derer, die uns liebhaben, gedacht wurde, betete sie für ihre Angehörigen: für Vater, Mutter und Sonja, und erst jetzt wurde sie sich zum erstenmal darüber klar, wie groß ihre Schuld gegen sie war, und sie wurde sich der ganzen Kraft ihrer Liebe zu ihnen bewußt. Als für die, so uns hassen, gebetet wurde, dachte sie sich Feinde und Hasser aus, um für sie beten zu können. Für Feinde hielt sie die Gläubiger ihres Vaters und alle, die derartige Geschäfte mit ihm hatten, und jedesmal, wenn der Feinde und Hasser gedacht wurde, fiel ihr auch Anatol ein, der ihr soviel Böses zugefügt hatte, und obgleich er sie nicht gehaßt hatte, betete sie doch freudig für ihn wie für einen Feind. Nur während des Gebetes war sie imstande, klar und ruhig an den Fürsten Andrej und an Anatol zu denken, so daß sich ihre Gefühle für sie in ein Nichts auflösten im Vergleich zu den Gefühlen der Furcht und Andacht gegen Gott. Als für die kaiserliche Familie und den Synod[138] gebetet wurde, verbeugte sie sich besonders tief und bekreuzigte sich, weil sie sich sagte, wenn sie auch nichts davon verstehe, so dürfe sie doch nicht zweifeln und müsse trotzdem den regierenden Synod lieben und für ihn beten.

Nachdem diese Gebete zu Ende waren, kreuzte der Diakonus die Stola über der Brust und sagte: »Uns selber aber und unseren Leib lasset uns Christo, unserem Herrn, übergeben.«

Uns selber wollen wir Gott hingeben, wiederholte Natascha in ihrem Herzen. Mein Gott, Deinem Willen ergebe ich mich, dachte sie. Ich selber will und wünsche nichts mehr, lehre mich, was ich tun muß, und wie ich meinen Willen gebrauchen soll. Ja, nimm mich hin, nimm mich hin! betete Natascha mit rührender Ungeduld im Herzen und ließ, ohne sich zu bekreuzigen, die mageren Arme herabsinken, als erwarte sie, daß eine unsichtbare Kraft sie jeden Augenblick mit fortnehmen und von sich selber, von ihren Schmerzen, Wünschen, Vorwürfen, Hoffnungen und Fehlern befreien werde.

Ab und zu warf die Gräfin während des Gottesdienstes einen Blick auf das weiche Gesicht und die glänzenden Augen ihrer Tochter und betete zu Gott, daß Er ihr helfen möge.

Mitten im Gottesdienst und außerhalb der Ordnung, die Natascha sehr gut kannte, brachte der Küster ganz unerwartet ein Betbänkchen herein, jenes selbe, auf dem das Pfingstgebet kniend verlesen zu werden pflegte, und stellte es vor dem Altar auf. Der Geistliche in seiner lila Samtmütze trat hervor, strich sich die Haare glatt und ließ sich schwerfällig auf die Knie nieder. Alle taten es ihm nach und sahen erstaunt einander an. Es sollte jenes eben erst vom Synod eingegangene Gebet um Befreiung Rußlands vom feindlichen Überfall verlesen werden.

»Allmächtiger Gott, Herr Gott, unser Erlöser«, fing der Geistliche mit jener klaren, einfachen und sanften Stimme an, mit der nur die slawischen Priester zu lesen verstehen und die auf das Herz jedes Russen eine so unwiderstehliche Wirkung ausübt.

»Allmächtiger Gott, Herr Gott, unser Erlöser! Blicke heute in Gnade und Milde auf Dein demütiges Volk herab, höre uns gütig an, erbarme Dich unser und sei uns gnädig. Jener Feind, der Deine Lande in Aufruhr versetzt und die ganze Erde zu verwüsten trachtet, hat sich gegen uns erhoben: jene Menschen, die kein Gesetz kennen, haben sich zusammengeschlossen, um Dein Reich zu vernichten, um Dein heiliges Jerusalem, Dein geliebtes Rußland zu zerstören, Deine Tempel zu schänden, Deine Altäre zu stürzen und unsere Heiligtümer zu entweihen. Wie lange, Herr, wie lange sollen diese Sünder noch frohlocken? Wie lange sollen sie sich noch ihrer gesetzfrevelnden Gewalt erfreuen?

Herr, unser Gott! Erhöre, die zu Dir flehen! Stärke mit Deiner Kraft den gottesfürchtigen, erhabenen Herrscher, unseren Kaiser Alexander Pawlowitsch, gedenke seiner Wahrheitsliebe und Milde und sei ihm in Vergeltung seiner Tugenden gnädig, damit durch sie auch wir bewahrt bleiben, Dein geliebtes Israel. Segne seinen Rat, seine Werke und Taten, stärke mit Deiner allmächtigen Hand sein Reich und verleihe ihm Sieg über seine Feinde, wie Du einst Moses über Amalek[139], Gideon über Midian[140] und David über Goliath[141] zum Siege verhalfest. Schirme sein Heer, lehre die in Deinem Namen Streitenden den ehernen Bogen spannen und verleihe ihnen Kraft im Kampfe. Ergreife Schwert und Schild und erhebe Dich zu unserer Hilfe, auf daß die, so uns Böses ansinnen, zu Schimpf und Schande werden, vor dem Antlitz Deines getreuen Heeres wie Spreu im Winde verwehen und Dein starker Engel sie verletze und verjage; auf daß ein Netz über sie falle, ohne daß sie es mit Augen sehen, und sie im geheimen fange und umstricke, damit sie vor den Füßen Deiner Knechte niederstürzen und von unsern Kriegern überwältigt werden. Herr Gott! Nichts ist Dir unmöglich: Du kannst uns erretten, ob wir viele sind oder wenige; Du bist der Herr, nichts vermag der Mensch gegen Dich!

Gott unserer Väter! Sei eingedenk Deiner Barmherzigkeit und Gnade, die von Ewigkeit her ist, verwirf uns nicht von Deinem Angesicht noch wende Dich in Abscheu von uns ob unserer Unwürdigkeit, sondern siehe bei der Größe Deiner Gnade und der Fülle Deiner Barmherzigkeit über unsere Sünden und Verstöße gegen das Gesetz hinweg. Schenke uns ein reines Herz und erneuere den Geist der Wahrheit in unserm Innern, stärke uns alle im Glauben an Dich, stärke uns in der Hoffnung, beseele uns mit aufrichtiger Liebe zueinander, waffne uns mit Einmütigkeit zum gerechten Schutz unserer Habe, die Du uns und unseren Vätern verliehen hast, auf daß nicht das Zepter der Gottlosen über das Schicksal der Gerechten triumphiere.

Herr unser Gott, an den wir glauben und auf den wir bauen, laß unsere Hoffnung auf Deine Gnade nicht zuschanden werden und vollbringe ein Zeichen zum Heil, auf daß die, so uns und unseren rechten Glauben hassen, es sehen und in Schimpf und Schande zugrunde gehen, und es allen Landen kundwerde, daß Dein Name ›Gott der Herr‹ ist und wir Dein Volk sind. Offenbare uns, o Herr, nunmehr Deine Gnade und gewähre uns Erlösung, erfreue die Herzen Deiner Knechte durch Deine Barmherzigkeit, schmettere unsere Feinde zu Boden und zermalme sie unter den Füßen Deiner Getreuen. Denn Du gewährest Schutz und Schirm, Hilfe und Sieg denen, so auf Dich bauen; und Dich preisen wir, Vater, Sohn und Heiligen Geist, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.«

In jenem Zustand seelischer Aufnahmebereitschaft, in dem sich Natascha befand, übte dieses Gebet starke Wirkung auf sie aus. Sie lauschte auf jedes Wort vom Siege Mosis über Amalek, Gideons über Midian und Davids über Goliath, von der Zerstörung »Deines Jerusalems« und betete zu Gott in jener Inbrunst und weichen Stimmung, die ihr Herz erfüllte, jedoch ohne sich recht darüber klar zu sein, um was sie Gott in diesem Gebet eigentlich anflehte. Von ganzem Herzen nahm sie teil an der Bitte um den Geist der Wahrheit, um Stärkung des Herzens in Glaube und Hoffnung und um Erfüllen der Seele mit Liebe. Aber sie war nicht imstande, um Zermalmung der Feinde unter den Füßen der Truppen zu beten, da sie ja erst vor noch wenigen Augenblicken den Wunsch gehabt hatte, recht viele Feinde zu besitzen, um für sie beten zu können. Doch konnte sie wiederum auch nicht an der Richtigkeit dieses auf den Knien verlesenen Gebetes zweifeln. Sie fühlte in ihrem Herzen eine gottesfürchtige, bange Angst vor der Strafe, die alle Menschen für ihre Sünden ereilen werde, und bat Gott, daß er ihnen allen und auch ihr verzeihen und ein ruhiges, glückliches Leben schenken möge. Und ihr schien, als ob Gott ihr Gebet erhöre.

19

Seit jenem Tag, als Pierre auf der Heimfahrt von den Rostows, in die Erinnerung an Nataschas dankbaren Blick versunken, den am Himmel stehenden Kometen gesehen und gefühlt hatte, daß etwas Neues sich ihm erschloß, hatte die ihn ewig quälende Frage nach der Eitelkeit und Sinnlosigkeit alles Irdischen aufgehört, sich ihm immer und immer wieder aufzudrängen. Diese furchtbare Frage: warum? wozu?, die ihm früher mitten in jeder Beschäftigung gekommen war, war jetzt völlig verdrängt, nicht etwa durch eine Antwort darauf oder durch eine andere Frage, sondern durch den Gedanken an Natascha. Wenn er ein nichtiges Gespräch mit anhörte oder selbst führte, wenn er von menschlicher Gemeinheit las oder sonst wie davon erfuhr, so entsetzte er sich nicht mehr darüber wie früher; auch fragte er sich nicht mehr, warum sich die Menschen so mühten und abplagten und alles so kurz und unsicher ist, sondern dachte nur noch daran, wie er sie zum letztenmal gesehen hatte, und alle seine Zweifel verflüchtigten sich, nicht etwa, weil ihm auf diese Fragen, die sich ihm aufdrängten, dadurch eine Antwort geworden wäre, sondern weil der Gedanke an sie ihn augenblicklich in jene anderen, lichteren Regionen seelischen Auswirkens hinübertrug, in denen es weder Recht noch Unrecht gibt, in die Regionen der Schönheit und Liebe, um derentwillen sich das Leben zu leben lohnt. Welch menschliche Abscheulichkeit sich auch seinem Auge darbot, er sagte sich: Nun, mag nur N.N. Kaiser und Reich bestehlen und Kaiser und Reich ihm dafür Ehre zollen, sie hat mir gestern zugelächelt und mich gebeten, wiederzukommen, und ich liebe sie, und niemand wird dies je erfahren. Und sogleich wurde ihm licht und ruhig ums Herz.

Pierre ging noch ebenso in Gesellschaften, trank noch genau soviel und führte noch dasselbe müßige und zerfahrene Leben, da er ja, außer den Stunden, die er bei den Rostows verlebte, auch die übrige Zeit totschlagen mußte, und weil ihn die Gewohnheit und die Bekanntschaften, die er in Moskau gemacht hatte, unwiderstehlich in dieses Leben hineingezogen hatten, das ihn nun ganz in Anspruch nahm. Als aber in letzter Zeit vom Kriegsschauplatz mehr und mehr beunruhigende Gerüchte eintrafen, als sich Nataschas Zustand besserte und sie in ihm nicht mehr das frühere Gefühl besorgten Mitleides wachrief, bemächtigte sich seiner zusehends eine ihm ganz unbegreifliche Unruhe. Er fühlte, daß die Lage, in der er sich befand, unmöglich von langer Dauer sein konnte, daß eine Katastrophe eintreten werde, die sein ganzes Leben ändern mußte, und voll Ungeduld suchte er nun in allem irgendwelche Vorzeichen für diese herannahende Katastrophe.

Durch einen seiner Freimaurerbrüder war ihm folgende, der Offenbarung St. Johannis entnommene Prophezeiung enthüllt worden, die auf Napoleon Bezug haben sollte. In der Offenbarung, Kapitel 13, Vers 18, steht geschrieben:

»Hier ist Weisheit. Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertundsechsundsechzig.«

Und im selben Kapitel, Vers 5, steht geschrieben:

»Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen, und ward ihm gegeben, daß es mit ihm währete zweiundvierzig Monate lang.«

Wenn man nun die französischen Buchstaben, ähnlich der hebräischen Zahlendarstellung, durch Ziffern ersetzt, so daß die ersten neun Buchstaben die Einer, die folgenden die Zehner bezeichnen, so haben sie nachstehende Bedeutung:

a 1 b 2

c 3 d 4

e 5 f 6

g 7 h 8

i 9 k 10

l 20 m 30

n 40 o 50

p 60 q 70

r 80 s 90

t 100 u 110

v 120 w 130

x 140 y 150

z 160

Schreibt man nun nach diesem Alphabet den Namen L[e]’empereur Napoleon in Ziffern um und zählt dann diese Zahlen zusammen, so kommt als Summe die Zahl 666[142] heraus, und somit mußte Napoleon jenes Tier sein, das in der Offenbarung prophezeit worden war. Schreibt man ferner nach demselben Alphabet die Worte quarante deux ebenfalls in Ziffern um – das heißt die Frist, die dem Tier gegeben war, große Dinge und Lästerungen zu reden –, so ergeben die addierten Zahlen ebenfalls die Summe 666, woraus hervorgeht, daß im Jahr 1812, in dem Napoleon sein zweiundvierzigstes Lebensjahr vollendete, die Frist für seine Macht abgelaufen sein mußte.

Diese Weissagung machte auf Pierre großen Eindruck, und er legte sich oft die Frage vor, was denn nun das Ende der Macht dieses Tieres, das heißt Napoleons, herbeiführen werde, und bemühte sich auf Grund derselben Ziffernbezeichnung und deren Addition eine Antwort auf diese Frage herauszufinden. Zuerst schrieb er als Antwort auf diese Frage: L’empereur Alexandre? La nation russe? Aber die Summe dieser Zahlen betrug mehr oder weniger als 666. Da kam ihm eines Tages, als er sich wieder mit diesen Berechnungen beschäftigte, sein eigner Name in die Feder: Comte Pierre Besouhoff. Doch auch hier kam die Summe nicht richtig heraus. Er änderte die Orthographie, schrieb an Stelle des s ein z, schob de ein, setzte den Artikel le voran, doch nie erhielt er das gewünschte Resultat. Da kam er auf den Gedanken, daß, wenn die gesuchte Antwort wirklich in seinem Namen liegen solle, darin unbedingt auch seine Nationalangehörigkeit genannt sein müsse. So schrieb er: Le Russe Besuhof und erhielt bei der Addition die Summe 671. Nur fünf waren noch zuviel; fünf bedeutete e, dasselbe e, das im Artikel vor dem Wort l’empereur apostrophiert wurde. So strich er, obgleich es der Sprachregel zuwiderlief, einfach jenes e aus, schrieb l’Russe Besuhof und erhielt so die gesuchte Antwort und richtige Summe 666.

Diese Entdeckung erregte ihn sehr. Wie und durch welche Bande er mit jenem großen Ereignis, das die Offenbarung voraussagte, verbunden sein sollte, wußte er nicht, aber er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß eine solche Verbindung tatsächlich bestand. Seine Liebe zur Komtesse Rostowa, der Antichrist, der Überfall Napoleons, der Komet, die Zahl 666, le empereur Napoleon und l’Russe Besuhof – all dies zusammen mußte reifen, die Fesseln sprengen, ihn aus jener verwunschenen, nichtigen Moskauer Gewohnheitswelt, als deren Gefangener er sich fühlte, herausreißen und zu einer großen Tat und zu großem Glück führen.

Am Tag vor jenem Sonntag, an dem das Kriegsgebet zum erstenmal verlesen wurde, hatte Pierre den Rostows versprochen, ihnen vom Grafen Rastoptschin, den er sehr gut kannte, sowohl den Aufruf an Rußland als auch die neuesten Nachrichten vom Heer mitzubringen. Als sich Pierre nun am Morgen zum Grafen Rastoptschin begab, traf er dort mit einem soeben erst von der Armee eingetroffenen Kurier zusammen. Dieser Kurier war ein Bekannter Pierres, ein flotter Tänzer auf Moskauer Bällen.

»Um Gottes willen, können Sie mir nicht etwas abnehmen? Ich habe einen ganzen Sack voll Briefe an Eltern und Verwandte«, sagte der Kurier.

Unter diesen Briefen befand sich auch ein Schreiben Nikolaj Rostows an seinen Vater. Pierre nahm diesen Brief an sich. Außerdem gab Graf Rastoptschin Pierre noch den Aufruf des Kaisers an Moskau, der soeben erst gedruckt worden war, sowie die letzten Armeebefehle und seine eigne letzte öffentliche Bekanntmachung.

Als Pierre die Armeebefehle überflog, fand er in einem von ihnen zwischen den Nachrichten über Verwundete, Gefallene, Auszeichnungen und Beförderungen den Namen Nikolaj Rostows, dem seine im Treffen bei Ostrowno bewiesene Tapferkeit das Georgskreuz vierter Klasse eingetragen hatte, und in demselben Armeebefehl war auch Fürst Andrej Bolkonskij genannt, der zum Kommandeur eines Jägerregiments ernannt worden war. Obgleich Pierre die Rostows nicht gern an Bolkonskij ererinnern mochte, konnte er doch dem Wunsch, ihnen durch die Nachricht von der Auszeichnung ihres Sohnes eine Freude zu machen, nicht widerstehen, und so schickte er den einen gedruckten Armeebefehl sowie den Brief Nikolajs sogleich an die Rostows, während er den kaiserlichen Aufruf, die Bekanntmachung und die anderen Armeebefehle bei sich behielt, um sie selber zu Tisch mitzubringen.

Die Unterhaltung mit dem Grafen Rastoptschin, dessen sorgenvolle Miene und Hast, das Zusammentreffen mit dem Kurier, der in leichtfertiger Weise ausplauderte, wie übel es bei den Truppen stand, die Gerüchte von in Moskau aufgegriffenen Spionen, von einem Flugblatt, das in der Stadt von Hand zu Hand ging, in dem gesagt war, Napoleon habe versprochen, bis zum Herbst in beiden Hauptstädten zu sein, das Gerede über die für den folgenden Tag in Aussicht gestellte Ankunft des Kaisers – all dies erweckte in Pierre jenes Gefühl der Erregung und Erwartung mit neuer Kraft, das ihn seit jenem Tag, als er den Kometen gesehen hatte, und besonders seit Anfang des Krieges nicht mehr verlassen hatte.

Schon vor längerer Zeit war Pierre der Gedanke gekommen, ebenfalls in den Kriegsdienst einzutreten, und er hätte diese Absicht auch ausgeführt, wenn ihn nicht verschiedene Gründe daran gehindert hätten: erstens seine Zugehörigkeit zur Freimaurergesellschaft, an die er durch seinen Eid gebunden war und die den ewigen Frieden und die Abschaffung des Krieges predigte, und zweitens der Umstand, daß er sich beim Anblick der zahllosen Moskauer, die nun die Uniform anzogen und den Patriotismus predigten, gewissermaßen schämte, in diesem Augenblick denselben Schritt zu tun. Der Hauptgrund aber, warum er seinen Plan, in den Kriegsdienst zu treten, nicht ausführte, bestand in der dunklen Vorstellung, daß er als l’Russe Besuhof die Bedeutung der Zahl des Tieres 666 in sich trage und ihm somit sein Anteil an der großen Aufgabe, der Macht dieses Tieres, das große Dinge und Lästerungen sprach, eine Grenze zu stecken, von Ewigkeit her vorausbestimmt war, und daß er infolgedessen nichts unternehmen durfte, sondern abwarten mußte, was sich ereignen werde.

20

Wie immer an Sonntagen waren auch heute bei den Rostows einige ihrer nächsten Bekannten zum Mittagessen geladen. Deshalb kam Pierre absichtlich etwas früher, um sie noch allein zu treffen.

Pierre war im letzten Jahr so dick geworden, daß er unförmig ausgesehen hätte, wenn er nicht so groß, breitschultrig und stark gewesen wäre, daß es den Anschein hatte, als trüge er seine Körperlast mit Leichtigkeit.

Pustend und etwas vor sich hinmurmelnd stieg er die Treppe hinauf. Sein Kutscher hatte gar nicht danach gefragt, ob er warten solle, er wußte, daß, wenn der Graf bei den Rostows war, er auch bis gegen zwölf Uhr dort blieb. Dienstfertig eilten die Rostowschen Lakaien herbei, um ihm den Mantel auszuziehen, und nahmen ihm Hut und Stock ab, denn nach alter Sitte des Klubs ließ Pierre auch Hut und Stock im Vorzimmer.

Der erste von der Familie Rostow, den er erblickte, war Natascha. Noch ehe er sie sah, hatte er im Vorzimmer, während er seinen Mantel ablegte, ihre Stimme gehört. Sie sang im Saal Solfeggien. Er wußte, daß sie seit ihrer Krankheit noch nicht wieder gesungen hatte, und deshalb wunderte und freute er sich, als er ihre Stimme hörte. Leise öffnete er die Tür und sah, wie Natascha in ihrem lila Kleid, das sie in der Messe angehabt hatte, singend im Zimmer auf und ab ging. Sie wandte ihm gerade den Rücken zu, während er die Tür aufmachte, als sie sich dann aber jäh umdrehte und in sein erstauntes dickes Gesicht sah, wurde sie rot und eilte rasch auf ihn zu.

»Ich will wieder zu singen versuchen«, sagte sie. »Es ist doch immerhin eine Beschäftigung«, fügte sie wie entschuldigend hinzu.

»Das ist ja schön.«

»Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind! Ich bin heute so glücklich!« sagte sie mit jener früheren Lebhaftigkeit, die Pierre lange nicht an ihr gesehen hatte. »Wissen Sie es schon, Nicolas hat das Georgskreuz bekommen? Ich bin so stolz auf ihn.«

»Und ob ich es weiß, ich habe doch den Armeebefehl erst hergeschickt. Aber ich will Sie nicht stören«, fügte er hinzu und wollte weiter in den Salon gehen.

Natascha hielt ihn zurück.

»Graf, ist das unrecht von mir, daß ich wieder zu singen anfange?« fragte sie und wurde rot, sah aber, ohne die Augen abzuwenden, Pierre fragend an.

»Nein … warum denn? Im Gegenteil … Aber warum fragen Sie mich danach?«

»Ich weiß es selber nicht«, erwiderte Natascha hastig. »Aber ich möchte nichts tun, was Ihnen mißfiele. Ich vertraue Ihnen so in allem. Sie wissen gar nicht, von welcher Bedeutung Sie für mich sind, und wieviel Sie für mich getan haben! …«

Sie sprach sehr schnell und bemerkte gar nicht, wie Pierre bei ihren Worten rot wurde.

»Aus demselben Armeebefehl habe ich auch ersehen, daß er, Bolkonskij« – sie sprach dieses Wort in hastigem Flüsterton aus – »in Rußland und wieder in den Dienst eingetreten ist. Was glauben Sie« – sie sprach sehr schnell und in sichtlicher Hast, weil sie für ihre Kräfte fürchtete – »wird er mir je verzeihen? Wird er nicht immer Groll gegen mich fühlen? Wie denken Sie? Was meinen Sie?«

»Ich denke …«, sagte Pierre, »daß er gar nichts zu verzeihen hat … Wenn ich an seiner Stelle wäre …«

Während dieses Gedankengangs fühlte sich Pierre mit einemmal in die Erinnerung an jenen Augenblick zurückversetzt, als er sie getröstet und zu ihr gesagt hatte, daß er, wenn er nicht er selbst, sondern der beste Mensch in der Welt und frei wäre, auf den Knien um ihre Hand bitten würde. Und jenes selbe Gefühl des Mitleids, der Zärtlichkeit und Liebe ergriff ihn, so daß sich auch dieselben Worte ihm auf die Lippen drängten. Aber sie ließ ihm nicht die Zeit, sie auszusprechen.

»Ja, Sie … Sie …«, sagte sie, das Wort »Sie« mit Begeisterung betonend, »das ist etwas anderes. Edler, hochherziger und besser, als Sie sind, kenne ich niemanden und kann es auch keinen Menschen geben. Wenn Sie damals nicht gewesen wären und auch jetzt nicht hier wären, wüßte ich nicht, was aus mir geworden wäre, denn …«

Tränen traten ihr plötzlich in die Augen, sie wandte sich ab, hielt die Noten vors Gesicht und fing wieder an, zu singen und im Saal auf und ab zu gehen.

In diesem Augenblick kam Petja aus dem Salon herübergelaufen.

Petja war jetzt ein hübscher, frischer Bursche von fünfzehn Jahren mit dicken, roten Lippen, der Natascha sehr ähnlich sah. Er bereitete sich zur Universität vor, hatte aber in den letzten Tagen mit seinem Kameraden Obolenskij heimlich verabredet, bei den Husaren einzutreten.

Petja sprang auf seinen Namensvetter zu, um mit ihm über diese Angelegenheit zu reden. Er hatte Pierre darum gebeten, sich zu erkundigen, ob man ihn wohl bei den Husaren nehmen werde.

Pierre ging in den Salon, ohne auf Petja zu hören. Dieser haschte nach Pierres Arm, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Um Gottes willen, Peter Kirillytsch, wie steht’s mit meiner Angelegenheit? Ich habe alle Hoffnung auf Sie gesetzt«, flehte Petja.

»Ach ja, deine Angelegenheit. Also zu den Husaren willst du? Werde es dir sagen, werde es dir sagen. Heute noch sollst du es erfahren.«

»Nun, wie ist’s, mon cher, wie ist’s? Haben Sie das Manifest mitgebracht?« fragte der alte Graf aus dem Salon. »Meine liebe Gräfin war zur Messe in der Rasumowskijschen Kapelle und hat dort das neue Kriegsgebet gehört. Es soll sehr schön sein, sagt sie.«

»Ich habe alles mit«, erwiderte Pierre. »Morgen soll der Kaiser kommen … Eine außerordentliche Adelsversammlung ist einberufen, und es sollen, wie es heißt, zehn Mann auf tausend ausgehoben werden. Doch vor allem, meine herzlichsten Glückwünsche!«

»Danke, danke, gottlob! Nun, und was gibt’s Neues an der Front?«

»Unsere Truppen haben sich wieder zurückziehen müssen, bis über Smolensk hinaus, heißt es«, erwiderte Pierre.

»Großer Gott! Großer Gott!« seufzte der Graf. »Wo ist denn das Manifest?«

»Der Aufruf? Ach ja!«

Pierre fing an, seine Taschen nach den Papieren zu durchsuchen, konnte sie aber nicht finden. Immer noch alle Taschen abtastend, küßte er der eintretenden Gräfin die Hand und sah sich unruhig um; offenbar wartete er auf Natascha, die nicht mehr sang, aber auch nicht in den Salon herüberkam.

»Ma parole, je ne sais plus, où je l’ai fourré«, sagte er.

»Na, Sie werden sie, wie immer, wieder verlegt haben«, lachte die Gräfin.

Natascha kam mit weichem, erregtem Gesicht herein, setzte sich und sah Pierre schweigend an. Kaum war sie ins Zimmer getreten, so fing Pierres Gesicht, das bisher finster gewesen war, zu strahlen an, und während er immer noch weiter nach den Papieren suchte, blickte er ab und zu nach ihr hin.

»Gott, ich werde noch einmal zurückfahren, ich muß sie zu Hause liegen gelassen haben. Unter allen Umständen …«

»Dann kommen Sie aber doch zu spät zum Mittagessen?«

»Ach, der Kutscher ist schon weg.«

Doch Sonja, die ins Vorzimmer gehuscht war, um dort nach den Papieren zu suchen, hatte sie bereits in Pierres Hut gefunden, wo er sie sorgsam zwischen das Futter gesteckt hatte. Pierre wollte nun vorlesen.

»Nein, erst nach Tisch«, sagte der alte Graf, als ob er sich von diesem Vorlesen ein großes Vergnügen verspräche.

Während des Mittagessens, bei dem auf das Wohl des neuen Georgsritters Champagner getrunken wurde, erzählte Schinschin die letzten Stadtneuigkeiten: daß die alte Fürstin von Grusien sehr krank sei, daß Métivier aus Moskau verschwunden sei und Rastoptschin erzählt habe, daß Leute irgendeinen Deutschen zu ihm gebracht und behauptet hätten, dies sei ein »Champignon« – sie meinten natürlich Spion –, daß Rastoptschin darauf befohlen habe, diesen »Champignon« freizulassen, und zu dem Volk gesagt habe, dies sei gar kein »Champignon«, sondern ein ganz gewöhnlicher deutscher Pilz.

»Ja, sie nehmen fest, was ihnen unter die Hände kommt«, erwiderte der Graf. »Ich habe es schon der Gräfin gesagt, sie soll nicht soviel französisch sprechen. Es ist jetzt nicht die Zeit danach.«

»Haben Sie schon gehört«, fuhr Schinschin fort, »daß sich Graf Golyzin einen russischen Lehrer genommen hat? Er lernt jetzt Russisch. Il commence à devenir dangereux de parier français dans les rues.«

»Na und Sie, Graf Peter Kirillytsch? Wenn der Landsturm einberufen wird, werden wohl auch Sie das Pferd besteigen müssen?« wandte sich der alte Graf an Pierre.

Pierre war während des ganzen Mittagessens schweigsam und nachdenklich gewesen. Als sich der Graf nun an ihn wandte, sah er ihn an, als verstünde er nicht recht, was dieser meinte.

»Ja, ja, in den Krieg«, antwortete er. »Nicht doch! Was wäre ich für ein Soldat? Übrigens, es kommt immer alles so seltsam, so sonderbar. Ich verstehe das selber nicht. Ich weiß nicht, die Leidenschaft für das Kriegshandwerk liegt mir eigentlich ganz fern, aber heutzutage kann ja niemand für seine Handlungen und Entschlüsse bürgen.«

Nach dem Essen ließ sich der Graf gemächlich in einen Sessel nieder und bat mit ernsthafter Miene Sonja, die eine Meisterin im Vorlesen war, das Manifest zu verlesen.

»An unsere Erste Residenzstadt Moskau.

Der Feind hat mit großen Streitkräften die Grenzen Rußlands überschritten und rückt vor, um unser geliebtes Vaterland zu verheeren«, las Sonja angestrengt mit ihrem feinen Stimmchen. Der Graf hatte die Augen geschlossen, hörte zu und seufzte an manchen Stellen vernehmbar.

Natascha saß kerzengerade da und sah bald ihrem Vater, bald Pierre offen prüfend ins Gesicht.

Pierre fühlte ihren Blick auf sich ruhen und bemühte sich, nicht zu ihr hinzusehen. Die Gräfin schüttelte bei jedem feierlichen Ausdruck des Manifestes ärgerlich und mißbilligend den Kopf. Aus all diesen Worten ersah sie nur das eine: daß die Gefahr, die ihrem Sohn drohte, noch nicht sobald vorüber sein würde. Schinschin hatte den Mund spöttisch verzogen und schien offenbar über das erste beste herfallen zu wollen, das sich seinem Spott darbieten würde: über Sonjas Vorlesen, über das, was der Graf sagen werde, ja sogar auch über das Manifest selber, wenn sich ihm kein besserer Anlaß bot.

Nachdem Sonja von den Gefahren, die Rußland bedrohten, gelesen hatte und von den Hoffnungen, die der Kaiser auf Moskau und insonderheit auf seinen altberühmten Adel setze, las sie mit Beben in der Stimme, das hauptsächlich durch die Aufmerksamkeit verursacht wurde, mit der ihr alle zuhörten, folgende Worte: »Wir werden nicht säumen, selbst inmitten Unseres Volkes in der Hauptstadt und an andern Orten Unseres Kaiserreiches zu erscheinen zur Beratung und Leitung Unserer gesamten Wehrmacht, sowohl derjenigen, die heute schon dem Feinde den Weg versperrt, als auch der neu zu formierenden, die ihn überall da, wo er sich zeigen mag, zu Boden schmettern wird, auf daß jenes Verderben, in das er Uns zu stürzen trachtet, über sein eignes Haupt komme, und das aus Sklavenketten befreite Europa Rußlands Namen preise!«

»So ist es!« rief der Graf, die feuchten Augen aufschlagend, schnaufte ein paarmal, als hielte man ihm ein Flakon mit scharfem Riechsalz unter die Nase, und fuhr dann fort: »Wenn der Kaiser nur ein Wort sagt, sind wir zu jedem Opfer bereit und nichts wird uns leid sein.«

Schinschin hatte noch nicht Zeit gehabt, seinen in Bereitschaft gehaltenen Witz über den Patriotismus des Grafen loszulassen, als Natascha von ihrem Platz aufsprang und auf den Vater zulief.

»Was für ein prächtiger Papa das ist!« rief sie aus, küßte ihn und warf dabei Pierre einen Blick zu in jener unbewußten Koketterie, die mit der Begeisterung zusammen wieder über sie gekommen war.

»Da seht nur, die kleine Patriotin!« lachte Schinschin.

»Gar nicht Patriotin, sondern einfach …« entgegnete Natascha erzürnt. »Sie machen sich über alles lustig, dies aber ist durchaus kein Scherz …«

»Wie sollte das ein Scherz sein!« fiel der Graf ein. »Wenn der Kaiser nur ein Wort sagt, ziehen wir alle mit in den Krieg … Wir sind doch nicht wie die Deutschen …«

»Haben Sie bemerkt«, meinte Pierre, »daß hier gesagt wird: ›zur Beratung‹?«

»Nun wie dem auch sei, gleichviel wozu …«

In diesem Augenblick trat Petja, den bisher niemand beachtet hatte, mit feuerrotem Kopf auf den Vater zu und sagte mit seiner mutierenden Stimme, die bald hoch, bald tief klang: »Jetzt aber, Papa, sage ich Ihnen, daß es mein fester Entschluß ist … und Mama ebenfalls … sagen Sie, was Sie wollen … es ist mein fester Entschluß … lassen Sie mich in den Kriegsdienst treten, denn ich kann gar nicht anders … das ist alles …«

Die Gräfin richtete entsetzt die Augen gen Himmel, schlug die Hände zusammen und wandte sich ärgerlich an ihren Mann.

»Das kommt von eurem Gerede!« sagte sie.

Aber der Graf kam augenblicklich aus seiner Begeisterung wieder zu sich.

»Na, na!« sagte er. »Du wärst mir ein schöner Krieger! Laß die Dummheiten beiseite und lern erst mal was!«

»Das sind keine Dummheiten, Papa! Fedja Obolenskij ist jünger als ich und tritt auch ein, und die Hauptsache ist, es ist ja doch ganz gleich, ich kann ja jetzt sowieso nichts lernen, wo …« Petja stockte, wurde über und über rot und murmelte dann: »wo das Vaterland in Gefahr ist.«

»Geh, hör auf! Das sind Dummheiten!«

»Aber Sie haben doch selber gesagt, daß wir zu jedem Opfer bereit sind.«

»Petja, ich sage dir, hör auf!« rief der Graf mit einem Blick auf die Gräfin, die ihren jüngsten Sohn bleich und mit schweren Augen ansah.

»Aber ich sage Ihnen, daß es mir ernst damit ist! Hier Peter Kirillytsch wird Ihnen ebenfalls …«

»Und ich sage dir, daß dies Unsinn ist. Ist noch nicht trocken hinter den Ohren und will in den Kriegsdienst treten! Nein, nein, ich sage dir …« und der Graf raffte die Papiere zusammen, wahrscheinlich, um sie vor der Mittagsruhe in seinem Zimmer noch einmal durchzulesen, und wollte den Salon verlassen. »Nun, Peter Kirillytsch, wie ist’s, wollen wir drüben ein bißchen rauchen?«

Pierre war verwirrt und unentschieden. Die außergewöhnlich glänzenden und lebhaften Augen Nataschas, die ununterbrochen mehr als freundlich auf ihn gerichtet waren, hatten ihn in diesen Zustand versetzt.

»Nein, ich glaube, ich muß nach Hause …«

»Wieso nach Hause? Sie wollten doch den Abend bei uns bleiben? Und dabei kommen Sie jetzt so selten. Und mein Liebling«, sagte der Graf gutmütig und zeigte auf Natascha, »ist nur vergnügt, wenn Sie da sind.«

»Ja, ich habe nicht daran gedacht … Ich muß unbedingt nach Hause … in Geschäften …« murmelte Pierre hastig.

»Nun, dann auf Wiedersehen«, sagte der Graf und verließ das Zimmer.

»Warum gehen Sie weg? Weshalb sind Sie so verstimmt? Warum?« fragte Natascha Pierre, und blickte ihm aufmunternd in die Augen.

Weil ich dich liebe! wollte er sagen, aber er sprach es nicht aus, wurde so rot, daß ihm fast die Tränen kamen, und schlug die Augen nieder.

»Weil es besser für mich ist, wenn ich seltener bei Ihnen bin … weil … nein, ich habe ganz einfach Geschäfte …«

»Warum? Nein, sagen Sie es mir«, wollte Natascha mit aller Entschiedenheit in ihn dringen, plötzlich aber schwieg sie still.

Beide sahen einander ganz erschrocken und verwirrt an. Er versuchte zu lächeln, brachte es aber nicht fertig: sein Lächeln drückte Leiden aus. Schweigend küßte er ihr die Hand und ging.

Bei sich selber faßte Pierre den Entschluß, nie wieder zu den Rostows zu gehen.

21

Nach dem abschlägigen Bescheid, der ihm mit solcher Entschiedenheit erteilt worden war, ging Petja auf sein Zimmer, schloß sich dort vor allen ein und weinte fürchterlich. Als er dann zum Tee schweigend und finster und mit verweinten Augen erschien, taten alle, als bemerkten sie es nicht.

Am nächsten Tag kam der Kaiser. Einige vom Rostowschen Gesinde baten um Urlaub, um den Zaren einziehen zu sehen. An diesem Morgen zog sich Petja lange an, kämmte sich und band sich den Kragen so, wie er es bei Erwachsenen gesehen hatte. Vor dem Spiegel legte er die Stirn in Falten, machte ein paar Gesten, zuckte mit den Achseln und nahm endlich, ohne jemandem etwas davon zu sagen, seine Mütze, lief die Hintertreppe hinunter und verließ das Haus, bemüht, von niemandem gesehen zu werden. Petja hatte den Entschluß gefaßt, geradeswegs dorthin zu gehen, wo der Kaiser war, und irgendeinem Kammerherrn zu erklären – er glaubte, der Kaiser müsse immer von Kammerherrn umringt sein –, daß er, Graf Rostow, trotz seiner jungen Jahre dem Vaterland zu dienen wünsche, daß Jugend kein Hinderungsgrund für Vaterlandsliebe und Ergebenheit sei, und daß er bereit sei … Petja hatte sich, während er sich anzog, eine Unmenge schöner Worte zurechtgelegt, die er dem Kammerherrn sagen wollte.

Petja zählte bei dieser persönlichen Vorstellung beim Kaiser hauptsächlich deshalb auf Erfolg, weil er noch ein Kind war, er malte sich sogar aus, wie alle über seine Jugend staunen würden, dabei aber wollte er doch durch das Anlegen seines Hemdkragens und seine Frisur sowie durch einen langsamen, gemessenen Gang den Erwachsenen spielen. Aber je weiter er kam, je mehr er durch die von allen Seiten zum Kreml herbeiströmenden Volksmassen abgelenkt wurde, um so mehr vergaß er, jene den Erwachsenen eigene Gemessenheit und Würde zu beachten. Als er bis zum Kreml vorgedrungen war, mußte er schon auf der Hut sein, um nicht allzu viele Püffe zu bekommen, und entschlossen und mit drohender Miene stemmte er beide Arme in die Seiten. Doch am Troizkija-Tor[143] wurde er, trotz aller Entschlossenheit, von Leuten, die offenbar nicht ahnten, in welch patriotischer Absicht er sich in den Kreml begab, dermaßen an die Mauer gequetscht, daß er nachgeben und stehen bleiben mußte, während die Equipagen mit lautem Rollen, das dumpf im Gewölbe widerhallte, durch das Tor einfuhren. Neben Petja standen eine Frau mit ihrem Diener, zwei Kaufleute und ein ehemaliger Soldat. Nachdem er eine Weile in diesem Torbogen gestanden hatte, wollte er, ohne abzuwarten, bis die Equipagen alle eingefahren waren, vor allen anderen weiter hineindrängen und fing energisch mit den Ellbogen zu arbeiten an, aber die Frau, die neben ihm stand und als erste seine Ellbogen zu fühlen bekam, fuhr ihn grimmig an: »Was knuffst du denn so, Bürschchen! Du siehst doch, daß alle stehen bleiben müssen. So eine Drängelei!«

»Da könnte jeder kommen und sich vordrängen«, sagte der Diener, fing nun ebenfalls an, sich seiner Ellbogen zu bedienen, und drängte Petja ganz in den stinkenden Winkel des Torbogens zurück.

Petja wischte sich mit der Hand den Schweiß ab, der sein Gesicht bedeckte, und rückte den verschwitzten Kragen zurecht, den er sich zu Hause so sorgsam wie ein Erwachsener umgebunden hatte.

Er fühlte, daß er nicht mehr sehr präsentabel aussah, und hatte Angst, daß der Kammerherr ihn nicht zum Kaiser vorlassen würde, wenn er sich ihm in solchem Zustand vorstellte. Aber es war ein so großes Gedränge, daß es unmöglich war, den Anzug in Ordnung zu bringen und auf einen anderen Platz hinüberzugehen. Da fuhr ein den Rostows bekannter General vorüber. Petja wollte ihn anfänglich um Beistand bitten, doch sogleich ging es ihm durch den Kopf, daß dies seiner Würde als Mann nicht entspräche. Als alle Equipagen vorübergefahren waren, schob sich die Menge vor und trug auch Petja mit auf den Platz hinein, wo schon eine dichte Volksmenge Kopf an Kopf gedrängt stand. Und nicht nur auf dem Platz selber, auch auf den Brüstungen, auf den Dächern – überall standen Menschen. Kaum war Petja auf den Platz hinausgetrieben worden, so hörte er deutlich das Läuten der Glocken, das den ganzen Kreml erfüllte, und das freudige Stimmengewirr der Menge.

Eine Zeitlang konnte man auf dem Platz etwas freier atmen, dann aber zogen plötzlich alle den Hut vom Kopf und drängten irgendwohin vorwärts. Petja wurde so eingepreßt, daß er kaum atmen konnte, und alle fingen an zu schreien: »Hurra! Hurra! Hurra!« Petja stellte sich auf die Fußspitzen, knuffte und stieß, konnte aber nichts sehen als nur immer Menschen und wieder Menschen um sich herum.

Auf allen Gesichtern lag nur der eine Ausdruck der Rührung und Begeisterung. Eine neben Petja stehende Kaufmannsfrau schluchzte so, daß ihr die Tränen aus den Augen rollten.

»Väterchen, unser Engel, unser Schirmherr!« flüsterte sie und wischte sich die Tränen mit den Fingern ab.

»Hurra!« schrie es von allen Seiten.

Einen Augenblick verharrte die Menge auf derselben Stelle, dann aber stürzte wieder alles nach vorn.

Petja biß ganz außer sich die Zähne aufeinander, rollte die Augen wie ein Tier und stürmte ebenfalls vor, wobei er sich mit den Ellbogen Platz machte, und schrie »Hurra!«, als wäre er bereit, in diesem Augenblick sich selbst und alle anderen totzuschlagen, aber von allen Seiten umdrängten ihn ebenso tierische Gesichter, und alle schrien ebenso »Hurra!«

Also so ist das mit dem Kaiser! dachte Petja. Nein, es geht nicht, daß ich ihm meine Bitte selber vortrage, das wäre doch zu dreist!

Trotzdem bohrte er sich aber noch ebenso verzweifelt nach vorn und sah zwischen den Rücken seiner Vordermänner bereits den freien Raum hindurchschimmern, wo ein breiter Gang mit rotem Tuch belegt war, als sich die Menge plötzlich so jäh rückwärts bewegte – vorn stießen Polizisten alle diejenigen zurück, die sich zu nah an den Gang herandrängten, durch den der Kaiser aus dem Palais in die UspenskijKathedrale[144] gehen mußte –, daß Petja plötzlich von der Seite einen solchen Rippenstoß erhielt und so eingequetscht wurde, daß es ihm ganz schwarz vor den Augen wurde und er das Bewußtsein verlor.

Als er wieder zu sich kam, stützte ihn irgendein zur Kirche gehörender Mann in einem abgetragenen blauen Priesterrock und mit einem grauen Haarbüschel am Hinterkopf, wahrscheinlich ein Küster, mit der einen Hand unter der Achsel, während er ihn mit der anderen vor der herandrängenden Masse schützte.

»Ganz erdrückt haben sie den kleinen Herrn da!« rief der Küster. »So ein Unfug! … Vorsicht! … Er wird ja erdrückt, geradezu erdrückt!«

Da ging der Kaiser vorbei nach der Uspenskijkapelle. Die Menge verteilte sich wieder etwas, und der Küster führte den bleichen, kaum atmenden Petja zur Kaiserkanone[145] hin. Ein paar Umstehende bedauerten Petja, plötzlich umringte ihn eine ganze Menge, und es entstand um ihn herum ein großes Gedränge. Die ihm am nächsten Stehenden halfen ihm, knöpften ihm den Rock auf, setzten ihn auf den Fuß der Kanone und schimpften auf diejenigen, die ihn so gedrückt hatten.

»Auf diese Weise kann einer zu Tod gequetscht werden. So etwas! Solche Seelenmörder! Seht nur, wie weiß er aussieht, der arme Kleine, wie ein Tischtuch …« so schwirrte es durcheinander.

Petja erholte sich bald wieder, das Blut kehrte ihm ins Gesicht zurück, der Schmerz ging vorbei, und für diese vorübergehende Unannehmlichkeit hatte er nun einen herrlichen Platz auf der Kanone bekommen, von wo aus er den Kaiser zu sehen hoffte, der ja doch wieder zurückkommen mußte. An das Vorbringen seiner Bitte dachte Petja jetzt gar nicht mehr. Wenn er nur den Kaiser zu sehen bekäme, dann würde er sich glücklich schätzen.

Während des Gottesdienstes in der Uspenskijkapelle, wo gleichzeitig mit der Ankunft des Kaisers der Friedensschluß mit der Türkei[146] durch ein Dankgebet gefeiert wurde, zerstreute sich die Menge wieder etwas. Lautschreiende Händler mit Kwas, Honigkuchen und Mohngebäck, für das Petja ganz besonders schwärmte, tauchten auf dem Platz auf, und wieder hörte man die üblichen Unterhaltungen. Eine Kaufmannsfrau zeigte ihren im Gedränge ganz zerrissenen Schal und erzählte, für wie teures Geld sie ihn seinerzeit gekauft habe, worauf eine andere meinte, daß jetzt die Seidenstoffe doch alle zu teuer geworden seien. Petjas Retter, der Küster, unterhielt sich mit einem Beamten darüber, wer heute neben seiner Eminenz in der Messe amtieren werde, wobei er mehrmals ein slawisches Wort[147] gebrauchte, das Petja nicht verstand. Zwei junge Kleinbürger scherzten mit ein paar Mädchen vom Lande, die Nüsse knackten. Alle diese Gespräche, namentlich die Scherze mit den Mädchen, die auf Petja in seinem Alter eine ganz besondere Anziehungskraft hätten ausüben müssen, kümmerten ihn in diesem Augenblick jedoch nicht im geringsten. Er saß auf seinem erhöhten Platz neben der Kanone und fühlte noch dieselbe Begeisterung bei dem Gedanken an den Kaiser und seiner Liebe zu ihm wie vorhin. Und dadurch, daß sich seinem Gefühl der Begeisterung, als er fast erdrückt wurde, Furcht und Schmerz beigesellt hatten, war das Bewußtsein der Wichtigkeit dieses Augenblicks in ihm noch stärker geworden.

Plötzlich dröhnten vom Flußufer her Kanonenschüsse – man schoß zur Feier des Friedensschlusses mit der Türkei – und die Menge stürzte Hals über Kopf zum Ufer hinüber, um zu sehen, wie geschossen wurde. Petja wollte auch mitlaufen, aber der Küster, der den kleinen Herrn unter seinen Schutz genommen hatte, ließ ihn nicht fort. Während immer noch geschossen wurde, kamen aus der Uspenskijkapelle Offiziere, Generäle und Kammerherren herausgeeilt, dann folgten, schon nicht mehr ganz so hastig, noch andere Persönlichkeiten, wieder rissen alle die Hüte vom Kopf, und die, welche zu den Kanonen hinübergelaufen waren, kamen zurückgerannt. Endlich traten noch vier Herren in Uniform und Ordensbändern aus der Kirchentür. »Hurra! Hurra!« schrie die Menge.

»Welcher ist es denn? Welcher?« fragte Petja mit weinerlicher Stimme die Umstehenden, aber niemand antwortete ihm: sie waren alle zu sehr hingerissen.

So wählte sich Petja aus den vier Offizieren einen aus, den er zwar durch die Tränen, die ihm vor Freude in die Augen traten, nicht klar zu erkennen vermochte, konzentrierte seine ganze Begeisterung auf ihn, obgleich es gar nicht der Kaiser war, schrie wie ein Rasender »Hurra!« und schwur, morgen noch, koste es was es wolle, Soldat zu werden.

Die Menge drängte dem Kaiser nach, geleitete ihn bis zum Palais und zerstreute sich dann. Es war schon spät, Petja hatte noch nichts im Magen, und der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn. Aber er ging nicht nach Hause, sondern stellte sich mit der zwar zusammengeschmolzenen, aber noch reichlich großen Menge vor dem Schlosse auf, während der Kaiser darin zu Mittag speiste. Alle starrten zu den Fenstern des Palais empor, als warteten sie noch auf irgend etwas, und beneideten in gleichem Maß die hohen Würdenträger, die an der Freitreppe vorfuhren, um sich zur Tafel des. Kaisers zu begeben, wie auch die Kammerlakaien, die bei Tische servierten und ab und zu blitzschnell an den Fenstern vorüberflogen.

Während der Tafel äußerte Walujew, der einen Blick zum Fenster hinausgeworfen hatte, zum Kaiser: »Das Volk hofft, Eure Majestät noch einmal zu sehen.«

Das Diner war fast zu Ende, als der Kaiser aufstand und, ein Biskuit zu Ende verzehrend, auf den Balkon hinaustrat. Das Volk, und Petja mitten drin, drängte auf den Balkon zu.

»Unser Engel! Väterchen! Hurra! Unser Schirmherr!« schrie das Volk, und Petja mit, und wieder weinten die Weiber vor Glückseligkeit, und auch ein paar Männer wischten sich verstohlen die Augen, unter ihnen auch Petja.

Ein ziemlich großes Stück von dem Biskuit, das der Kaiser in der Hand hielt, bröckelte ab, fiel auf das Geländer des Balkons und von hier aus auf die Straße. Ein Kutscher in kurzer Weste, der am nächsten stand, stürzte auf dieses Biskuitstück los und erfaßte es. Eine ganze Schar fiel nun über den Kutscher her und wollte es ihm streitig machen. Als der Kaiser dies sah, ließ er sich einen Teller mit Biskuits geben und fing an, diese vom Balkon herunterzuwerfen. In Petjas Augen strömte das Blut. Die Gefahr, erdrückt zu werden, steigerte seine Aufregung noch mehr, und er stürzte sich wie ein Rasender auf die Biskuits. Er wußte nicht warum und wozu, aber er mußte unbedingt ein solches Biskuit aus der Hand des Kaisers erhäschen, er durfte sich durch nichts hindern lassen. Er stürzte vor und rannte eine alte Frau um, die nach einem der Stücke greifen wollte. Doch die Alte ergab sich keineswegs als besiegt, obgleich sie auf der Erde lag, und angelte nun mit der Hand nach dem Biskuit, konnte aber mit ihrem Arm nicht hinlangen. Mit dem Knie stieß Petja ihren Arm beiseite, eroberte glücklich das Biskuit und schrie im selben Augenblick auch schon wieder, als hätte er Angst, etwas zu versäumen, mit heiserer Stimme hurra!

Der Kaiser zog sich wieder zurück, und gleichzeitig zerstreute sich auch der größte Teil der Menge.

»Hab’ ich’s nicht gleich gesagt, daß wir noch warten sollten … Es ist doch so gekommen, wie ich sagte …« hörte man von verschiedenen Seiten vergnügt im Volk rufen.

Wie glückselig auch Petja war, so wurde ihm doch bei dem Gedanken schwer ums Herz, daß er nun nach Hause gehen und die ganze Herrlichkeit des Tages ein Ende haben sollte. Deshalb lief er aus dem Kreml nicht gleich nach Hause, sondern erst zu seinem Freunde Obolenskij, der auch fünfzehn Jahre alt war und ebenfalls in ein Regiment eintreten wollte. Nach Hause zurückgekehrt, erklärte er fest und mit aller Bestimmtheit, daß, wenn man ihn nicht eintreten lasse, er ohne Erlaubnis fortlaufen werde. Und so fuhr denn am nächsten Tag Graf Ilja Andrejewitsch, obgleich er sich noch nicht ganz ergeben hatte, in die Stadt, um sich zu erkundigen, wie und wo er Petja unterbringen könne, ohne daß dieser irgendwie gefährdet sei.

22

Drei Tage später, am 15. Juli morgens, standen vor dem Slobodskijpalast[148] eine Unmenge Equipagen.

In den Sälen wimmelte es von Menschen. Im ersten befand sich der Adel in Uniform, im zweiten die Kaufleute mit ihren langen Bärten in blauen, mit Medaillen behängten Kaftanen. In dem Saal, wo sich der Adel versammelt hatte, herrschte reges Leben und ununterbrochenes Stimmengewirr. An einem großen Tisch unter dem Bild des Kaisers saßen auf Stühlen mit hohen Lehnen die vornehmsten Persönlichkeiten, aber die meisten Adligen gingen im Saal auf und ab.

Alle diese Edelleute, dieselben, mit denen Pierre jeden Tag bald im Klub, bald in ihren eignen Häusern zusammentraf, trugen heute Uniform, einige noch die alten aus der Zeit Katharinas oder Kaiser Pauls, andere wieder die neuen alexandrinischen oder auch bloß die Adelsuniform, und der gemeinsame Charakter dieser Uniform verlieh jenen so ganz verschiedenen, alten und jungen bekannten Persönlichkeiten ein seltsames, phantastisches Gepräge. Ganz besonders fiel das bei den halb blinden, zahnlosen, kahlköpfigen alten Herren auf, die entweder schwammig gelbes Fett angesetzt hatten oder mager und voller Runzeln waren. Sie saßen meist auf ihren Plätzen und schwiegen, und wenn sie auf und ab gingen und sich unterhielten, so hängten sie sich jüngeren Leuten an. Wie auf den Gesichtern der Menge, die Petja auf dem Platz gesehen hatte, so traten auch auf allen diesen Gesichtern zwei scharf gegensätzliche Züge augenfällig zutage: der Ausdruck allgemeiner Erwartung von etwas Feierlichem und der Alltagsausdruck, der noch die gestrigen Sorgen um die Bostonpartie, den Koch Petruschka und das Befinden irgendeiner Sinaida Dmitrijewna widerspiegelte.

Auch Pierre, schon vom frühen Morgen an in eine unbequeme, ihm recht eng gewordene Adelsuniform eingezwängt, befand sich in den Sälen. Er war in großer Aufregung: diese außergewöhnliche Versammlung nicht nur des Adels, sondern auch der Kaufmannschaft – der Stände, états généraux[149] – erweckte in ihm eine ganze Reihe längst vergessener, aber tief in seine Seele eingegrabener Gedanken an den Contrat social und die Französische Revolution. Jene Worte, die ihm im Manifest aufgefallen waren, daß der Kaiser zur »Beratung« mit seinem Volk in die Hauptstadt komme, bestärkten seine Vermutungen noch mehr. Und so glaubte er denn, daß etwas Wichtiges in diesem Sinn herannahe, etwas, das er schon lange erwartet hatte, und ging auf und ab, sah sich um und hörte den Unterhaltungen zu, fand aber jene Gedanken, die ihn beschäftigten, nirgends ausgesprochen.

Das Manifest des Kaisers wurde verlesen und rief allgemeine Begeisterung hervor, worauf sich wieder alle, lebhaft debattierend, in kleinere Gruppen auflösten.

Pierre hörte, wie außer von Alltagsanliegen auch davon gesprochen wurde, wo sich die Adelsmarschälle aufzustellen hätten, wenn der Kaiser käme, wann man dem Kaiser einen Ball geben könne, ob man sich nach Kreisen oder ganzen Gouvernements gruppieren solle und so weiter, und so weiter, sobald aber die Rede auf den Krieg kam und darauf, zu welchem Zweck der Adel eigentlich zusammenberufen worden war, wurden die Aussprüche unsicher und unbestimmt, und jeder hörte lieber zu, als daß er selber etwas sagte.

In einem der Säle fing ein Mann in mittleren Jahren von hübschem, männlichem Aussehen, in der Uniform eines Marineoffiziers außer Dienst, zu sprechen an, und eine dichte Menge scharte sich um ihn. Pierre trat ebenfalls in den Kreis, der sich um den Redenden gebildet hatte, und fing an zuzuhören. Graf Ilja Andrejewitsch in seinem Wojewodenkaftan[150] aus der Zeit Katharinas spazierte mit verbindlichem Lächeln durch den Saal, kannte jeden einzelnen, gesellte sich dann ebenfalls dieser Gruppe bei und schickte sich mit seinem gutmütigen Lächeln an zuzuhören, indem er, wie er das immer tat, zum Zeichen seiner Zustimmung beifällig nickte. Der Seeoffizier außer Dienst hielt eine ziemlich kühne Rede, das erkannte man sogleich aus dem Gesichtsausdruck seiner Zuhörer und auch daraus, daß alle die Persönlichkeiten, die Pierre als ruhig und gemäßigt bekannt waren, sich mißbilligend entfernten oder widersprachen. Pierre drängte sich bis in die Mitte des Kreises, hörte zu und überzeugte sich, daß der Redner tatsächlich ein Liberaler war, aber in einem ganz anderen Sinn, als Pierre gedacht hatte. Der Marineoffizier sprach in jenem auffallend klangvollen, singenden Bariton, der dem Adel eigen ist, mit dem angenehmen Schnarren und Übergehen der Konsonanten und in einem Ton, in dem er wohl sonst seinem Burschen die Befehle zuzurufen pflegte. Man hörte seiner Stimme an, daß er an lustiges Leben und Kommandieren gewöhnt war.

»Was will das heißen, daß die Smolensker dem Kaiser Landsturmleute angeboten haben? Ist etwa Smolensk für uns maßgebend? Wenn der ehrwürdige Adel des Gouvernements Moskau es für nötig erachtet, kann er Seiner Majestät dem Kaiser seine Ergebenheit auch durch andere Maßnahmen bekunden. Haben wir etwa den Landsturm von 1807 nicht mehr im Gedächtnis? Da sind nur Lumpen, Räuber und Diebe gemästet worden …«

Graf Ilja Andrejewitsch lächelte süß und nickte zustimmend.

»Und weiter, haben etwa unsere Landsturmleute dem Staat etwas genützt? Keineswegs! Nur die Wirtschaft haben sie ruiniert. Lieber noch eine Rekrutenaushebung … denn die vom Landsturm zu uns zurückkommen, sind weder Soldat noch Bauer, sondern weiter nichts als Landstreicher. Der Adel schont nicht seinen eignen Leib, wir alle werden Mann für Mann zur Stelle sein und auch Rekruten mitbringen, und sobald der Kaiser nur ruft, sind wir alle bereit, für ihn zu sterben!« schloß der Redner begeistert.

Ilja Andrejewitsch schluckte ein paarmal, weil ihm vor Vergnügen das Wasser im Mund zusammengelaufen war, und stieß Pierre an. Aber Pierre hatte ebenfalls Lust bekommen zu reden. Er schob sich vor, ohne noch selber zu wissen, was ihn eigentlich in solche Begeisterung versetzt hatte und was er sagen wollte. Doch kaum hatte er den Mund aufgetan, um etwas zu sagen, als ihn ein alter, völlig zahnloser Senator mit klugem, grimmigem Gesicht, der neben dem Redner stand, unterbrach und zu reden anfing. Er schien daran gewöhnt zu sein, Dispute zu führen und Streitfragen zu erörtern, und begann mit leiser, aber deutlicher Stimme:

»Meines Erachtens, geehrter Herr, sind wir hier nicht einberufen worden, um darüber ein Urteil abzugeben, was für den Staat in diesem Augenblick vorteilhafter ist: die Aushebung von Rekruten oder die Einberufung von Landsturm. Wir sind hier versammelt worden, um auf das Manifest eine Antwort zu geben, das Seine Majestät der Kaiser gnädigst an uns zu richten geruht hat. Doch die Entscheidung darüber, was zweckmäßiger ist: Rekruten oder Landsturm, die überlassen wir ruhig der höchsten Instanz …«

Auf einmal wußte Pierre, wie er seiner Erregung Luft machen konnte. Er war erbost auf den Senator, der die Aufgaben, die dem Adel jetzt bevorstanden, von einem so niedrigen Gesichtspunkt aus ansah und so kühl urteilte. Pierre trat vor und unterbrach ihn. Er wußte selber nicht, was er sagen werde, aber er fing lebhaft an, mischte hin und wieder ein paar französische Brocken ein und bediente sich einer papiernen russischen Ausdrucksweise.

»Verzeihen Sie, Exzellenz«, fing Pierre an – er kannte den Senator zwar gut, hielt es hier aber für unumgänglich notwendig ihn in aller Form anzureden –, »wenn ich auch nicht einverstanden bin mit dem Herrn …« – Pierre stockte; er wollte sagen: mon très honorable preopinant – »mit dem Herrn … que je n’ai pas l’honneur de connaître, so bin ich dennoch der Ansicht, daß der Adelsstand heute nicht nur dazu hier zusammenberufen worden ist, seiner Sympathie und Begeisterung Ausdruck zu verleihen, sondern auch zu dem Zweck, über alle Mittel und Wege zu beratschlagen, mit denen wir dem Vaterland helfen können. Ich glaube«, fuhr er immer lebhafter fort, »der Kaiser selber wäre unzufrieden, wenn er in uns nur Besitzer von Bauern, die wir ihm hingeben, fände und vielleicht noch … chair à canon, wozu wir uns selber machen … wenn er nur das in uns fände und keine Be … Be … Berater.«

Viele entfernten sich von dem Kreis, nachdem sie das verächtliche Lächeln auf dem Gesicht des Senators gesehen und gemerkt hatten, daß Pierre freisinnige Ansichten äußerte. Nur Ilja Andrejewitsch gefiel Pierres Rede, wie ihm auch die Reden des Marineoffiziers und des Senators gefallen hatten, und wie ihm überhaupt stets diejenige Rede am besten gefiel, die er zuletzt gehört hatte.

»Ich bin der Ansicht«, fuhr Pierre fort, »daß, bevor wir über diese Fragen beraten können, wir den Kaiser bitten … Seiner Majestät untertänigst die Bitte unterbreiten müssen, uns mitzuteilen, wie groß unsere Streitkräfte sind und in welchem Zustand sich die Truppen befinden. Erst dann …«

Aber Pierre hatte seinen Satz nicht zu Ende gesprochen, als man plötzlich von drei Seiten über ihn herfiel. Heftiger als alle anderen griff ihn Stepan Stepanowitsch Adraxin an, ein alter Bekannter von ihm, der ihm immer sehr gewogen gewesen war und mit dem er manche Partie Boston gespielt hatte. Dieser Stepan Stepanowitsch trug heute auch Uniform. War es nun wegen der Uniform oder aus anderen Gründen – jedenfalls sah Pierre heute einen ganz anderen Menschen vor sich. Stepan Stepanowitsch, auf dessen Gesicht sich plötzlich eine greisenhafte Bosheit ausprägte, schrie Pierre an:

»Erstens möchte ich dazu bemerken, daß wir gar nicht das Recht haben, den Kaiser darüber zu befragen, und zweitens, selbst wenn dem russischen Adel ein solches Recht zustünde, so könnte uns der Kaiser doch keine Antwort darauf geben. Die Truppen sind, dem Vorwärts- oder Rückwärtsgehen des Feindes entsprechend, stets in Bewegung, sie nehmen bald ab, bald zu …«

Da fiel eine zweite Stimme über Pierre her und unterbrach Adraxin. Es war dies ein Mann von etwa vierzig Jahren, von mittlerer Statur, den Pierre früher manchmal bei den Zigeunern gesehen hatte und als unlauteren Kartenspieler kannte. Auch er sah heute in Uniform ganz anders aus.

»Zum Hin und her beraten ist jetzt nicht die Zeit«, sagte dieser Adlige, »handeln müssen wir! Der Krieg hat Rußlands Grenzen überschritten. Der Feind rückt vor, um unser Land zu verderben, um die Gräber unserer Väter zu entweihen, um unsere Frauen und Kinder wegzuschleppen.« Dabei schlug sich der Redner auf die Brust. »Wir alle werden uns erheben, Mann für Mann zur Fahne eilen und alle für unser Väterchen, den Zaren, einstehen!« schrie er, indem er die von Blut geröteten Augen weit herauspreßte. In der Menge wurden Beifallsäußerungen laut. »Wir sind Russen und schonen nicht unser Blut, wenn es Glauben, Thron und Vaterland[151] zu schützen gilt. Doch alles Reden muß jetzt vermieden werden, wenn wir wahre Söhne des Vaterlandes sind. Wir werden Europa zeigen, wie Rußland für Rußland einstehen wird!« schrie er.

Pierre wollte etwas erwidern, aber er brachte kein Wort heraus. Er fühlte, daß seine Worte, unabhängig davon, was für Gedanken sie enthielten, gegen die seines erregten Vorredners keinesfalls aufkommen würden.

Ilja Andrejewitsch äußerte seinen Beifall im Hintergrund. Einige andere Herren drehten sich bei Schluß dieser schwungvollen Rede hastig zur Seite und riefen: »Richtig! Ganz recht! So ist es!«

Pierre wollte erwidern, daß auch er nicht der letzte sei, wenn es gelte, Vermögen, Bauern und sich selber zum Opfer zu bringen, daß man aber trotzdem den Stand der Dinge kennen müsse, um Abhilfe schaffen zu können. Aber er kam nicht zu Wort. Viele Stimmen redeten und schrien durcheinander, so daß Ilja Andrejewitsch gar nicht mehr die Zeit hatte, allen beifällig zuzunicken. Die Gruppe wurde immer größer, teilte sich, ballte sich wieder zusammen und wälzte sich in ihrer Gesamtheit unter lautem Stimmengewirr in den großen Saal hinein auf den Tisch zu. Pierre kam nicht zu Wort, man unterbrach ihn auf unhöfliche Art, schob ihn beiseite und wandte sich von ihm ab wie von einem gemeinsamen Feind. Und das geschah nicht etwa aus Mißfallen über die Gedanken, die er in seiner Rede zum Ausdruck gebracht hatte – die hatte man nach der Unmenge von Reden, die seinen Worten gefolgt waren, schon lange wieder vergessen –, sondern nur aus dem Grund, weil die Menge in ihrer Begeisterung immer ein greifbares Etwas für ihre Liebe und ein greifbares Etwas für ihren Haß vonnöten hat. Diese letztere Rolle war nun Pierre zugefallen. Nach dem begeisterten Edelmann sprachen noch viele andere Redner, alle in demselben Ton. Viele sprachen sehr schön und brachten dabei auch eigne Gedanken zum Ausdruck.

Der Herausgeber des »Russischen Boten«, Glinka[152], den man erkannt hatte – »hört, hört! Der Vertreter der Presse!« tönte es aus der Menge –, führte aus, man müsse »die Hölle mit der Hölle besiegen«, und er habe ein Kind gesehen, das beim Aufzucken der Blitze und beim Grollen des Donners gelächelt habe, wir aber dürften es nicht so machen wie dieses Kind …

»Ja, ja, beim Grollen des Donners!« wiederholte beifällig eine Stimme im Hintergrund.

Die Menge drängte nach dem großen Tisch hin, wo, in ihren Uniformen und mit Ordensbändern geschmückt, die ergrauten, kahlköpfigen, siebzigjährigen Magnaten saßen, die Pierre fast alle zu Hause mit ihren Hausnarren oder im Klub beim Bostonspiel zu sehen gewohnt war. Die Gruppen wälzten sich bis dicht an den Tisch heran, ohne daß das Geschwirr einen Augenblick nachgelassen hätte. Ein Redner nach dem anderen sprach, manchmal auch zwei zugleich, wobei sie von der Menge bis dicht an die hohen Lehnen der Stühle herangedrängt wurden. Die Zuhörer paßten auf, ob der Redner vielleicht irgendeinen Gedanken nicht bis zu Ende ausführte, und beeilten sich dann, das Ausgelassene noch einzufügen. Andere wieder zerbrachen sich in der Hitze und in dem Gedränge den Kopf, um auf irgendeinen Gedanken zu kommen, und hatten es dann sehr eilig damit, ihn anzubringen.

Die Pierre so wohlbekannten alten Magnaten saßen auf ihren Stühlen und blickten bald den einen, bald den anderen Redner an, aber ihr Gesichtsausdruck besagte meist nichts anderes, als daß ihnen sehr heiß war. Pierre hingegen fühlte sich sehr erregt, denn der allgemeine Wunsch, zu zeigen, daß man vor nichts zurückschrecke, der mehr durch den Klang der Stimmen und im Mienenspiel als durch den Sinn der Reden zum Ausdruck kam, hatte sich auch ihm mitgeteilt. Er wollte seine Ansicht nicht widerrufen, aber er fühlte sich irgendwie schuldig und wollte das wiedergutmachen.

»Ich habe nur gesagt, daß es zweckmäßiger für uns wäre, Opfer zu bringen, wenn wir wüßten, wo diese am nötigsten sind«, fing er an, bemüht, ein paar andere Stimmen zu überschreien.

Ein in der Nähe sitzender alter Herr warf einen Blick auf ihn, wurde aber sogleich wieder durch ein Geschrei, das sich am anderen Ende des Tisches erhob, abgelenkt.

»Ja, Moskau wird Ergebenheit zeigen! Es wird die Retterin werden!« schrie einer.

»Er ist ein Feind der Menschheit!« rief ein anderer dagegen. »Gestatten Sie, daß ich das Wort ergreife … Aber meine Herren, Sie erdrücken mich ja!«

23

In diesem Augenblick trat Graf Rastoptschin mit seinem vorstehenden Kinn und den lebhaften Augen ein. Er trug Generalsuniform und ein breites Ordensband über der Schulter und ging eiligen Schrittes durch die Schar der Adligen hindurch, die vor ihm auseinandertrat.

»Seine Majestät der Kaiser wird sogleich erscheinen«, sagte Rastoptschin. »Ich komme soeben von ihm. Meiner Ansicht nach bleibt uns in der Lage, in der wir uns befinden, nicht viel zu erörtern übrig. Der Kaiser hat geruht, uns und die Kaufmannschaft zu versammeln«, fuhr Graf Rastoptschin fort. »Von dorther werden die Millionen fließen« – er zeigte zu den Sälen der Kaufleute hinüber –, »unsere Aufgabe aber ist es, die Landwehr zu stellen und uns selber nicht zu schonen … Das ist das wenigste, was wir tun können.«

Nun begannen die Beratungen zwischen den Magnaten, die am Tisch saßen. All die Verhandlungen gingen mehr als ruhig vonstatten. Es machte sogar einen fast melancholischen Eindruck, als man nun nach all dem Lärm von vorhin nur einzeln die greisenhaften Stimmen vernahm, von denen der eine sagte: »Einverstanden«, ein anderer zur Abwechslung: »Ich bin derselben Ansicht« und so weiter.

Der Sekretär wurde beauftragt, die Resolution des Moskauer Adels wie folgt zu Papier zu bringen: »Die Moskauer stellen, ganz wie die Smolensker, zehn Mann von je tausend Seelen mit vollständiger Ausrüstung zur Verfügung.« Wie erleichtert standen die Magnaten, die bis jetzt gesessen hatten, auf, rückten geräuschvoll mit den Stühlen und gingen in den Saal, um sich die Füße zu vertreten, wobei sie einander führten und sich unterhielten.

»Der Kaiser! Der Kaiser!« tönte es plötzlich durch die Säle, und alle drängten nach der Tür.

Durch den breiten Gang zwischen dem Kopf an Kopf wie zu einer Mauer zusammengedrängten Adel hindurch ging der Kaiser in den Saal. Auf allen Gesichtern prägte sich eine ehrfurchtsvolle, bange Neugier aus. Pierre stand ziemlich weit entfernt und konnte die Worte des Kaisers nicht deutlich verstehen. Dem, was er hörte, entnahm er nur, daß der Kaiser von der Gefahr sprach, in der sich das Reich befinde, und von den Hoffnungen, die er auf den Moskauer Adel setze. Dem Kaiser antwortete eine andere Stimme, die ihm den soeben gefaßten Beschluß des Adels mitteilte.

»Meine Herren!« sagte der Kaiser mit bebender Stimme.

Eine Bewegung lief durch die Menge, dann wurde wieder alles still, und Pierre hörte deutlich die menschlich angenehme, gerührte Stimme des Kaisers, die sagte:

»Ich habe nicht an der Hingabe des russischen Adels gezweifelt. Heute aber hat er meine Erwartungen übertroffen. Ich danke Ihnen im Namen des Vaterlandes. Meine Herren, lassen Sie uns handeln, die Zeit ist kostbarer als alles …«

Der Kaiser schwieg. Die Menge umdrängte ihn, und von allen Seiten hörte man begeisterte Ausrufe.

»Ja, kostbarer als alles … ein echtes Kaiserwort!« sagte ganz hinten Ilja Andrejewitschs schluchzende Stimme, der nichts verstanden hatte und sich nun alles auf seine Art zusammenreimte.

Aus dem Saal des Adels begab sich der Kaiser in den der Kaufmannschaft. Dort verweilte er ungefähr zehn Minuten lang. Pierre und viele andere sahen, wie der Kaiser den Saal der Kaufleute mit Tränen der Rührung in den Augen verließ. Er hatte seine Rede an die Kaufleute, wie man später erfuhr, kaum begonnen, als die Tränen seinen Augen entströmt waren, und nur mit zitternder Stimme hatte er zu Ende sprechen können. Als Pierre den Kaiser erblickte, ging er gerade, von zwei Kaufleuten begleitet, fort. Der eine war ein Bekannter Pierres, ein dicker Branntweinpächter, der andere das Stadtoberhaupt, ein Mann mit hagerem, gelbem Gesicht und schmalem Bart. Sie weinten beide. Der Hagere hielt die Tränen zurück, aber der dicke Branntweinpächter schluchzte wie ein Kind und beteuerte fortwährend: »Nimm unser Leben, unser Hab und Gut, Majestät!«

Pierre hatte in diesem Augenblick nur das eine Gefühl: den Wunsch, zu zeigen, daß er vor nichts zurückschrecke und zu jedem Opfer bereit sei. Seiner Rede mit der konstitutionellen Richtung erinnerte er sich unter Vorwürfen und suchte nach einer Gelegenheit, das wiedergutzumachen. Als er erfuhr, daß Graf Mamonow ein Regiment darbringe, erklärte er dem Grafen Rastoptschin, daß er für tausend Mann und deren Verpflegung aufkomme.

Der alte Graf Rostow konnte zu Hause seiner Frau nicht ohne Tränen erzählen, wie es gewesen war, willigte nun auch in Petjas Bitten ein und fuhr selbst hin, um ihn einzuschreiben.

Am nächsten Tag fuhr der Kaiser ab. Der ganze versammelte Adel aber legte sogleich die Uniform ab, machte es sich wieder zu Hause und im Klub bequem, gab unter Ächzen und Stöhnen dem Verwalter Befehl, die Landwehr auszuheben, und staunte über das, was er vollbracht hatte.

Загрузка...