In Petersburgs höchsten Kreisen wurde unterdessen mit noch hitzigerem Eifer denn je der verwickelte Kampf zwischen der Franzosenpartei Rumjanzews und der Partei Marja Fjodorownas, des Großfürsten und Thronfolgers und anderer ausgefochten, wobei das Pauken und Trompeten höfischer Drohnen wie immer den Hauptspektakel machte. Dabei ging das ruhige, üppige Petersburger Leben, das nur nach den trügerischen Spiegelbildern des Daseins haschte, seinen alten Gang weiter, und allen denen, die in dieses Leben verstrickt waren, kostete es große Anstrengung, sich der Gefahr und schwierigen Lage bewußt zu werden, in der sich das russische Volk befand. Dieselben Empfänge, dieselben Bälle, dasselbe französische Theater, dieselben Hof- und Dienstangelegenheiten, dieselben Intrigen nahmen das Interesse aller gefangen. Nur in den allerhöchsten Kreisen gab man sich Mühe, der bösen Gegenwart eingedenk zu sein. Flüsternd erzählte man sich, wie verschieden die beiden Kaiserinnen in der so schwierigen Lage vorgingen. Die Kaiserin-Mutter Marja Fjodorowna hatte, besorgt um das Wohl der unter ihrem Protektorat stehenden Wohltätigkeitsanstalten und Erziehungsinstitute, ihre Verlegung nach Kasan angeordnet, und die Sachen dieser Anstalten waren bereits gepackt. Kaiserin Jelisaweta Alexejewna dagegen hatte auf die Frage, was für Anordnungen sie zu treffen gedenke, mit dem ihr eigenen patriotischen Empfinden zur Antwort gegeben: über staatliche Anstalten könne sie nicht verfügen, das stehe allein dem Kaiser zu, was sie persönlich aber betreffe, so könne sie nur sagen, daß sie die letzte sein werde, die Petersburg verlasse.
Am 26. August, also am Tag der Schlacht bei Borodino, fand bei Anna Pawlowna eine Abendgesellschaft statt, deren wirkungsvollster Teil die Vorlesung eines Briefes sein sollte, den der Metropolit bei Übersendung eines Bildes des heiligen Sergius an den Kaiser geschrieben hatte. Dieser Brief wurde als Muster patriotischer und geistlicher Beredsamkeit angesehen. Zu Gehör bringen sollte ihn Fürst Wassilij selbst, der durch seine Vorlesekunst so berühmt war, daß er sogar der Kaiserin häufig vorlesen mußte. Seine Kunst bestand darin, daß er die Worte laut und singend, bald wie ein Verzweifelter brüllend, bald wie ein Verliebter schmachtend, ganz unabhängig von ihrer Bedeutung, aber melodisch dahinfließen ließ, so daß es ganz dem Zufall überlassen blieb, ob ein Wort verzweifelt gebrüllt, ein anderes zärtlich geflüstert wurde. Dieser Abend mit der Vorlesung des Briefes war, wie alle Gesellschaften bei Anna Pawlowna, von politischer Bedeutung. Es wurden mehrere wichtige Persönlichkeiten erwartet, die, weil sie immer noch das französische Theater besucht hatten, beschämt und zu patriotischer Gesinnung bekehrt werden sollten. Viele Menschen hatten sich bei Anna Pawlowna schon eingefunden, doch erblickte sie in ihrem Salon noch nicht alle diejenigen, die sie brauchte, und deshalb fing man mit der Vorlesung noch nicht an, sondern führte nur allgemeine Gespräche.
Das Neueste vom Tage war heute in Petersburg das Unwohlsein der Gräfin Besuchowa. Die schöne Helene war vor einigen Tagen plötzlich krank geworden und hatte mehrere Gesellschaften, deren Zierde sie sonst immer zu sein pflegte, absagen müssen. Es verlautete, daß sie auch selber niemanden empfange und sich nicht den berühmten Petersburger Ärzten, die sie sonst immer behandelt hatten, sondern einem italienischen Quacksalber anvertraut habe, der sie mit einer neuen, ungewöhnlichen Methode zu heilen suche.
Alle wußten sehr wohl, daß die Krankheit der reizenden Gräfin nur von ihrer mißlichen Lage herrührte, zwei Männer auf einmal heiraten zu wollen, und daß die Methode des italienischen Arztes darin bestand, diese Mißlichkeiten aus dem Weg zu räumen. Doch in Gegenwart Anna Pawlownas wagte niemand auch nur daran zu denken, und es war, als habe kein Mensch eine Ahnung davon.
»On dit que la pauvre comtesse est très mal. Der Arzt sagt, es sei Angina.«
»Angina? Oh, c’est une maladie terrible.«
»On dit que les rivaux se sont réconcilies grâce à l’angine …«
Das Wort Angina wurde mit großem Behagen immer wieder angewendet.
»Der alte Graf soll rührend sein, sagt man. Er soll wie ein Kind geweint haben, als der Arzt ihm erklärt hat, der Fall sei nicht ungefährlich.«
»Oh, das wäre ja auch ein furchtbarer Verlust. C’est une femme ravissante!«
»Vous parlez de la pauvre comtesse«, sagte Anna Pawlowna nähertretend. »Ich hatte soeben hingeschickt, um mich zu erkundigen. Man hat mir sagen lassen, daß es ihr ein wenig besser geht. Oh, sans doute, c’est la femme la plus charmante du monde«, fuhr Anna Pawlowna mit einem Lächeln über ihre eigne Begeisterung fort. »Wir gehören zwar verschiedenen politischen Lagern an, aber das hindert mich nicht, ihr die Hochachtung, die sie verdient, entgegenzubringen. Sie ist doch recht unglücklich …« fügte sie hinzu.
In der Annahme, daß Anna Pawlowna mit diesen Worten den Schleier ein wenig lüften wolle, der über dem Geheimnis der Krankheit der Gräfin lag, erlaubte sich ein unvorsichtiger junger Mann, seiner Verwunderung darüber Ausdruck zu verleihen, daß die Gräfin nicht berühmte Ärzte zugezogen habe, sondern sich von einem Scharlatan behandeln lasse, der ihr möglicherweise schädliche Mittel eingeben könne.
»Vielleicht sind Sie besser informiert als ich«, fiel Anna Pawlowna plötzlich giftig über den unerfahrenen jungen Mann her, »aber ich weiß aus sicherer Quelle, daß dieser Arzt ein sehr gelehrter und geschickter Mann ist. Er ist der Leibarzt der Königin von Spanien.«
Nachdem sie so den jungen Mann in Grund und Boden geschmettert hatte, wandte sie sich Bilibin zu, der in einer anderen Gruppe über die Österreicher sprach, die Stirn in Falten zog und sich offenbar gerade anschickte, sie wieder zu glätten, um »un mot« zum besten zu geben.
»Je trouve que c’est charmant«, sagte er von einem diplomatischen Schriftstück, das Wittgenstein, le héros de Pétropol, wie man ihn in Petersburg nannte, mit den von ihm erbeuteten Fahnen nach Wien gesandt hatte.
»Wieso? Wie meinen Sie das?« wandte sich Anna Pawlowna an ihn, um dem »mot«, das sie schon kannte, die gebührende Aufmerksamkeit zu sichern.
Und Bilibin wiederholte folgende authentischen Worte aus der diplomatischen Depesche, die er selbst verfaßt hatte:
»Der Kaiser sendet die österreichischen Fahnen zurück als verirrte Freundesfahnen, die er auf Abwegen gefunden hat«, zitierte Bilibin und zog die Stirn glatt.
»Charmant, charmant!« rief Fürst Wassilij.
»Auf den Wegen nach Warschau wahrscheinlich«, warf Fürst Hippolyt laut und unvermutet ein.
Alle sahen ihn an und verstanden nicht, was er damit sagen wollte. Und auch Fürst Hippolyt selber sah sich mit vergnügtem Staunen rings um, denn ganz ebenso wie die andern verstand auch er selber nicht, was seine Worte bedeuten sollten. Während seiner diplomatischen Laufbahn hatte er mehr als einmal die Beobachtung gemacht, daß solche derart unvermittelt eingeworfenen Worte oft für sehr geistreich gehalten wurden, und so hatte er aufs Geratewohl das erste beste, was ihm auf die Lippen gekommen war, ausgesprochen. Vielleicht kommt es gut heraus, dachte er, und wenn nicht, werden die andern es schon einzurichten wissen. Und wirklich trat gerade in diesem Augenblick, während noch ein peinliches Schweigen herrschte, die nicht genügend patriotische Persönlichkeit ein, die zur Bekehrung erwartet wurde, und Anna Pawlowna forderte, Hippolyt lächelnd mit dem Finger drohend, den Fürsten Wassilij auf, an den Tisch zu treten, brachte ihm zwei Kerzen und den Brief und bat ihn, mit dem Vorlesen zu beginnen.
Alle schwiegen.
»Allergnädigster Herr und Kaiser!« fing Fürst Wassilij streng an, blickte auf seine Zuhörer, als wolle er fragen, ob jemand etwas dagegen einzuwenden habe. Aber es hatte niemand etwas dagegen zu sagen. »Die erste Residenz, die Stadt Moskau, das neue Jerusalem, empfängt ihren Christus« – er betonte ganz unvermittelt das Wort »ihren« – »wie eine Mutter ihre geliebten Söhne mit ihren Armen umfängt, und indem sie durch die über uns gekommene Finsternis den leuchtenden Ruhm deiner Herrschaft voraussieht, singt sie begeistert: ›Hosianna, Heil dem, der da kommt.‹«
Diese letzten Worte las Fürst Wassilij mit weinerlicher Stimme. Bilibin betrachtete aufmerksam seine Nägel, andere wieder waren sichtlich verschüchtert, als legten sie sich die Frage vor, was sie denn eigentlich verbrochen hätten.
Anna Pawlowna sagte, wie ein altes Mütterchen beim Abendmahlsgebet, die nun folgenden Worte: »Mag der freche und vermessene Goliath …« schon im voraus flüsternd vor sich hin.
Fürst Wassilij fuhr fort.
»Mag der freche und vermessene Goliath todbringendes Entsetzen von Frankreichs Grenzen bis in die Gefilde Rußlands hineintragen: der demütige Glaube, diese Schleuder des russischen David, wird jach das Haupt seiner blutdürstigen Hoffart zu Boden schlagen. Dieses Bild des heiligen Sergius, der von den ältesten Zeiten an der Schirmherr des Wohles unseres Vaterlandes gewesen ist, überreichen wir Euer Kaiserlichen Majestät. Wie schmerzlich empfinde ich es, daß meine immer schwächer werdenden Kräfte mir nicht erlauben, mich an dem Anblick Eurer Majestät huldvollsten Antlitzes zu erquicken. Heiße Gebete sende ich gen Himmel, daß der Allmächtige das Geschlecht der Gerechten erhöhen und die Wünsche Eurer Majestät zu aller Segen erfüllen möge.«
»Quelle force! Quel style!« hörte man den Vorleser wie den Verfasser loben.
Durch diesen Vortrag begeistert sprachen Anna Pawlownas Gäste noch lang über die Lage des Vaterlandes und äußerten verschiedene Vermutungen über den Ausgang der Schlacht, die in diesen Tagen geliefert werden sollte.
»Vous verrez«, sagte Anna Pawlowna, »morgen zum Geburtstag des Kaisers werden wir eine Nachricht erhalten. Ich habe so eine Ahnung.«
Anna Pawlownas Ahnung sollte wirklich in Erfüllung gehen. Am folgenden Tag, während des Gottesdienstes, der zur Feier von Kaisers Geburtstag bei Hof stattfand, wurde Fürst Wolkonskij aus der Kirche gerufen und ihm ein Schreiben von Kutusow überreicht. Es war jener Bericht, den Kutusow am Tag der Schlacht aus Tatarinowa geschrieben hatte. Kutusow teilte darin mit, daß die Russen nicht einen Schritt zurückgegangen seien, die Franzosen weitaus größere Verluste gehabt hätten als wir, und daß er dies in aller Eile vom Schlachtfeld her melde, ohne noch die Zeit gehabt zu haben, die letzten Nachrichten einzusammeln. Folglich war es ein Sieg. Und so wurde denn sofort, noch ehe man das Gotteshaus verließ, dem Schöpfer für seine Hilfe und für den Sieg Dank gesagt.
Anna Pawlownas Ahnung hatte sich also bestätigt. In der Stadt herrschte den ganzen Morgen über eine fröhlichfeierliche Stimmung. Alle erkannten den Sieg als vollkommen an, und einige sprachen bereits von Napoleons Gefangennahme, seiner Absetzung und der Wahl eines neuen Oberhauptes für Frankreich.
Fern vom Kriegsschauplatz und inmitten der Bedingungen des Hoflebens können sich die Ereignisse nur schwer in ihrer ganzen Fülle und Kraft auswirken. Unversehens gruppieren sie sich um irgendeinen einzelnen Zufall. So war die Hauptfreude jetzt bei Hof nicht nur, daß wir gesiegt hatten, sondern daß diese Nachricht ausgerechnet am Geburtstag des Kaisers eingetroffen war. Das war wie eine erfolgreiche Geburtstagsüberraschung. In Kutusows Meldung war auch von den russischen Verlusten die Rede, unter denen die Namen Tutschkow, Bagration und Kutaisow genannt waren. Und so gruppierte sich auch alles Tragische des großen Ereignisses hier in der Petersburger Gesellschaft unwillkürlich um den einen Fall: um den Tod Kutaisows. Alle kannten ihn, der Kaiser hatte ihn gern gehabt, er war ein junger, interessanter Offizier gewesen. Wenn an diesem Tag zwei einander trafen, so begrüßten sie sich stets mit den Worten: »Welch wunderbarer Zufall! Gerade beim Gottesdienst. Und Kutaisow, was für ein Verlust! Ach, wie schade!«
»Was habe ich Ihnen von Kutusow gesagt?« rief jetzt Fürst Wassilij im stolzen Gefühl eines Propheten. »Ich habe es doch gleich gesagt, daß er allein Napoleon zu besiegen imstande ist.«
Doch am folgenden Tag traf keine Nachricht vom Heer ein, und die allgemeine Stimmung fing an, bewegter zu werden. Alles am Hofe litt unter den Qualen der Ungewißheit, in der sich der Kaiser befand.
»Welch unangenehme Lage für unseren Kaiser!« sagte man bei Hof und hob Kutusow nun schon nicht mehr in den Himmel wie vor zwei Tagen, sondern äußerte sich abfällig über ihn, weil er die Beunruhigung des Kaisers verursacht hatte. Auch Fürst Wassilij rühmte sich an diesem Tag nicht mehr, Kutusow die Stange gehalten zu haben, und hüllte sich immer in Stillschweigen, wenn die Rede auf den Oberkommandierenden kam. Außerdem verbreitete sich am Abend dieses Tages, als habe sich alles verschworen, die Einwohner Petersburgs in Unruhe und Aufregung zu versetzen, noch eine andere furchtbare Neuigkeit: die Gräfin Besuchowa war an jener furchtbaren Krankheit, deren Namen von vielen mit solchem Behagen ausgesprochen worden war, ganz plötzlich und unerwartet gestorben. Offiziell sagte man in der Gesellschaft, die Gräfin sei infolge eines bösartigen Falles von Angina gestorben. Doch in vertrauten Kreisen erzählte man sich Einzelheiten darüber, wie der Leibarzt der Königin von Spanien der schönen Helene kleine Dosen einer Medizin verschrieben habe, um eine gewisse Wirkung herbeizuführen, und wie dann Helene aus Herzeleid darüber, daß der alte Graf Verdacht gegen sie hege und daß ihr Mann, der unglückliche, sittenverderbte Pierre, an den sie geschrieben hatte, ihr keine Antwort zukommen lasse, eine mächtige Dosis dieser Medizin auf einmal eingenommen habe und unter furchtbaren Qualen gestorben sei, ehe man ihr Hilfe bringen konnte. Man erzählte ferner, Fürst Wassilij und der alte Graf hätten den Italiener festnehmen lassen wollen, dieser aber habe Briefe der unglücklichen Verstorbenen vorgezeigt, worauf sie sogleich von ihm abgelassen hätten.
So beschränkte sich das allgemeine Gespräch auf diese drei bedauerlichen Ereignisse: auf die Ungewißheit, in der der Kaiser schwebte, auf den Tod Kutaisows und auf das Hinscheiden Helenes.
Drei Tage nach Kutusows Meldung traf ein Gutsbesitzer aus Moskau in Petersburg ein, und das Gerücht von einer Übergabe Moskaus an die Franzosen verbreitete sich durch die ganze Stadt. Das war entsetzlich! Was für eine Lage für den Kaiser! Kutusow war ein Verräter, und Fürst Wassilij sagte während der Beileidsbesuche, die man ihm nach dem Tod seiner Tochter abstattete, von dem einst von ihm so gerühmten Kutusow – in der Trauer war es verzeihlich, wenn er vergaß, was er früher einmal gesagt hatte –, daß man von diesem halbblinden, liederlichen Mummelgreis nichts anderes habe erwarten dürfen.
»Ich wundere mich bloß, wie man einem solchen Menschen das Schicksal Rußlands hat anvertrauen können.«
Solange diese Nachricht noch nicht amtlich war, konnte man noch daran zweifeln, doch am nächsten Tag traf folgender Bericht vom Grafen Rastoptschin ein:
»Ein Adjutant des Fürsten Kutusow überbringt mir einen Brief, in dem er Polizeioffiziere von mir verlangt, um die Armee durch die Stadt auf die Straße nach Rjasan zu führen. Er sagt, zu seinem tiefsten Bedauern müsse er Moskau preisgeben. Majestät! Dieser Schritt Kutusows entscheidet das Schicksal der Hauptstadt und Ihres ganzen Reiches. Rußland wird erbeben, wenn es die Übergabe dieser Stadt erfährt, welche die ganze Größe Rußlands in sich vereinigt und die Asche Ihrer Ahnen birgt. Ich folge der Armee. Alles Bewegliche habe ich fortschaffen lassen. Nun bleibt mir weiter nichts übrig als das Schicksal meines Vaterlandes zu beweinen.«
Nachdem der Kaiser diese Meldung erhalten hatte, schickte er durch den Fürsten Wolkonskij folgendes Schreiben an Kutusow:
»Fürst Michail Ilarionowitsch! Seit dem 29. August bin ich ohne Nachrichten von Ihnen. Inzwischen erhielt ich über Jaroslawl vom Oberkommandierenden von Moskau die traurige Kunde vom 1. September, daß Sie sich entschlossen hätten, mit der Armee Moskau zu verlassen. Sie können sich die Wirkung vorstellen, die diese Nachricht auf mich ausübte, und Ihr Schweigen vergrößert nur noch mein Staunen. Ich sende Ihnen mit Gegenwärtigem den Generaladjutanten Fürsten Wolkonskij, um von Ihnen zu erfahren, in welchem Zustand sich die Armee befindet, und welche Gründe Sie zu diesem so furchtbaren Entschluß gezwungen haben.«
Neun Tage nach Moskaus Preisgabe kam ein Abgesandter Kutusows mit der offiziellen Nachricht nach Petersburg. Dieser Gesandte war der Franzose Michaud, der nicht Russisch verstand, aber er war quoique étranger, russe de cceur et d’âme, wie er selber von sich sagte.
Der Kaiser empfing den Gesandten sogleich in seinem Arbeitszimmer im Palais auf Kamenny-Ostrow. Obgleich Michaud vor dem Feldzug Moskau noch nie zu Gesicht bekommen hatte und nicht einmal Russisch verstand, fühlte er sich trotzdem tief ergriffen, als er vor »notre très gracieux souverain« stand, wie er dann schrieb, und ihm die Nachricht vom Brande Moskaus überbrachte, »dont les flammes éclairaient sa route«.
Wenn auch bei Michaud die Quelle des Kummers eine andere sein mußte als die, aus der bei den Russen der Schmerz entsprang, so zeigte er doch, als er in das Arbeitszimmer des Kaisers geführt wurde, eine so betrübte Miene, daß ihn der Kaiser sogleich mit der Frage empfing: »Sie bringen mir traurige Nachrichten, Oberst?«
»Bien tristes, Sire«, erwiderte Michaud und schlug seufzend die Augen nieder, »Moskau mußte übergeben werden.«
»Hat man meine alte Hauptstadt wirklich ohne Schwertstreich hingegeben?« fragte der Kaiser hastig, und Röte flog über sein Gesicht.
Ehrerbietig meldete Michaud, was ihm Kutusow zu berichten aufgetragen hatte, nämlich, daß eine Schlacht vor Moskau unmöglich gewesen und nur die eine Wahl geblieben sei, entweder die Armee und Moskau zu verlieren oder Moskau allein, und daß demnach der Feldmarschall das zweite habe wählen müssen.
Der Kaiser hörte schweigend zu, ohne Michaud anzusehen.
»War der Feind schon in der Stadt eingezogen?« fragte er.
»Ja, Majestät, aber die Stadt ist jetzt nichts mehr als Schutt und Asche. Als ich sie verließ, stand sie in hellen Flammen«, fuhr Michaud in entschlossenem Ton fort. Als er aber den Kaiser anblickte, erschrak er über das, was er getan hatte.
Der Kaiser atmete hastig und schwer, seine Unterlippe bebte, und seine schönen blauen Augen waren von Tränen benetzt.
Aber das dauerte nur einen Augenblick. Dann wurde er plötzlich finster, als verurteile er sich selbst wegen seiner Schwäche, hob den Kopf und wandte sich mit fester Stimme an Michaud.
»Aus allem, was wir durchmachen müssen, Oberst«, sagte er, »sehe ich, daß die Vorsehung große Opfer von uns fordert … Ich bin bereit, mich in allem Seinem Willen zu unterwerfen … Doch sagen Sie mir, Michaud, wie haben Sie die Armee verlassen, die so mitansehen mußte, wie man meine alte Hauptstadt, ohne das Schwert zu ziehen, preisgegeben hat? Ist ihnen dadurch nicht aller Mut gesunken?«
Als Michaud die Unruhe seines »très gracieux souverain« bemerkte, wurde er ebenfalls aufgeregt. Diese offene, sachliche Frage des Kaisers forderte eine ebenso offene Antwort, aber er hatte noch nicht Zeit gefunden, eine solche Antwort vorzubereiten.
»Majestät, erlauben Sie mir, als ehrlicher Soldat frei von der Leber weg zu reden?« fragte er, um Zeit zu gewinnen.
»Das verlange ich immer, Oberst«, erwiderte der Kaiser. »Verheimlichen Sie mir nichts, ich will unbedingt wissen, wie es steht.«
»Majestät«, sagte Michaud mit feinem, kaum merklichem Lächeln auf den Lippen, da er inzwischen Zeit gefunden hatte, seine Antwort in Form eines leichten, untertänigen Wortspiels vorzubereiten. »Majestät! Ich habe die ganze Armee ohne Ausnahme, vom obersten Heerführer bis zum letzten Soldaten, in einer entsetzlichen, besorgniserregenden Furcht zurückgelassen …«
»Wie meinen Sie das?« unterbrach ihn der Kaiser streng und finster. »Meine Russen sollten sich durch ein Unglück niederbeugen lassen? Niemals!…«
Doch darauf hatte Michaud nur gewartet, um sein Wortspiel anzubringen.
»Majestät«, fuhr er mit ehrerbietig $scherzendem Ausdruck fort, »in der entsetzlichen Furcht nämlich, Euer Majestät könnten sich in der Güte Ihres Herzens überreden lassen, Frieden zu schließen. Sie brennen darauf, sich zu schlagen«, setzte der Bevollmächtigte des russischen Volkes hinzu, »um Euer Majestät durch Aufopferung ihres Lebens zu beweisen, wie ergeben sie Ihnen sind …«
»Ah«, sagte der Kaiser beruhigt mit freundlich glänzenden Augen und klopfte Michaud auf die Schulter. »Sie beruhigen mich, Oberst.«
Dann senkte der Kaiser den Kopf und schwieg eine Zeitlang still.
»Nun gut, kehren Sie zur Armee zurück«, sagte er dann mit freundlich majestätischer Gebärde zu Michaud gewandt und richtete sich hoch auf. »Sagen Sie meinen tapferen Soldaten und allen treuen Untertanen überall, wo Sie hinkommen: Wenn ich keinen Soldaten mehr haben sollte, werde ich mich selber an die Spitze meines treuen Adels und meiner braven Bauern stellen und so mein ganzes Kaiserreich bis auf die letzten Quellen erschöpfen. Es bietet mir deren noch viel mehr, als meine Feinde glauben«, sagte der Kaiser, immer lebhafter werdend. »Sollte es aber auf den ehernen Tafeln der göttlichen Vorsehung geschrieben stehen«, fuhr er fort, indem er seine schönen, sanften und von tiefem Gefühl glänzenden Augen zum Himmel erhob, »daß meine Dynastie aufhören soll, auf dem Thron meiner Väter zu herrschen, dann werde ich lieber, wenn alle in meiner Macht stehenden Mittel erschöpft sind, mir den Bart bis hierhin wachsen lassen« – der Kaiser zeigte auf die Mitte seiner Brust – »und mit dem letzten meiner Bauern Kartoffeln essen, als daß ich die Schmach meines Vaterlandes und meines treuen Volkes, dessen Hingabe ich zu schätzen weiß, unterzeichnen werde …«
Nachdem der Kaiser diese Worte mit erregter Stimme gesprochen hatte, wandte er sich ab und schritt tiefer in sein Arbeitszimmer hinein, als wolle er vor Michaud die Tränen, die ihm in die Augen traten, verbergen. Dort blieb er eine Weile stehen, kehrte dann mit großen Schritten zu Michaud zurück und faßte mit kräftigem Druck dessen Arm unterhalb des Ellbogens. Das schöne, sanfte Gesicht des Kaisers hatte sich gerötet, und in seinen Augen brannte ein Glanz von Entschlossenheit und Zorn.
»Oberst Michaud, vergessen Sie nicht, was ich Ihnen jetzt sage, vielleicht erinnern wir uns später noch einmal mit Freuden daran … Napoleon oder ich!« sagte der Kaiser und schlug sich vor die Brust. »Beide zusammen können wir nicht herrschen. Ich habe ihn jetzt kennen gelernt, er wird mich nicht noch einmal täuschen …«
Der Kaiser wurde finster und schwieg. Als Michaud diese Worte gehört und den Ausdruck fester Entschlossenheit in den Augen des Kaisers gelesen hatte, fühlte er sich, quoique étranger, mais russe de cceur et d’âme, in diesem feierlichen Augenblick enthousiasmé par tout ce qu’il venait d’entendre, wie er später sagte, und verlieh diesem seinem Gefühl sowie den Empfindungen des ganzen russischen Volkes, für dessen Bevollmächtigten er sich hielt, in folgenden Worten Ausdruck: »Sire!« sagte er. »Euer Majestät besiegeln in diesem Augenblick den Ruhm des russischen Volkes und das Heil ganz Europas!«
Der Kaiser entließ Michaud durch ein Neigen des Kopfes.
Zu einer Zeit, als Rußland schon bis zur Hälfte erobert war, die Einwohner der Stadt Moskau in entfernte Gouvernements flüchteten und Landwehr über Landwehr zum Schutz des Vaterlandes aufgeboten wurde, werden wohl alle Russen, groß und klein, mit nichts anderem beschäftigt gewesen sein als damit, sich selbst zu opfern, dem Vaterland zu Hilfe zu kommen oder seinen Untergang zu beweinen. So stellen wir, die wir dies alles nicht miterlebt haben, es uns wenigstens immer vor. Alle Erzählungen und Schilderungen aus jener Zeit berichten ohne Ausnahme immer nur von der Selbstaufopferung, Vaterlandsliebe, Verzweiflung und dem Kummer und Heldenmut des russischen Volkes. In Wirklichkeit aber war es ganz anders. Uns kommt das nur deshalb so vor, weil wir, wenn wir zurückblicken, nur die allgemeinen historischen, nicht aber alle jene persönlichen, menschlichen Interessen jener Zeiten wahrnehmen, die die Leute damals beschäftigten. Und doch sind in Wirklichkeit alle jene persönlichen Sorgen der jeweiligen Gegenwart so wichtig, daß man sich ihretwegen der allgemeinen gar nicht bewußt wird, die fast nicht zu bemerken sind. Die meisten Leute schenkten damals dem allgemeinen Gang der Dinge gar keine Aufmerksamkeit, sondern widmeten sich nur den persönlichen Interessen der Gegenwart. Und gerade diese Menschen waren die nützlichsten Förderer jener Zeit.
Alle, die sich Mühe gaben, den allgemeinen Gang der Dinge zu verstehen, und in Selbstaufopferung und Heldenmut daran teilnehmen wollten, waren die unnützesten Glieder der Gesellschaft. Sie sahen alles verkehrt, und, was sie zum Nutzen beitragen wollten, erwies sich als unsinnig und nutzlos, wie die Regimenter Pierres und Mamonows, die russische Dörfer ausplünderten, und wie die Scharpie, die von allen Damen gezupft wurde und nie bis zu den Verwundeten kam, und so weiter, und so weiter. Sogar die, die immer gern die Klügsten sein und ihre Gefühle zum Ausdruck bringen wollten, verliehen ihren Reden, wenn sie über die gegenwärtige Lage Rußlands sprachen, unwillkürlich das Gepräge von Lüge und Heuchelei oder zweckloser Anklage und Feindseligkeit gegen Leute, denen sie das in die Schuhe schoben, woran niemand schuld haben konnte. Einleuchtender als sonst wo erscheint bei weltgeschichtlichen Ereignissen das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Nur das unbewußte Wirken trägt hier Früchte, und ein Mensch, der in weltgeschichtlichen Ereignissen eine Rolle spielt, wird nie deren Bedeutung verstehen. Sobald er sich Mühe gibt, sie zu begreifen, verdammt er sich zur Unfruchtbarkeit.
Die Bedeutung des damals in Rußland abrollenden Ereignisses war, je näher ein Mensch den Dingen stand, um so schwerer zu erfassen. In Petersburg und in allen von Moskau entfernten Gouvernements beweinten Männer in Landwehruniform und Frauen das Schicksal Rußlands und der Hauptstadt und sprachen von Opfermut und so weiter; in der Armee aber, die aus Moskau abzog, sprach und dachte fast niemand an diese Stadt, keiner schwur beim Anblick des Brandes den Franzosen Rache, sondern alle dachten nur an das noch ausstehende Drittel der Löhnung, an das nächste Quartier, an die Marketenderin Matroscha oder an etwas Ähnliches.
So beteiligte sich auch Nikolaj Rostow, ohne daß er an Selbstaufopferung gedacht hätte, ganz zufällig, weil eben der Krieg gerade in seine Dienstjahre hineingefallen war, in nächster Nähe und lange Zeit hindurch am Schutz des Vaterlandes und blickte ohne Verzweiflung und finstere Gedanken auf das, was sich damals in Rußland vollzog. Wenn man ihn gefragt hätte, wie er über die augenblickliche Lage Rußlands denke, hätte er geantwortet, das Denken sei nicht seine Sache, dazu seien Kutusow und andere Leute da; er habe nur gehört, daß die Regimenter ergänzt werden sollten, und demnach werde der Krieg wohl noch lange dauern, und es sei unter den jetzigen Umständen nicht weiter verwunderlich, wenn er bereits in zwei oder drei Jahren ein Regiment bekäme.
Weil er die Dinge so ansah, empfing er auch die Nachricht, daß er abkommandiert werden sollte, um für die Division Remonten in Woronesch auszuheben, nicht nur ohne Kummer darüber, daß er nun an der nächsten Schlacht nicht teilnehmen könne, sondern sogar mit dem größten Vergnügen, aus dem er auch gar kein Hehl machte und für das seine Kameraden volles Verständnis hatten.
Einige Tage vor der Schlacht bei Borodino erhielt Nikolaj das Geld und die Papiere und fuhr mit der Post nach Woronesch, wohin er seine Husaren vorausgeschickt hatte.
Nur wer es am eignen Leib erfahren, das heißt mehrere Monate ohne Unterbrechung in jener Atmosphäre des Kriegs- und Militärlebens zugebracht hat, kann die Wonne nachfühlen, die Nikolaj empfand, als er aus jenen Regionen herauskam, bis zu denen die Truppen mit ihren Fouragewagen, Proviantfuhren und Lazaretten reichten. Als er in den Dörfern keine Soldaten, Karren und schmutzige Lagerüberreste erblickte, sondern Bauern und Weiber und die Häuser der Gutsbesitzer, die Felder mit weidendem Vieh und die Stationshäuschen mit verschlafenen Posthaltern – da überkam ihn eine Freude, als sähe er dies alles zum erstenmal. Besonders wunderte und freute er sich über die jungen, gesunden Frauen, wo nicht hinter jeder Dutzende von Männern herliefen, Frauen, die froh und geschmeichelt waren, wenn ein durchreisender Offizier mit ihnen scherzte.
In heiterster Gemütsstimmung kam Nikolaj nachts im Gasthaus von Woronesch an und bestellte sich alles, was er so lange an der Front hatte entbehren müssen. Am nächsten Morgen rasierte er sich fein säuberlich, zog seine lange nicht mehr getragene Paradeuniform an und fuhr aus, um sich höheren Orts vorzustellen.
Der Kommandeur der Landwehr war ein Staatsbeamter im Rang eines Generals, ein alter Herr, dem die Einberufung zum Militär und sein Amt sichtlichen Spaß machten. Grimmig empfing er Nikolaj in der Annahme, daß im barschen Ton der Kern alles Militärischen liege, und, als habe er ein Recht, über den gesamten Verlauf der Ereignisse ein Urteil abzugeben, fing er an, Nikolaj mit wichtiger Miene über alles auszufragen, wobei er bald seinen Beifall, bald sein Mißvergnügen äußerte. Doch Nikolaj war so guter Laune, daß ihm dies nur Spaß machte.
Vom Kommandeur der Landwehr fuhr er zum Gouverneur. Der Gouverneur war ein kleiner, lebhafter Herr von sehr freundlichem, schlichtem Wesen. Er machte Nikolaj auf die Gestüte aufmerksam, wo er Pferde bekommen könne, empfahl ihm einen Roßhändler in der Stadt und einen Gutsbesitzer, der zwanzig Werst entfernt wohnte und die besten Pferde besaß, und versprach, ihm in jeder Weise behilflich zu sein.
»Sind Sie ein Sohn des Grafen Ilja Andrejewitsch? Meine Frau war mit Ihrer Frau Mutter sehr befreundet. Donnerstags kommen immer ein paar Gäste zu uns; da heute gerade Donnerstag ist, bitte ich Sie, doch auch zu kommen, ohne alle Umstände …« sagte der Gouverneur zu Nikolaj, als sich dieser verabschiedete.
Gleich nach seinem Besuch beim Gouverneur mietete sich Nikolaj einen Postwagen, nahm seinen Wachtmeister mit und legte die zwanzig Werst bis zu dem Gestüt des ihm empfohlenen Gutsbesitzers zurück. Da ihm während der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Woronesch alles so einfach und heiter erschien, ging auch, wie das immer zu sein pflegt, wenn man selber guter Laune ist, alles heiter und glücklich aus.
Der Gutsbesitzer, zu dem Nikolaj kam, war alter Kavallerist und Junggeselle, Pferdekenner, Jäger, Inhaber einer Teppichweberei und der glückliche Besitzer eines alten Ungarweines, eines hundertjährigen Schnapses und wundervoller Pferde.
Ohne viel Worte zu machen, kaufte Nikolaj von ihm für sechstausend Rubel siebzehn Hengste, eine Auswahl, wie er sagte, als Paradestück für seine Remonte. Dann speiste er dort zu Mittag, trank nicht zu wenig von dem alten Ungarwein, küßte sich beim Abschied mit dem Gutsbesitzer, mit dem er bereits auf du und du stand, und fuhr dann in vergnügtester Stimmung auf dem bodenlosen Weg wieder zurück, wobei er ununterbrochen den Kutscher zur Eile antrieb, um noch rechtzeitig zur Abendgesellschaft des Gouverneurs zu kommen.
Dann zog er sich um, parfümierte sich, goß sich kaltes Wasser über den Kopf und erschien zwar etwas spät, aber mit der immer wieder passenden Redensart: »Vaut mieux tard que jamais« bei der Frau Gouverneur.
Es war kein Ball und es war auch nicht gesagt worden, daß getanzt werden sollte, aber alle wußten, daß sich Katerina Petrowna ans Klavier setzen und Walzer und Ekossaisen spielen und daß doch getanzt werden würde, und so hatten denn alle schon darauf gerechnet und sich ballmäßig angezogen.
Das Leben in der Provinz im Jahre 1812 war genauso wie immer, nur mit dem Unterschied, daß es infolge der Anwesenheit vieler reicher Familien aus Moskau lebhafter in den kleinen Städten zuging, und daß sich auch hier wie in allem, was während dieser Zeit in Rußland vorging, ein gewisser besonderer Schwung fühlbar machte. Man sagte sich, wenn man einmal so tief in der Not stecke, komme es auf Kleinigkeiten nicht mehr an, was in allen Lebensäußerungen zum Ausdruck kam. Außerdem war in jenen faden Gesprächen, die man früher über das Wetter oder über gemeinsame Bekannte geführt hatte und ohne die manche Leute nun einmal nicht leben können, jetzt nur noch von Moskau, vom Krieg und von Napoleon die Rede.
Die Gesellschaft, die sich beim Gouverneur versammelt hatte, war die beste von Woronesch. Damen waren sehr zahlreich erschienen. Nikolaj kannte einige von ihnen von Moskau her. Unter den Herren dagegen war keiner, der mit dem Ritter des Georgskreuzes, dem Remonte-Husarenoffizier, mit dem gutmütigen und wohlerzogenen Grafen Rostow in die Schranke hätte treten können. Auch ein Gefangener war da, ein italienischer Offizier aus der französischen Armee, und Nikolaj hatte das Gefühl, als verleihe ihm die Anwesenheit dieses Gefangenen den Glorienschein eines russischen Helden. Dieser gefangene Gast stellte gewissermaßen eine Siegestrophäe dar. Nikolaj fühlte das und hatte den Eindruck, als ob alle den Italiener mit denselben Augen ansähen. Er behandelte den Offizier freundlich, aber mit Würde und Zurückhaltung.
Kaum war Nikolaj in seiner Husarenuniform eingetreten, kaum hatte er, einen Duft von Parfüm und Wein um sich verbreitend, die üblichen Worte: »Vaut mieux tard que jamais« wiederholt selber gesagt und sagen hören, als ihn bereits alle umringten und aller Augen sich auf ihn richteten. Er fühlte sogleich, daß er hier in die immer angenehme Stellung eines allgemeinen Lieblings einrückte, die ihm ja in der Provinzstadt auch zukam und ihm jetzt, nachdem er dergleichen lange entbehrt hatte, einen berauschenden Genuß bereitete. Nicht nur die Mädchen auf den Stationen, in den Gasthäusern und in der Teppichfabrik des Gutsbesitzers hatten sich geschmeichelt gefühlt, wenn er sie beachtet hatte, auch hier auf der Abendgesellschaft der Frau des Gouverneurs gab es, wie es Nikolaj schien, eine zahllose Menge hübscher Frauen und junger Damen, die mit Ungeduld nur darauf warteten, daß er ihnen seine Aufmerksamkeit zuwandte. Frauen und Mädchen kokettierten mit ihm, und die älteren Herrschaften zerbrachen sich vom ersten Tag an darüber den Kopf, wie sie diesen flotten, übermütigen Husaren verheiraten und zu einem gesetzten Provinzler machen könnten. Zu diesen letztgenannten gehörte auch die Frau des Gouverneurs selber, die Rostow wie einen nahen Verwandten aufnahm und ihn »Nicolas« und »du« nannte.
Katerina Petrowna spielte wirklich Walzer und Ekossaisen, und man fing an zu tanzen, wobei Nikolaj durch seine Gewandtheit die ganze Gesellschaft dieser Provinzler noch mehr bezauberte. Durch seine eigenartig ungezwungene Art zu tanzen setzte er alle in Erstaunen. Und auch er selber wunderte sich darüber, wie er an diesem Abend tanzte. Niemals in Moskau hatte er so getanzt und hätte sogar eine so ungezwungene Art zu tanzen dort als unpassend und mauvais genre gefunden, hier aber hatte er das Bedürfnis, alle durch etwas Besonderes in Erstaunen zu setzen, durch etwas, das sie für einen Großstadtbrauch halten sollten, der ihnen in der Provinz nur noch nicht bekannt war.
Die meiste Aufmerksamkeit schenkte Nikolaj den ganzen Abend über einer blauäugigen, vollen, reizenden Blondine, der Frau eines Gouvernementsbeamten. Mit der naiven Überzeugung lustiger junger Leute, daß die Frauen anderer für sie geschaffen seien, wich Rostow dieser Dame nicht von der Seite und zeigte sich wie auf Verabredung auch freundschaftlich gegen ihren Mann, als wüßten sie beide, wenn sie auch nicht darüber sprachen, wie prächtig sie zueinander paßten, nämlich er, Nikolaj, und die Frau dieses Mannes. Der Gatte jedoch schien diese Überzeugung nicht zu teilen und benahm sich gegen Rostow finster und ablehnend. Zwar war Nikolajs gutmütige Harmlosigkeit so grenzenlos, daß sogar der Gatte manchmal unwillkürlich in seine heitere Laune mit einstimmen mußte, doch gegen Ende des Abends wurde das Gesicht des Gouvernementsbeamten immer düsterer und unbeweglicher, je röter und angeregter das Gesicht seiner Frau wurde, als hätten sie beide nur ein bestimmtes Maß lustiger Lebendigkeit gemeinsam, das im gleichen Verhältnis, wie es bei der Frau zunahm, beim Manne abnehmen mußte.
Mit einem steten Lächeln auf den Lippen und etwas vornübergeneigt saß Nikolaj auf einem Sessel, beugte sich nahe zu der blonden Frau hinüber und sagte ihr mythologische Komplimente.
Schneidig wechselte er die Lage seiner in engen Reithosen steckenden Beine, verbreitete einen Duft von Parfüm um sich und sagte, während er bald seine Dame, bald sich selber und die elegante Form seiner Füße in den wie angegossenen Stiefeln mit wohlgefälligen Blicken betrachtete, zu der blonden jungen Frau, er habe die Absicht, hier in Woronesch eine Dame zu entführen.
»Aber wen denn?«
»Ein reizendes, göttliches Geschöpf. Augen« – Nikolaj sah seine Nachbarin an – »blau wie der Himmel, ein Mündchen wie Korallen, die Haut« – er betrachtete ihre Schultern – »weiß wie der Schnee, eine Gestalt wie Diana …«
Der Gatte trat auf sie zu und fragte finster seine Frau, wovon sie sich unterhielten.
»Ah! Nikita Iwanytsch«, sagte Nikolaj und stand höflich auf. Und wie in dem Wunsch, Nikita Iwanytsch möchte ebenfalls an seinen Scherzen teilnehmen, erzählte er auch ihm von seiner Absicht, eine Blondine zu entführen.
Der Gatte lächelte mürrisch, die Frau heiter. Da trat die gutmütige Frau des Gouverneurs mit mißbilligender Miene auf Rostow zu.
»Anna Ignatjewna möchte dich gern sprechen, Nicolas«, sagte sie und sprach die Worte »Anna Ignatjewna« so aus, daß Nikolaj sofort begriff, das müsse eine sehr angesehene Dame sein. »Komm, Nicolas! Du erlaubst doch, daß ich dich so nenne?«
»Aber gewiß, ma tante. Wer ist denn diese Dame?«
»Anna Ignatjewna Malwinzewa. Sie hat durch ihre Nichte von dir gehört, wie du diese gerettet hast … Errätst du es nun?«
»O je! Wie viele habe ich nicht gerettet!« erwiderte Nikolaj.
»Ihre Nichte ist die Prinzessin Bolkonskaja. Sie ist hier in Woronesch bei ihrer Tante. Oho, wie er da rot wird! Ist das etwa …«
»Gar nicht daran zu denken, ich bitte dich, ma tante!«
»Na, schon gut, schon gut … Oh, du Schwerenöter!«
Die Gouverneursfrau führte ihn zu einer großen, sehr starken alten Dame in einer blauen Toque, die soeben eine Kartenpartie mit den einflußreichsten Persönlichkeiten der Stadt beendet hatte. Es war Frau Malwinzewa, Prinzessin Marjas Tante mütterlicherseits, eine reiche, kinderlose Witwe, die ständig in Woronesch lebte. Sie stand da und rechnete gerade das Spiel ab, als Rostow zu ihr trat. Ernst und würdevoll kniff sie die Augen zusammen und sah ihn an, redete dabei aber immer weiter scheltend auf den General ein, der ihr das Geld abgewonnen hatte.
»Freue mich sehr, mein Lieber«, sagte sie und streckte Rostow die Hand entgegen. »Bitte, besuchen Sie mich doch einmal.«
Dann sprach die würdevolle alte Dame von Prinzessin Marja und von deren verstorbenem Vater, den sie offenbar nicht hatte leiden mögen, fragte Nikolaj, ob er etwas vom Fürsten Andrej wisse, der sich ebenfalls nicht ihrer Gunst zu erfreuen schien, und entließ ihn endlich, nachdem sie ihn nochmals aufgefordert hatte, sie doch zu besuchen.
Nikolaj versprach zu kommen und wurde wieder rot, als er sich vor Frau Malwinzewa verbeugte. Bei der Erwähnung der Prinzessin Marja hatte er ein ihm fremdes Gefühl der Befangenheit, ja fast der Furcht empfunden.
Von Frau Malwinzewa wollte Rostow sogleich zu den Tanzenden zurückkehren, aber die kleine Gouverneursfrau legte ihr molliges Händchen auf seinen Arm, sagte, sie habe ein paar Worte mit ihm zu sprechen, und führte ihn ins Diwanzimmer, wo die dort befindlichen Gäste sogleich Platz machten, um die beiden nicht zu stören.
»Weißt du, mon cher«, sagte die Frau des Gouverneurs, und ihr kleines, gutmütiges Gesicht nahm dabei einen ernsten Ausdruck an. »Das wäre wirklich eine Partie für dich. Wenn du willst, helfe ich dir dabei.«
»Wen meinen Sie denn, ma tante?« fragte Nikolaj.
»Die Prinzessin meine ich. Katerina Petrowna sagte zwar, du müßtest Lili heiraten, meiner Ansicht nach ist das aber nichts, ich bin für die Prinzessin. Willst du? Ich bin überzeugt, deine Mama würde es mir danken. Und tatsächlich, was ist das für ein reizendes Mädchen! Sie ist gar nicht so häßlich.«
»Aber ganz und gar nicht«, sagte Nikolaj, als ob er sich beleidigt fühlte. »Ich halte es, wie es einem Soldaten geziemt, ma tante: ich bettle nirgends um etwas, und nehme das, was sich mir bietet«, erwiderte Rostow, ehe er sich seine Worte noch recht überlegt hatte.
»Also denke daran: es ist kein Scherz.«
»Wie sollte das ein Scherz sein!«
»Ja, ja«, fuhr die Frau des Gouverneurs fort, als spräche sie mit sich selbst. »Und was ich noch sagen wollte, mon cher, entre autre. Du bist mir etwas zu sehr hinter der anderen, der Blonden da, her. Ihr Mann ist schon ganz verärgert, wirklich …«
»Aber nein, wir sind ja die besten Freunde«, erwiderte Nikolaj in seiner Herzenseinfalt: es kam ihm gar nicht einmal in den Sinn, daß etwas, was für ihn ein so lustiger Zeitvertreib war, für einen anderen weniger ergötzlich sein sollte.
Was habe ich doch der Frau Gouverneur für dummes Zeug gesagt? fiel ihm plötzlich beim Abendessen ein. Nun wird sie für mich vielleicht wirklich den Brautwerber spielen, und Sonja? … Als er sich dann von der Dame des Hauses verabschiedete, und sie noch einmal lächelnd zu ihm sagte: »Also, vergiß es nicht!« führte er sie beiseite.
»Sehen Sie, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ma tante …«
»Was denn, mein Lieber? Komm, setzen wir uns dorthin.«
Nikolaj fühlte plötzlich den Wunsch und das Bedürfnis, dieser fast fremden Frau alle seine Herzensgeheimnisse mitzuteilen, die er nicht einmal der Mutter, der Schwester oder einem Freund anvertraut hätte. Wenn er später an diesen durch nichts herausgeforderten Anfall einer unerklärlichen Offenherzigkeit zurückdachte, der für ihn so wichtige Folgen zeitigen sollte, kam es ihm vor, wie das ja immer zu sein pflegt, als habe er in diesem Augenblick nur einer törichten Anwandlung nachgegeben. Und doch hatte dieser Ausbruch von Offenherzigkeit mit anderen geringfügigen Ereignissen zusammen für ihn und seine ganze Familie weittragende Folgen.
»Sehen Sie, ma tante, maman will mich schon lange mit einer reichen Frau verheiraten, aber schon der Gedanke allein, nur des Geldes wegen eine Ehe einzugehen, ist mir zuwider.«
»Gewiß, gewiß; das verstehe ich«, sagte die Gouverneursfrau.
»Mit Prinzessin Bolkonskaja aber ist das etwas anderes. Erstens einmal, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, gefällt sie mir sehr gut, sie ist so ganz nach meinem Herzen. Und dann geht mir oft der Gedanke durch den Kopf, wenn ich mir überlege, in welch eigentümlicher Weise und in was für einer Lage ich mit ihr bekannt geworden bin, daß dies eine Fügung des Schicksals war. Stellen Sie sich vor: maman hat sich schon lange mit diesem Plan getragen, aber es machte sich nie, daß wir zusammenkamen, wie das manchmal so geht, wir trafen uns eben niemals. Und während meine Schwester Natascha mit ihrem Bruder verlobt war[209], wäre es für mich ja auch unmöglich gewesen, an eine Ehe mit ihr zu denken. Ich mußte sie also gerade dann erst treffen, als Nataschas Verlobung wieder aufgelöst war, und dann alles andere noch dazu … Sehen Sie, das ist es … Ich habe noch mit niemandem darüber gesprochen und werde es auch nicht tun. Ihnen allein sage ich das.«
Die Frau des Gouverneurs drückte dankbar seinen Arm.
»Kennen Sie meine Cousine Sonja? Ich liebe sie, bin mit ihr versprochen und werde sie auch heiraten … Und sehen Sie, deshalb kann von alledem für mich gar keine Rede sein …« schloß Nikolaj unvermittelt und wurde rot.
»Mon cher, mon cher, wie stellst du dir das vor? Sophie hat ja doch nichts, und du sagst doch selber, daß die Vermögensverhältnisse deines Vaters nicht gerade die besten sind. Und deine Mama? Das wäre ihr Tod. Das einmal, und dann Sophie selber: wenn sie wirklich ein Mädchen von Herz ist: was für ein Leben würde das für sie sein? Die Mutter in Verzweiflung, das Vermögen in Verfall … Nein, mon cher, das müßt ihr beide, du und Sonja, doch einsehen.«
Nikolaj schwieg. Es war ihm nicht unangenehm, diese Folgerungen zu hören.
»Und doch, ma tante, kann es nicht sein«, sagte er mit einem Seufzer, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte. »Würde mich die Prinzessin wohl auch nehmen? Sie ist ja jetzt auch in Trauer. Kann man denn da an so etwas denken!«
»Ja, meinst du denn, ich will dich von heute auf morgen verheiraten? Il y a manière et manière …«
»Was für eine vorzügliche Ehestifterin Sie sind, ma tante«, sagte Nikolaj und küßte ihr das volle Händchen.
Als Prinzessin Marja nach ihrer Begegnung mit Rostow nach Moskau gekommen war, hatte sie dort ihren Neffen mit dem Hauslehrer und einen Brief vom Fürsten Andrej vorgefunden, in dem dieser ihnen ihre weitere Marschroute nach Woronesch zur Tante Malwinzewa vorschrieb. Die Umzugssorgen, die Angst um den Bruder, das Sicheinleben in einem fremden Haus, die neuen Gesichter, die Erziehung ihres Neffen – dies alles übertäubte in Prinzessin Marjas Herzen jenes Gefühl, das sie während der Krankheit und nach dem Tod ihres Vaters und besonders nach dem Zusammentreffen mit Rostow so gepeinigt hatte und das sie für eine Versuchung hielt. Sie war traurig. Der Verlust ihres Vaters, den sie in ihrem Herzen mit dem Untergang Rußlands in Verbindung brachte, kam ihr jetzt nach den vier Wochen, die sie seit jener Zeit unter ruhigen Lebensbedingungen verbracht hatte, immer stärker und stärker zum Bewußtsein. Sie fühlte sich unruhig. Der Gedanke an die Gefahren, denen der Bruder ausgesetzt war, der einzig nahestehende Mensch, der ihr noch verblieben war, quälte sie ohne Unterlaß. Sie mühte sich mit der Erziehung ihres Neffen ab, war sich dabei aber ständig bewußt, wie wenig sie dazu befähigt war. Doch im Grund ihres Herzens war sie mit sich zufrieden, und dieses Gefühl entsprang dem Bewußtsein, daß sie alle persönlichen Träume und Hoffnungen in sich erstickt hatte, die, mit Rostows Erscheinen verknüpft, in ihr aufgekeimt waren.
Am Tag nach der Abendgesellschaft ging die Gouverneursfrau zu Frau Malwinzewa und besprach mit der Tante ihre Pläne. Sie erwähnte vorerst, daß unter den jetzigen Umständen an eine formelle Verlobung zwar nicht zu denken sei, daß man aber dennoch die jungen Leute zusammenführen könne, um ihnen Gelegenheit zu geben, einander kennenzulernen. Nachdem sie die Zustimmung der Tante eingeholt hatte, fing die Gouverneursfrau mit Prinzessin Marja über Rostow zu sprechen an, lobte ihn und erzählte, wie er bei Erwähnung der Prinzessin rot geworden sei. Doch Prinzessin Marja freute sich nicht, sondern empfand eher ein quälendes Gefühl: die innere Zufriedenheit war dahin, und wieder standen Wünsche, Zweifel, Vorwürfe und Hoffnungen in ihrer Seele auf.
Während der beiden Tage, die zwischen dieser Mitteilung und Rostows Besuch lagen, zerbrach sich Prinzessin Marja ununterbrochen den Kopf, wie sie sich gegen Rostow verhalten solle. Bald nahm sie sich vor, nicht in den Salon zu gehen, wenn er zu ihrer Tante komme, unter dem Vorwand, daß es für sie in ihrer tiefen Trauer unpassend sei, Gäste zu empfangen; bald dachte sie wieder, daß dies doch nach alldem, was er für sie getan habe, unhöflich wäre. Dann wieder kam ihr der Gedanke in den Sinn, ihre Tante und die Gouverneursfrau könnten Absichten in bezug auf sie und Rostow haben, die Blicke und Worte der beiden schienen mitunter diese Annahme zu bestätigen, doch dann glaubte sie wieder, nur sie in ihrer Verderbtheit könne so etwas von diesen beiden denken: sie müßten ja doch einsehen, daß eine solche Werbung in ihrer Lage, wo sie die tiefe Trauer noch nicht abgelegt habe, sowohl für sie als auch für das Andenken ihres Vaters beleidigend wäre. Und wenn sie sich dann vornahm, zu ihm in den Salon hineinzugehen, überlegte sie sich alle Worte, die er zu ihr und sie zu ihm sagen werde, doch alle diese Worte erschienen ihr bald unverdient kalt, bald zu vielsagend. Doch was sie mehr als alles andere fürchtete, war die Verlegenheit, die, wie sie fühlte, sie übermannen und verraten müsse, sobald sie ihn nur sehen werde.
Aber als dann am Sonntag nach der Messe der Diener im Salon meldete, daß Graf Rostow gekommen sei, zeigte sich Prinzessin Marja durchaus nicht verlegen; nur eine leichte Röte trat auf ihre Wangen, und ihre Augen erstrahlten in einem neuen, leuchtenden Glanz.
»Sie haben ihn schon gesehen, Tantchen?« fragte Prinzessin Marja mit ruhiger Stimme; sie begriff selber nicht, wie sie äußerlich so ruhig und natürlich scheinen konnte.
Als Rostow ins Zimmer trat, senkte Prinzessin Marja für einen Augenblick den Kopf, wie um dem Gast Zeit zu lassen, die Tante zu begrüßen, dann aber, im selben Augenblick, als sich Nikolaj zu ihr wandte, hob sie den Kopf wieder und begegnete seinen Blicken mit leuchtenden Augen. Mit einer Bewegung voll Anmut und Würde erhob sie sich mit freudigem Lächeln, streckte ihm ihre feine, zarte Hand entgegen und fing mit einer Stimme zu reden an, aus der zum erstenmal neue, frauenhafte, innige Töne herausklangen. Mademoiselle Bourienne, die gerade im Salon war, blickte Prinzessin Marja mit staunender Bewunderung an. Sie selber, die geschickte Kokette, hätte sich bei der Begegnung mit einem Mann, dem sie gefallen wollte, keines besseren Kunstgriffs bedienen können.
Entweder steht ihr Schwarz so gut zu Gesicht oder sie ist wirklich hübscher geworden, und ich habe es nur nicht bemerkt. Aber vor allem: dieser Takt, diese Anmut! dachte Mademoiselle Bourienne.
Wäre Prinzessin Marja in diesem Augenblick imstande gewesen, zu denken, so hätte sie sich sicherlich noch viel mehr als Mademoiselle Bourienne über die Veränderung gewundert, die mit ihr vorgegangen war.
Von dem Augenblick an, wo sie dieses hübsche, geliebte Gesicht wiedergesehen hatte, war eine neue Lebenskraft über sie gekommen und hatte sie zum Reden und Handeln gezwungen, ob sie nun wollte oder nicht. Seit Rostow eingetreten war, schien ihr Gesicht plötzlich wie umgewandelt. Wie die kunstvolle, feine, mühsame Arbeit an den Seitenwänden einer gemalten oder geschnitzten Laterne, die bis dahin grob, dunkel und zwecklos schien, plötzlich in überraschender Schönheit hervortritt, sobald man innen das Licht anzündet, so wandelte sich auch das Gesicht der Prinzessin Marja. Zum erstenmal trat die ganze rein geistige, innere Arbeit, der sie bisher ihr Leben gewidmet hatte, äußerlich zutage. Alles, was sie, stets mit sich unzufrieden, sich innerlich erarbeitet hatte, ihre Leiden, ihr Streben nach dem Guten, ihre Demut, ihre Liebe, ihre Selbstaufopferung – dies alles strahlte jetzt aus ihren leuchtenden Augen, aus ihrem feinen Lächeln, aus jedem Zug ihres zarten Gesichtes.
Rostow sah dies alles so klar, als läge ihr ganzes Leben offen vor ihm. Er fühlte, daß dieses Wesen, das da vor ihm stand, so ganz anders und besser war als alle, die er bisher getroffen hatte, und vor allem auch besser als er selber.
Ihre Unterhaltung war höchst einfach und unbedeutend. Sie sprachen vom Krieg, wobei sie unwillkürlich, wie alle, ihre Leiden bei diesem Ereignis übertrieben, sprachen von ihrem letzten Zusammentreffen – hier bemühte sich Nikolaj, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben –, sprachen von der guten Gouverneursfrau und von Nikolajs und Prinzessin Marjas Verwandten.
Prinzessin Marja sprach nicht von ihrem Bruder und lenkte das Gespräch stets auf etwas anderes, sooft die Tante von Andrej zu reden anfing. Über das Elend Rußlands konnte sie offenbar in den üblichen, gemachten Phrasen reden, doch ihr Bruder stand ihrem Herzen zu nahe, als daß sie über ihn so leichthin hätte reden wollen und können. Nikolaj bemerkte dies, wie er überhaupt bei Prinzessin Marja mit einer ihm sonst nicht eignen, scharfen Beobachtungsgabe all die feinen Charakterzüge wahrnahm, die alle in ihm nur noch mehr die Überzeugung bestätigten, daß sie ein eigenartiger, außergewöhnlicher Mensch war. Ebenso wie Prinzessin Marja wurde auch Nikolaj rot und verlegen, wenn man mit ihm von der Prinzessin sprach oder wenn er auch nur an sie dachte, war er aber mit ihr zusammen, so fühlte er sich vollkommen frei und sagte durchaus nicht, was er sich zurechtgelegt hatte, sondern stets nur, was ihm im Augenblick und immer an rechter Statt in den Sinn kam.
Als während der kurzen Zeit seines Besuches einmal für einen Augenblick eine Pause eintrat, nahm Nikolaj, wie das ja dort, wo Kinder sind, immer zu geschehen pflegt, seine Zuflucht zu dem kleinen Sohn des Fürsten Andrej, liebkoste und fragte ihn, ob er auch einmal Husar werden wolle. Er nahm den Kleinen auf den Arm, schwenkte ihn lustig hin und her und sah dabei Prinzessin Marja an. Ihr gerührter, glücklicher und schüchterner Blick folgte dem geliebten Knaben auf den Armen des geliebten Mannes. Nikolaj bemerkte auch diesen Blick, wurde, als verstünde er dessen Bedeutung, vor Freude rot und küßte den Kleinen gutmütig heiter.
Prinzessin Marja ging wegen der Trauer nicht aus, und Nikolaj hielt es nicht für passend, öfter zu ihnen zu kommen, aber die Gouverneursfrau setzte trotzdem ihre Werbetätigkeit fort, erzählte Nikolaj alles Schmeichelhafte wieder, was Prinzessin Marja über ihn gesagt hatte, und umgekehrt, und bestand endlich darauf, daß Rostow sich der Prinzessin erklären solle. Zu diesem Zweck vermittelte sie eine Begegnung der beiden jungen Leute beim Bischof vor der Messe.
Rostow sagte der Gouverneursfrau zwar, er werde sich Prinzessin Marja gegenüber nicht erklären, versprach aber dennoch zu kommen.
Ebenso wie sich Nikolaj schon in Tilsit nicht erlaubt hatte, zu zweifeln, ob das, was von allen als gut befunden wurde, wirklich auch gut war, so hielt er es auch jetzt: nach einem kurzen, aber ehrlichen Kampf zwischen dem Versuch, sein Leben nach eignem Ermessen einzurichten, und einer ergebenen Unterordnung unter die Verhältnisse wählte er die Unterordnung und überließ sich jener Gewalt, die ihn – das fühlte er – unwiderstehlich mit sich fortriß, ohne daß er wußte wohin. Er war sich bewußt, daß, wenn er jetzt, wo er mit Sonja verlobt war, der Prinzessin Marja seine Gefühle ausspräche, dies eine Handlung wäre, die er als Gemeinheit zu bezeichnen pflegte, und fühlte, daß er eine Gemeinheit niemals begehen könne. Er wußte aber ebenfalls, und wenn es ihm auch nicht klar zum Bewußtsein kam, so fühlte er es wenigstens in tiefster Seele, daß, wenn er sich jetzt der Macht der Umstände und der Menschen, die ihn leiteten, überließ, er nicht nur nichts Schlechtes begehe, sondern etwas sehr, sehr Bedeutungsvolles, etwas so Bedeutungsvolles, wie er es in seinem Leben noch nie vollbracht hatte.
Nach seinem Wiedersehen mit Prinzessin Marja war zwar seine Lebensweise äußerlich dieselbe geblieben, aber alle seine früheren Vergnügungen hatten für ihn ihren Reiz verloren. Er beschäftigte sich in Gedanken oft mit Prinzessin Marja, aber er dachte an sie niemals so, wie er ausnahmslos an alle die jungen Damen, denen er in der großen Welt begegnet war, gedacht und wie er sich lange und zu einer gewissen Zeit mit Entzücken in Gedanken mit Sonja beschäftigt hatte. Jedes dieser jungen Mädchen hatte er sich, wie fast jeder ehrenhafte junge Mann, als seine künftige Frau vorgestellt, ihm in Gedanken alle Einzelheiten des Ehelebens anprobiert: den weißen Morgenrock, die Hausfrau beim Samowar, den Wagen der gnädigen Frau, Mama und Papa, die Kinderchen, deren Verhältnis zur Mutter und so weiter, und so weiter, und diese Vorstellungen hatten ihm immer Freude bereitet. Doch wenn er an Prinzessin Marja dachte, die man mit ihm verheiraten wollte, konnte er sich aus dem künftigen Eheleben mit ihr nicht ein einziges Bild ausmalen. Sooft er es versuchte, immer kam etwas Ungereimtes und Unechtes dabei heraus, und er empfand bei diesen Gedanken nur ein beängstigendes Gefühl.
Die furchtbare Nachricht von der Schlacht bei Borodino, unseren Verlusten an Gefallenen und Verwundeten, und, was noch schrecklicher war, die Kunde von der Preisgabe Moskaus, trafen Mitte September in Woronesch ein. Prinzessin Marja hatte von der Verwundung ihres Bruders nur durch die Zeitungen gehört und keine bestimmten Nachrichten über ihn erhalten können, und schickte sich deshalb an, wie Nikolaj gehört hatte – er selber sah sie ja nicht –, ihren Bruder zu suchen.
Bei der Kunde von der Schlacht bei Borodino empfand Rostow nicht gerade Verzweiflung, Grimm, Rachedurst oder ähnliche Gefühle, aber es wurde ihm auf einmal in Woronesch langweilig und unbehaglich, als fühlte er sich beschämt und bedrückt. Alle Gespräche, die er hörte, kamen ihm gemacht vor, er wußte nicht, was für ein Urteil er sich über das Ganze bilden sollte, und fühlte, daß er sich nur bei seinem Regiment allein über dies alles klarwerden könne. Er beeilte sich, mit dem Einkaufen der Pferde fertig zu werden, und fuhr seinen Burschen und den Wachtmeister oft ungerecht hitzig an.
Einige Tage vor Rostows Abreise sollte im Dom ein Dankgebet für den Sieg, den die russischen Truppen errungen hatten, verlesen werden, und Nikolaj begab sich zur Messe dorthin. Er stand etwas hinter dem Gouverneur und wohnte mit dienstlicher Gemessenheit dem Gottesdienst bis zu Ende bei, beschäftigte sich aber während des in Gedanken mit den verschiedensten Dingen. Als die kirchliche Feier zu Ende war, rief ihn die Frau des Gouverneurs zu sich heran.
»Hast du die Prinzessin gesehen?« fragte sie und wies mit einer Kopfbewegung auf eine Dame in Schwarz, die an den Chorstufen stand.
Nikolaj erkannte sogleich Prinzessin Marja, weniger an ihrem Profil, das unter dem Hut hervorschaute, als an einem Gefühl der Rücksicht, der Bangigkeit und des Mitleids, das sich bei ihrem Anblick seiner bemächtigte. Prinzessin Marja war offenbar ganz in ihre Gedanken versunken und nahm, ehe sie die Kirche verließ, die letzten Bekreuzigungen vor.
Nikolaj betrachtete sie mit Verwunderung. Es war dasselbe Gesicht, das er schon früher gesehen hatte, derselbe Gesamtausdruck feiner, innerer, geistiger Arbeit lag auf ihm, aber die Beleuchtung war jetzt anders. Ein rührender Ausdruck von Leid, Andacht und Hoffnung prägte sich in ihren Zügen aus. Wie es Nikolaj schon früher immer in ihrer Gegenwart gegangen war, so wartete er auch jetzt den Rat der Gouverneursfrau, ob er zu ihr hingehen solle, nicht ab, fragte sich nicht erst lange, ob es gut und passend sei oder nicht, wenn er sie hier in der Kirche anrede, sondern trat auf sie zu und sagte, er habe von ihrem Kummer gehört und fühle von ganzer Seele mit ihr. Kaum hatte sie seine Stimme gehört, als sich plötzlich eine helle Röte über ihr Gesicht ergoß, die gleichzeitig ihren Kummer wie ihre Freude bestrahlte.
»Ich wollte Ihnen nur das eine sagen, Prinzessin«, fuhr Rostow fort, »wenn Fürst Andrej Nikolajewitsch wirklich nicht mehr am Leben wäre, müßte das, da er ja Regimentskommandeur ist, sogleich durch die Zeitungen bekanntgegeben worden sein.«
Prinzessin Marja sah ihn an, ohne seine Worte zu verstehen, aber der Ausdruck der Teilnahme an ihrem Leid, der auf seinem Gesicht geschrieben stand, tat ihr wohl.
»Und ich kenne so viele Fälle, daß Wunden von Granatsplittern« – so hatte es in der Zeitung gestanden – »entweder gleich tödlich oder im Gegenteil sehr leicht gewesen sind«, fuhr Nikolaj fort. »Wir müssen das Beste hoffen, und ich bin überzeugt …«
Prinzessin Marja unterbrach ihn.
»Oh, das wäre auch zu entsetz …« fing sie an, konnte aber vor Aufregung nicht zu Ende sprechen, senkte mit einer anmutigen Bewegung – wie alles, was sie in seiner Gegenwart tat, anmutig war – den Kopf, sah ihn dankbar an und ging hinter ihrer Tante her.
Am Abend dieses Tages ging Nikolaj nicht in Gesellschaft, sondern blieb zu Hause, um mit den Abrechnungen für die Pferdehändler fertig zu werden. Als er diese Arbeiten beendet hatte, war es bereits zu spät, um noch irgendwohin zu gehen, aber auch noch zu früh, um sich schlafen zu legen, und so schritt Nikolaj lange allein in seinem Zimmer auf und ab und dachte, was bei ihm selten vorkam, über sein Leben nach.
Prinzessin Marja hatte schon in Smolensk einen angenehmen Eindruck auf ihn gemacht. Daß er damals unter so eigenartigen Umständen mit ihr bekannt geworden war, wo doch schon seine Mutter ihm seinerzeit nahegelegt hatte, daß sie eine gute Partie für ihn sei, hatte zur Folge gehabt, daß er ihr besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. In Woronesch war nun während der Zeit seines Besuches dieser Eindruck nicht nur angenehm, sondern sogar sehr stark gewesen. Nikolaj war überrascht von der eigenartigen, inneren Schönheit, die er dieses Mal an ihr wahrgenommen hatte. Dennoch schickte er sich an abzureisen, und es kam ihm gar nicht in den Sinn, zu bedauern, daß ihm seine Abreise aus Woronesch jede Gelegenheit nahm, die Prinzessin zu sehen. Doch seine heutige Begegnung mit ihr in der Kirche, Nikolaj fühlte das, hatte sich tiefer in sein Herz gegraben, als er vorausgesehen hatte, tiefer, als er es um seiner Ruhe willen gewünscht hätte. Dieses blasse, feine, bekümmerte Gesicht, dieser leuchtende Blick, diese ruhigen, anmutigen Bewegungen und vor allem dieses tiefe, innige Leid, das aus jedem ihrer Gesichtszüge gesprochen hatte, hatten ihn tief ergriffen und seine Teilnahme erregt. Bei Männern konnte Rostow diesen Ausdruck eines höheren, geistigen Lebens nicht ausstehen, deshalb mochte er auch den Fürsten Andrej nicht leiden. Er nannte das geringschätzig: philosophische Schwärmerei. Doch bei Prinzessin Marja empfand er diese ihm fremde geistige Welt, die sich ihm in ihrem Herzeleid in ihrer ganzen Tiefe offenbarte, als unwiderstehlichen Reiz.
Sie muß ein wunderbares Mädchen sein. Wirklich ein Engel, sagte er sich. Warum bin ich nicht frei, warum habe ich mich mit Sonja so übereilt? Und unwillkürlich kam ihm ein Vergleich zwischen den beiden in den Sinn: bei der einen dieser Mangel, bei der anderen dieser Reichtum an geistigen Gaben, die er selber nicht besaß und deshalb so hoch schätzte. Er versuchte sich vorzustellen, was werden würde, wenn er frei wäre. Wie sollte er ihr einen Antrag machen, und wie würde sie diesen Antrag aufnehmen? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Ihm wurde bang ums Herz, und er konnte sich kein klares Bild machen. Mit Sonja hatte er sich schon längst sein Zukunftsbild ausgemalt, hier war alles so einfach, so klar, hauptsächlich deshalb, weil er es selbst ausgedacht hatte und Sonja ganz und gar kannte. Mit Prinzessin Marja aber war es ihm unmöglich, sich ein künftiges Zusammenleben auszumalen, weil er sie nicht verstand, sondern nur liebte.
Seine Träumereien von Sonja hatten immer etwas Heiteres, Spielendes gehabt. Doch an Prinzessin Marja zu denken war immer schwer und ein wenig bedrückend.
Wie sie betete! erinnerte er sich. Man sah ordentlich, wie ihre ganze Seele im Gebet aufging. Ja, das ist das Gebet, das Berge versetzt, und ich bin überzeugt, daß ihr Bitten erfüllt werden wird. Warum bete ich nicht um das, was ich brauche? fiel ihm ein. Was brauche ich denn? Meine Freiheit. Die Trennung von Sonja. Sie hat ganz richtig gesagt, er erinnerte sich an die Worte der Gouverneursfrau, wenn ich sie heirate, so kommt dabei nichts weiter heraus als Unglück, zerrüttete Verhältnisse, Mamas Jammern … verworrene Finanzen … ein furchtbares Drüber und Drunter. Und ich liebe sie nicht einmal, liebe sie nicht so, wie man lieben muß. Mein Gott! Erlöse mich aus dieser furchtbaren Lage, aus der ich keinen Ausweg weiß, fing er plötzlich an zu beten. Ja, ein Gebet kann Berge versetzen, aber man muß glauben und nicht so beten, wie wir, Natascha und ich, als Kinder beteten, daß der Schnee zu Zucker werden möchte, worauf wir dann auf den Hof hinausliefen und kosteten, ob aus dem Schnee wirklich Zucker geworden sei. Nein, aber jetzt bete ich nicht um Nichtigkeiten, sagte er, stellte die Pfeife in die Ecke, faltete die Hände und trat vor das Heiligenbild. Und noch ganz gerührt von der Erinnerung an Prinzessin Marja fing er an zu beten, wie er lange nicht gebetet hatte. Tränen standen ihm in den Augen, und ein Schluchzen befiel ihn, als plötzlich die Tür aufging und Lawruschka mit Briefen in der Hand ins Zimmer trat.
»Schafskopf! Was kommst du hereingepoltert, wenn ich dich nicht gerufen habe!« sagte Nikolaj und nahm schnell eine andere Haltung an.
»Vom Gouverneur«, meldete Lawruschka mit schläfriger Stimme. »Ein Kurier ist gekommen mit Briefen für Sie.«
»Na schön, ich danke. Kannst gehen.«
Nikolaj nahm ihm zwei Briefe ab. Der eine war von seiner Mutter, der andere von Sonja. Er erkannte sie an der Schrift und erbrach zuerst Sonjas Brief. Er hatte noch nicht die ersten Zeilen gelesen, als sein Gesicht plötzlich blaß wurde und seine Augen sich erschrocken und froh weiteten.
»Nein, das kann doch nicht sein«, sagte er laut.
Er war nicht imstande, ruhig sitzenzubleiben, und ging mit den Briefen in der Hand im Zimmer auf und ab und las sie. Er überflog den Brief, las ihn dann noch einmal und noch ein anderes Mal, zuckte die Achseln, breitete die Arme auseinander und blieb mit offenem Mund und starren Augen mitten im Zimmer stehen. Das, worum er soeben mit solcher Zuversicht, daß Gott sein Bitten erhören werde, gebetet hatte, war in Erfüllung gegangen, aber Nikolaj war darüber so verwundert, als sei das etwas Außergewöhnliches, das er niemals erwartet habe, und als beweise gerade diese schnelle Erfüllung seiner Bitte, daß dies nicht von Gott komme, den er darum gebeten hatte, sondern ein gewöhnlicher Zufall sei.
Die unlösbar scheinenden Bande, die Rostows Freiheit gefesselt hatten, wurden durch diesen unerwarteten Brief Sonjas gelöst, der, wie es Nikolaj schien, durch nichts hervorgerufen worden war. Sie schrieb, daß die letzten unglücklichen Ereignisse, wobei die Rostows doch fast ihr ganzes Vermögen in Moskau eingebüßt hätten, dann der wiederholt ausgesprochene Wunsch der Gräfin, Nikolaj möchte die Prinzessin Bolkonskaja heiraten, und auch sein Schweigen und seine Kälte in letzter Zeit sie zu dem Entschluß getrieben hätten, ihn seines Versprechens zu entbinden und ihm seine volle Freiheit wiederzugeben.
»Mir würde der Gedanke das Herz abdrücken, daß ich die Quelle des Kummers und der Zwietracht für eine Familie werden könne, die mich mit Wohltaten überhäuft hat«, schrieb sie, »und meine Liebe hat nur das eine Ziel, die, die ich liebe, glücklich zu wissen. Darum flehe ich Sie an, Nicolas, betrachten Sie sich als frei, und seien Sie überzeugt, daß Sie trotz alledem niemand stärker lieben kann als Ihre Sonja.«
Der andere Brief war von der Gräfin. Beide kamen aus Troiza. Sie schilderte darin ihre letzten Tage in Moskau, die Abreise, den Brand und den Verlust ihres ganzen Eigentums. Unter anderm schrieb sie in diesem Brief auch, daß sich unter der Zahl der Verwundeten, die mit ihnen zusammen führen, auch Fürst Andrej befinde. Sein Zustand sei sehr gefährlich, aber der Arzt meine, daß doch jetzt mehr Hoffnung sei. Sonja und Natascha seien wie Krankenpflegerinnen um ihn bemüht.
Mit diesem Brief ging Nikolaj am nächsten Tag zu Prinzessin Marja. Weder er noch sie sagten ein Wort darüber, was die Worte: »Natascha ist um ihn bemüht« bedeuten könnten, aber durch diesen Brief war Nikolaj der Prinzessin mit einemmal viel näher und fast in ein verwandtschaftliches Verhältnis zu ihr getreten.
Am nächsten Tag verabschiedete sich Rostow von Prinzessin Marja, die nach Jaroslawl fuhr, und reiste selber ein paar Tage später zu seinem Regiment ab.
Sonjas Brief an Nikolaj, der sein Gebet zur Wirklichkeit gemacht hatte, war aus Troiza geschrieben, und zwar aus folgenden Gründen: Der Gedanke, Nikolaj mit einer reichen Frau zu verheiraten, hatte die alte Gräfin mehr und mehr beschäftigt. Sie wußte, daß Sonja das Haupthindernis dafür war. Und so war für Sonja in letzter Zeit das Leben im Hause der Gräfin schwerer und schwerer geworden, besonders nach Nikolajs letztem Brief, in dem er seine Begegnung mit Prinzessin Marja in Bogutscharowo geschildert hatte. Die Gräfin ließ keine Gelegenheit vorübergehen, Sonja gegenüber beleidigende und grausame Anspielungen zu machen.
Doch wenige Tage vor ihrer Abreise aus Moskau hatte die Gräfin, durch alles, was sie erleben mußte, gereizt und aufgeregt, Sonja zu sich rufen lassen und sie, statt ihr Vorwürfe zu machen und Forderungen zu stellen, mit Tränen in den Augen gebeten, sich doch aufzuopfern und alles, was man für sie getan habe, dadurch zu vergelten, daß sie ihr Verlöbnis mit Nikolaj löse.
»Ich werde keine Ruhe finden, bis du mir das nicht versprochen hast.«
Sonja fing hysterisch zu schluchzen an und erwiderte unter Tränen, sie wolle alles tun und sei zu allem bereit; ein richtiges Versprechen jedoch legte sie nicht ab und konnte sich in ihrem Herzen zu dem, was man von ihr forderte, nicht entschließen. Sie mußte sich ja doch für das Glück der Familie, die sie erzogen und erhalten hatte, zum Opfer bringen. Sich selbst für das Glück anderer aufzuopfern war Sonja gewohnt. Ihre Stellung im Hause war so, daß sie nur auf dem Weg der Selbstaufopferung ihren Wert hatte zur Geltung bringen können, und daher war sie an Opfer gewöhnt und opferte sich gern.
Wenn sie sich früher aufgeopfert hatte, war sie sich dabei immer mit Freuden bewußt gewesen, daß sie durch diese Opfer in ihren Augen und in denen anderer im Wert stieg und dadurch ihres Nicolas, den sie über alles in der Welt liebte, immer würdiger wurde. Jetzt aber sollte nun dieses Opfer darin bestehen, auf das, was ihr der Lohn für alle Opfer und der Inhalt ihres ganzen Lebens gewesen war, zu verzichten. Und zum erstenmal in ihrem Leben empfand sie Bitterkeit gegen die Menschen, die ihr Wohltaten erwiesen hatten, um sie dann um so schmerzlicher zu quälen, fühlte Neid gegen Natascha, die nie etwas Ähnliches hatte durchmachen, niemals ein Opfer hatte bringen müssen, nur immer andere sich für sie aufopfern ließ und doch von allen geliebt wurde. Und mit einemmal fühlte Sonja, wie ihre stille, reine Liebe zu Nicolas plötzlich zu einer Leidenschaft anwuchs, die über allen Grundsätzen, Tugenden und Religionen stand, und unter dem Einfluß dieser Leidenschaft antwortete sie, die in ihrem abhängigen Leben unwillkürlich versteckt handeln gelernt hatte, der Gräfin nur in allgemeinen, unbestimmten Ausdrücken, vermied weitere Auseinandersetzungen mit ihr und faßte den Entschluß, ein Wiedersehen mit Nikolaj abzuwarten und ihm bei diesem Wiedersehen nicht etwa die Freiheit wiederzugeben, sondern ihn im Gegenteil für immer an sich zu fesseln.
Die Sorgen und Ängste der letzten Tage ihres Aufenthaltes in Moskau hatten die trüben, bedrückenden Gedanken in Sonja übertäubt. Sie war froh, durch die praktische Tätigkeit vor ihnen Ruhe zu finden. Doch als sie die Anwesenheit des Fürsten Andrej in ihrem Hause erfuhr, ergriff sie, trotz all der herzlichen Teilnahme, die sie für ihn und Natascha empfand, ein frohes, abergläubisches Gefühl, daß Gott ihre Trennung von Nicolas nicht wolle. Sie wußte, daß Natascha nur den Fürsten Andrej geliebt hatte und ihn auch jetzt noch liebte, wußte, daß beide, unter so furchtbaren Umständen wieder zusammengeführt, einander von neuem liebgewinnen mußten, und daß dann Nikolaj die Prinzessin Marja nicht heiraten könne, weil er nun doch noch mit ihr verwandt werden würde. Trotz aller grauenvollen Ereignisse in der letzten Zeit in Moskau und an den ersten Reisetagen erfreute sich Sonja dennoch an diesem Gefühl, diesem Bewußtsein, daß die Vorsehung selber in ihre persönlichen Angelegenheiten eingegriffen habe.
Den ersten Ruhetag auf ihrer Reise verbrachten die Rostows im Troizakloster. In der Herberge des Klosters waren ihnen drei große Zimmer eingeräumt worden, von denen man das eine dem Fürsten Andrej gegeben hatte. Dem Verwundeten ging es an diesem Tag bedeutend besser. Natascha war bei ihm. Im Nebenzimmer saßen Graf und Gräfin und unterhielten sich ehrerbietig mit dem Prior, der sie als alte Bekannte und Gönner aufgesucht hatte. Sonja saß auch da und empfand quälende Neugier, worüber sich wohl Fürst Andrej und Natascha unterhalten mochten. Durch die Wand hörte sie ihre Stimmen. Da ging die Tür zum Zimmer des Fürsten Andrej auf. Natascha trat mit erregtem Gesicht heraus, und ohne den Mönch zu bemerken, der zu ihrer Begrüßung aufstand und den weiten Ärmel am rechten Arm zurückschlug, lief sie auf Sonja zu und ergriff deren Hand.
»Was hast du, Natascha? Komm her«, sagte die Gräfin.
Natascha trat auf den Prior zu und empfing seinen Segen; er riet ihr, sich um Hilfe an Gott und seine Heiligen zu wenden.
Sobald der Prior hinausgegangen war, ergriff Natascha wieder Sonjas Hand und zog sie mit sich fort in das leere Zimmer.
»Sonja, ja? Wird er am Leben bleiben?« fragte sie. »Sonja, wie glücklich bin ich und wie unglücklich! Sonja, mein Täubchen, es ist wieder alles wie einst. Wenn er nur am Leben bliebe! Er kann doch nicht … weil … weil …« Natascha brach in Tränen aus.
»Siehst du! Ich habe es doch gewußt! Gott sei Dank!« stammelte Sonja. »Er wird am Leben bleiben.«
Sonja war nicht weniger erregt als ihre Freundin, sowohl durch deren Angst und Kummer als auch infolge eigner Gedanken, die sie keinem verriet. Schluchzend küßte und tröstete sie Natascha. Wenn er nur am Leben bliebe! dachte sie. Nachdem sie sich ausgeweint und ausgesprochen und die Tränen abgewischt hatten, gingen beide zu der Tür, die in das Zimmer des Fürsten Andrej führte. Natascha machte sie vorsichtig auf und schaute ins Zimmer. Sonja stand neben ihr an der halbgeöffneten Tür.
Fürst Andrej lag hochgestützt auf drei Kissen. Sein bleiches Gesicht war ruhig, die Augen geschlossen, man konnte sehen, wie gleichmäßig er atmete.
»Ach, Natascha!« schrie Sonja plötzlich auf, faßte ihre Cousine am Arm und trat von der Tür zurück.
»Was ist denn? Was?« fragte Natascha.
»Das ist ganz so, ganz so, sieh nur …« sagte Sonja mit blassem Gesicht und zitternden Lippen.
Natascha schloß leise die Tür und ging mit Sonja ans Fenster, ohne noch zu begreifen, was diese sagen wollte.
»Weißt du noch«, fing Sonja mit erschrockener, feierlicher Miene an, »weißt du noch, wie ich für dich in den Spiegel sah … in Otradnoje, zu Weihnachten … Weißt du noch, was ich da sah?«
»Ja, ja«, erwiderte Natascha mit weit offenen Augen und erinnerte sich dunkel, daß Sonja ihr damals etwas vom Fürsten Andrej gesagt hatte, den sie in liegender Stellung gesehen haben wollte.
»Weißt du noch?« rief Sonja aus. »Ich sah ihn doch damals und sagte es euch allen, dir und auch Dunjascha. Ich sah, wie er im Bett lag«, fuhr sie fort und machte bei jeder einzelnen Beschreibung eine Handbewegung mit erhobenem Finger, »wie er die Augen geschlossen hatte, mit eben einer solchen rosa Decke zugedeckt war und die Hände gefaltet hatte«, fuhr Sonja fort und war, je genauer sie die Einzelheiten beschrieb, die sie soeben wahrgenommen hatte, um so mehr davon überzeugt, daß sie schon damals dies alles gesehen hatte.
Damals hatte sie zwar nichts gesehen, sondern es nur erzählt, und zwar eben das erzählt, was ihr gerade in den Sinn gekommen war. Und nun erschien ihr das, was sie sich damals ausgedacht hatte, plötzlich ebenso wahrhaftig wie jede andere Erinnerung. Und sie erinnerte sich nicht, daß sie damals nur gesagt hatte, er sehe sich lächelnd nach ihr um und sei mit etwas Rotem bedeckt, sondern war fest davon überzeugt, daß sie schon damals gesagt und gesehen habe, er sei mit einer rosa, mit eben einer solchen rosa Decke zugedeckt und halte die Augen geschlossen.
»Ja, ja, mit eben einer solchen rosa Decke«, sagte Natascha, die sich nun ebenfalls zu erinnern glaubte, daß Sonja schon damals »rosa« gesagt hatte, und erblickte gerade darin das Seltsame und Geheimnisvolle der Prophezeiung.
»Aber was hat das zu bedeuten?« fragte Natascha nachdenklich.
»Ach, das weiß ich nicht. Wie merkwürdig das alles ist!« meinte Sonja und faßte sich an den Kopf.
Gleich darauf klingelte Fürst Andrej, und Natascha ging zu ihm hinein. Sonja aber blieb in einer Aufregung und Ergriffenheit, wie sie sie nur selten empfunden hatte, am Fenster stehen und dachte darüber nach, wie außergewöhnlich doch alles war, was sich ereignete.
An diesem Tag bot sich eine Gelegenheit, Briefe an die Armee mitzusenden, und so schrieb die Gräfin an ihren Sohn.
»Sonja«, sagte sie, als ihre Nichte an ihr vorüberging, und hob den Kopf von ihrem Brief. »Sonja, wirst du an Nikolenka schreiben?« fragte die Gräfin mit leiser, bebender Stimme.
Und aus dem Blick der müden Augen, die sie durch die Brille ansahen, las Sonja alles, was die Gräfin unter diesen Worten verstand. In diesem Blick lag sowohl Flehen als Furcht vor Sonjas ablehnender Antwort wie auch Scham darüber, daß sie bitten mußte, und Bereitschaft zu unversöhnlichem Haß, falls Sonja sich weigern sollte.
Sonja ging auf die Gräfin zu, ließ sich vor ihr auf die Knie nieder und küßte ihr die Hand. »Ja, ich werde schreiben, maman«, sagte sie.
Sonja war durch alles, was sich an diesem Tag ereignet hatte, weich gestimmt, aufgeregt und gerührt, vor allem auch durch die geheimnisvolle Verwirklichung des Orakels, die sie soeben erlebt hatte. Jetzt, wo sie wußte, daß nach dem Neuaufleben der Beziehungen zwischen dem Fürsten Andrej und Natascha Nikolaj die Prinzessin Marja ja doch nicht heiraten konnte, fühlte sie mit Freuden jene Neigung zur Selbstaufopferung in sich zurückkehren, die sie so liebte und sich zur Lebensgewohnheit gemacht hatte. Und mit Tränen in den Augen und in dem frohen Bewußtsein, eine hochherzige Handlung zu vollbringen, schrieb sie, mehrmals von Tränen unterbrochen, die ihre schwarzen Samtaugen verschleierten, jenen rührenden Brief, dessen Empfang Nikolaj wie ein Wunder empfunden hatte.
Auf der Hauptwache, wohin man Pierre abgeführt hatte, wurde er von dem Offizier und den Soldaten, die ihn gefangengenommen hatten, feindlich, aber dabei doch mit Achtung behandelt. Aus ihrem Benehmen fühlte man sowohl ihre Unsicherheit heraus, was er wohl sein möge – vielleicht war er eine sehr einflußreiche Persönlichkeit –, als auch ihre noch frische Feindseligkeit, die Folge ihres persönlichen Kampfes mit ihm.
Doch als am Morgen des nächsten Tages die Ablösung kam, fühlte Pierre, daß er für die neue Wache, für diese Offiziere und Soldaten, schon nicht mehr jene Bedeutung hatte wie für die, die ihn gefangengenommen hatten. Und tatsächlich erblickte die Wache des anderen Tages in diesem großen, dicken Mann im bäuerlichen Kaftan schon nicht mehr jenen lebensmutigen Menschen, der sich so verzweifelt mit den Plünderern und dem Trupp Soldaten herumgeschlagen und so feierliche Worte über die Rettung eines Kindes gesagt hatte, sondern ganz einfach Nummer siebzehn der gefangenen Russen, die auf höheren Befehl aus irgendeinem Grund festgehalten wurden. Wenn sie etwas Besonderes an Pierre fanden, so war es nur sein fester, nachdenklich gesammelter Gesichtsausdruck und seine Kenntnis der französischen Sprache, in der er sich zur Verwunderung der Franzosen ausgezeichnet auszudrücken verstand. Trotzdem steckte man ihn noch am selben Tag mit anderen verdächtigen Gefangenen zusammen, weil man das Einzelzimmer, das er innegehabt hatte, für einen Offizier benötigte.
Alle die Russen, die mit Pierre zusammen gefangengehalten wurden, waren Leute niedrigsten Standes. Sie witterten in Pierre den Herrn und zogen sich um so mehr von ihm zurück, weil er französisch sprach. Zu seinem Bedauern mußte er sehen, wie sie sich über ihn lustig machten.
Am folgenden Tag gegen Abend erfuhr Pierre, daß alle seine Mitgefangenen, und so wahrscheinlich auch er, wegen Brandstiftung vor Gericht gestellt werden sollten. Am dritten Tag führte man ihn mit anderen zusammen in ein Haus, wo ein französischer General mit weißem Schnurrbart, zwei Obersten und noch andere französische Offiziere mit Schärpen am Arm saßen. Mit der vermeintlich über allen menschlichen Schwächen schwebenden Bestimmtheit und Genauigkeit, mit der man Angeklagte zu behandeln pflegt, legte man Pierre ebenso wie den anderen die Fragen vor, was er sei, wo er gewesen sei, zu welchem Zweck und so weiter.
Diese Fragen, die das Wesentliche der Sache beiseite ließen und jede Möglichkeit ausschlossen, dieses Wesentliche zu enthüllen, hatten, wie alle Fragen, die vor Gericht gestellt werden, nur das eine Ziel, die Rinne zu bilden, durch die nach dem Wunsch der Richter die Antworten der Angeklagten zu fließen haben, um sie nach dem ersehnten Ziel, das heißt zur Verurteilung, zu führen. Sobald er nur etwas sagen wollte, was dem Ziel der Verurteilung nicht entsprach, wurde die Rinne weggenommen, und dann mochte das Wasser fließen, wohin es wollte. So empfand Pierre, wie jeder Angeklagte bei einer Gerichtsverhandlung, Verwunderung darüber, warum man ihm alle diese Fragen vorlegte. Er hatte die Empfindung, als bediene man sich dieses Kunstgriffs mit der vorgehaltenen Rinne nur aus Nachsicht oder aus Höflichkeit. Er wußte, daß er sich in der Gewalt dieser Menschen befand, daß nur Gewalt ihn hierher gebracht, nur Gewalt ihnen das Recht gab, von ihm Antworten auf ihre Fragen zu fordern, und daß das einzige Ziel dieses Gerichtshofes darin bestand, ihn zu verurteilen. Und da sie nun einmal die Macht und den Wunsch hatten, ihn schuldig zu sprechen, so war der ganze Apparat an Fragen und die ganze Verhandlung doch überflüssig. Es lag ja klar auf der Hand, daß alle diese Antworten zu einer Verurteilung führen mußten.
Auf die Frage, was er getan habe, als er gefangengenommen worden sei, erwiderte Pierre mit tragischer Feierlichkeit, er habe ein Kind seinen Eltern zurückgebracht, qu’il avait sauvé des flammes. Warum er auf die Plünderer losgeschlagen habe? Pierre gab zur Antwort, er habe eine Frau verteidigt, und ein schwaches Weib zu beschützen, sei die Pflicht jedes Mannes und … Man unterbrach ihn: das gehöre nicht zur Sache. Was er auf dem Hof des brennenden Hauses, wo ihn Zeugen gesehen hätten, zu suchen gehabt habe? Er antwortete, er sei nur hingegangen, um sich anzusehen, was in Moskau vorgehe. Wieder unterbrach man ihn: er sei nicht gefragt worden, warum er hingegangen sei, sondern warum er sich in der Nähe der Feuerstätte aufgehalten habe. Wer er sei? wiederholte man noch einmal die erste Frage, auf die er erwidert hatte, er könne darauf keine Antwort geben. Wieder antwortete er, das könne er nicht sagen.
»Schreiben Sie das hin. Schlimm für Sie, sehr schlimm«, sagte der General mit dem weißen Schnurrbart und dem frischen roten Gesicht in strengem Ton zu ihm.
Am vierten Tag fing es auch am Subowskijwall an zu brennen.
Mit dreizehn anderen Gefangenen wurde Pierre im Wagenschuppen eines Kaufmannshauses in der Krimfurt untergebracht. Während er durch die Straßen ging, erstickte er fast an dem Rauch, der über der ganzen Stadt zu lagern schien. Nach allen Seiten hin sah man Feuersbrünste. Pierre begriff damals noch nicht die Bedeutung der Einäscherung Moskaus und blickte mit Entsetzen auf diese Brände.
In diesem Wagenschuppen des Kaufmannshauses in der Krimfurt verlebte Pierre noch vier weitere Tage und erfuhr während dieser Zeit aus den Gesprächen der französischen Soldaten, daß alle, die sich hier in Gewahrsam befanden, dieser Tage die Entscheidung des Marschalls zu erwarten hätten. Wer dieser Marschall war, konnte Pierre aus den Soldaten nicht herauskriegen. Für sie war dieser Marschall offenbar ein erhabenes und etwas geheimnisvolles Glied der höchsten Gewalt.
Diese ersten Tage bis zum 8. September, dem Tag, an dem die Gefangenen zum zweiten Verhör geführt wurden, waren für Pierre die allerschwersten.
Am 8. September kam ein Offizier in den Schuppen, der, nach der Ehrerbietung zu urteilen, die die Wache ihm entgegenbrachte, von sehr hohem Rang sein mußte. Dieser Offizier, der offenbar dem Stab angehörte, hatte eine Liste in der Hand, und rief alle Russen mit Namen auf. Pierre nannte er dabei: celui qui n’avoue pas son nom. Er sah die Gefangenen gleichgültig und lässig an und befahl dem wachthabenden Offizier, die Russen anständig anziehen und zurechtmachen zu lassen, ehe man sie vor den Marschall führe.
Nach einer Stunde erschien eine Kompanie Soldaten, und Pierre wurde mit den dreizehn anderen auf das Jungfernfeld geführt. Es hatte geregnet, doch nun war ein klarer, sonniger Tag angebrochen. Die Luft war ungewöhnlich rein. Der Rauch lag nicht am Boden wie an jenem Tag, an dem man Pierre aus der Hauptwache am Subowskijwall fortgeführt hatte, sondern stieg in Säulen in der klaren Luft empor. Lodernde Flammen waren nirgends zu sehen, aber auf allen Seiten erhoben sich Rauchsäulen, und ganz Moskau, soweit Pierre sehen konnte, war eine einzige Brandstätte. Überall sah man öde Schutthaufen mit Öfen und Schornsteinen und hie und da die leergebrannten Mauern eines Steinhauses. Pierre sah sich die Brandstätten an und erkannte die altbekannten Stadtviertel kaum wieder. Mitunter ragte eine Kirche unversehrt aus den Trümmern. Der Kreml war nicht zerstört, und weiß blinkten schon von weitem seine Türme mit dem Iwan Weliki[210]. Ganz nah glänzte heiter die Kuppel des Neuen Jungfernklosters, und ganz besonders klangvoll ertönte von dorther das Glockengeläut. Dieses Geläut erinnerte Pierre daran, daß Sonntag war und das Fest Maria Geburt. Aber niemand schien diesen Festtag feierlich begehen zu wollen, überall sah man nur die Schutthaufen der Brandstätten, und von den russischen Einwohnern traf man nur hier und da ein paar zerlumpte, verschüchterte Gestalten, die sich beim Anblick der Franzosen verkrochen.
Es war klar, der Horst Rußlands war zerstört und vernichtet, doch Pierre fühlte unbewußt, daß an Stelle der vernichteten russischen Lebensordnung sich in diesem zerstörten Horst eine neue, andersartige eingenistet hatte: die straffe französische Lebensordnung. Er fühlte das beim Anblick der munter und lustig in strammen Reihen marschierenden Soldaten, die ihn und die anderen Verbrecher geleiteten, fühlte das beim Anblick eines hohen französischen Beamten, der ihnen in einem von Soldaten kutschierten Einspänner entgegengefahren kam, fühlte das aus den lustigen Klängen der Militärmusik, die von der linken Seite des Feldes herüberdrangen, und vor allem fühlte und begriff er es durch jene Liste, aus welcher der französische Offizier heute morgen die Namen der Gefangenen verlesen hatte. Pierre war nur von Soldaten allein gefangengenommen, mit Dutzenden anderer bald hierhin, bald dorthin gebracht worden, wie leicht hätte er da vergessen oder mit anderen verwechselt werden können. Aber nein: sogar die Antworten, die er beim Verhör gegeben hatte, kehrten ordnungsgemäß in Form der Bezeichnung: celui qui n’avoue pas son nom zu ihm zurück. Und unter dieser Bezeichnung, die für Pierre furchtbar war, führten ihn jetzt die Soldaten irgendwohin in der felsenfesten Überzeugung, wie auf ihren Gesichtern zu lesen stand, daß er und die übrigen Gefangenen eben die waren, die sie sein mußten, und nun dorthin geführt wurden, wohin sie geführt werden mußten. Pierre kam sich vor wie ein winziges Spänchen, das in das Räderwerk einer ihm unbekannten, aber zuverlässig arbeitenden Maschine geraten war.
Mit den anderen Gefangenen zusammen wurde er auf die rechte Seite des Jungfernfeldes bis zu einem großen weißen Haus mit ausgedehntem Garten in der Nähe des Klosters geführt. Es war das Haus des Fürsten Schtscherbatow, wo Pierre früher oft verkehrt hatte und wo sich jetzt, wie er aus den Gesprächen der Soldaten entnahm, der Marschall Fürst von Eckmühl einquartiert hatte.
Man führte die Gefangenen bis an die Freitreppe und von hier aus einzeln ins Haus. Pierre kam als sechster an die Reihe. Durch die Glasgalerie, den Hausflur, das Vorzimmer, die Pierre alle gut kannte, führte man ihn in ein langes, niederes Arbeitszimmer, an dessen Tür ein Adjutant stand.
Davoust, mit der Brille auf der Nase, saß am anderen Ende des Zimmers an einem Tisch, Pierre trat nahe an ihn heran. Davoust blickte nicht auf, er war sichtlich damit beschäftigt, sich über ein Schriftstück, das vor ihm lag, klar zu werden. Ohne die Augen aufzuheben, fragte er leise: »Wer sind Sie?«
Pierre gab keine Antwort, weil er nicht imstande war, ein Wort herauszubringen. Davoust war für Pierre nicht einfach ein französischer General, sondern zugleich ein Mensch, der wegen seiner Grausamkeit berüchtigt war. Während er in Davousts kaltes Gesicht blickte, der wie ein strenger Lehrer bereit war, einen Augenblick Geduld zu haben und auf eine Antwort zu warten, fühlte Pierre, daß jede Sekunde des Zögerns ihn das Leben kosten könne. Doch er wußte nicht, was er sagen sollte. Das zu wiederholen, was er beim ersten Verhör angegeben hatte, konnte er sich nicht entschließen, doch seinen Namen und Stand zu nennen, war nicht nur beschämend, sondern auch gefährlich. Er schwieg. Aber noch ehe Pierre Zeit gehabt hatte, einen Entschluß zu fassen, hob Davoust den Kopf, schob die Brille auf die Stirn, kniff die Augen zusammen und sah Pierre aufmerksam an.
»Ich kenne diesen Menschen«, sagte er in kaltem, gemessenem Ton und rechnete offenbar damit, daß Pierre darüber erschrecken werde.
Der kalte Schauer, der Pierre erst über den Rücken gelaufen war, erfaßte jetzt seinen Kopf, so daß er das Gefühl hatte, als würde dieser fest zusammengepreßt.
»Mon général, Sie können mich gar nicht kennen, ich habe Sie nie gesehen …«
»Es ist ein russischer Spion«, sagte Davoust zu einem anderen General gewandt, der ebenfalls im Zimmer war, den aber Pierre noch nicht bemerkt hatte.
Davoust wandte sich ab. Da fing Pierre mit unerwartetem Ungestüm plötzlich an hastig zu reden.
»Non, monseigneur«, sagte er, da ihm plötzlich einfiel, daß Davoust ja Herzog war, »non, monseigneur, Sie können mich gar nicht kennen. Ich bin Landsturmoffizier und habe Moskau nicht verlassen.«
»Ihr Name?« fragte Davoust noch einmal.
»Besuchow.«
»Wer beweist mir, daß Sie die Wahrheit sagen?«
»Monseigneur!« rief Pierre nicht in beleidigtem, aber in flehendem Ton.
Davoust hob die Augen und blickte Pierre aufmerksam an. Einige Sekunden sahen sie einander an, und dieser Blick war Pierres Rettung. Dieser Blick knüpfte, trotz Krieg und Gericht, zwischen diesen beiden Männern menschliche Beziehungen. Beide durchlebten in diesem Augenblick unklar eine lange Reihe von Empfindungen, und wurden sich bewußt, daß sie beide Menschenkinder, Brüder waren.
Auf den ersten Blick, als Davoust kaum den Kopf von seiner Liste aufgehoben hatte, wo Leben und Taten eines Menschen nichts als Nummern waren, war ihm Pierre nur als Ding erschienen, und er hätte sich kein Gewissen daraus gemacht, ihn erschießen zu lassen. Jetzt aber erblickte er einen Menschen in ihm. Er dachte einen Augenblick nach.
»Wie können Sie mir beweisen, daß das, was sie sagen, wahr ist?« fragte er dann kalt.
Pierre dachte an Remballe und nannte dessen Namen, Regiment und die Straße, wo das Haus lag.
»Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben«, sagte wieder Davoust.
Mit zitternder, stockender Stimme führte Pierre Beweise für die Richtigkeit seiner Aussage an.
Doch in diesem Augenblick trat der Adjutant ein und meldete Davoust irgend etwas.
Bei der Nachricht, die der Adjutant ihm überbrachte, fing Davoust plötzlich an zu strahlen und knöpfte sich den Uniformrock zu. Er hatte offenbar Pierre ganz vergessen.
Als der Adjutant ihn an den Gefangenen erinnerte, wurde er wieder finster, wies auf Pierre hin und befahl, ihn abzuführen. Wohin er aber geführt werden sollte, erfuhr Pierre nicht: ob in den Schuppen zurück oder auf die schon vorbereitete Richtstätte, die ihm seine Gefährten gezeigt hatten, als sie über das Jungfernfeld gingen.
Er wandte den Kopf zurück und sah, daß der Adjutant noch etwas fragte.
»Oui, sans doute«, antwortete Davoust, was er aber damit gemeint hatte, darüber war sich Pierre nicht klar.
Pierre wußte nicht, wie, wie lange und wohin er ging. In einem Zustand völliger Geistesabwesenheit und Abstumpfung bewegte er, ohne etwas um sich herum zu sehen, ebenso wie die anderen die Füße und blieb ebenso stehen, wenn alle anderen stehenblieben.
Während dieser Zeit hatte Pierre nur einen einzigen Gedanken im Kopf. Es war der Gedanke: Wer, wer hatte ihn denn eigentlich zum Tod verurteilt? Es waren nicht jene Leute gewesen, die ihn in der Sitzung vernommen hatten, von denen hatte es offenbar keiner tun wollen und auch nicht tun können. Auch Davoust war es nicht gewesen, der ihn so menschlich angesehen hatte. Noch einen Augenblick, und Davoust hätte eingesehen, daß sie ein Unrecht begingen, aber diesen Augenblick hatte der eintretende Adjutant verhindert. Auch dieser Adjutant wollte offenbar nichts Böses, er hätte ebenso auch nicht eintreten können. Wer war es also, der ihn bestrafte, tötete, seines Lebens beraubte, seines Lebens mit allen seinen Erinnerungen, seinem Streben, seinen Hoffnungen und Grübeleien? Wer tat das? Und Pierre fühlte, daß es niemand war.
Es war die Ordnung, das Zusammentreffen von Umständen.
Irgendeine Ordnung tötete ihn, Pierre, beraubte ihn seines Lebens, nahm ihm alles, vernichtete ihn.
Von dem Haus des Fürsten Schtscherbatow wurden die Gefangenen gerade hinunter auf das Jungfernfeld geführt, etwas links vom Jungfernkloster, bis zu einem Platz, wo ein Pfahl errichtet war. Hinter dem Pfahl war die Erde zu einer großen Grube frisch ausgegraben, und um die Grube und den Pfahl herum stand eine vielköpfige Menschenmenge. Diese Menge bestand aus nur wenigen Russen, aber einer großen Anzahl zusammengelaufener Napoleonischer Soldaten: Deutscher, Italiener und Franzosen in den verschiedensten Uniformen. Rechts und links vom Pfahl standen in Reih und Glied französische Soldaten in blauen Uniformen mit roten Achselstücken, Stiefeletten und Tschakos.
Man stellte die Verbrecher in der bestimmten Reihenfolge, wie sie in der Liste standen, auf – Pierre war der sechste – und führte sie bis an den Pfahl. Plötzlich ertönten auf beiden Seiten Trommelwirbel, und Pierre fühlte, wie dieser Klang seine Seele in Stücke riß. Er war nicht mehr imstande zu denken und zu überlegen, er konnte bloß noch hören und sehen. Er hatte nur noch den einen Wunsch, daß das Schreckliche, das geschehen mußte, recht bald geschehen möchte. Er sah sich nach seinen Leidensgenossen um und betrachtete sie.
Die beiden ersten in der Reihe waren Zuchthäusler mit geschorenen Köpfen, der eine groß und hager, der andere ein schwarzer, struppiger, muskulöser Mensch mit breitgedrückter Nase. Der dritte war ein Hausmeister von etwa fünfundvierzig Jahren mit grauem Haar und dickem wohlgenährtem Leib, der vierte ein Bauer, ein sehr schöner Mann mit breitem blondem Bart und schwarzen Augen. Der fünfte war ein Fabrikarbeiter, ein magerer, gelber Bursche von achtzehn Jahren im Arbeitskittel.
Pierre hörte, daß die Franzosen berieten, wie man sie erschießen solle: je einen oder je zwei auf einmal. »Je zwei«, bestimmte der rangälteste Offizier kalt und ruhig. Eine Bewegung lief durch die Reihen der Soldaten, und man merkte, daß sie es alle sehr eilig hatten. Aber sie beeilten sich nicht so, wie man es tut, um ein allen verständliches Werk zu vollbringen, sondern so, wie man hastet, um eine unangenehme, unbegreifliche, aber nicht zu umgehende Sache zu Ende zu führen.
Ein französischer Beamter mit einer Schärpe trat an die rechte Spitze der Verbrecherreihe und verlas das Urteil in russischer und französischer Sprache.
Darauf traten zwei Paar Franzosen auf die Verbrecher zu und ergriffen auf Befehl des Offiziers die beiden Zuchthäusler, die als die ersten in der Reihe standen. Die Zuchthäusler schritten auf den Pfahl zu, blieben dann stehen und schauten sich, während man die Säcke herbeibrachte, nach den Soldaten um, wie ein angeschossenes Wild den herannahenden Jäger anblickt. Der eine bekreuzigte sich ununterbrochen, der andere kratzte sich den Rücken und bewegte die Lippen, was wie ein Lächeln aussah. Die Soldaten fingen mit eiligen Händen an, ihnen die Augen zu verbinden, die Säcke über den Kopf zu ziehen und sie an den Pfahl zu fesseln.
Zwölf Schützen, das Gewehr in der Hand, traten mit gemessenen festen Schritten aus den Reihen vor und machten acht Schritt vom Pfahl entfernt halt. Pierre wandte sich ab, um das nicht zu sehen, was nun kam. Plötzlich ertönte ein Krachen und Dröhnen, das Pierre lauter schien als der furchtbarste Donner. Er sah sich um. Alles war in Rauch gehüllt, und die Franzosen machten sich mit bleichen Gesichtern und zitternden Händen an der Grube zu schaffen. Die zwei nächsten wurden vorgeführt. Mit denselben Blicken sahen sich auch diese beiden um, flehten schweigend und nur mit den Augen vergeblich um Schutz und begriffen und glaubten offenbar noch nicht, was kommen sollte. Sie konnten es nicht glauben, weil nur sie wußten, was ihnen das Leben war, und konnten deshalb auch weder begreifen noch für möglich halten, daß man es ihnen nehmen könne.
Pierre wollte nicht hinsehen und wandte sich wieder ab. Abermals schlug ein furchtbares Krachen an sein Ohr, und gleichzeitig erblickte er wieder Rauchwolken und Blut und die bleichen, entsetzten Gesichter der Franzosen, die wieder am Pfahl etwas taten und einander mit zitternden Händen stießen. Pierre blickte schweratmend ringsum, als wolle er fragen: Was soll dies alles? Und dieselbe Frage lag auch in den Augen all derer, denen Pierre mit seinen Blicken begegnete.
Auf allen diesen Gesichtern der Russen, der französischen Söldlinge und Offiziere las er ohne Ausnahme denselben Schrecken, dasselbe Grauen, denselben Kampf, kurz alles, was auch sein Herz erfüllte. Aber wer tut das nun eigentlich? Sie alle leiden ebenso wie ich. Wer tut es? Wer tut es? blitzte es für einen Augenblick in Pierres Seele auf.
»Tirailleurs du 86ième en avant!« schrie jemand. Der fünfte, der neben Pierre gestanden hatte, wurde allein vorgeführt. Pierre verstand nicht, daß er gerettet war, daß er und die übrigen nur hierhergeführt worden waren, um der Todesstrafe beizuwohnen. Mit immer größer werdendem Entsetzen blickte er, ohne Freude oder Beruhigung zu empfinden, auf das, was geschah. Der fünfte war der Fabrikarbeiter im Arbeitskittel. Als man ihn anfaßte, sprang er vor Entsetzen zurück und klammerte sich an Pierre. Pierre erbebte und machte sich von ihm los. Der Arbeiter war nicht imstande zu gehen. Sie packten ihn unter den Armen und schleppten ihn hin, wobei er irgend etwas schrie. Als man ihn bis zum Pfahl geschafft hatte, wurde er auf einmal still. Er schien plötzlich etwas zu begreifen. Ob er nun einsah, daß sein Schreien umsonst war, oder es für unmöglich hielt, daß diese Menschen ihn töteten, genug, er stand ruhig am Pfahl, wartete, daß man ihm, wie den anderen, die Augen verbinde, und schaute sich wie ein angeschossenes Wild mit glänzenden Augen um.
Pierre konnte es nicht mehr über sich gewinnen, sich abzuwenden und die Augen zu schließen. Seine Neugier und Erregung hatten, ebenso wie die der Menge, bei diesem fünften Mord den Höhepunkt erreicht. Ganz wie die anderen schien auch dieser fünfte ruhig zu sein: er zog seinen Kittel zu und rieb das eine nackte Bein am andern.
Als ihm die Augen verbunden wurden, brachte er selbst den Knoten am Hinterkopf in Ordnung, weil er ihn drückte, ließ sich dann, als man ihn gegen den blutigen Pfahl lehnen wollte, an diesen zurückfallen, da ihm aber diese Lage unbequem war, verbesserte er sie, stellte die Beine gleichmäßig nebeneinander und lehnte sich dann ruhig an. Pierre verwandte kein Auge von ihm, so daß ihm nicht die geringste seiner Bewegungen entging.
Jetzt mußte das Kommando ertönen, und nach dem Kommando die Schüsse aus acht Gewehren knattern. Aber so sehr sich Pierre dann auch daran zu erinnern bemühte, er hatte nicht das leiseste Geräusch von Schüssen vernommen. Er sah nur, wie der Fabrikarbeiter plötzlich aus irgendeinem Grund über die Stricke hinsank, wie sich an zwei Stellen Blut zeigte, wie die Stricke unter der Last des herabhängenden Körpers locker wurden und der Fabrikarbeiter mit unnatürlich vorgeneigtem Kopf und zusammengeknickten Beinen kauernd zu Boden sank. Pierre lief auf den Pfahl zu. Niemand hielt ihn zurück. Erschrockene, bleiche Soldaten machten sich um den Erschossenen zu schaffen. Einem alten, bärtigen Franzosen zitterte der Unterkiefer, als er die Stricke abnahm. Der Körper sank nun ganz herab. Ungeschickt und hastig schleppten ihn die Soldaten hinter den Pfahl und stießen ihn in die Grube.
Alle schienen sich ohne Zweifel bewußt zu sein, daß sie Verbrecher waren, die so schnell wie möglich die Spuren ihres Verbrechens tilgen mußten.
Pierre blickte in die Grube und sah, wie der Fabrikarbeiter mit bis fast an den Kopf hinaufgebogenen Knien dalag, die eine Schulter höher als die andere. Und diese Schulter hob und senkte sich krampfhaft und gleichmäßig. Aber schon schippten sie Schaufeln voll Erde über den ganzen Körper. Einer der Soldaten schrie Pierre ärgerlich, grimmig und gereizt zu, er solle zurücktreten. Doch Pierre verstand ihn nicht, blieb am Pfahl stehen, und niemand jagte ihn weg.
Als die Grube ganz zugeschüttet war, ertönte ein Kommando. Pierre wurde auf seinen Platz zurückgeführt, und die französischen Soldaten, die zu beiden Seiten des Pfahles in Reih und Glied gestanden hatten, machten eine halbe Wendung und fingen an, in gemessenen Schritten an dem Pfahl vorbeizumarschieren. Die vierundzwanzig Schützen mit entladenen Gewehren, die in der Mitte des Kreises standen, kehrten im Laufschritt an ihre Plätze zurück, als ihre Kompanien an ihnen vorüberzogen.
Mit verständnislosen Blicken sah Pierre auf die Schützen hin, die je zwei und zwei aus dem Kreis herausliefen. Alle hatten sich wieder ihren Kompanien angeschlossen bis auf einen. Dieser, ein junger Soldat mit leichenblassem Gesicht, stand, den Tschako zurückgeschoben und die Flinte gesenkt, noch immer der Grube gegenüber an dem Platz, von wo aus er geschossen hatte. Er wankte wie ein Trunkener und machte bald ein paar Schritte nach vorn, bald ein paar nach hinten, um seinen taumelnden Körper aufrechtzuhalten. Ein alter Unteroffizier lief aus den Reihen, packte den jungen Soldaten an der Schulter und zog ihn zur Kompanie zurück. Die Menge der Russen und Franzosen fing an, sich zu zerstreuen. Alle gingen schweigend und mit gesenkten Köpfen auseinander.
»Das wird sie lehren, was Brandstiften heißt«, sagte einer der Franzosen.
Pierre sah sich nach dem Sprecher um und sah, daß dies ein Soldat war, der sich über das Geschehene irgendwie trösten wollte, es aber doch nicht fertigbrachte. Ohne zu Ende zu sprechen, machte er eine Bewegung mit der Hand und ging weiter.
Nach der Hinrichtung wurde Pierre von den übrigen Gefangenen getrennt und allein in einer zerstörten, schmutzigen Kirche untergebracht.
Gegen Abend kam der wachthabende Unteroffizier mit zwei Soldaten in die Kirche und erklärte Pierre, daß er begnadigt sei und jetzt in die Baracken zu den Kriegsgefangenen komme. Ohne zu begreifen, was man zu ihm sagte, stand Pierre auf und ging mit den Soldaten hinaus.
Sie brachten ihn zu den hölzernen Schuppen, die sie oberhalb des Feldes aus angekohlten Brettern, Balken und Pfosten errichtet hatten, und führten ihn in einen von ihnen hinein. Dort im Dunkeln fühlte sich Pierre sogleich von etwa zwanzig Menschen umringt. Er sah sie an, ohne zu begreifen, was das für Leute waren, warum sie sich hier befanden und was sie von ihm wollten. Er hörte wohl die Worte, die sie sprachen, konnte aber keinerlei Schlüsse und Folgerungen daraus ziehen, da er ihren Sinn nicht verstand. Er antwortete auf das, was man ihn fragte, achtete aber nicht darauf, ob jemand auf ihn hörte, oder wie man seine Antworten aufnahm. Er blickte auf ihre Gesichter und Gestalten, und alle erschienen ihm gleich unverständlich.
In dem Augenblick, als Pierre den furchtbaren Mord mit angesehen hatte, der von Leuten begangen worden war, die dies gar nicht gewollt hatten, war gleichsam aus seiner Seele plötzlich die Feder herausgerissen, die das Ganze stützte und in Gang hielt, und alles zu einem Haufen sinnloser Trümmer zusammengestürzt. Ohne daß er sich darüber Rechenschaft abzulegen vermochte, war in ihm der Glaube an die Weltordnung, an die Menschheit, an seine eigne Seele und an Gott zunichte geworden. Diesen Zustand hatte Pierre schon früher erlebt, aber nie in solcher Stärke wie jetzt. Wenn ihn früher solche Zweifel befallen hatten, so waren sie aus eigner Schuld entsprungen. Und in tiefster Seele hatte er dann gefühlt, daß die Rettung aus Verzagtheit und allen Zweifeln einzig und allein aus ihm selbst kommen konnte. Jetzt aber war er sich bewußt, daß nicht eignes Verschulden die Ursache gewesen war, daß die Welt vor ihm zusammengestürzt und zu einem einzigen Trümmerhaufen geworden war. Und darum fühlte er auch, daß es nicht in seiner Macht stand, zum Glauben an das Leben zurückzukehren.
Um ihn herum in der Dunkelheit standen viele Menschen, die sich offenbar für irgend etwas an ihm sehr interessierten. Sie erzählten ihm etwas, fragten ihn etwas, führten ihn dann irgendwohin, und schließlich sah er sich in der Ecke der Baracke neben einer Gruppe Menschen, die herüber und hinüber redeten und lachten.
»Und nun paßt auf, Kameraden … derselbe Prinz, welcher …« erzählte eine Stimme in der anderen Ecke der Baracke und betonte dabei besonders das Wort »welcher«.
Stumm und unbeweglich saß Pierre auf dem Stroh an der Wand und schloß bald die Augen, bald schlug er sie wieder auf. Aber sobald er die Augen schloß, sah er immer wieder das furchtbare, eben durch seinen harmlosen Ausdruck besonders furchtbare Gesicht des Fabrikarbeiters vor sich und die in ihrer Unruhe noch furchtbareren Gesichter seiner unfreiwilligen Mörder. Und so schlug er wieder die Augen auf und starrte verständnislos in die Dunkelheit.
Neben ihm saß zusammengekauert ein kleiner Mensch, dessen Anwesenheit Pierre zuerst durch den starken Schweißgeruch wahrgenommen hatte, den jener bei jeder Bewegung ausströmte. Dieser Mann machte sich in der Dunkelheit an seinen Beinen zu scharfen, und obgleich Pierre sein Gesicht nicht sehen konnte, fühlte er doch, daß dieser ihn unverwandt anstarrte. Pierre spähte durch die Dunkelheit und erkannte, daß sich dieser Mann die Schuhe auszog, und die Art, in der er dies tat, fesselte Pierres Aufmerksamkeit.
Nachdem er die Schnur gelöst hatte, die um das eine Bein gewickelt war, legte er diese Schnur sorgfältig zusammen und machte sich dann sogleich an das andere Bein, wobei er Pierre fortwährend ansah. Während er mit der einen Hand die Schnur aufhängte, fing er mit der anderen schon an, die zweite Schnur abzuwickeln. Und so zog er sorgsam mit runden, zweckdienlichen Bewegungen, die ohne Verzögerung aufeinander folgten, seine Schuhe aus und hängte sie an Pflöcke, die hinter ihm eingeschlagen waren. Dann zog er ein kleines Taschenmesser heraus, schnitt etwas ab, klappte es wieder zusammen, legte es unter sein Kissen, umfaßte, um besser zu sitzen, seine hochgezogenen Knie mit beiden Händen und starrte nun Pierre ganz offen an. Diese zweckdienlichen Bewegungen, mit denen sich dieser Mensch in seiner Ecke so ordentlich und häuslich einrichtete, ja sogar seinen Geruch, empfand Pierre als etwas Abgerundetes, Angenehmes und Beruhigendes. Ohne ein Auge von ihm zu verwenden, beobachtete er ihn.
»Sie haben wohl viel Schlimmes mit ansehen müssen, Herr? Was?« fragte plötzlich der kleine Mann.
Es lag ein so freundlicher, schlichter Ausdruck in seiner singenden Stimme, daß Pierre ihm antworten wollte, aber sein Unterkiefer zitterte, und er fühlte, daß ihm die Tränen kamen. Doch der kleine Mann fuhr sogleich, ohne Pierre Zeit zu lassen, seiner Bewegung Ausdruck zu verleihen, mit derselben angenehmen Stimme fort.
»Ei, mein Falke, laß doch den Kopf nicht hängen«, sagte er mit derselben zärtlich singenden Freundlichkeit, mit der alte Weiber in Rußland zu reden pflegen. »Nur nicht den Kopf hängen lassen, Freundchen: das Leid ist kurz, das Leben lang! So ist es doch, mein Lieber. Und hier, Gott sei Dank, tut uns keiner was. Auch unter ihnen gibt es gute und schlechte Menschen«, sagte er, bog sich, noch während er sprach, mit einer gewandten Bewegung auf die Knie, stand auf und ging hüstelnd weg.
»Sieh mal an, Schelm, da bist du ja!« hörte Pierre am andern Ende der Baracke seine freundliche Stimme. »Na, Schelm, fällt es dir wieder mal ein zu kommen? Na, na, schon gut.«
Und der Soldat stieß ein kleines Hündchen zurück, das an ihm in die Höhe sprang, kehrte auf seinen Platz zurück und setzte sich wieder hin. In der Hand hielt er etwas, das in einen Lappen eingewickelt war.
»Hier, essen Sie, Herr«, sagte er, indem er wieder zu seinem früheren, ehrerbietigen Ton zurückkehrte. Dann wickelte er den Lappen auf und reichte Pierre einige gebratene Kartoffeln. »Heute mittag gab es Suppe. Aber die Kartoffeln sind ausgezeichnet!«
Pierre hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und der Duft der Kartoffeln schien ihm höchst angenehm. Er bedankte sich bei dem Soldaten und fing an zu essen.
»Wie machst du denn das?« sagte der Soldat lächelnd und nahm eine der Kartoffeln. »Siehst du, so mußt du sie essen.«
Er zog wieder sein Taschenmesser hervor, schnitt auf der Handfläche die Kartoffel in zwei gleiche Hälften, schüttete aus dem Lappen Salz darauf und reichte sie Pierre hin.
»Die Kartoffeln sind ausgezeichnet«, sagte er noch einmal. »Aber so mußt du sie essen.«
Pierre schien es, als habe er niemals ein köstlicheres Gericht gegessen.
»Nein, mir haben sie nichts angetan«, erzählte Pierre. »Aber warum haben sie nur diese Unglücklichen erschossen? Der letzte war noch nicht zwanzig Jahre alt …«
»Pst … Pst …« machte der kleine Mann. »Das ist verboten, das ist verboten«, fügte er hastig hinzu. Es schien, als habe er seine Worte immer im Mund bereit, bis sie ihm dann unversehens entflatterten. Dann fuhr er fort: »Aber warum sind Sie denn in Moskau geblieben, Herr?«
»Ich dachte nicht, daß sie schon so bald kommen würden. Ich bin ganz zufällig dageblieben«, sagte Pierre.
»Aber wie haben sie dich denn festgenommen, mein Falke? In deinem Haus?«
»Nein, ich ging nur nach der Feuerstätte hin, und dort haben sie mich aufgegriffen und wegen Brandstiftung vor Gericht gestellt.«
»Richter und Gericht – kennen die Wahrheit nicht«, schaltete der kleine Mann ein.
»Bist du schon lange hier?« fragte Pierre, während er die letzte Kartoffel aufaß.
»Ich? Vorigen Sonntag haben sie mich aus dem Lazarett in Moskau rausgeschleppt.«
»Was bist du denn? Soldat?«
»Ja, vom Apscheroner Regiment. Bin bald umgekommen vor Fieber. Und nichts hatten sie uns gesagt. Wir lagen dort an die zwanzig Mann. Keine Ahnung hatten wir, keinen blassen Schimmer.«
»Sag mal, grämst du dich sehr, daß du hier bist?« fragte Pierre.
»Wie sollte mich das nicht grämen, Kamerad? Ich heiße Platon Karatajew«, fügte er, offenbar in der Absicht, Pierre die Anrede zu erleichtern, fort. »Beim Militär nannten sie mich den ›Falken‹. Wie sollte mich das nicht grämen, Kamerad? Moskau ist doch die Mutter unserer Städte. Wie sollte ich das ohne Gram mit ansehen? Aber der Wurm zernagt den Kohl und stirbt doch früher als der, so pflegten schon unsere Väter zu sagen«, fügte er schnell hinzu.
»Wie? Was hast du gesagt?« fragte Pierre.
»Ich?« fragte Karatajew zurück. »Ich meinte: der Mensch denkt, Gott lenkt«, sagte er in dem Glauben, das zu wiederholen, was er soeben gesagt hatte, und fuhr dann sogleich fort: »Sie haben wohl gar ein Erbgut, Herr? Und ein eignes Haus? Und sicher alle Kammern und Speicher voll! Und eine Frau? Leben denn die alten Eltern noch?« stellte er Frage auf Frage.
Und obgleich Pierre ihn in der Dunkelheit nicht sehen konnte, fühlte er doch, daß sich die Lippen des Soldaten, während er diese Fragen stellte, zu einem verhaltenen Lächeln zärtlichen Wohlwollens verzogen. Er war sichtlich bekümmert darüber, daß Pierre keine Eltern, vor allem keine Mutter mehr hatte.
»Die Frau zum Rate, die Schwiegermutter zur Parade, doch das Herzliebste allerwärts, das ist und bleibt das Mutterherz«, sagte er. »Haben Sie denn auch Kinder?« fuhr er zu fragen fort.
Pierres verneinende Antwort bekümmerte ihn offenbar abermals, aber er fügte schnell hinzu: »Ach was, ihr seid ja noch junge Leute, da wird euch Gott schon noch welche schenken. Nur immer hübsch in Frieden leben …«
»Nun ist ja alles einerlei«, entfuhr es Pierre unwillkürlich.
»Ach ja, mein Lieber«, erwiderte Platon, »für Bettelstab und Kerkergrab es noch niemals ein Heilkraut gab.«
Er setzte sich bequemer hin, hüstelte und bereitete sich sichtlich auf eine lange Erzählung vor.
»Siehst du, mein lieber Freund, damals lebte ich noch zu Hause«, fing er an. »Wir hatten ein reiches Erbgut, viel Land, den Bauern ging es gut, und das Haus war unser, Gott sei Dank. Ihrer sechs gingen mit dem Vater aufs Feld. Wir lebten gut, waren rechte Christen. Da kam …«
Und Platon Karatajew erzählte eine lange Geschichte, wie er einmal beim Holzholen in einen fremden Wald geraten und dem Aufseher in die Hände gefallen sei, und wie man ihn dann ausgepeitscht, vor Gericht gestellt und unter die Soldaten gesteckt habe.
»Und siehst du, mein Falke«, sagte er mit einer Stimme, die durch sein Lächeln ganz verändert klang, »sie gedachten es böse mit mir zu machen, und doch gereichte es mir zum Glück. Der Bruder hätte zu den Soldaten gemußt, wenn ich es nicht wegen meines Vergehens geworden wäre. Und mein jüngerer Bruder hatte doch ein halbes Dutzend Kinder, und ich, siehst du, ließ nur eine Soldatenfrau zurück. Wir hatten ein kleines Mädchen gehabt, aber das hatte Gott schon vorher zu sich genommen, ehe ich Soldat wurde. Da komme ich mal auf Urlaub nach Hause, weißt du, und sehe: die leben jetzt besser als früher. Der Hof ist voll Vieh, das Haus voller Weiber, zwei Brüder gehen auf Arbeit. Nur Michael, der Jüngste, ist zu Hause. Da sagt der Vater: ›Alle meine Kinder sind mir gleich lieb, was für einen Finger man auch abhackt, es tut gleich weh. Hätte man Platon damals nicht den Kopf geschoren, hätte Michael Soldat werden müssen.‹ Und er ruft alle zusammen, glaube mir, und läßt sie vor die Heiligenbilder hintreten. ›Michael‹, sagt er, ›komm her, verbeuge dich vor deinem Bruder bis auf die Erde, und du, Weib, tu es auch, und auch ihr, Enkelkinder. Verstanden?‹ sagt er. Ja, ja, mein lieber Freund. Das Schicksal sucht sich schon immer den richtigen Kopf zum Abhauen. Wir aber bekritteln immer nur alles. Das ist nicht gut und jenes ist nicht schön. Mit unserm Glück, Freundchen, ist es wie mit dem Fischnetz im Wasser, schleppt man’s hinter sich her, scheint’s aufgebauscht und schwer, ziehst du’s raus, kommt nicht viel heraus. So ist es.«
Und Platon rückte auf seinem Stroh in eine andere Lage, schwieg eine Weile und stand dann auf.
»Nicht wahr? Ich denke, du willst jetzt schlafen?« sagte er und fing an, sich hastig zu bekreuzigen, wobei er vor sich hinmurmelte: »Herr Gott, Jesus Christus, heiliger Nikola, Frola und Lawra[211]! Herr Jesus Christus, heiliger Nikola, Frola und Lawra! Herr Jesus Christus, erbarme dich unser und sei uns gnädig«, schloß er, verbeugte sich bis zur Erde, stand auf, seufzte und setzte sich wieder auf sein Stroh.
»So. Laß, lieber Gott, mich jetzt schlafen wie tot und morgen frisch sein wie neugebacknes Brot«, murmelte er, legte sich hin und zog den Mantel über den Kopf.
»Was war das für ein Gebet, das du eben gesprochen hast?« fragte Pierre.
»Was?« machte Platon. Er schlief schon halb. »Was ich gesprochen habe? Ich habe gebetet. Betest du denn nicht?«
»Doch, ich bete auch«, sagte Pierre. »Aber du sagtest doch Frola und Lawra?«
»Nun ja«, erwiderte Platon schnell, »heute ist doch der Tag der Pferde. Auch für sein Vieh muß man ein Herz haben … Ei, sieh mal an, Schelm, hast dich wohl hier zusammengerollt? Ist wohl schön warm hier, du Hundeseele«, sagte er, als er den Hund an seinen Füßen fühlte. Dann drehte er sich wieder um und war sogleich eingeschlafen.
Draußen in der Ferne hörte man irgendwo Weinen und Schreien, und durch die Ritzen des Holzschuppens leuchtete der Feuerschein, aber in der Baracke war es still und finster. Pierre konnte lange nicht einschlafen und lag mit offenen Augen in der Dunkelheit auf seinem Lager, lauschte auf das gleichmäßige Schnarchen Platons, der neben ihm lag, und fühlte, wie die vorher zerstörte Welt jetzt in neuer Schönheit und auf neuer unerschütterlicher Grundlage in seiner Seele erstand.
In der Baracke, in die man Pierre geschafft hatte und in der er nun vier Wochen lang bleiben sollte, befanden sich dreiundzwanzig gefangene Soldaten, drei Offiziere und zwei Beamte. Sie alle sah Pierre in seinem Gedächtnis später nur wie durch einen Nebel, nur Platon Karatajew blieb auf immer in seinem Herzen als die stärkste, liebste Erinnerung, als Verkörperung alles dessen, was gut und harmonisch im russischen Volk ist.
Als Pierre am nächsten Tag beim Morgengrauen seinen Nachbarn betrachtete, wurde sein erster Eindruck, der Eindruck von etwas Abgerundetem, voll bestätigt: die ganze Gestalt Platons in seinem mit einem Strick umgürteten Franzosenmantel, seiner Mütze und seinen Bastschuhen hatte etwas Rundliches. Der Kopf war vollkommen rund, Rücken, Brust, Schultern waren rund, auch die Arme, die er so hielt, als wollte er immer jemanden umfangen, waren rund, und sogar sein freundliches Lächeln und seine großen, braunen, zärtlichen Augen schienen rund.
Platon Karatajew mußte, nach seinen Erzählungen von den Feldzügen zu urteilen, die er als langjähriger Soldat mitgemacht hatte, schon über fünfzig Jahre alt sein. Wie alt er eigentlich war, wußte er selber nicht und konnte es in keiner Weise bestimmt angeben. Aber seine weißen und starken Zähne, die, wenn er lachte – und das geschah nicht selten –, in zwei Halbkreisen vollzählig zu sehen waren, waren alle noch gut und heil, in seinem Bart und an seinen Schläfen zeigte sich noch nicht ein graues Haar, und sein ganzer Körper erweckte den Eindruck der Biegsamkeit und vor allem der Festigkeit und Ausdauer.
Sein Gesicht trug trotz der kleinen rundlichen Fältchen den Ausdruck der Unschuld und Jugendlichkeit; seine Stimme war angenehm und singend. Aber die Haupteigentümlichkeit seiner Rede bestand in ihrer Unmittelbarkeit und Schlagfertigkeit. Er dachte anscheinend niemals darüber nach, was er sagte oder sagen wollte, und deshalb wirkte die Schnelligkeit und Sicherheit seiner Redeweise besonders unwiderstehlich und überzeugend.
Seine physischen Kräfte und seine Rührigkeit waren in der ersten Zeit der Gefangenschaft so groß, daß es schien, als könne er gar nicht begreifen, was Müdigkeit und Krankheit seien. Jeden Abend, wenn er sich hinlegte, betete er: »Laß, lieber Gott, mich schlafen jetzt wie tot und morgen frisch sein wie neubacknes Brot.« Und früh, wenn er aufstand, reckte er immer in gleicher Weise die Schultern und sagte: »Hingelegt und krumm gelehnt – aufgestanden: ausgedehnt.« Und wirklich brauchte er sich nur hinzulegen, um sofort wie ein Toter zu schlafen, und sich morgens nur zu recken, um sogleich, ohne einen Augenblick zu verlieren, irgendeine Arbeit in Angriff nehmen zu können, wie Kinder, sobald sie aufgestanden sind, gleich nach dem Spielzeug greifen.
Er konnte alles, nicht gerade gut, aber auch nicht schlecht. Er buk, kochte, nähte, hobelte, besserte Stiefel aus. Immer war er beschäftigt und erlaubte sich nur am späten Abend ein kleines Gespräch, was er so gern mochte, oder ein Lied. Er sang seine Lieder nicht so, wie Sänger singen, die wissen, daß man ihnen zuhört, sondern so, wie die Vögel singen, und augenscheinlich nur aus dem Grund, weil solche Töne von sich zu geben ihm ebenso ein Bedürfnis war, wie man manchmal das Bedürfnis empfindet, sich auszustrecken oder auf und ab zu gehen. Sein Gesang war immer fein, zart, fast frauenhaft, hatte etwas Wehmütiges, und sein Gesicht sah dabei immer ernst aus.
Seit er in Gefangenschaft geraten und ihm der Bart wieder gewachsen war, hatte er offenbar alles angelernte Fremde und Soldatenhafte von sich geworfen und war zu seiner früheren ländlichen, volkstümlichen Art zurückgekehrt.
»Ist der Soldat zurück aus der Fremd’, zieht er die Hosen wieder unters Hemd«, pflegte er zu sagen.
Über seine Soldatenzeit sprach er nur ungern, obgleich er sich nie beklagte und oft wiederholte, daß er während seiner ganzen Dienstzeit nicht ein einziges Mal Schläge bekommen habe. Wenn er zu erzählen anfing, so kam er vorzugsweise auf seine alten Erinnerungen aus dem Bauernleben, die ihm offenbar besonders teuer waren, zu sprechen. Die sprichwörtlichen Wendungen, die in seinen Gesprächen massenhaft vorkamen, waren nicht jene größtenteils unanständigen und schnoddrigen Redensarten, die bei Soldaten üblich sind, sondern jene volkstümlichen Ausdrücke, die einzeln genommen höchst unbedeutend scheinen, aber plötzlich tiefen Sinn erhalten, wenn sie an der rechten Stelle angebracht werden.
Oft behauptete er genau das Gegenteil dessen, was er vorher gesagt hatte, aber recht hatte er sowohl das eine wie das andere Mal. Er sprach gern und gut und schmückte seine Rede mit Koseformen und Sprichwörtern, die er sich, wie es Pierre vorkam, oft selber ausdachte. Doch der Hauptreiz seiner Erzählungen bestand darin, daß in seinen Schilderungen die schlichtesten Ereignisse, oft dieselben, die Pierre, ohne sie zu bemerken, mit angesehen hatte, das Gepräge einer erhabnen Schönheit erhielten.
Er lauschte gern den Märchen, die ein Soldat immer abends zu erzählen pflegte – es waren immer ein und dieselben –, doch lieber noch hörte er Schilderungen aus dem wirklichen Leben. Wenn er solche Erzählungen hörte, lächelte er froh, schaltete hier und da etwas ein und stellte Fragen, um die Schönheit des Erzählten noch klarer hervortreten zu lassen. Neigungen, Freundschaft, Liebe, wie sie Pierre auffaßte, waren Karatajew unbekannt, aber er liebte alle und zeigte sich liebreich gegen alles, womit ihn das Leben zusammenführte, vor allem gegen die Menschen, und zwar nicht gegen bestimmte Menschen, sondern gegen alle, die gerade um ihn waren. Er liebte seinen Hund, liebte seine Kameraden, liebte die Franzosen und liebte Pierre, seinen Nachbarn. Aber Pierre fühlte, daß Karatajew trotz all seiner freundlichen Zärtlichkeit gegen ihn, durch die er unwillkürlich Pierres geistigem Leben die schuldige Achtung erwies, über eine Trennung von ihm keinen Augenblick bekümmert sein würde. Und ganz das gleiche Gefühl begann nun auch Pierre für Karatajew zu empfinden.
Platon Karatajew war für alle übrigen Gefangenen ein ganz gewöhnlicher Soldat; sie nannten ihn den »Falken« oder Platoscha, hänselten ihn gutmütig und schickten ihn, wenn etwas zu holen war. Doch für Pierre blieb er auf immer, was er ihm am ersten Abend gewesen war: die unfaßbare, harmonische, ewige Verkörperung des Geistes der Einfalt und Wahrheit.
Platon Karatajew wußte nichts auswendig als sein Gebet. Wenn er seine Reden anfing, wußte er – so schien es – anfänglich noch nicht, womit er enden werde.
Wenn Pierre, durch den Sinn seiner Worte überrascht, ihn manchmal bat, das Gesagte zu wiederholen, konnte sich Platon nie erinnern, was er einen Augenblick vorher gesagt hatte, ebenso wie er Pierre niemals die Worte seines Lieblingsliedes hersagen konnte. Es kam darin vor: »Heimat« und »Birkenwäldchen« und »wie schlecht geht es mir«, aber aus diesen Worten kam dann nie ein rechter Sinn heraus. Er verstand nicht den Sinn der Sätze, die einzeln aus der Rede herausgegriffen waren, und konnte ihn auch nicht verstehen. Jedes seiner Worte und jede seiner Handlungen war die Kundgebung einer ihm unbekannten wirkenden Kraft, und diese Kraft war sein Leben. Doch sein Leben, wie er es selber sah, hatte als Einzelleben keinen Sinn. Es hatte nur Sinn als Teil des großen Ganzen, dessen er sich immer bewußt war. Seine Worte und Handlungen entquollen ihm ebenso gleichmäßig, notwendig und unmittelbar, wie der Duft der Blume entströmt. Er vermochte weder den Wert noch die Bedeutung eines einzeln genommenen Wortes oder einer herausgerissenen Handlung zu begreifen.
Nachdem Prinzessin Marja von Nikolaj die Nachricht erhalten hatte, daß sich ihr Bruder mit den Rostows in Jaroslawl befinde, traf sie sogleich, wenn auch die Tante ihr abriet, alle Vorbereitungen zur Abreise, und zwar nicht nur für sich, sondern auch für ihren Neffen. Ob es beschwerlich war oder nicht, überhaupt möglich oder nicht, danach fragte sie nicht und wollte es nicht wissen: es war ihre Pflicht, nicht nur selber bei ihrem Bruder zu sein, der möglicherweise im Sterben lag, sondern auch alles, was in ihren Kräften stand, zu tun, um ihm sein Söhnchen zuzuführen, und so bereitete sie alles zur Abreise vor. Daß Fürst Andrej ihr selber keine Nachricht gegeben hatte, erklärte sich Prinzessin Marja entweder damit, daß er zum Schreiben zu schwach sei, oder damit, daß er die lange Reise für sie und seinen Sohn für zu beschwerlich und gefahrvoll hielt.
Wenige Tage später schickte sich Prinzessin Marja an abzureisen. An Fuhrwerken hatte sie den ungeheuer großen Wagen des Fürsten, in dem sie nach Woronesch gekommen war, eine Britschka und einen Gepäckwagen. Mit ihr zusammen fuhren Mademoiselle Bourienne, Nikoluschka mit dem Hauslehrer, die alte Kinderfrau, drei Zofen, Tichon, ein junger Diener und ein Heiduck, den ihr die Tante mitgegeben hatte.
Den gewöhnlichen Weg über Moskau zu fahren, daran war gar nicht zu denken, und der Umweg, den Prinzessin Marja deshalb über Lipezk, Rjasan, Wladimir und Schuja machen mußte, war sehr lang und beschwerlich, weil man nicht überall Postpferde erhalten konnte, und bei Rjasan, wo sich, wie es hieß, schon die Franzosen zeigten, war er sogar gefährlich.
Während dieser mühsamen Reise staunten Mademoiselle Bourienne, Dessalles und die Dienerschaft über Prinzessin Marjas innere Festigkeit und Spannkraft. Sie legte sich später schlafen und stand früher auf als die anderen, und keine Schwierigkeit vermochte sie zurückzuhalten. Dank ihrer unermüdlichen Energie, die auch ihre Reisegefährten frisch erhielt, kamen sie nach fast vierzehn Tagen in die Nähe von Jaroslawl.
Während der letzten Zeit ihres Aufenthaltes in Woronesch hatte Prinzessin Marja das größte Glück ihres Lebens empfunden. Ihre Liebe zu Rostow quälte und erregte sie nun nicht mehr. Sie erfüllte ihre ganze Seele, war ein untrennbarer Teil ihrer selbst geworden, und sie kämpfte nun nicht mehr dagegen an. Sie war in der letzten Zeit sicher gewesen, obgleich sie sich das nie in klaren und bestimmten Worten eingestand, daß sie liebte und geliebt wurde. Davon hatte sie sich bei ihrem letzten Zusammensein mit Nikolaj überzeugt, als er gekommen war, um ihr mitzuteilen, daß sich ihr Bruder bei den Rostows befinde. Nikolaj hatte mit keinem Wort darauf angespielt, daß jetzt, falls Fürst Andrej wieder genesen sollte, die früheren Beziehungen zwischen ihm und Natascha erneuert werden könnten, aber Prinzessin Marja hatte es ihm angesehen, daß er es wußte und daran gedacht hatte. Und sein rücksichtsvolles, zartes und liebreiches Benehmen gegen sie war nicht nur unverändert geblieben, sondern er schien sich sogar darüber zu freuen, daß die Verwandtschaft mit Prinzessin Marja ihm erlaube, ihr freier seine freundschaftliche Liebe zu zeigen, wie sie manchmal glaubte. Sie wußte, daß sie zum erstenund letztenmal in ihrem Leben liebte und geliebt wurde, und war glücklich und ruhig in diesem Gefühl.
Aber dieses reine Glück ihrer Seele hinderte sie nicht, den Schmerz um ihren Bruder in ganzer Stärke zu empfinden, im Gegenteil, der Friede ihrer Seele in dieser Hinsicht steigerte noch ihre Fähigkeit, sich dem Gefühl für ihren Bruder hinzugeben. Und dieses Gefühl war im ersten Augenblick der Abreise aus Woronesch so stark, daß ihre Begleiter beim Anblick ihres gequälten, verzweifelten Gesichtes überzeugt waren, sie müsse unbedingt unterwegs krank werden. Aber gerade die Beschwerden und Sorgen der Reise, die sie mit solcher Anspannung auf sich nahm, retteten Prinzessin Marja während dieser Zeit vor ihrem Kummer und verliehen ihr Kraft.
Wie das immer auf Reisen zu gehen pflegt, dachte sie während der Fahrt nur immer an die Reise als solche und vergaß ganz deren Zweck. Doch als sie sich Jaroslawl näherte, und das wieder unmittelbar vor ihre Seele trat, was ihr vielleicht bevorstand, und zwar nicht mehr in Tagen, sondern schon heute abend, erreichte Prinzessin Marjas Erregung den Höhepunkt.
Als der Heiduck, den man vorausgeschickt hatte, um in Erfahrung zu bringen, wo die Rostows in Jaroslawl Quartier genommen hatten, und wie sich Fürst Andrej befinde, am Schlagbaum auf die große einfahrende Kutsche zutrat, erschrak er beim Anblick des entsetzlich bleichen Gesichtes der Prinzessin, das ihm aus dem Kutschenfenster entgegenblickte.
»Ich habe alles erfahren, Euer Durchlaucht. Die Rostows wohnen am Markt, im Haus des Kaufmanns Bronnikow. Es ist nicht weit von hier, ganz an der Wolga«, sagte der Heiduck.
Prinzessin Marja sah ihm erschrocken und fragend ins Gesicht und begriff nicht, warum er auf die Hauptfrage, wie es ihrem Bruder gehe, keine Antwort brachte. Da trat Mademoiselle Bourienne für die Prinzessin mit dieser Frage an ihn heran.
»Was macht der Fürst?« fragte sie.
»Seine Durchlaucht wohnen mit ihnen im selben Haus.«
Also ist er noch am Leben, dachte Prinzessin Marja und fragte leise: »Wie geht es ihm?«
»Die Leute sagen: es ist immer dasselbe.«
Was das zu bedeuten hatte: »Es ist immer dasselbe«, danach wollte Prinzessin Marja nicht fragen. Sie warf nur unbemerkt einen flüchtigen Blick auf den siebenjährigen Nikoluschka, der ihr gegenübersaß und sich über die Stadt freute, dann senkte sie den Kopf und hob ihn erst wieder, als die schwerfällige Kutsche ratternd, schütternd und schaukelnd irgendwo anhielt. Polternd wurde der Tritt herabgeschlagen.
Der Wagenschlag wurde aufgemacht. Links sah man Wasser, einen großen Fluß, rechts eine Freitreppe. Auf dieser Freitreppe standen Leute, Bediente und ein rotbäckiges junges Mädchen mit großem, schwarzem Zopf, das, wie es der Prinzessin schien, unangenehm gezwungen lächelte. Es war Sonja. Die Prinzessin lief die Treppe hinauf, das gezwungen lächelnde junge Mädchen sagte: »Bitte hier, hier!« und Prinzessin Marja sah sich in einem Vorzimmer einer alten Dame von orientalischem Typus gegenüber, die mit gerührtem Gesicht schnell auf sie zukam. Es war die alte Gräfin. Sie umarmte Prinzessin Marja und küßte sie.
»Mon enfant!« sagte sie. »Ich kenne und liebe Sie schon seit langer Zeit.«
Trotz all ihrer Erregung begriff Prinzessin Marja, daß dies die Gräfin war, und daß sie etwas zu ihr sagen mußte. Ohne selber zu wissen wie, stammelte sie ein paar höfliche Worte auf französisch in demselben Ton, in dem sie angeredet worden war, und fragte dann: »Wie geht es ihm?«
»Der Arzt meint, es sei keine Gefahr mehr«, sagte die Gräfin, schlug aber, während sie dies sagte, seufzend die Augen gen Himmel, und in dieser Gebärde lag ein Ausdruck, der ihren Worten widersprach.
»Wo ist er? Kann ich ihn sehen?« fragte die Prinzessin.
»Sogleich, Prinzessin, sofort, mein Liebchen. Dies ist wohl sein Söhnchen?« fragte sie und sah Nikoluschka an, der mit Dessalles hereintrat. »Wir bringen alle unter, das Haus ist groß. Ach, was für ein entzückender Knabe!«
Die Gräfin führte die Prinzessin in den Salon. Sonja unterhielt sich mit Mademoiselle Bourienne. Die alte Dame liebkoste den Knaben. Der Graf trat ein und begrüßte die Prinzessin. Seit sie ihn das letztemal gesehen hatte, hatte er sich außerordentlich verändert. Damals war er ein flotter, lustiger, selbstbewußter alter Herr gewesen, jetzt erschien er als beklagenswerter, gebrochener alter Mann. Während er sich mit der Prinzessin unterhielt, sah er sich fortwährend um, als wolle er alle fragen, ob das, was er sagte und tat, auch richtig sei. Nachdem Moskau und all sein Hab und Gut verloren und er aus dem gewohnten Geleise gerissen war, hatte er sichtlich das Bewußtsein seiner Bedeutung verloren und fühlte nun, daß er keinen rechten Platz mehr im Leben hatte.
Obgleich die Prinzessin nur von dem einen Wunsch beseelt war, ihren Bruder so bald wie möglich zu sehen, und sich darüber ärgerte, daß man sich in diesem Augenblick, wo sie nur das eine wollte: ihn sehen, mit ihrer Person beschäftigte und ihren Neffen übertrieben verhätschelte, beobachtete sie doch alles, was um sie herum vorging, und sah die Notwendigkeit ein, sich zunächst dieser neuen Hausordnung, in die sie so plötzlich geraten war, zu fügen. Sie wußte, daß dies nicht anders ging, und wenn es ihr auch schwer fiel, war sie doch den Rostows darum nicht böse.
»Das ist meine Nichte«, sagte der Graf und stellte Sonja vor. »Kennen Sie sie schon, Prinzessin?«
Prinzessin Marja ging auf sie zu und küßte sie, bemüht, das feindselige Gefühl zu unterdrücken, das sich in ihr gegen dieses Mädchen erheben wollte. Aber es wurde ihr schwer ums Herz, weil die Stimmung aller, die sie umgaben, so weit entfernt war von dem, was ihre Seele erfüllte.
»Wo ist er?« fragte sie noch einmal, an alle gewandt.
»Er ist unten. Natascha ist bei ihm«, antwortete Sonja und wurde rot. »Wir haben schon hinuntergeschickt. Sind Sie nicht sehr müde, Prinzessin?«
Der Prinzessin traten Tränen des Unwillens in die Augen. Sie wandte sich ab und wollte eben noch einmal die Gräfin fragen, wie sie zu ihm hinkommen könne, als sie in der Tür leichte, eilige, gleichsam frohe Schritte hörte. Die Prinzessin sah sich um und erblickte Natascha, die fast angerannt kam, dieselbe Natascha, die ihr bei ihrem Besuch damals in Moskau so wenig gefallen hatte.
Aber die Prinzessin hatte kaum einen Blick auf das Gesicht dieser Natascha geworfen, als sie auch schon erkannt hatte, daß diese ihre aufrichtigste Gefährtin im Leid und daher ihre Freundin war. Sie eilte ihr entgegen, umarmte sie und fing an ihrer Schulter an zu weinen.
Natascha, die am Bett des Fürsten Andrej gesessen hatte, hatte kaum von der Ankunft der Prinzessin gehört, als sie leise aus dem Zimmer geschlichen und mit jenen leichten, eiligen Schritten zu ihr gelaufen war, die der Prinzessin Marja so froh erschienen waren.
Als sie ins Zimmer gelaufen kam, trug ihr erregtes Gesicht nur den einen Ausdruck der Liebe, der grenzenlosen Liebe zu ihm, zu ihr und zu allem, was dem geliebten Mann nahestand, den Ausdruck des Schmerzes und Leides um andere und des leidenschaftlichen Wunsches, sich ganz hinzugeben, um ihnen zu helfen. Man sah, daß in diesem Augenblick kein Gedanke an sich selbst, an ihre Beziehungen zu ihm, in ihrer Seele war.
Die feinfühlige Prinzessin Marja sah dies alles auf den ersten Blick auf Nataschas Gesicht und weinte sich mit schmerzlicher Wonne an ihrer Schulter aus.
»Kommen Sie, kommen Sie zu ihm, Marie«, sagte Natascha und zog sie mit sich in das andere Zimmer.
Prinzessin Marja hob das Gesicht, wischte sich die Tränen ab und wandte sich Natascha zu. Sie wußte, daß sie von ihr alles erfahren und verstehen werde.
»Was …« wollte sie zu fragen anfangen, hielt aber plötzlich inne. Sie fühlte, daß es unmöglich war, mit Worten zu fragen und zu antworten. Das Gesicht und die Augen Nataschas würden ihr alles viel klarer und tiefer sagen.
Natascha sah sie an und schien in Angst und Zweifel zu sein, ob sie ihr alles, was sie wußte, sagen solle oder nicht. Aber es war, als fühlte sie, daß sie vor diesen leuchtenden Augen, die ihr bis tief ins Herz drangen, die ganze Wahrheit sagen mußte, alles wie sie es selber sah. Nataschas Lippen fingen plötzlich an zu zittern, häßliche Falten zeigten sich um ihren Mund, und sie brach in Schluchzen aus und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
Prinzessin Marja verstand alles.
Aber trotzdem hoffte sie noch und fragte in Worten, an die sie nicht glaubte: »Aber wie ist denn seine Wunde? Wie ist sein Zustand überhaupt?«
»Sie … Sie … werden sehen …« konnte Natascha nur hervorbringen.
Sie blieben noch einige Zeit unten neben seinem Zimmer sitzen, um ihrer Tränen Herr zu werden und mit ruhigen Gesichtern zu ihm hineinzugehen.
»Wie ist denn die ganze Krankheit verlaufen? Geht es ihm schon lange so schlecht? Wann ist das eingetreten?« fragte Prinzessin Marja.
Natascha erzählte, zuerst habe er wegen des dauernden Fiebers und der großen Schmerzen in Gefahr geschwebt, aber das sei in Troiza vorübergegangen. Dann habe der Arzt nur eines befürchtet: den Wundbrand. Aber auch diese Gefahr sei vorbei. Als sie nach Jaroslawl gekommen seien, habe die Wunde zu eitern angefangen – Natascha kannte jetzt alles, was Eiterungen und dergleichen betraf –, aber der Arzt habe gesagt, diese Eiterung könne normal verlaufen. Dann sei wieder Fieber eingetreten, doch der Doktor habe gemeint, dieses Fieber sei nicht gefährlich.
»Aber vor zwei Tagen«, fing Natascha wieder an, »trat das plötzlich ein …« sie hielt ihr Schluchzen zurück. »Ich weiß nicht, woher es kam … aber Sie werden sehen, wie er ist.«
»Er ist wohl ganz schwach, ganz mager geworden?« fragte Prinzessin Marja.
»Nein, das nicht, schlimmer. Sie werden sehen. Ach, Marie, er ist zu gut, er kann nicht, kann nicht leben, weil …«
Als Natascha mit gewohntem Griff die Tür zum Zimmer des Fürsten Andrej öffnete und Prinzessin Marja vorausgehen ließ, fühlte diese, wie ihr ein Schluchzen die Kehle zuschnürte. So sehr sie sich auch vorbereitet hatte und bemühte, ruhig zu scheinen, so wußte sie doch, daß sie nicht imstande sein werde, ihn ohne Tränen wiederzusehen.
Prinzessin Marja konnte sich wohl denken, was Natascha meinte, als sie gesagt hatte: »Vor zwei Tagen trat das plötzlich ein …« Sie glaubte, das solle bedeuten, er sei plötzlich weich geworden, und diese Weichheit, diese gerührte Stimmung seien Vorzeichen seines Todes. Als sie in die Tür trat, sah sie im Geist schon das Gesicht Andrjuschas vor sich, wie sie es aus ihrer Kindheit kannte, das zärtliche, sanfte, gerührte Gesicht, das er so selten gezeigt und das deshalb immer um so stärker auf sie gewirkt hatte. Sie wußte, daß er sanfte, zärtliche Worte zu ihr sprechen werde, wie sie der Vater vor seinem Tod zu ihr gesagt hatte, und daß sie dies nicht ertragen und in Schluchzen ausbrechen werde. Aber früher oder später mußte es doch nun einmal sein, und so trat sie ins Zimmer. Das Schluchzen schnürte ihr mehr und mehr die Kehle zu, während sie mit ihren kurzsichtigen Augen immer klarer und deutlicher seine Gestalt sah und seine Züge zu unterscheiden suchte, und auf einmal sah sie sein Gesicht, und ihre Augen begegneten einander.
In seinem Schlafrock aus Eichhörnchenpelz lag er auf einem Diwan, weich in Kissen gebettet. Er sah mager und blaß aus. In der einen durchsichtig weißen Hand hielt er sein Taschentuch, mit der anderen strich er mit einer leisen Bewegung der Finger über seinen feinen, jetzt lang gewachsenen Schnurrbart. Seine Augen blickten auf die Eintretenden.
Als Prinzessin Marja sein Gesicht sah und seinen Augen begegnete, mäßigte sie plötzlich die Schnelligkeit ihrer Schritte und fühlte, daß ihre Tränen jäh versiegten und ihr Schluchzen aufhörte. Nachdem sie den Ausdruck seines Gesichtes und Blickes gesehen hatte, wurde sie auf einmal befangen und fühlte sich schuldig.
Aber wodurch habe ich mich denn schuldig gemacht? fragte sie sich.
Dadurch, daß du lebst und an einen Lebenden denkst, während ich … antwortete ihr ein kalter, strenger Blick.
In dem tiefen Blick des Fürsten Andrej, der nicht aus sich heraus, sondern in sich hinein schaute, lag fast etwas Feindseliges, als er ihn langsam auf seine Schwester und Natascha richtete.
Er küßte sich Hand in Hand mit der Schwester, wie sie das immer zu tun pflegten.
»Guten Tag, Marie, wie kommst du denn hierher?« fragte er, und seine Stimme klang ebenso gleichgültig und fremd, wie sein Blick war. Hätte er verzweifelt aufgeschrien und gestöhnt, so hätte sich Prinzessin Marja über dieses Schreien weniger entsetzt als über den Klang dieser Stimme.
»Und Nikoluschka hast du mitgebracht?« fragte er ebenso gleichmütig und langsam; es kostete ihn sichtlich Mühe, sich zu erinnern.
»Wie geht es dir jetzt?« fragte die Prinzessin Marja, selber erstaunt, daß sie sprechen konnte.
»Darüber mußt du den Arzt befragen, meine Liebe«, sagte er, sichtlich bemüht, freundlich zu sein. Er sprach nur mit dem Mund, und man sah, daß er gar nicht an das dachte, was er sagte. Dann fuhr er fort: »Merci, chère amie, d’être venue.«
Prinzessin Marja drückte ihm die Hand. Bei diesem Händedruck runzelte er kaum merklich die Stirn. Er schwieg, und auch Prinzessin Marja wußte nicht, was sie sagen sollte. Jetzt verstand sie, was seit zwei Tagen mit ihm geschehen war. Aus seinen Worten, aus dem Ton seiner Stimme und vor allem aus seinem Blick, aus diesem kalten, fast feindseligen Blick fühlte man die Abkehr von allem Irdischen heraus, die für jeden noch lebenden Menschen so furchtbar ist. Es fiel ihm sichtlich schwer, alles, was das Leben betraf, zu verstehen, und doch machte sich dabei fühlbar, daß er es nicht etwa deshalb nicht verstand, weil ihm die Kraft gefehlt hätte, sondern nur deshalb, weil er jetzt etwas anderes verstand, etwas, das die Lebenden nicht begriffen und nicht begreifen konnten und das ihn jetzt ganz erfüllte.
»Ja, das Schicksal hat uns auf eigenartige Weise wieder zusammengeführt!« sagte er, das Stillschweigen brechend, und zeigte auf Natascha. »Sie pflegt mich immer.«
Prinzessin Marja hörte und konnte es nicht fassen, was er sagte. Er, der feinfühlige, zartsinnige Fürst Andrej konnte in Anwesenheit derjenigen, die er liebte und die ihn wiederliebte, so etwas sagen. Hätte er geglaubt, am Leben zu bleiben, so hätte er das nicht in solch kaltem, beleidigendem Ton gesagt. Hätte er nicht gewußt, daß er sterben mußte, wie hätte er so wenig Mitleid mit ihr haben und so in ihrer Gegenwart reden können? Dafür gab es nur die eine Erklärung: daß ihm alles gleichgültig war, und zwar gleichgültig deshalb, weil sich ihm etwas anderes, Höheres geoffenbart hatte.
Das Gespräch war kühl und zusammenhangslos und brach jeden Augenblick ab.
»Marie ist über Rjasan gefahren«, sagte Natascha.
Fürst Andrej achtete nicht darauf, daß sie seine Schwester Marie nannte. Doch Natascha selber merkte, daß sie die Prinzessin in seiner Gegenwart zum erstenmal so genannt hatte.
»Nun, und was weiter?« fragte er.
»Man hat ihr erzählt, daß Moskau vollständig niedergebrannt sei, und daß …« Natascha hielt inne, sie war nicht imstande weiterzusprechen. Er gab sich sichtlich Mühe, ihr zuzuhören, konnte es aber trotzdem nicht.
»Ja, es soll ganz niedergebrannt sein«, sagte er. »Das ist sehr traurig …« und er fing an, vor sich hinzusehen, und strich sich mit der Hand über den Bart.
»Du hast den Grafen Nikolaj getroffen, Marie?« fragte plötzlich Fürst Andrej in dem sichtlichen Wunsch, ihnen etwas Angenehmes zu sagen. »Er hat hierher geschrieben, daß er dich sehr liebgewonnen hat«, fuhr er einfach und ruhig fort, offenbar nicht mehr imstande, alle die vielsagenden Bedeutungen, die diese Worte für lebende Menschen haben, zu verstehen. »Wenn du ihn ebenfalls lieb hast, so wäre es doch sehr gut … wenn ihr euch heiraten würdet«, fügte er etwas schneller hinzu, als freue er sich über diese Worte, die er lange gesucht und endlich gefunden hatte.
Prinzessin Marja hörte seine Worte, aber sie hatten für sie keinen anderen Sinn als den, daß sie ihr bewiesen, wie furchtbar fern er jetzt allem war, was das Leben betraf.
»Warum von mir reden!« sagte sie ruhig und sah Natascha an. Natascha fühlte diesen Blick, sah sie aber nicht an. Wieder schwiegen alle.
»Andrej, möchtest …« sagte plötzlich Prinzessin Marja mit zitternder Stimme, »möchtest du Nikoluschka sehen? Er hat die ganze Zeit immer nach dir gefragt.«
Fürst Andrej lächelte zum erstenmal kaum merklich, aber Prinzessin Marja, die sein Gesicht so genau kannte, begriff mit Entsetzen, daß dies kein Lächeln der Freude noch der Zärtlichkeit für seinen Sohn war, sondern ein feiner, milder Spott darüber, daß sie das ihrer Ansicht nach letzte Mittel anwandte, um seine Teilnahme zu erwecken.
»Ja, ich freue mich sehr auf Nikoluschka. Ist er gesund?«
Als man ihm Nikoluschka brachte, der mit erschrockenen Augen den Vater ansah, aber nicht weinte, weil es die anderen auch nicht taten, küßte ihn Fürst Andrej, wußte aber offenbar nicht, was er zu ihm sagen sollte.
Als Nikoluschka wieder hinausgeführt worden war, trat Prinzessin Marja noch einmal auf ihren Bruder zu, küßte ihn, konnte nicht länger die Tränen zurückhalten und fing an zu weinen.
Er sah sie forschend an.
»Weinst du wegen Nikoluschka?« fragte er.
Prinzessin Marja nickte bestätigend unter Tränen.
»Marie, du kennst doch das Evang…« er brach plötzlich ab.
»Was meinst du?«
»Nichts. Hier ist kein Grund zu weinen«, sagte er und sah sie wieder mit denselben kalten Blicken an.
Als Prinzessin Marja in Tränen ausgebrochen war, hatte er verstanden, daß sie darüber weinte, daß Nikoluschka nun bald keinen Vater mehr haben werde. Mit großer Anstrengung hatte er sich bemüht, zum Leben zurückzukehren und sich noch einmal auf ihren Gesichtspunkt zu stellen.
Ja, das muß ihnen auch traurig vorkommen, hatte er gedacht. Aber wie einfach ist doch dies alles.
Die Vögel unter dem Himmel säen nicht und ernten nicht, und unser himmlischer Vater nähret sie doch, hatte er zu sich gesagt und dasselbe auch Prinzessin Marja sagen wollen.
Aber nein, sie werden das auf ihre Art verstehen, werden das nicht verstehen! Das können sie nicht begreifen, daß alle diese Gefühle, die ihnen so lieb und teuer sind, alle unsere, alle diese Gedanken, die uns so wichtig scheinen, nichtig und unnütz sind. Nein, wir können einander nicht mehr verstehen. Deshalb war er plötzlich verstummt.
Der kleine Sohn des Fürsten Andrej war sieben Jahre alt. Er konnte kaum lesen und wußte noch nichts. Er erlebte noch vieles nach diesem Tag, erwarb sich Wissen, Scharfblick und Erfahrung, hätte er aber schon damals alle diese später erworbenen Fähigkeiten besessen, er hätte kein besseres, tieferes Verständnis für die ganze Bedeutung der Szene haben können, die er zwischen seinem Vater, Prinzessin Marja und Natascha mit ansah, als er es jetzt schon besaß. Er hatte alles verstanden, ging ohne zu weinen aus dem Zimmer, trat still auf Natascha zu, die ihm folgte, und sah sie schüchtern mit seinen schönen, nachdenklichen Augen an. Seine hochgezogene rote Oberlippe zuckte, er lehnte sein Köpfchen an sie und fing an zu weinen.
Seit diesem Tag mied er Dessalles, ging der Gräfin, die ihn verhätschelte, aus dem Weg und saß entweder allein oder schlich schüchtern zu Prinzessin Marja oder zu Natascha, die ihm jetzt lieber schien als seine Tante, und liebkoste sie leise und scheu.
Als Prinzessin Marja vom Fürsten Andrej herauskam, hatte sie ganz verstanden, was ihr Nataschas Gesicht vorhin gesagt hatte. Sie sprach mit ihr nicht mehr über die Hoffnung, daß sein Leben noch gerettet werden könne. Abwechselnd mit ihr saß sie neben seinem Diwan und weinte nicht mehr, betete aber ununterbrochen und wandte ihre Seele dem Ewigen, Unerreichbaren zu, dessen unmittelbare Nähe über dem Sterbenden jetzt so fühlbar war.
Fürst Andrej wußte nicht nur, daß er sterben werde, sondern fühlte auch, daß er starb und schon halb gestorben war. Er war sich seiner Abkehr von allem Irdischen bewußt und empfand eine seltsame, frohe Leichtigkeit des Seins. Ohne Erregung und Hast erwartete er, was ihm bevorstand. Das Drohende, Ewige, Unbekannte, Ferne, das er zeit seines Lebens ständig empfunden hatte, war jetzt ganz nahe gerückt und ihm, dank jener seltsamen Leichtigkeit des Seins, die ihn erfüllte, fast verständlich und fühlbar geworden …
Früher hatte er sich vor dem Tod gefürchtet. Zweimal hatte er jenes furchtbare, quälende Gefühl der Todesangst, der Angst vor dem Ende, empfunden, jetzt aber dachte er schon nicht mehr daran.
Zum erstenmal hatte er dieses Gefühl damals gehabt, als sich die Granate wie ein Brummkreisel vor ihm drehte und er das Stoppelfeld, die Sträucher und den Himmel angeblickt und gewußt hatte, daß es der Tod war, der vor ihm stand. Als er dann nach seiner Verwundung wieder zu sich gekommen war und sich plötzlich in seiner Seele, wie von der sie bedrückenden Schwere des Lebens befreit, jene Blume der ewigen, grenzenlosen, von diesem Leben unabhängigen Liebe entfaltet hatte, da hatte er den Tod nicht mehr gefürchtet und nicht mehr an ihn gedacht.
Je mehr er sich in jenen Stunden schmerzensreicher Einsamkeit und halben Fieberwahnes, die er nach seiner Verwundung durchlebte, in das Urwesen jener ihm neu erschlossenen, ewigen Liebe hineindachte, um so mehr löste er sich, ohne es zu bemerken, vom irdischen Leben los. Alle und alles lieben und immer sich selbst opfern für diese Liebe, das bedeutete, niemanden lieben, bedeutete, an diesem irdischen Leben keinen Teil haben. Und je mehr er von diesem Urwesen der Liebe durchdrungen wurde, um so mehr entfremdete er sich dem Leben und um so vollständiger vernichtete er jene furchtbare Schranke, die, wenn die Liebe fehlt, zwischen Leben und Tod steht. Wenn es ihm in jener ersten Zeit dann wieder einfiel, daß er ja sterben mußte, sagte er sich: Was schadet es? Um so besser!
Aber nach jener Nacht in Mytischtschi, als er halb wachend, halb träumend jene eine, nach der er sich gesehnt hatte, vor sich gesehen und ihre Hand an seine Lippen gedrückt hatte und in stille Freudentränen ausgebrochen war, hatte sich die Liebe zu diesem einen Weibe wieder in sein Herz geschlichen und ihn von neuem ans Leben gefesselt. Frohe, unruhige Gedanken waren ihm gekommen. Wenn er sich jetzt an jenen Augenblick auf dem Verbandplatz erinnerte, als er Kuragin gesehen hatte, konnte er nicht mehr zu jenem Gefühl der Liebe zurückkehren, ihn quälte die Ungewißheit, ob er noch am Leben war. Aber er wagte nicht, danach zu fragen.
Seine Krankheit nahm ihren physischen Verlauf, doch der Zustand, den Natascha mit: »Da trat das bei ihm ein« bezeichnet hatte, hatte sich erst zwei Tage vor Prinzessin Marjas Ankunft eingestellt. Es war der letzte innere Kampf zwischen Leben und Tod, bei dem der Tod den Sieg davongetragen hatte, das unerwartete Bewußtwerden, daß er doch noch am Leben hing, das in Gestalt der Liebe Nataschas noch einmal vor ihn hintrat, und der letzte, schließlich überwundene Anfall eines Grauens vor dem Unbekannten.
Es war an einem Abend gewesen. Wie gewöhnlich nach Tisch befand er sich in einem leichten Fieberzustand, aber seine Gedanken waren außerordentlich klar. Sonja saß am Tisch. Er war eingeschlummert. Plötzlich überkam ihn ein Glücksgefühl.
Ah, das muß sie sein, die hereingekommen ist, dachte er.
Wirklich saß jetzt an Sonjas Stelle Natascha, die eben mit unhörbaren Schritten eingetreten war. Seit der Zeit, da sie angefangen hatte, ihn zu pflegen, hatte er immer jenes körperliche Gefühl ihrer Nähe empfunden.
Sie saß auf einem Sessel, die eine Seite ihm zugewandt, so, daß sie durch ihre Gestalt das Licht der Kerze von ihm abhielt, und strickte an einem Strumpf. Sie hatte Strümpfestricken gelernt, seit Fürst Andrej einmal zu ihr gesagt hatte, niemand könne so gut Kranke pflegen wie die alten Kindermuhmen mit dem Strickstrumpf in der Hand, es liege in diesem Stricken etwas Beruhigendes. Ihre feinen Finger bewegten schnell die Nadeln, die ab und zu leise klapperten, und das nachdenkliche Profil ihres gesenkten Kopfes war ihm deutlich sichtbar. Da bewegte sie sich, das Knäuel rollte von ihren Knien. Sie zuckte zusammen, sah sich nach Fürst Andrej um, hielt die Hand vor die Kerze, beugte sich mit einer behutsamen, geschmeidigen, raschen Bewegung herab, hob das Knäuel auf und setzte sich wieder hin wie zuvor.
Er blickte sie an, ohne sich zu rühren, und sah, daß sie nach dieser Bewegung gern aus voller Brust aufgeatmet hätte, sich dies aber doch nicht getraute und nur ganz vorsichtig Atem holte.
Im Troizakloster hatten sie von der Vergangenheit gesprochen, und er hatte zu ihr gesagt, daß er, wenn er am Leben bleibe, Gott ewig für seine Verwundung danken werde, da sie ihn wieder mit ihr zusammengeführt habe. Doch seit jener Zeit hatten sie nie wieder über die Zukunft gesprochen.
Kann das sein oder kann das nicht sein? dachte er jetzt, während er sie betrachtete und dem leisen Klappern der Stahlnadeln lauschte. Kann mich das Schicksal nur deshalb in so seltsamer Weise wieder mit ihr zusammengeführt haben, damit ich nun sterben soll? … Hat sich andrerseits die Wahrheit des Lebens mir nur deshalb geoffenbart, damit ich nun weiter in der Lüge leben soll? Und doch liebe ich sie mehr als alles in der Welt. Was soll ich tun, wenn ich sie doch so sehr liebe? dachte er und stöhnte plötzlich unwillkürlich auf, wie er sich das während seiner Leidenszeit angewöhnt hatte.
Als Natascha dieses Stöhnen hörte, legte sie den Strumpf beiseite, neigte sich zu ihm hinüber, kam, als sie seine leuchtenden Augen sah, mit leichten Schritten zu ihm hin und beugte sich über ihn.
»Sie schlafen nicht?«
»Nein, ich habe Sie lange angesehen. Ich fühlte, wie Sie hereinkamen. Nur Sie schenken mir diese weiche Stille … dieses Licht. Fast möchte ich weinen vor Freude.«
Natascha beugte sich noch näher zu ihm. Ihr Gesicht strahlte vor Entzücken und Freude.
»Natascha, ich liebe Sie zu sehr. Mehr als alles in der Welt.«
»Und ich?« Sie wandte sich einen Augenblick ab. »Aber warum zu sehr?« fragte sie.
»Warum zu sehr? … Nun, was denken Sie, wie fühlen Sie es in Ihrem Herzen, in tiefster Seele: werde ich am Leben bleiben? Was glauben Sie?«
»Ich bin davon überzeugt, ganz überzeugt!« erwiderte Natascha fast aufschreiend und ergriff mit leidenschaftlicher Gebärde seine beiden Hände.
Er schwieg.
»Wie schön wäre das«, sagte er dann, nahm ihre Hand und küßte sie.
Natascha war glücklich und erregt, aber gleich fiel ihr ein, daß dies doch nicht gut für ihn war, daß er Ruhe brauchte.
»Aber Sie haben nicht geschlafen«, sagte sie, ihre Freude unterdrückend. »Versuchen Sie doch einzuschlafen … bitte.«
Er drückte ihr noch einmal die Hand und ließ sie dann los. Sie ging zum Licht und setzte sich wieder auf ihren alten Platz. Zweimal sah sie sich nach ihm um, und seine Augen strahlten ihr entgegen. Sie nahm sich an ihrem Strumpf eine gewisse Anzahl Runden vor und gelobte, sich nicht eher wieder umzusehen, bis sie damit fertig wäre.
Und wirklich hatte er bald darauf die Augen geschlossen und war eingeschlummert. Doch er schlief nicht lange und wachte plötzlich erregt und mit kaltem Schweiß bedeckt wieder auf.
Beim Einschlafen hatte er immer an das gedacht, was die ganze Zeit über seine Gedanken in Anspruch genommen hatte: an das Leben und an den Tod. Doch mehr noch an den Tod. Dem fühlte er sich jetzt näher.
Liebe? Was ist Liebe? dachte er. Liebe hindert den Tod. Liebe ist Leben. Alles, alles was ich verstehe, verstehe ich nur deshalb, weil ich liebe. Alles ist, alles lebt nur dadurch, daß ich liebe. Nur die Liebe verknüpft alles. Die Liebe ist Gott, und sterben bedeutet für mich, der ich ein winziges Teilchen dieser Liebe bin, zur gesamten und ewigen Quelle dieser Liebe zurückzukehren. Diese Gedanken schienen ihm tröstend. Aber es waren eben nur Gedanken. Etwas in ihnen reichte nicht aus, etwas war einseitig, persönlich, rein geistig an ihnen, es fehlte die handgreifliche Augenscheinlichkeit. Und wieder kam die Unklarheit über ihn. Er schlief ein.
Ihm träumte, er liege in demselben Zimmer, in dem er sich in Wirklichkeit befand, sei aber nicht verwundet, sondern gesund. Mancherlei Leute, unbedeutende und gleichgültige, erscheinen vor ihm. Er spricht mit ihnen, streitet sich mit ihnen über irgend etwas Überflüssiges herum. Sie schicken sich an, wieder wegzugehen. Fürst Andrej fühlt dunkel, daß dies alles nichtig ist und daß er andere wichtigere Sorgen hat, aber doch spricht er weiter und setzt die anderen durch leere, witzige Worte in Erstaunen. Nach und nach verschwinden alle diese Personen unbemerkt, und an ihre Stelle tritt nur noch die eine Frage: die Tür. Er steht auf und geht nach der Tür, um den Riegel vorzuschieben und sie abzuschließen. Davon, ob er sie rechtzeitig zuschließt oder nicht, hängt jetzt alles ab. Er geht und hastet, aber seine Füße bewegen sich nicht von der Stelle. Er weiß, daß er nicht rechtzeitig hinkommen wird, um die Tür zu verschließen, trotzdem strengt er krampfhaft alle seine Kräfte an. Qualvolle Angst kommt über ihn. Es ist die Todesangst. Hinter der Tür steht Es. In dem Augenblick, da er kraftlos bis an die Tür herangehumpelt ist, drängt auch schon dieses entsetzliche Etwas von draußen gegen die Tür und droht sie zu zerbrechen. Etwas Unmenschliches, der Tod, will zur Tür herein, man muß sie zuhalten. Fürst Andrej packt die Tür, strengt seine letzten Kräfte an, verschließen geht schon nicht mehr, aber zuhalten, zuhalten. Doch seine Kräfte sind zu schwach, zu ungeschickt. Die Tür gibt dem Entsetzlichen, das Eindringen will, nach, geht auf, schließt sich aber gleich wieder. Noch einmal drängt Es von außen dagegen an. Fürst Andrejs letzte, übermenschliche Anstrengungen sind vergeblich. Beide Türflügel haben sich lautlos geöffnet. Es tritt herein. Es ist der Tod. Und Fürst Andrej stirbt. Aber in dem Augenblick, als er stirbt, fällt ihm ein, daß er ja nur schläft, er strengt sich gewaltsam an und erwacht.
Ja, das war der Tod. Ich starb und bin erwacht. Der Tod ist ein Erwachen, leuchtete es plötzlich in seinem Geist auf, und der Schleier, der ihm bisher das Unbegreifliche verhüllt hatte, war vor seinem geistigen Auge aufgehoben. Er fühlte, wie alle Kräfte in ihm, die vorher gebunden gewesen waren, sich lösten, und empfand jene seltsame Leichtigkeit, die ihn nun nicht wieder verließ.
Als er, in kaltem Schweiß gebadet, aufwachte und sich auf dem Diwan bewegte, trat Natascha auf ihn zu und fragte ihn, was er habe. Er gab ihr keine Antwort, verstand sie nicht und sah sie nur mit seltsamen Blicken an.
Das war es, was zwei Tage vor Prinzessin Marjas Ankunft mit ihm geschehen war. Von diesem Tag an hatte das kraftraubende Fieber, wie der Arzt sagte, einen bösartigen Charakter angenommen. Aber Natascha kümmerte sich nicht um das, was der Arzt meinte, sie sah nur die furchtbaren, seelischen Anzeichen, die für sie untrüglich waren. An diesem Tag hatte für den Fürsten Andrej zusammen mit dem Erwachen aus dem Schlaf das Erwachen aus dem Leben angefangen. Und im Verhältnis zur Länge des Lebens kam ihm dieses Erwachen nicht länger vor als das Erwachen aus einem Traum.
Es lag nichts Furchtbares und Schroffes in diesem entsprechend langsamen Erwachen.
Seine letzten Tage und Stunden nahmen den gewöhnlichen, schlichten Verlauf. Sowohl Prinzessin Marja als auch Natascha, die nicht von seiner Seite wichen, fühlten dies. Sie weinten nicht und entsetzten sich nicht, fühlten aber, daß sie in der letzten Zeit nicht mehr ihn selber pflegten – er war bereits nicht mehr, er war von ihnen gegangen –, sondern nur die nächste Erinnerung an ihn: seinen Körper. Die Gefühle der beiden Mädchen waren so stark, daß auf sie die äußere, furchtbare Seite des Todes gar nicht wirkte und sie es nicht für nötig fanden, ihre Wunde immer wieder aufzureißen. Sie weinten weder in seiner Gegenwart noch wenn sie allein waren und sprachen miteinander nie von ihm. Sie fühlten, daß sie das, was sie empfanden, nicht in Worten auszudrücken vermochten.
Sie beide sahen, wie er immer tiefer und tiefer, langsam und ruhig vor ihren Augen versank, und wußten beide, daß es so sein mußte und daß es gut war.
Man nahm ihm die Beichte ab und reichte ihm das heilige Abendmahl, und alle kamen, um Abschied zu nehmen. Als man ihm sein Söhnchen brachte, drückte er ihm die Lippen auf die Stirn und wandte sich dann ab, nicht weil es ihm zu schwer und zu traurig gewesen wäre – Prinzessin Marja und Natascha verstanden es so –, sondern nur, weil er annahm, daß man dies alles von ihm fordere. Und als man ihm dann sagte, er solle ihn noch segnen, tat er, was man von ihm verlangt hatte, und sah sich dann um, als wolle er fragen, ob er nun noch etwas tun müsse.
Als sich der Körper, aus dem der Geist schon entschwebt war, in den letzten Zuckungen wand, waren Prinzessin Marja und Natascha bei ihm.
»Es ist zu Ende!« sagte Prinzessin Marja, als der Körper schon einige Minuten, regungslos und starr werdend, vor ihnen lag. Natascha trat näher, schaute in die toten Augen und beeilte sich, sie ihm zuzudrücken. Sie drückte sie zu, küßte sie aber nicht, sondern beugte sich nur über die tote Hülle, die die nächste Erinnerung an ihn selbst war.
»Wohin ist er gegangen? Wo ist er jetzt? …«
Als der Leichnam gewaschen und neu bekleidet eingesargt auf dem Tisch lag, kamen alle herein, um Abschied zu nehmen. Alle weinten.
Nikoluschka weinte vor schmerzlichem Nichtbegreifenkönnen, das ihm das Herz zerriß. Die Gräfin und Sonja weinten aus Mitleid mit Natascha und darüber, daß er nun nicht mehr war. Der alte Graf weinte, weil es ihm nun wohl bald selber bevorstand – das fühlte er – diesen furchtbaren letzten Schritt zu tun.
Natascha und Prinzessin Marja weinten jetzt auch, aber sie weinten nicht über ihren eignen Kummer, sie weinten aus andächtiger Rührung, die ihre Seelen ergriffen hatte, als sie sich des schlichten, erhabenen Mysteriums des Todes bewußt geworden waren, das sich vor ihnen vollzogen hatte.