Im Jahre 1808 war Kaiser Alexander nach Erfurt gefahren zu einer neuen Zusammenkunft mit Kaiser Napoleon, und in der höchsten Petersburger Gesellschaft sprach man viel davon, wie großartig diese feierliche Zusammenkunft gewesen war.
Im Jahre 1809 war das Bündnis zwischen den beiden Weltherrschern, wie man Napoleon und Alexander nannte, so eng geworden, daß, als Napoleon Österreich in diesem Jahr den Krieg erklärte, ein russisches Armeekorps bis an die Grenze vorrückte, um seinem früheren Feind Bonaparte gegen seinen ehemaligen Verbündeten, den Kaiser von Österreich, zu Hilfe zu kommen. Ja, in den höchsten Kreisen sprach man sogar von der Möglichkeit einer Heirat zwischen Napoleon und einer Schwester Kaiser Alexanders. Doch neben all diesen Wendungen der äußeren Politik lenkten während dieser Zeit innere Umwälzungen, die damals in allen Teilen der Staatsverwaltung vorgenommen wurden, besonders lebhaft die Aufmerksamkeit der russischen Gesellschaft auf sich.
Indessen ging das Leben der Menschen, das echte, wirkliche Leben mit seinen fühlbaren körperlichen Interessen an Gesundheit und Krankheit, Arbeit und Erholung, und mit seinen geistigen Interessen an Wissenschaft, Dichtung, Musik, Liebe, Freundschaft, Haß und Leidenschaft, wie immer seinen gewöhnlichen Gang, unabhängig von jeder politischen Freundschaft oder Feindschaft mit Napoleon Bonaparte und unberührt von allen nur möglichen inneren Umgestaltungen.
Fürst Andrej hatte zwei Jahre lang auf dem Lande gelebt, ohne aus seinen vier Pfählen herauszukommen.
Alle jene Verbesserungen, die Pierre auf seinen Gütern im Sinne gehabt, aber nicht zur Ausführung gebracht hatte, weil er fortgesetzt von einer Sache auf die andere übersprang, hatte nun Fürst Andrej ohne sonderliche Mühe eingeführt, und ohne sich darüber gegen irgend jemanden groß zu äußern.
Er besaß in hohem Grad jene praktische Ausdauer, die Pierre fehlte, um ohne Mühe und Anstrengung eine Sache in Schwung zu bringen.
Auf dem einen seiner Güter hatte er seine Leibeignen, an die dreihundert Seelen, zu freien Bauern gemacht – eins der ersten Beispiele in ganz Rußland –, auf einem anderen hatte er die Fronarbeit in Pachtzins umgewandelt. Nach Bogutscharowo hatte er auf seine Kosten eine ausgebildete Hebamme kommen lassen und angestellt, die den Wöchnerinnen beistehen mußte, und der Geistliche unterrichtete gegen Besoldung die Kinder der Bauern und des Hofgesindes im Lesen und Schreiben.
Die eine Hälfte seiner Zeit verbrachte Fürst Andrej in Lysyja-Gory zusammen mit dem Vater und dem Sohn, der sich noch in den Händen der Kinderfrauen befand, die andere Hälfte in seiner Klause in Bogutscharowo, wie der Vater seinen Landsitz nannte. Obgleich sich Fürst Andrej vor Pierre allen, Ereignissen gegenüber, die draußen in der Welt vor sich gingen, höchst gleichgültig gezeigt hatte, verfolgte er doch alles mit großem Eifer, ließ sich viele Bücher kommen und merkte zu seiner Verwunderung, daß sich Bekannte, auch wenn sie frisch aus Petersburg, also direkt von der Quelle alles Lebens, zu ihm oder seinem Vater auf Besuch kamen, über alles, was in der inneren und äußeren Politik vorgegangen war, weit weniger orientiert zeigten als er, der, ohne seine vier Pfähle zu verlassen, immer auf dem Lande gesessen hatte.
Außer mit den Unternehmungen auf seinen Gütern und mit dem Lesen der mannigfaltigsten Bücher beschäftigte sich Fürst Andrej während dieser Zeit noch mit einer kritischen Untersuchung unserer beiden letzten unglücklichen Feldzüge und mit der Aufstellung eines Entwurfs zur Abänderung unserer militärischen Reglements und Verordnungen.
Im Frühjahr des Jahres 1809 besuchte Fürst Andrej als Vormund seines Sohnes dessen Güter in Rjasan.
Von der wärmenden Frühlingssonne beschienen, saß er in seinem Wagen und betrachtete die ersten Grashälmchen, die ersten jungen Blättchen der Birken und die ersten, dichten, weißen Frühlingswölkchen, die am klaren, blauen Himmel dahinzogen. Er dachte an nichts, sondern schaute sich nur fröhlich und sorglos nach allen Seiten um.
Er mußte mit derselben Fähre übersetzen, auf der er im vorigen Jahr mit Pierre jenes Gespräch geführt hatte. Dann ging es durch ein schmutziges Dorf, an Scheunen und grün werdenden Feldern vorbei, den Berghang hinab zu einer Brücke, wo unten noch Schnee lag, dann auf ausgewaschenem Lehmboden wieder aufwärts, an endlosen Stoppelfeldern und hie und da schon grün werdendem Gesträuch vorbei in ein Birkenwäldchen hinein, das den Weg an beiden Seiten umsäumte. Im Wald war es fast heiß, vom Wind war hier nichts mehr zu spüren. Die Birken, ganz übersät mit grünen, klebrigen Blättchen, rührten und regten sich nicht. Zu ihren Füßen sproß leise und vorsichtig, die alten Blätter in die Höhe hebend, unter dem vorjährigen Laub das erste grüne Gras, mit lila Blümchen untermischt, hervor. Die zwischen all diesen Birken verstreut stehenden kleinen Tannen erinnerten mit ihrem satten, immergrünen Kleid unliebsam an den Winter. Die Pferde fingen an zu schnaufen, als sie in den Wald kamen, und gerieten sichtlich in Schweiß.
Der Diener Pjotr sagte etwas zum Kutscher, worauf der Kutscher eine bejahende Antwort gab. Anscheinend war aber Pjotr die Zustimmung des Kutschers noch zu wenig: er wandte sich auf dem Bock nach seinem Herrn um.
»Euer Durchlaucht, wie leicht einem wird!« sagte er und lächelte ehrerbietig.
»Was meinst du?«
»Es wird einem so leicht, Euer Durchlaucht.«
Was sagt er? dachte Fürst Andrej. Ach so, wahrscheinlich meint er den Frühling, dachte er und schaute sich um. Wirklich, es ist schon alles grün … wie schnell das gegangen ist! Birken, Faulbaum und auch die Erlen fangen schon an … Eichen gibt es anscheinend hier nicht. Oder doch, da ist ja eine Eiche.
Am Rande des Weges stand eine Eiche. Sie mochte wohl zehnmal so alt sein wie alle die Birken, die den Wald bildeten, und war auch zehnmal so dick und zweimal so hoch wie diese. Es war ein riesiger Baum, den zwei Männer kaum hätten umspannen können, mit Ästen, die offenbar schon vor langer Zeit abgebrochen waren, und mit brüchiger Rinde, die schon vor Jahren gebrochen und dann wieder zusammengewachsen war. Mit ihren riesigen, plumpen, unsymmetrisch verzweigten, knorrigen Armen und Fingern stand sie wie ein altes, grimmiges Ungeheuer mitten unter den jungen, lachenden Birken und sah geringschätzig auf sie herab. Und sie und noch ein paar leblose, immergrüne, kleine Tannen, die hie und da im Walde zerstreut standen, wollten sich dem Frühlingszauber nicht hingeben und weder Lenz noch Sonne sehen.
Frühling, Liebe und Glück! schien die Eiche zu sagen. Wird euch das nicht langweilig, an diesen immer wiederkehrenden, dummen und sinnlosen Betrug zu glauben? Es ist doch immer wieder dasselbe und alles immer nur Betrug. Es gibt keinen Frühling, keine Sonne und kein Glück. Seht diese niedergedrückten, toten Tannen dort, einsam hocken sie da! Und auch ich treibe meine gebrochenen, geknickten Zweige, woher sie gerade kommen: aus dem Rücken, aus den Seiten, und so, wie ich einmal gewachsen bin, stehe ich da und glaube nicht an eure Hoffnungen und an euren Betrug.
Fürst Andrej schaute sich, während er weiter durch den Wald fuhr, noch ein paarmal nach dieser Eiche um, als erwarte er noch etwas von ihr. Blumen und Gras wuchsen auch zu ihren Füßen, und doch stand sie immer unverändert, finster, starr, mißgestaltet und trotzig mitten unter den anderen.
Ja, sie hat recht, diese Eiche, tausendmal recht, dachte Fürst Andrej. Mögen sich andere, jüngere, immer wieder diesem Betrug hingeben, wir aber kennen das Leben, unsere Zeit ist vorbei. Eine ganze Reihe hoffnungsloser, aber wehmütig wohltuender Gedanken keimte im Zusammenhang mit dieser Eiche in Fürst Andrejs Seele auf. Während dieser Reise ließ er sein ganzes Leben noch einmal an seiner Seele vorüberziehen und kam zu demselben beruhigenden, aber hoffnungslosen Schluß wie früher, daß er nichts Neues mehr anfangen dürfe, sondern nur sein Leben zu Ende leben müsse, ohne etwas Böses zu tun, ohne Aufregungen und ohne Wünsche.
Auf seinen Gütern in Rjasan mußte Fürst Andrej in Vormundschaftsangelegenheiten den Adelsmarschall des Kreises aufsuchen. Dieser Adelsmarschall war Graf Ilja Andrejewitsch Rostow, und Fürst Andrej begab sich Mitte Mai zu ihm hin.
Es war schon eine recht heiße Zeit im Frühling. Der Wald hatte bereits sein Sommerkleid angezogen, der Staub lag auf den Straßen, und es war so heiß, daß, wenn man an einem Wasser vorüberfuhr, einen die Lust anwandelte, ein Bad zu nehmen.
Verstimmt und in Gedanken an die geschäftlichen Angelegenheiten versunken, die er mit dem Adelsmarschall zu besprechen hatte, fuhr Fürst Andrej durch die Gartenallee auf das Landhaus der Rostows in Otradnoje zu. Rechts hinter den Bäumen hörte er lustige weibliche Stimmen und sah, wie ein Schwarm junger Mädchen auf seinen Wagen zugelaufen kam. Allen voran eilte ein schwarzhaariges, sehr schlankes, auffallend zierliches, schwarzäugiges Mädchen in einem gelben Kattunkleid, ein weißes Taschentuch um den Kopf gebunden, unter dem ein paar lose Haarbüschel hervorquollen. Das junge Mädchen schrie ihm etwas entgegen, als sie aber einen Fremden im Wagen sitzen sah, lief sie, ohne ihn anzusehen, laut lachend wieder zurück.
Fürst Andrej empfand aus irgendeinem Grund ein schmerzliches Gefühl. Der Tag war so schön, die Sonne strahlte so hell, ringsum war alles so heiter, und dieses hübsche schlanke Mädchen wußte nichts von ihm und wollte auch gar nichts von ihm wissen, sie war glücklich und zufrieden für sich allein in ihrem wahrscheinlich törichten, aber heiteren und glücklichen Leben. Worüber ist sie so froh? Woran denkt sie? Sicher nicht an militärische Verordnungen und an die Regelung des Bauernzinses in Rjasan. Woran mag sie wohl denken? Wie kommt es, daß sie so glücklich ist? fragte sich Fürst Andrej mit unwillkürlicher Neugier.
Graf Ilja Andrejewitsch lebte im Jahr 1809 in Otradnoje genauso, wie er früher dort gelebt hatte, das heißt: er empfing fast das ganze Gouvernement bei seinen Jagden, Theaterabenden, Diners und musikalischen Veranstaltungen. Wie über jeden neuen Gast, der zu ihm kam, freute er sich auch über Fürst Andrejs Besuch sehr und nötigte ihn fast gewaltsam, über Nacht zu bleiben.
Der Tag verlief sehr langweilig, Fürst Andrej wurde von den älteren Herrschaften und vornehmen Gästen ganz in Anspruch genommen, von denen das Haus des alten Grafen ganz voll war, da in den nächsten Tagen ein Namenstag gefeiert werden sollte. Ab und zu sah Bolkonskij zu Natascha hinüber, die immer etwas zu lachen hatte und sich mit der anderen Hälfte der Gesellschaft, mit den jungen Leuten, vergnügte, und immer wieder mußte er sich die Frage vorlegen: Woran mag sie denken? Worüber ist sie nur so froh?
Am Abend, als er sich in dem fremden Haus allein auf seinem Zimmer befand, konnte er lange nicht einschlafen. Er las eine Weile, löschte dann die Kerze aus und zündete sie wieder an. In seinem Zimmer mit den von innen geschlossenen Fensterläden war es heiß und schwül. Er ärgerte sich über den alten Dummkopf, wie er Rostow nannte, der ihn mit der Versicherung, die nötigen Papiere seien in der Stadt und noch nicht zu beschaffen gewesen, zurückgehalten hatte, ärgerte sich über sich selber, weil er geblieben war.
Fürst Andrej stand auf und trat ans Fenster, um es aufzumachen. Kaum hatte er die Läden geöffnet, so überflutete das Mondlicht, als hätte es vor dem Fenster Wache gestanden und schon lange darauf gewartet, mit einem Schlag das ganze Zimmer. Er stieß das Fenster auf. Die Nacht war frisch, windstill und klar. Gerade vor dem Fenster stand eine Reihe stark eingeschnittener Bäume, die auf der einen Seite tief dunkel, auf der anderen wie mit silbernem Licht übergossen waren. Unter den Bäumen sproßten saftige, feuchte, krause Pflanzen und Gewächse mit silberschimmernden Blättern und Stielen. Etwas hinter den dunklen Bäumen blinkte ein von Tau glitzerndes Dach, zur Rechten stand ein großer krauser Baum mit grellweißem Stamm und Ästen und darüber der volle Mond an dem hellen, fast sternenlosen Frühlingshimmel. Fürst Andrej lehnte sich mit den Ellenbogen ans Fenster, und seine Augen blieben an diesem Himmel haften.
Sein Zimmer befand sich im mittleren Stockwerk. Über ihm war ebenfalls Leben, auch dort schlief man noch nicht. Von oben her hörte er weibliche Stimmen.
»Nur noch ein einziges Mal«, sagte oben eine weibliche Stimme, die Fürst Andrej sofort erkannte.
»Aber wann wirst du nun endlich schlafen?« erwiderte eine andere Stimme.
»Ich werde nicht schlafen, ich kann nicht schlafen, was soll ich machen? Also zum letztenmal …«
Und zwei Mädchenstimmen sangen ein Bruchstück aus einem Lied, das das Ende von irgend etwas bildete.
»Ach, wie wunderbar! Aber jetzt wollen wir schlafen, nun ist Schluß.«
»So schlaf doch, ich kann nicht«, erwiderte die erste Stimme, die sich jetzt dem Fenster näherte. Das junge Mädchen schien sich ganz aus dem Fenster herausgelehnt zu haben, denn man hörte das Knistern ihres Kleides und sogar ihre Atemzüge. Alles war still und wie versteinert, wie auch der Mond und sein Licht und die Schatten. Fürst Andrej war ebenfalls ängstlich darauf bedacht, sich nicht zu regen, um sich nicht als unfreiwilliger Zeuge zu verraten.
»Sonja! Sonja!« hörte man wieder die erste Stimme. »Wie kannst du nur schlafen! Sieh doch nur, wie entzückend! Ach, wie wonnig! So wach doch nur auf, Sonja«, sagte sie fast mit Tränen. »Eine so entzückende Nacht ist noch nie, niemals gewesen.«
Sonja gab widerwillig irgendeine Antwort.
»Nein, das mußt du sehen, dieser Mond! … Ach, wie bezaubernd! Komm doch nur her! Mein Seelchen, mein Täubchen, komm her. Nun, siehst du es? Jetzt müßte man sich niederducken, siehst du, so, sich fest unter den Knien zusammennehmen, aber fest, so fest wie nur möglich, und sich dann einen Ruck geben und losfliegen. Siehst du: so!«
»Laß doch, du wirst noch fallen …« Man hörte einen Kampf und Sonjas unwillige Stimme: »Nun ist es bald zwei Uhr.«
»Ach, du verdirbst einem auch alles. Geh nur schlafen, geh!«
Wieder war alles still, aber Fürst Andrej wußte, daß sie immer noch dasaß, und hörte zuweilen ein leises Rascheln, manchmal auch einen Seufzer.
»Ach, mein Gott, mein Gott! Was ist nur mit mir!« rief sie plötzlich aus. »Aber nun schlafen gehen, wirklich schlafen gehen!« Und sie schlug das Fenster zu.
Sie kümmert sich nicht darum, ob ich da bin oder nicht, dachte Fürst Andrej, während er ihrer Unterhaltung gelauscht und immer, er wußte selbst nicht warum, gewartet und gefürchtet hatte, daß sie etwas über ihn sagen werde. Und immer wieder sie! Wie absichtlich! dachte er.
In seiner Seele erhob sich plötzlich ein solcher Wirbelsturm junger Gedanken und Hoffnungen, die seinem ganzen Leben so zuwiderliefen, daß er nicht imstande war, sich über seinen Zustand klar zu werden, und sogleich einschlief.
Am nächsten Morgen verabschiedete sich Fürst Andrej, ohne das Kommen der Damen abzuwarten, nur vom alten Grafen und fuhr wieder nach Hause.
Es war schon Anfang Juni, als Fürst Andrej auf der Heimfahrt wieder durch jenes Birkenwäldchen fuhr, wo die alte, knorrige Eiche einen so seltsamen, nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Noch tauber als vor anderthalb Monaten tönte das Schellengeklingel der Pferde, alles war belaubt, schattig und dicht, und auch die im Walde zerstreuten jungen Tannen störten nicht mehr die Schönheit ringsum, hatten sich dem allgemeinen Charakter des Waldes angepaßt, und zart schimmerten ihre grünen, wolligen jungen Triebe.
Es war den ganzen Tag über heiß gewesen. Irgendwo hatte sich ein Gewitter zusammengezogen, aber nur eine kleine Wolke hatte die staubige Straße gesprengt und die saftigen Blätter bespritzt. Die linke Seite des Waldes lag ganz im Dunkel, im Schatten, zur Rechten glänzte und glitzerte das feuchte Laub, von einem leichten Wind geschaukelt, im hellen Sonnenschein. Alles grünte und blühte; die Nachtigallen jubilierten und schmetterten ihr Lied bald nah, bald fern.
Ja, hier in diesem Wald war jene Eiche, die so viele gleichartige Gefühle in mir weckte, dachte Fürst Andrej. Aber wo ist sie nur? dachte er weiter, sah sich nach links um und bewunderte, ohne es selber zu wissen und ihn zu erkennen, eben jenen Baum, den er suchte. Wie verzaubert stand diese alte Eiche, das saftige, dunkle Grün wie ein Zelt weit ausbreitend, wohlig und fast ohne sich zu rühren, in den Strahlen der Abendsonne da. Nichts sah man mehr von ihren alten knorrigen Ästen, ihren Wunden und Rissen, ihrem alten Mißtrauen und Leid. Aus der rauhen, hundertjährigen Rinde drangen ohne Äste saftige junge Blätter, so daß man es kaum glauben mochte, daß dieser alte Baum sie hervorgebracht habe. Wirklich, es ist dieselbe Eiche, dachte Fürst Andrej, und plötzlich überkam ihn ohne jeden Grund ein Frühlingsgefühl der Freude und Wiedergeburt. Die schönsten, höchsten Augenblicke seines Lebens fielen ihm plötzlich zur gleichen Zeit ein: er dachte an Austerlitz und an den hohen Himmel, dachte an das vorwurfsvolle Gesicht seiner Frau auf ihrem Totenbett, an Pierre auf der Fähre, an das junge Mädchen, das von der Schönheit einer Nacht so erregt war, an diese Nacht selbst, an diesen Mond … und all das stieg plötzlich vor seinem Gedächtnis auf.
Nein, das Leben ist noch nicht zu Ende mit einunddreißig Jahren, dachte Fürst Andrej mit endgültiger, unwiderruflicher Entschlossenheit. Es genügt nicht, daß nur ich das weiß, was in mir lebt und wirkt, alle, alle sollen es wissen, sowohl Pierre als auch das junge Mädchen, das in den Himmel fliegen wollte. Sie alle, alle sollen mich kennen lernen, damit mein Leben nicht nur für mich allein verrinnt, und sie nicht abseits von mir stehen. Auf sie alle soll es einen Widerschein werfen, damit wir alle gemeinsam leben.
Von seiner Reise nach Hause zurückgekehrt, entschloß sich Fürst Andrej, im Herbst nach Petersburg zu fahren, und suchte in Gedanken nach Gründen für diesen Entschluß. Eine ganze Reihe vernünftiger und logischer Beweise, warum er unbedingt nach Petersburg fahren und sogar wieder in den Dienst treten müsse, stand ihm jederzeit bereitwillig zu Gebote. Ja, er begriff jetzt sogar nicht einmal, wie er jemals an der Notwendigkeit, am Leben tatkräftigen Anteil zu nehmen, hatte zweifeln können, ebenso wie er vier Wochen früher nicht begriffen hätte, wie ihm der Gedanke kommen könne, jemals vom Lande fortzugehen. Es schien ihm klar, daß alle seine Lebenserfahrungen umsonst und sinnlos vergehen und verwehen würden, wenn er sie nicht in die Tat umsetzte und nicht wieder praktischen Anteil am Leben nähme. Er begriff jetzt nicht einmal mehr, wie er sich früher auf Grund ebenso armseliger Vernunftbeweise hatte klarmachen können, daß es für ihn erniedrigend wäre, wenn er jetzt, nach dieser Schule des Lebens, noch an die Möglichkeit, Nutzen zu stiften oder Glück und Liebe zu finden, geglaubt hätte. Jetzt bewies ihm seine Vernunft etwas ganz anderes. Nach dieser Reise fing Fürst Andrej an, sich auf dem Lande zu langweilen, seine frühere Beschäftigung ließ ihn jetzt kalt, und oft, wenn er allein in seinem Zimmer saß, stand er auf, trat vor den Spiegel und betrachtete lange sein Gesicht. Dann wandte er sich um und blickte das Bild der verstorbenen Lisa an, die mit ihren à la grecque gewickelten Locken zärtlich und heiter aus dem goldenen Rahmen auf ihn niederschaute. Sie sagte schon nicht mehr die früheren, schrecklichen Worte zu ihrem Mann, sondern sah ihn nur einfach und heiter und ein klein wenig neugierig an. Fürst Andrej legte die Hände auf den Rücken, ging lange im Zimmer auf und ab und dachte und überdachte, bald lächelnd, bald finster werdend, immer und immer wieder jene wenig vernünftigen, mit Worten nicht auszudrückenden und wie ein Verbrechen geheimen Gedanken, die bald mit Pierre, bald mit dem Ruhm, bald mit dem Mädchen am Fenster, bald mit der Eiche, bald mit Frauenschönheit und Liebe zusammenhingen und seinem Leben eine so andere Richtung gegeben hatten. Und wenn dann in solchen Augenblicken jemand zu ihm hereinkam, pflegte er ganz besonders trocken, streng entschieden und unangenehm logisch zu sein.
»Mon cher«, sagte Prinzessin Marja dann wohl einmal, als sie gerade in solchem Augenblick ins Zimmer trat, »Nikoluschka kann heute nicht Spazieren gehen, es ist zu kalt.«
»Wenn es warm wäre«, pflegte Fürst Andrej dann seiner Schwester besonders trocken zu erwidern, »so würde man ihn im bloßen Hemdchen an die frische Luft schicken, da es aber kalt ist, muß man ihm warme Kleider anziehen, die zu diesem Zweck erfunden sind. Das ist die Schlußfolgerung aus der Kälte, nicht aber, daß er zu Hause bleiben muß. Ein Kind muß unbedingt frische Luft haben«, führte er ganz besonders logisch aus, als wolle er dadurch jemanden für die ganze geheime, unlogische Gedankenarbeit, die in ihm vorging, bestrafen.
Prinzessin Marja dachte dann immer, wie trocken doch die Männer durch die viele geistige Arbeit werden.
Es war im August des Jahres 1809, als Fürst Andrej nach Petersburg kam. Gerade zu dieser Zeit hatte der Ruhm des jungen Speranskij[93] seinen Höhepunkt erreicht, und voller Energie wurden seine Reformen überall vollzogen. Im selben Monat erlitt auch der Kaiser bei einer Wagenfahrt einen kleinen Unfall, verletzte sich den Fuß und mußte drei Wochen in Peterhof bleiben, wo er alle Tage ausschließlich Speranskij empfing. Es waren damals nicht nur zwei recht bedeutsame, die Gesellschaft in Aufregung versetzende Erlasse über die Aufhebung einiger Rangstufen bei Hofe und über die Examina der Kollegienassessoren und Staatsräte in Vorbereitung, sondern auch eine ganze Reichsverfassung, nach der das gesamte gegenwärtige Gerichts-, Verwaltungs- und Finanzwesen in ganz Rußland, vom Staatsrat bis zur kleinsten Gemeindeverwaltung, eine Änderung erfahren sollte. Jene unklaren liberalen Träume, mit denen Kaiser Alexander den Thron bestiegen hatte, und die er mit Hilfe seiner Räte Czartoryski, Nowosilzew, Kotschubej und Stroganow, die er im Scherz als comité du salut publique[94] bezeichnet hatte, zu verwirklichen bestrebt gewesen war, fingen nun an, zur Tatsache zu werden. Alle diese Minister wurden jetzt durch Speranskij und Araktschejew ersetzt, von denen der erste die Zivilangelegenheiten, der zweite das Militärwesen verwaltete.
Kurz nach seiner Ankunft in Petersburg war Fürst Andrej in seiner Eigenschaft als Kammerherr bei Hofe und zur Audienz erschienen. Der Kaiser, dem er zweimal begegnet war, hatte ihn nicht eines Wortes gewürdigt. Fürst Andrej hatte schon früher immer den Eindruck gehabt, daß der Kaiser irgendwelche Abneigung gegen ihn haben müsse, daß ihm sein Gesicht und sein ganzes Wesen unangenehm sei. Aus dem trockenen, abweisenden Blick, den der Kaiser auf ihn richtete, erkannte er die Bestätigung dieser Vermutung noch mehr als früher. Die Herren bei Hof erklärten ihm die Nichtachtung des Kaisers damit, daß Seine Majestät unzufrieden sei, weil Bolkonskij seit 1805 nicht mehr im aktiven Dienst stehe.
Ich weiß ja selber, dachte Fürst Andrej, daß wir nicht Herren unserer Sympathien und Antipathien sind. Deshalb ist auch gar nicht daran zu denken, daß ich dem Kaiser meine Schrift über das Militärreglement persönlich überreiche, aber die Sache wird schon für sich selber sprechen.
Er schrieb einem alten Feldmarschall, der ein Freund seines Vaters war, von seiner Arbeit. Der Feldmarschall bestimmte ihm Tag und Stunde, empfing ihn sehr freundlich und versprach, dem Kaiser davon Mitteilung zu machen. Ein paar Tage später erhielt Fürst Andrej die Nachricht, daß er zum Kriegsminister Grafen Araktschejew befohlen sei.
Am festgesetzten Tag fand sich Fürst Andrej morgens um neun Uhr im Empfangszimmer des Grafen Araktschejew ein.
Fürst Andrej kannte Araktschejew nicht persönlich und hatte ihn noch nie gesehen, aber alles, was er von ihm gehört hatte, flößte ihm wenig Achtung für diesen Menschen ein. Er ist Kriegsminister, die Vertrauensperson des Kaisers, seine persönlichen Eigenschaften gehen keinen etwas an. Ihm ist befohlen worden, meine Schrift durchzusehen, folglich ist er auch der einzige, der meinen Ideen vorwärtshelfen kann, dachte Fürst Andrej, während er zusammen mit anderen mehr oder weniger wichtigen Persönlichkeiten im Empfangszimmer des Grafen Araktschejew wartete.
Während seiner Dienstzeit, die Fürst Andrej größtenteils als Adjutant verbracht hatte, waren ihm solche Empfangszimmer wichtiger Persönlichkeiten in Menge vor Augen gekommen, und er kannte die mannigfaltigen typischen Eigenschaften dieser Räumlichkeiten recht genau. Das Empfangszimmer beim Grafen Araktschejew jedoch hatte einen ganz besonderen Charakter. Auf den Gesichtern der weniger wichtigen Persönlichkeiten, die hier warteten, bis die Reihe einer Audienz beim Grafen Araktschejew an sie käme, war ein Gefühl der Beschämung und Unterwürfigkeit zu lesen, während die Gesichter der höher im Rang stehenden Personen ein allen gemeinsames Gefühl des Unbehagens ausdrückten, das sie hinter einem ungezwungenen persönlichen Auftreten und Spott über sich selbst, die Situation, in der sie sich befanden, und den hohen Herrn, auf den sie warteten, zu verbergen suchten. Einige gingen in Gedanken versunken auf und ab, andere flüsterten und lachten, und Fürst Andrej hörte, wie sie den Grafen Araktschejew bei seinem Spitznamen Sila Andreitsch[*] nannten, und wie einer zu einem andern sagte: »Der Onkel wird es ihnen schon stecken!« Ein General, eine hochangesehene Persönlichkeit, fühlte sich sichtlich dadurch beleidigt, daß er so lange warten mußte, schlug die Beine bald so, bald so übereinander und lächelte verächtlich in sich hinein.
Doch sobald sich nur die Tür auftat, spiegelte sich auf allen Gesichtern ein und derselbe Ausdruck wider: die Furcht. Fürst Andrej hatte den Offizier vom Dienst schon zum zweitenmal darum gebeten, ihn doch zu melden, aber man sah ihn nur spöttisch an und sagte ihm, daß er warten müsse, bis die Reihe an ihn komme. Nachdem verschiedene Personen vom Adjutanten in das Zimmer des Ministers hineingeführt und wieder herausgeleitet worden waren, wurde durch die schreckliche Tür ein Offizier eingelassen, der durch seinen bedrückten und verängstigten Gesichtsausdruck dem Fürsten Andrej aufgefallen war. Die Audienz dieses Offiziers dauerte ziemlich lang. Plötzlich hörte man hinter der Tür das Grollen einer unangenehmen Stimme, und der Offizier trat bleich und mit zitternden Lippen heraus, griff sich an den Kopf und eilte quer durch das Empfangszimmer.
Nach ihm wurde Fürst Andrej hineingeführt, und der Offizier vom Dienst flüsterte ihm zu: »Nach rechts, ans Fenster.«
Fürst Andrej trat in das nicht gerade reich ausgestattete, aber saubere Arbeitszimmer und erblickte am Tisch einen Mann von etwa vierzig Jahren, mit langem Oberkörper, länglichem, kurzgeschorenem Kopf, mit dicken Falten auf der Stirn und finster zusammengezogenen Augenbrauen, braungrünlichen, ausdruckslosen Augen und nach unten ragender, rötlicher Nase. Araktschejew wandte den Kopf nach ihm um, ohne ihn anzusehen.
»Um was bitten Sie?« fragte Araktschejew.
»Ich bitte um nichts, Euer Erlaucht«, erwiderte Fürst Andrej ruhig.
Araktschejew wandte seine Augen zu ihm hin.
»Setzen Sie sich«, sagte er. »Fürst Bolkonskij?«
»Ich bitte um nichts, aber Seine Majestät der Kaiser haben geruht, Euer Erlaucht einen Entwurf zu überreichen, der von mir eingereicht wurde …«
»Sehen Sie, mein Wertester, ich habe Ihren Entwurf gelesen«, unterbrach ihn Araktschejew, wobei er nur die ersten Worte in liebenswürdiger Weise sagte und dann mehr und mehr, ohne ihm ins Gesicht zu sehen, in einen brummigen, geringschätzigen Ton verfiel. »Sie schlagen neue Militärgesetze vor? Verordnungen haben wir so viele, daß wir die alten nicht einmal alle befolgen können. Jedermann schreibt heute Gesetze. Schreiben ist leichter als ausführen.«
»Ich bin auf Weisung Seiner Majestät des Kaisers gekommen, um mich bei Euer Erlaucht zu erkundigen, was nach Euer Erlaucht Wünschen mit meiner Denkschrift geschehen soll«, sagte Fürst Andrej höflich.
»Ich habe einen Beschluß über Ihren Entwurf gefaßt und diesen dem Komitee übersandt. Ich kann Ihren Entwurf nicht gutheißen«, fuhr Araktschejew fort, stand auf und nahm ein Papier vom Schreibtisch, das er dem Fürsten Andrej überreichte.
»Da, sehen Sie.«
Auf dem Papier war quer mit Bleistift ohne große Anfangsbuchstaben und Interpunktionszeichen unorthographisch folgendes geschrieben: »Ungründlich zusammengestellt, da als Abklatsch von französischen Militärverordnungen abgeschrieben, von unserem Militärreglement ohne Notwendigkeit abweichend.«
»Welchem Komitee haben Sie den Entwurf überwiesen?« fragte Fürst Andrej.
»Dem Militärgesetzkomitee, und ich habe vorgeschlagen, Euer Wohlgeboren als Mitglied in dieses Komitee aufzunehmen. Aber ohne Gehalt.«
Fürst Andrej lächelte.
»Gehalt verlange ich auch nicht.«
»Also unbesoldetes Mitglied«, wiederholte Araktschejew. »Habe die Ehre. Heda, rufe den nächsten! Wer kommt noch?« rief er und verbeugte sich vor dem Fürsten Andrej.
Während Fürst Andrej auf die offizielle Bestätigung seiner Ernennung zum Mitglied dieses Komitees wartete, erneuerte er einige alte Bekanntschaften, besonders mit Personen, von denen er wußte, daß sie mächtig waren und ihm nützlich sein konnten. Er empfand jetzt hier in Petersburg ein ähnliches Gefühl, wie er es am Vorabend der Schlacht empfunden hatte, als ihn eine ruhelose Neugier gequält und unwiderstehlich zu jenen höchsten Kreisen hingezogen hatte, wo alles Zukünftige, von dem das Schicksal von Millionen Menschen abhing, vorbereitet wurde. Aus dem Ingrimm der alten Herren, aus der Neugier der Unwissenden und der Zurückhaltung der Eingeweihten, aus dem hastigen, geschäftigen Treiben aller, aus der unzähligen Menge der Komitees und Kommissionen, von denen er alle Tage neue entdeckte – aus alledem fühlte Fürst Andrej heraus, daß sich jetzt hier in Petersburg im Jahre 1809 eine gewaltige innere Schlacht vorbereitete, deren Oberkommandierender eine geheimnisvolle, ihm unbekannte, aber genial erscheinende Persönlichkeit war – Speranskij. Und sowohl die ihm dunkel bekannte Reorganisation selber als auch ihr Hauptleiter Speranskij erregten in ihm ein so leidenschaftliches Interesse, daß die Angelegenheit der Militärverordnungen in seinem Kopf bald die zweite Stelle einnahm.
Fürst Andrej befand sich in der höchst günstigen Lage, in den allerverschiedensten und höchsten Kreisen der damaligen Petersburger Gesellschaft mit offenen Armen empfangen zu werden. Die Partei der Neuerer begrüßte ihn freudig und suchte ihn an sich zu locken, weil er erstens in dem Ruf eines klugen, sehr belesenen Mannes stand und zweitens durch die Freilassung seiner Bauern bereits als Liberaler von sich reden gemacht hatte. Die Partei der unzufriedenen alten Generation wandte sich ihm zu, weil sie in ihm einfach den Sohn seines Vaters sah und folglich bei ihm Verständnis voraussetzte, wenn sie alle Neuerungen verurteilte. Die Gesellschaft der Damen, die große Welt, nahm ihn mit Freuden auf, weil er ein reicher und hochangesehener Heiratskandidat und eine fast neue Persönlichkeit war, umstrahlt vom Heiligenschein der romantischen Geschichte von seinem vermeintlichen Tod und dem tragischen Ende seiner Frau. Außerdem waren alle, die ihn früher gekannt hatten, einstimmig der Ansicht, daß er sich in diesen fünf Jahren sehr zu seinem Vorteil verändert habe, milder und männlicher geworden sei, das frühere gemachte, stolze und spöttische Wesen abgelegt und sich jene Ruhe angeeignet habe, die die Jahre mit sich bringen. Man sprach von ihm, interessierte sich für ihn, und alle wünschten ihn zu sehen.
Am Tag nach seiner Audienz beim Grafen Araktschejew war Fürst Andrej beim Grafen Kotschubej zu einer Abendgesellschaft eingeladen und erzählte dem Grafen die Szene bei »Sila Andrejewitsch«. Auch Kotschubej nannte Araktschejew mit diesem Spitznamen und sprach von ihm in demselben Ton des Spottes, von dem man nicht recht wußte, worauf er sich bezog, und den Fürst Andrej schon im Empfangszimmer des Ministers gehört hatte.
»Mon cher, auch in dieser Angelegenheit kommen Sie nicht um Michail Michailowitsch herum. C’est le grand faiseur. Ich werde es ihm erzählen. Er hat mir versprochen, heute abend zu kommen …«
»Was hat denn Speranskij mit Militärverordnungen zu tun?« fragte Fürst Andrej.
Kotschubej lächelte und wiegte den Kopf hin und her, als staune er über Bolkonskijs harmlose Unbefangenheit.
»Ich habe dieser Tage mit ihm über Sie gesprochen«, fuhr Kotschubej fort, »über Ihre freigelassenen Bauern …«
»Also Sie waren das, Fürst, der seine Bauern freigelassen hat?« mischte sich ein alter Herr, aus der Zeit Katharinas, ein und wandte sich geringschätzig an Bolkonskij.
»Es war nur ein kleines Gut, das nichts einbrachte«, erwiderte Bolkonskij, bemüht, sein Vorgehen vor ihm abzuschwächen, um den alten Herrn nicht zwecklos zu reizen.
»Vous craignez d’être en retard«, sagte der alte Herr und sah Kotschubej an. »Aber eins kann ich nicht begreifen«, fuhr er fort, »wer soll denn dann das Land pflügen, wenn man die Bauern freiläßt? Gesetze zu schreiben, ist leicht, aber sie anzuwenden, ist schwer. Das ist ebenso wie bei der anderen Sache jetzt: ich frage Sie, Graf, wer kann denn überhaupt noch Vorsitzender einer Behörde werden, wenn alle erst ein Examen machen müssen?«
»Die, welche das Examen bestehen, denke ich«, erwiderte Kotschubej, schlug die Beine übereinander und sah sich um.
»Da steht bei mir im Dienst dieser Prianitschnikow, ein Prachtmensch, nicht mit Gold aufzuwiegen, er ist sechzig Jahre alt. Soll der vielleicht auch noch ein Examen machen?«
»Ja, Mühe wird es kosten, weil die Bildung noch so wenig verbreitet ist, aber …«
Graf Kotschubej sprach nicht zu Ende, stand auf, nahm Fürst Andrejs Arm und ging mit ihm einem soeben eintretenden blonden Herrn von etwa vierzig Jahren entgegen, der sehr groß war, ein auffallend blasses Gesicht mit offner Stirn und eine Glatze hatte. Er trug einen blauen Frack, ein Ordenskreuz um den Hals und einen Stern an der linken Brust. Es war Speranskij. Fürst Andrej hatte ihn sogleich erkannt und fühlte innerlich ein leises Beben, wie das in wichtigen Augenblicken des Lebens immer der Fall zu sein pflegt. War es Ehrfurcht, Neid, Erwartung – er wußte es nicht. Speranskijs ganze Erscheinung hatte etwas Typisches, woran man ihn sofort erkennen mußte. Bei keinem Menschen jener Gesellschaftskreise, in denen Fürst Andrej verkehrte, hatte er bisher solche Ruhe und Selbstsicherheit trotz unbeholfener, stumpfer Bewegungen gesehen, niemand hatte einen so festen und zugleich milden Blick aus solch halbgeschlossenen, feuchtschimmernden Augen, eine so klare, gemessene, ruhige Stimme und vor allen Dingen eine so zarte, blasse Färbung des Gesichts und besonders auch der etwas breiten, aber außerordentlich vollen, zarten und weißen Hände. Solch eine blasse und zarte Gesichtsfarbe hatte Fürst Andrej bisher nur bei Soldaten gesehen, die lange im Lazarett gelegen hatten. Dies also war Speranskij, der Staatssekretär und vortragende Rat des Kaisers, der ihn auch nach Erfurt begleitet hatte, wo er mehr als einmal Napoleon gesehen und mit ihm gesprochen hatte.
Speranskij ließ nicht die Augen von einem Gesicht zum anderen schweifen, wie man es beim Eintritt in eine große Gesellschaft unwillkürlich tut, und hatte es mit dem Reden nicht eilig. Er sprach leise, überzeugt, daß man ihm zuhören werde, und sah nur den an, mit dem er sprach.
Fürst Andrej folgte jedem Wort und jeder Bewegung Speranskijs mit ganz besonderer Aufmerksamkeit. Wie es allen Leuten geht, und besonders denen, die ihren Nächsten streng beurteilen, so erwartete auch Fürst Andrej bei jeder neuen Bekanntschaft, besonders mit Leuten wie Speranskij, die er schon dem Ruf nach kannte, immer in diesen neuen Persönlichkeiten die ganze Vollkommenheit menschlicher Würde zu finden.
Speranskij sagte zu Kotschubej, er bedauere, daß er nicht früher habe kommen können, doch sei er im Palais noch aufgehalten worden. Daß es der Kaiser gewesen war, der ihn zurückgehalten hatte, erwähnte er nicht. Auch diese erkünstelte Bescheidenheit entging dem Fürsten Andrej nicht. Als ihn Kotschubej vorstellte, wandte Speranskij langsam seine Augen Bolkonskij zu und musterte ihn lächelnd, ohne etwas zu sagen.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen; ich habe, wie wir alle, bereits von Ihnen gehört«, sagte er dann.
Kotschubej ließ ein paar Worte über den Empfang, den Bolkonskij bei Araktschejew gefunden hatte, fallen. Speranskij lachte.
»Der Vorstand der Militärgesetzkommission, Herr Magnizkij, ist ein guter Freund von mir«, sagte er, jede Silbe und jedes Wort deutlich aussprechend. »Wenn Sie wollen, kann ich Sie bei ihm einführen.« Er hielt genau die durch den Punkt bedingte Pause ein. »Ich hoffe, Sie werden bei ihm für alles Vernünftige Verständnis und Unterstützung finden.«
Sogleich hatte sich um Speranskij ein Kreis gebildet, und jener alte Herr, der von seinem Beamten Prianitschnikow gesprochen hatte, wandte sich nun auch mit einer Frage an Speranskij.
Fürst Andrej beteiligte sich nicht am allgemeinen Gespräch, beobachtete aber jede Bewegung Speranskijs, dieses Mannes, der noch vor kurzem ein unbedeutender Seminarist gewesen war und jetzt das Schicksal ganz Rußlands in seinen weißen, vollen Händen hielt. Die außerordentlich geringschätzige Ruhe, mit der Speranskij dem alten Herrn antwortete, machte auf Fürst Andrej tiefen Eindruck. Es war, als ob er von einer unermeßlichen Höhe ein paar herablassende Worte an ihn richtete. Als sich der alte Herr noch mehr zu ereifern anfing, lächelte Speranskij und sagte, er könne wohl nicht darüber urteilen, ob das, was dem Kaiser beliebe, vorteilhaft oder unvorteilhaft sei.
Nachdem sich Speranskij eine Zeitlang im allgemeinen Kreise unterhalten hatte, stand er auf, trat auf den Fürsten Andrej zu und ging mit ihm in die andere Ecke des Zimmers. Er hielt es sichtlich für notwendig, sich mit Bolkonskij zu beschäftigen.
»Ich bin infolge jenes lebhaften Gespräches, in das mich dieser ehrbare alte Herr hineingezogen hat, gar nicht dazu gekommen, mich mit Ihnen zu unterhalten, Fürst«, sagte er und lächelte kurz und geringschätzig, als wolle er durch dieses Lächeln zu erkennen geben, daß Fürst Andrej und er über die Nichtigkeit dieser Menschen, mit denen er soeben gesprochen hatte, doch wohl einig seien. Bolkonskij fühlte sich dadurch geschmeichelt. »Ich kenne Sie schon lange, erstens einmal durch diese Sache mit Ihren Bauern, die ein erstes Beispiel in dieser Art darstellt, dem Nachahmer nur zu wünschen wären, und zweitens daher, weil Sie einer jener Kammerherren sind, die sich durch den neuen Erlaß über die Rangstufen bei Hofe, der soviel Rederei und abfälliges Urteil heraufbeschworen hat, nicht beleidigt gefühlt haben.«
»Ja«, erwiderte Fürst Andrej, »mein Vater wollte nicht, daß ich von jenem Recht Gebrauch machte; ich habe von unten herauf gedient.«
»Ihr Herr Vater ist ein Mann des vorigen Jahrhunderts, steht aber offenbar weit über unseren Zeitgenossen, die diese Maßnahmen, die doch nur die natürliche Gerechtigkeit wiederherstellen, so verurteilen.«
»Dennoch bin ich der Ansicht, daß auch jenes absprechende Urteil nicht ganz des Grundes entbehrt«, sagte Fürst Andrej, bemüht, gegen den Einfluß Speranskijs, der sich bei ihm fühlbar zu machen begann, anzukämpfen.
Es war ihm unangenehm, ihm immer rechtgeben zu müssen; er wollte ihm einmal widersprechen. Obwohl Fürst Andrej sonst immer fließend und gewandt zu reden verstand, wurde es ihm jetzt, wo er mit Speranskij sprach, doch schwer, sich auszudrücken. So sehr nahm ihn die Beobachtung der Persönlichkeit des berühmten Mannes in Anspruch.
»Vielleicht ist dieser Grund nur persönlicher Ehrgeiz«, warf Speranskij ruhig ein.
»Es sprechen da wohl zum Teil auch staatliche Interessen mit«, erwiderte Fürst Andrej.
»Wie meinen Sie das?« fragte Speranskij und schlug ruhig die Augen nieder.
»Ich bin ein Verehrer Montesquieus[95]«, erwiderte Fürst Andrej und fuhr dann auf französisch fort: »Sein Grundsatz: ›Le principe des monarchies est l’honneur‹ scheint mir unanfechtbar. Und mich dünkt, gewisse Rechte und Privilegien des Adels sind weiter nichts als die Mittel, dieses Gefühl zu stützen.«
Aus Speranskijs blassem Gesicht schwand das Lächeln, und seine Züge gewannen dadurch sehr. Fürst Andrejs Gedanke interessierte ihn offenbar.
»Sie betrachten also das Problem von diesem Gesichtspunkt aus«, fing er an. Es wurde ihm offenbar schwer, Französisch zu sprechen, und er sprach es noch langsamer als das Russische, aber mit vollkommener Ruhe.
Er erwiderte, die Ehre einer Monarchie könne nicht durch Vorrechte aufrechterhalten werden, die der Abwicklung des Dienstes schädlich seien. Die Ehre sei entweder ein verneinender Begriff, der sich in Unterlassung mißbilligenswerter Handlungen äußere, oder jene bekannte Quelle des Wetteifers zum Erlangen von Auszeichnungen und Belohnungen, die eben dann eine positive Ehre bedeuteten. Seine Beweise waren kurz, einfach und klar.
»Eine Einrichtung, die diese Ehre, diese Quelle des Wetteifers aufrechterhält, ist zum Beispiel die Légion d’honneur des großen Kaisers Napoleon, die dem Staatsdienst nicht nur nicht schadet, sondern sogar noch zu seinem Erfolg beiträgt. Mit höfischen oder irgendwelchen anderen Standesvorrechten aber ist das etwas anderes.«
»Das will ich nicht bestreiten, doch läßt sich nicht leugnen, daß die Vorrechte bei Hofe dasselbe Ziel erreicht haben«, sagte Fürst Andrej. »Jeder bei Hofe hält es für seine Pflicht, sich seines Ranges und seiner Vorrechte würdig zu zeigen.«
»Und doch haben Sie von den Ihrigen keinen Gebrauch gemacht, Fürst«, erwiderte Speranskij und zeigte durch ein Lächeln, daß er diesem für seinen Partner unangenehmen Streit durch eine Liebenswürdigkeit ein Ende machen wolle. »Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, nächsten Mittwoch zu mir zu kommen«, fügte er noch hinzu, »so werde ich, nachdem ich mit Magnizkij Rücksprache gehalten habe, Ihnen mitteilen können, was für Sie von Interesse sein wird, und außerdem wird es mir ein Vergnügen sein, mich noch eingehender mit Ihnen unterhalten zu können.«
Er schloß die Augen, verbeugte sich und verließ, bemüht, nicht bemerkt zu werden, auf französische Art, ohne sich zu verabschieden, den Saal.
In der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Petersburg fühlte Fürst Andrej, daß der ganze Gedankenschatz, den er während seines einsamen Landlebens in sich ausgearbeitet hatte, durch die kleinlichen Sorgen, die ihn hier in Petersburg beschäftigten, vollkommen in den Hintergrund trat.
Wenn er abends nach Hause kam, schrieb er in sein Notizbuch vier oder fünf unumgänglich notwendige Besuche oder Zusammenkünfte zu festgesetzten Stunden ein. Das Getriebe des Lebens, die genaue Einteilung des Tages, damit er auch überall zur rechten Zeit hinkam, nahm einen großen Teil seiner eigentlichen Lebensenergie in Anspruch. Er tat nichts, dachte an nichts, hatte auch gar nicht die Zeit zu denken, sondern sprach nur, sprach mit Erfolg über das, worüber er erst so lange Zeit auf dem Lande nachgedacht hatte.
Mit Mißvergnügen bemerkte er bisweilen, daß er an ein und demselben Tag in verschiedenen Gesellschaften ein und dasselbe wiederholte. Aber er war ganze Tage so beschäftigt, daß er gar nicht einmal die Zeit hatte, daran zu denken, daß er eigentlich an nichts dachte.
Wie bei dem ersten Zusammentreffen bei Kotschubej, so machte Speranskij dann auch am Mittwoch in seinem Hause, wo er Bolkonskij allein empfing und sich lange und vertraulich mit ihm unterhielt, großen Eindruck auf den Fürsten Andrej.
Fürst Andrej hielt eine so große Menge Menschen für verachtungswürdige, unbedeutende Kreaturen und wünschte so sehr, in einem anderen das leibhafte Ideal jener Vollkommenheit zu finden, nach der er selber strebte, daß er nur zu gern glaubte, in Speranskij dieses Ideal eines durch und durch klugen, tugendhaften Menschen gefunden zu haben. Wäre Speranskij aus denselben Gesellschaftskreisen gewesen, denen Fürst Andrej entstammte, hätte er dieselbe Erziehung, dieselben moralischen Gewohnheiten gehabt, so hätte Bolkonskij wohl bald schwache menschliche, wenig heldenhafte Seiten an ihm herausgefunden; so aber flößte ihm dieser Reichtum an logischem Verstand um so mehr Achtung ein, weil er ihn nicht ganz begriff. Dazu kam noch, daß Speranskij, vielleicht weil er die Fähigkeiten Bolkonskijs zu schätzen wußte, oder nur deshalb, weil er es für nötig hielt, ihn für sich zu gewinnen, dem Fürsten Andrej gegenüber mit seinem unparteiischen, ruhigen Verstand kokettierte und ihn mit jener feinen, mit Selbstbewußtsein gepaarten Schmeichelei umwarb, die den anderen stillschweigend als den einzigen Menschen neben sich anerkennt, der fähig ist, die ganze Beschränktheit aller übrigen und die ganze Folgerichtigkeit und Tiefe der eignen Gedanken zu begreifen.
Während ihres langen Gespräches am Mittwoch abend sagte Speranskij mehr als einmal: »Bei uns sieht man auf alles, was über das Gleichmaß alteingewurzelter Gewohnheiten hinausgeht …« oder mit einem Lächeln: »Wir aber wollen, daß sowohl die Wölfe satt werden, als auch die Schafe unversehrt bleiben …« oder: »Das können die freilich nicht begreifen …« und immer mit einem Ausdruck, der besagte: Wir, das sind Sie und ich, wir wissen, was wir von denen zu halten haben, und wer wir sind.
Diese erste lange Unterhaltung mit Speranskij bestärkte in dem Fürsten jenes Gefühl, das er bereits empfunden hatte, als er ihn zum erstenmal gesehen hatte. Er sah in ihm einen klugen, streng denkenden Menschen von gewaltigem Verstand, der sich durch Energie und Hartnäckigkeit Macht errungen hatte und diese ausschließlich zum Heile Rußlands benutzte. Speranskij war in Fürst Andrejs Augen ein Mensch, der sich alle Lebenserscheinungen durch den Verstand zu erklären vermochte, der nur das als bedeutsam anerkannte, was wirklich vernünftig schien, der alles mit dem Maßstab der Vernunft zu messen imstande war, kurz, eben solch ein Mensch, wie er selber gern zu sein wünschte. Alles erschien durch Speranskijs Auslegung so einfach und klar, daß Fürst Andrej ihm unwillkürlich in allem beistimmen mußte. Wenn er Einwände erhob und dagegen stritt, so tat er das nur aus dem Grund, weil er absichtlich selbständig bleiben und sich nicht in allem Speranskijs Meinung unterwerfen wollte. Alles war gut und schön an ihm, nur eines störte den Fürsten Andrej: das war Speranskijs kalter Spiegelblick, der kein Eindringen in sein Inneres zuließ, und seine weiße, zarte Hand, die Fürst Andrej unwillkürlich immer wieder betrachtete, wie man die Hände von Machthabern zu betrachten pflegt. Dieser Spiegelblick und diese zarte Hand ärgerten Fürst Andrej aus irgendeinem Grund. Einen unangenehmen Eindruck machte auf ihn ferner noch die allzu große Verachtung anderer Leute, die er an Speranskij wahrnahm, sowie die mannigfaltigen Kunstgriffe bei der Beweisführung, deren er sich zur Bestätigung seiner Ansichten bediente. Er gebrauchte alle nur möglichen Geisteswaffen, mit Ausnahme des Vergleiches, und ging, wie es Bolkonskij wenigstens schien, bisweilen allzu kühn von der einen zur anderen über. Bald stellte er sich auf den Standpunkt eines Mannes der Tat und verurteilte alle Träumer, bald kehrte er den Satiriker heraus und machte sich mit scharfer Ironie über seine Gegner lustig, bald zeigte er sich als streng logischer Denker, bald stieg er zu den Höhen der Metaphysik empor. Diese letzte Waffe wandte er bei seiner Beweisführung ganz besonders oft an. Er hob dann die Streitfrage bis zu den Höhen der Metaphysik hinauf, ging auf die Begriffsbestimmung von Raum, Zeit und Gedanken ein, und wenn er sich dort genügend mit Gegengründen gewappnet hatte, ließ er sich wieder auf den Boden des umstrittenen Punktes herab.
Vor allem fiel dem Fürsten Andrej der Hauptzug in Speranskijs Geist auf: das war sein zweifelsfreier, unerschütterlicher Glaube an die Kraft und Gesetzmäßigkeit des Verstandes. Es war klar, daß jener für Bolkonskij alltägliche Gedanke, daß man unmöglich alles in Worte fassen könne, was man denke, einem Speranskij nie in den Sinn gekommen wäre, und daß diesen niemals der Zweifel befallen würde, ob nicht all das, was er denke und glaube, Unsinn sei. Und gerade diese Geschlossenheit des Geistes bei Speranskij war es, die den Fürsten Andrej mehr als alles andere anzog.
In der ersten Zeit seiner Bekanntschaft mit Speranskij empfand Fürst Andrej ein leidenschaftliches Gefühl der Begeisterung für ihn, ähnlich dem, das er einstmals für Bonaparte empfunden hatte. Der Umstand, daß Speranskij ein Priestersohn war, was dummen Leuten tatsächlich Anlaß gab, ihn als Kirchner- und Popensohn zu verachten, veranlaßte den Fürsten Andrej, ganz besonders behutsam mit seinen Gefühlen für Speranskij umzugehen und sie dadurch in sich selber unbewußt noch zu festigen.
An jenem ersten Abend, den Bolkonskij bei ihm verbrachte, erzählte Speranskij, als sie auf die Gesetzkommission zu sprechen kamen, dem Fürsten Andrej mit bitterer Ironie, daß diese Kommission nun schon hundertundfünfzig Jahre bestehe, Millionen gekostet und bisher nichts geleistet habe, als daß Rosenkampf alle Akten der vergleichenden Gesetzgebung mit Schildchen beklebt habe.
»Das ist alles, dafür hat der Staat Millionen bezahlt«, sagte er. »Wir wollen dem Senat eine neue richterliche Gewalt geben und haben keine Gesetze. Darum wäre es auch eine Sünde, wenn solche Leute wie Sie, Fürst, jetzt nicht in den Staatsdienst träten.«
Fürst Andrej warf ein, daß man dazu doch eine juristische Vorbildung brauche, die er nicht besitze.
»Aber die hat ja niemand, was wollen Sie also? Es ist dies ein circulus vitiosus, aus dem wir mit Gewalt herauskommen müssen.«
Acht Tage später war Fürst Andrej Mitglied der Kommission zur Ausarbeitung der Militärverordnungen und, was er keineswegs erwartet hatte, Vorsitzender einer Abteilung der allgemeinen Gesetzkommission. Auf Bitten Speranskijs übernahm er den ersten Teil des in Angriff genommenen Bürgerlichen Gesetzbuches und machte sich mit Hilfe des Code Napoleon[96] und Justinians Corpus juris civilis[97] an die Ausarbeitung des Kapitels Personenrecht.
Als Pierre vor zwei Jahren, 1808, von der Reise durch seine Güter nach Petersburg zurückgekehrt war, hatte man ihn, ziemlich gegen seinen Willen, zum Oberhaupt der Petersburger Freimaurer gewählt. Er veranstaltete Tafellogen und Grablogen, warb neue Mitglieder, kümmerte sich um die Vereinigung verschiedener Logen und um die Erwerbung von Originalurkunden. Er ließ für sein Geld die Logenhallen ausstatten und bereicherte nach Kräften die Sammlung von Almosen, der gegenüber sich die meisten Mitglieder geizig und wenig gewissenhaft zeigten. Das Armenhaus, das der Orden in Petersburg errichtet hatte, erhielt er fast allein aus seinen eignen Mitteln.
Indessen ging sein Leben seinen alten Gang, mit denselben Neigungen und Ausschweifungen. Ganz wie früher aß er gern gut und trank auch viel, und obgleich er es für unsittlich und erniedrigend erachtete, so konnte er doch den Vergnügungen der Junggesellen, die seine Gesellschaft bildeten, nicht entsagen.
Im Dunstkreis dieser Beschäftigungen und Liebhabereien keimte aber doch nach Verlauf eines Jahres in Pierre das Gefühl auf, daß jener Boden der Freimaurerei, auf dem er stand, ihm immer mehr unter den Füßen wegglitt, je fester er auf ihm zu stehen bemüht war. Gleichzeitig hatte er das Empfinden: je tiefer dieser Boden, auf dem er stand, unter seinen Füßen sinke, um so willenloser sei er an ihn gekettet. Als er bei den Freimaurern eintrat, hatte er das Gefühl eines Menschen gehabt, der vertrauensvoll seinen Fuß auf die glatte Oberfläche eines Sumpfes setzt. Er hatte seinen Fuß darauf gesetzt und war eingesunken. Um sich aber völlig von der Festigkeit des Bodens, auf dem er stand, zu überzeugen, hatte er dann auch den anderen Fuß aufgesetzt, war noch tiefer eingesunken, konnte nicht wieder heraus und watete nun gegen seinen Willen bis an die Knie in diesem Sumpf.
Osip Alexejewitsch war nicht in Petersburg. Er hatte sich in letzter Zeit von den Geschäften der Petersburger Logen ganz zurückgezogen und lebte ständig in Moskau. Alle Brüder und Logenmitglieder waren Pierre auch im öffentlichen Leben bekannt, und es fiel Pierre schwer, in ihnen nur Freimaurerbrüder zu sehen, nicht aber einen Fürsten B. oder einen Iwan Wassiljewitsch D. die er im Leben meistens als schwache, unbedeutende Leute kannte. Durch den Freimaurerschurz und seine Abzeichen hindurch sah er ihre Uniformen und Orden, die sie sich im Leben errungen hatten. Oft, wenn er Almosen sammelte und dann von einem Dutzend Mitglieder, von denen die Hälfte ebenso reich war wie er, nur eine Einnahme von zwanzig bis dreißig Rubeln zusammenzählte, von denen noch ein großer Teil schuldig geblieben war und nur auf der Liste stand, mußte Pierre an den Freimaurerschwur denken, durch den jeder Bruder versprach, all sein Hab und Gut dem Nächsten hinzugeben, und in seiner Seele stiegen Zweifel auf, die er jedoch zu bannen bemüht war.
Alle Brüder, die er kannte, teilte er in vier Gruppen ein. Zur ersten zählte er jene Brüder, die weder an den Geschäften noch an den sozialen Bestrebungen der Loge tätigen Anteil nahmen, sondern sich ausschließlich mit den geheimen Wissenschaften des Ordens beschäftigten, mit den Fragen über den dreifachen Namen Gottes oder über die drei Urelemente aller Dinge: Schwefel, Quecksilber und Salz, oder über die Bedeutung des Quadrates und aller Figuren des Salomonischen Tempels. Dieser Gruppe von Freimaurern, zu denen vorwiegend die älteren Brüder und Pierres Ansicht nach auch Osip Alexejewitsch selber gehörten, brachte Pierre große Achtung entgegen, aber er teilte ihre Interessen nicht. Sein Herz zog ihn nicht zu der mystischen Seite der Freimaurerei.
Zur zweiten Gruppe zählte Pierre sich selber und alle ihm ähnlichen Brüder, die suchten und strauchelten, den geraden, im Geist bereits erfaßten Weg der Freimaurerei noch nicht gefunden hatten, aber ihn noch zu finden hofften.
Zur dritten Gruppe rechnete er diejenigen Brüder – und ihrer war die größte Zahl –, die in der Freimaurerei nichts weiter sahen als äußere Formen und Feierlichkeiten und sich eine strenge Erfüllung dieser äußeren Formen angelegen sein ließen, ohne sich um ihren Inhalt und ihre Bedeutung zu kümmern. Zu diesen gehörte Willarski und sogar auch der Meister vom Stuhl der Hauptloge.
Zur vierten Gruppe endlich rechnete er ebenfalls eine große Menge von Brüdern, besonders diejenigen, die erst in letzter Zeit in die Brüderschaft eingetreten waren. Das waren Leute, die, wie Pierre beobachtet hatte, weder an irgend etwas glaubten noch nach irgend etwas strebten und nur in den Freimaurerorden eingetreten waren, um sich jungen, reichen, einflußreichen und berühmten Brüdern nähern zu können, deren es in der Loge eine große Anzahl gab.
Pierre fing an, sich durch seine Tätigkeit unbefriedigt zu fühlen. Die Freimaurerei, wenigstens diejenige, die er hier kennen gelernt hatte, erschien ihm manchmal nur auf bloßen Äußerlichkeiten aufgebaut. Es kam ihm nicht in den Sinn, an der Freimaurerei selbst zu zweifeln, aber er argwöhnte, daß die russische Freimaurerei auf einen falschen Weg geraten sei und sich von ihren Urquellen entfernt habe. Aus diesem Grund fuhr er denn Ende des Jahres ins Ausland, um sich in die höheren Geheimnisse des Ordens einweihen zu lassen.
Noch im Sommer 1809 kehrte Pierre nach Petersburg zurück. Aus dem Briefwechsel unserer Freimaurer mit ihren ausländischen Brüdern war bekannt geworden, daß es Besuchow im Ausland gelungen war, das Vertrauen vieler hochgestellter Persönlichkeiten zu erwerben, daß er in viele Geheimnisse eingedrungen und zu den höchsten Würden erhoben sei, und daß er vieles mitbringe, was dem gesamten Freimaurertum in Rußland zum Segen gereichen werde. So kamen denn alle Petersburger Freimaurer zu ihm und suchten sich bei ihm einzuschmeicheln, aber alle hatten den Eindruck, als ob er etwas verheimliche und vorbereite.
Es wurde eine feierliche Logensitzung zweiten Grades angesetzt, da Pierre versprochen hatte, in dieser Sitzung alles das mitzuteilen, was er den Petersburger Brüdern von den höchsten Leitern des Ordens zu überbringen hatte. Der Raum war gefüllt bis auf den letzten Platz. Nach den üblichen Feierlichkeiten stand Pierre auf und begann seine Rede.
»Geliebte Brüder«, fing er an, errötend und stotternd, die Niederschrift seiner Rede in der Hand haltend. »Es genügt nicht, daß wir in der Stille der Loge unsere Geheimnisse wahren, wir müssen wirken … handeln. Wir fangen an zu stagnieren, darum müssen wir handeln …«
Pierre nahm sein Heft in die Hand und fing an vorzulesen.
»Um die lautere Wahrheit zu verbreiten und den Triumph der Tugend herbeizuführen«, las er, »müssen wir die Menschen von Vorurteilen freimachen, Gesetze verbreiten, die dem Geist der Zeit entsprechen, die Erziehung der Jugend auf uns nehmen, die klügsten Menschen mit unlösbaren Banden an uns knüpfen, kühn, aber doch einsichtsvoll Aberglauben, Unglauben und Dummheit aus dem Feld schlagen und aus der Zahl der uns ergebenen Menschen Leute aussuchen, die, verbunden durch ein gemeinsames Ziel, zu Macht und Kraft gelangen.
Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir der Tugend zum Sieg über das Laster verhelfen und danach streben, daß jedem ehrbaren Menschen schon in dieser Welt der ewige Lohn für seine guten Taten zuteil werde. Aber diesen unseren edlen Absichten stellen sich unendlich viele äußere, politische Einrichtungen entgegen. Was sollen wir tun bei einer solchen Lage der Dinge? Sollen wir Revolutionen befürworten, das Oberste zuunterst kehren, Gewalt durch Gewalt vertreiben? … Nein, das sei fern von uns. Jede gewaltsame Reform ist tadelnswert, weil man das Böse niemals gut machen kann, solange die Menschen selber so bleiben, wie sie sind, und weil die Weisheit keiner Gewalt bedarf.
Die ganze Anlage des Ordens muß darauf fußen, charakterstarke, tugendhafte Menschen heranzubilden, die sich durch das Band einer gemeinsamen Überzeugung verbunden fühlen, einer Überzeugung, die darin zum Ausdruck kommt, überall und mit allen Kräften Laster und Torheit zu verfolgen, Talente und Tugenden zu beschützen und würdige Menschen aus dem Staub emporzuziehen und sie unserer Brüderschaft einzuverleiben. Erst dann wird unser Orden die Macht haben, denen, die den Wirrwarr begünstigen, unmerklich die Hände zu binden und sie so zu lenken und zu leiten, daß sie es nicht einmal merken. Mit einem Wort, es muß eine allumfassende Regierungsform ins Leben gerufen werden, die über die ganze Welt verbreitet werden muß, ohne die bürgerlichen Bande zu zerreißen, unter der alle übrigen Regierungen in ihrer gewohnten Ordnung weiterbestehen und alles anordnen können, nur das nicht, was dem hohen Ziel unseres Ordens, das heißt dem Sieg der Tugend über das Laster, zuwiderläuft. Dieses selbe Ziel hat sich auch das Christentum schon gesteckt. Es hat den Menschen gelehrt, weise und gut zu sein und zu seinem eignen Nutz und Frommen dem Beispiel und den Lehren der besten und weisesten Menschen zu folgen.
Damals, als alles noch in Nacht und Tod begraben lag, genügte natürlich die Predigt allein: das Neue dieser Wahrheit verlieh ihr eine ganz besondere Kraft. Heutzutage aber brauchen wir stärkere Mittel. Der Mensch von heute, der sich nur noch von seinen Gefühlen leiten läßt, muß bei einer tugendhaften Handlung einen fühlbaren Reiz empfinden. Die Leidenschaften auszurotten ist unmöglich, man kann sich nur bemühen, sie auf edle Ziele zu richten, und deshalb ist es erforderlich, daß unser Orden jedem die Mittel in die Hand gibt, seine Leidenschaften innerhalb der Grenzen der Tugend zu befriedigen.
Sobald wir nur erst in jedem Staat eine gewisse Anzahl würdiger Männer haben, von denen jeder wieder ein paar weitere erzieht, und sobald alle unter sich eng verbunden sein werden, wird für unseren Orden, der im geheimen schon viel zum Segen der Menschheit beitragen konnte, alles, alles möglich sein.«
Diese Rede machte nicht nur starken Eindruck, sie hatte auch heftige Erregung in der Loge zur Folge. Die meisten Brüder, die in dieser Rede gefährliche, aufklärerische Absichten[98] witterten, nahmen Pierres Worte mit einer Kälte auf, die ihn in Erstaunen setzte. Der Großmeister fing an, Einwendungen zu machen. Pierre entwickelte seine Ideen mit immer größerem Eifer. Lange hatte es keine so stürmische Sitzung gegeben. Es bildeten sich zwei Parteien: die einen verurteilten Pierre und beschuldigten ihn westlicher Aufklärungssucht, die anderen stimmten ihm bei und unterstützten ihn. In dieser Versammlung bestaunte Pierre zum erstenmal die unendliche Mannigfaltigkeit des menschlichen Auffassungsvermögens, die bewirkt, daß sich eine Wahrheit nicht in zwei Menschenköpfen auf ein und dieselbe Weise offenbart. Selbst diejenigen Mitglieder der Versammlung, die auf seiner Seite zu stehen schienen, verstanden ihn auf ihre Art, das heißt mit Einschränkungen und Abänderungen, mit denen sich wiederum Pierre nicht einverstanden erklären konnte, da es ihm gerade ein Herzensbedürfnis war, seine Ideen den anderen genau so, wie er sie selber verstand, weiterzugeben.
Zum Schluß der Sitzung machte der Meister vom Stuhl Pierre gegenüber die mißgünstige und ironische Bemerkung, daß er zu heftig geworden sei und sich bei der Diskussion nicht von der Liebe zur Tugend allein, sondern auch von seiner Streitsucht habe leiten lassen. Pierre gab ihm darauf keine Antwort, sondern fragte nur kurz, ob sein Vorschlag angenommen werde. Man sagte ihm, daß dies nicht der Fall sei, und Pierre verließ, ohne die üblichen Formalitäten abgewartet zu haben, die Loge und fuhr nach Hause.
Wieder kam nun jene Schwermut über Pierre, die er so sehr fürchtete. Nachdem er diese Rede in der Loge gehalten hatte, lag er drei Tage lang zu Hause auf seinem Diwan, empfing keinen Menschen und ging nirgends hin.
In diesen Tagen erhielt er einen Brief von seiner Frau, die ihn um ein Wiedersehen anflehte und ihm schrieb, wie sehr sie sich nach ihm sehne und wünsche, ihm ihr ganzes Leben zu weihen.
Am Schluß des Briefes teilte sie ihm mit, daß sie in diesen Tagen aus dem Ausland zurückkehren und nach Petersburg kommen werde.
Bald nach diesem Brief drang noch ein Freimaurerbruder in Pierres Einsamkeit ein, den er weniger als alle anderen schätzte, brachte die Rede auf Pierres Ehe und sprach in Form eines brüderlichen Rates den Gedanken aus, Pierres Strenge gegen seine Frau sei ungerecht und verstoße gegen die ersten Grundsätze der Freimaurerei, weil er einer Reuigen nicht verzeihe.
Gleichzeitig schickte auch seine Schwiegermutter, die Frau des Fürsten Wassilij, zu ihm und ließ ihn inständig bitten, sie doch nur auf ein paar Augenblicke zu besuchen, da sie eine äußerst wichtige Angelegenheit mit ihm zu besprechen habe. Pierre merkte, daß man sich verabredet hatte, ihn wieder mit seiner Frau zusammenzubringen, und das war ihm in dem Zustand, in dem er sich jetzt befand, nicht einmal unangenehm. Ihm war alles gleichgültig: nichts im Leben schien ihm von Wichtigkeit, und unter dem Einfluß der Schwermut, die sich ganz seiner bemächtigt hatte, legte er weder Wert auf seine Freiheit noch auf ein hartnäckiges Beharren auf der Bestrafung seiner Frau.
Niemand hat recht, niemand ist schuld, folglich ist auch sie nicht schuldig, dachte er.
Wenn Pierre nicht sogleich seine Zustimmung zu einer Wiedervereinigung mit seiner Frau gab, so geschah das nur aus dem Grund, weil er in dem Zustand der Schwermut, in dem er sich befand, gar nicht die Kraft hatte, irgend etwas zu unternehmen. Wäre seine Frau jetzt zu ihm gekommen, er hätte sie nicht weggejagt. War es nicht im Vergleich zu dem, was ihn jetzt beschäftigte, völlig gleichgültig, ob er mit seiner Frau zusammenlebte oder nicht?
Er gab weder seiner Frau noch der Schwiegermutter eine Antwort, machte sich eines späten Abends auf und fuhr nach Moskau, um Osip Alexejewitsch wiederzusehen. In dieser Zeit trug er folgendes in sein Tagebuch ein:
»Moskau, den 17. November.
Soeben komme ich von meinem Wohltäter zurück und beeile mich, alles niederzuschreiben, was ich bei ihm erfahren und empfunden habe. Osip Alexejewitsch lebt in großer Armut und leidet nun schon das dritte Jahr an einer schmerzhaften Blasenkrankheit. Aber niemand hat je einen Seufzer noch ein Wort der Klage von ihm gehört. Vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein ist er, mit Ausnahme der Stunden, da er seine höchst frugalen Mahlzeiten einnimmt, mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt. Er empfing mich gütig und forderte mich auf, mich auf das Bett zu setzen, in dem er lag. Ich machte ihm das Zeichen der Ritter aus dem Morgenland und aus Jerusalem, er antwortete mir auf dieselbe Art und fragte mich mit sanftem Lächeln, was ich in den preußischen und schottischen Logen erfahren und mir zu eigen gemacht habe. Ich erzählte ihm alles, so gut ich konnte, teilte ihm jene grundlegenden Ideen mit, die ich in der Petersburger Loge vorgeschlagen, erwähnte die üble Aufnahme, die ich gefunden, und den Bruch, der sich zwischen den Brüdern und mir vollzogen hatte. Osip Alexejewitsch schwieg ziemlich lange, dachte nach und legte mir dann seine Ansicht dar, die mir augenblicklich alles Vergangene und den ganzen künftigen Weg erhellte, der vor mir lag. Er setzte mich durch die Frage in Erstaunen, ob ich mich noch darauf besänne, was das dreifache Ziel des Ordens sei: 1. die Hütung und Erforschung des heiligen Geheimnisses, 2. die Läuterung und Besserung des eignen Ichs, um dieses Geheimnis aufnehmen zu können, und 3. die Veredlung des ganzen Menschengeschlechtes durch dieses Streben nach eigner Läuterung. Welches von diesen dreien sei nun das hauptsächlichste und erste Ziel? Natürlich das der eignen Besserung und Läuterung. Nur nach diesem einen Ziel könnten wir immer unabhängig von allen äußeren Umständen streben. Und dabei koste uns dieses Ziel weit mehr Mühe und Arbeit, und deshalb ließen wir uns vom Stolz irreführen, gingen diesem Ziel aus dem Weg und gäben uns lieber mit dem Geheimnis ab, das in uns aufzunehmen wir unserer Unreinheit wegen gar nicht würdig seien, oder mit der Veredlung des Menschengeschlechtes, während wir selber noch ein Beispiel der Verderbtheit und Ausschweifung böten. Der westliche Aufklärungsorden sei deshalb keine reine Lehre, weil er zum Eingreifen in die Staatsgeschäfte neige und von Hoffart erfüllt sei. Von diesem Standpunkt aus verurteilte Osip Alexejewitsch meine Rede und meine ganze Wirksamkeit. Ich mußte ihm im innersten Herzen recht geben. Als dann die Rede auf meine Familienangelegenheiten kam, sagte er zu mir: ›Die erste Pflicht eines wahren Mannes besteht, wie ich Ihnen schon sagte, in der Vervollkommnung seiner selbst. Oft glauben wir dieses Ziel eher zu erreichen, wenn wir alle Schwierigkeiten aus unserem Leben wegräumen. Im Gegenteil, mein Lieber‹, sagte er zu mir, ›nur mitten im Trubel der Welt können wir die drei Hauptziele erreichen: 1. Selbsterkenntnis, denn der Mensch kann nur durch den Vergleich zur Selbsterkenntnis gelangen, 2. Vervollkommnung, die nur durch Kampf zu erreichen ist, und 3. das Erwerben der Haupttugend: der Liebe zum Tod, denn nur die Wandelbarkeit des Lebens kann uns von seiner Nichtigkeit überzeugen und dazu beitragen, die uns angeborene Liebe zum Tod und Auferstehen zu einem neuen Leben in uns zu festigen.‹
Diese Worte schienen mir um so merkwürdiger, weil Osip Alexejewitsch trotz seines schweren physischen Leidens das Leben niemals als schwer empfunden hat und doch den Tod liebt, für den er sich jedoch noch nicht genügend vorbereitet glaubt, obgleich er ein so reiner Mensch ist und geistig so hoch steht. Dann erklärte mir mein Wohltäter noch völlig die Bedeutung des großen Schöpfungsquadrates und wies mich darauf hin, daß die Drei- und die Siebenzahl die Grundlage aller Dinge bilden. Er riet mir, mich von der Gemeinschaft mit den Petersburger Brüdern nicht fernzuhalten und mich zu bemühen, da ich in der Loge nur die Pflichten des zweiten Grades zu erfüllen habe, die Brüder vor den Verführungen des Hochmuts zu bewahren und sie dem wahren Pfade der Selbsterkenntnis und Vervollkommnung zuzuführen. Außerdem riet er mir noch persönlich, vor allen Dingen auf mich selber zu achten, und gab mir zu diesem Zweck ein Heft, eben das selbe, in das ich jetzt schreibe und künftig alle meine Handlungen eintragen werde.«
»Petersburg, den 23. November.
Ich lebe wieder mit meiner Frau zusammen. Meine Schwiegermutter kam, in Tränen aufgelöst, zu mir und erzählte, Helene sei hier und flehe mich an, ihr Gehör zu schenken, sie sei unschuldig und unglücklich darüber, daß ich nichts von ihr wissen wolle, und noch vieles andere mehr. Ich wußte, daß, wenn ich nur meine Einwilligung zu einem Wiedersehen gab, ich nicht mehr die Kraft haben würde, ihre Wünsche abzuschlagen. In meiner Ratlosigkeit wußte ich nicht, bei wem ich mir Hilfe und Rat holen sollte. Wenn mein Wohltäter hier gewesen wäre, so hätte er mir schon einen Rat gegeben. Ich zog mich zurück, las Osip Alexejewitschs Briefe noch einmal durch, erinnerte mich an das, was er mir gesagt hatte, und zog aus alledem den Schluß, daß ich einen Bittenden nicht zurückweisen durfte und meine helfende Hand jedem entgegenstrecken mußte, um so mehr einem Menschen, der so eng mit mir verbunden war, und daß es meine Pflicht sei, mein Kreuz auf mich zu nehmen. Wenn ich ihr aber nur um der Tugend willen verziehen habe, so mag und wird auch meine Wiedervereinigung mit ihr nur einen geistigen Zweck haben. In diesem Sinn entschloß ich mich und schrieb auch an Osip Alexejewitsch. Ich sagte meiner Frau, ich bäte sie, alles Vergangene zu vergessen und mir das zu verzeihen, worin ich gegen sie gefehlt haben mochte, ich selber hätte ihr nichts zu vergeben. Es war mir eine Freude, ihr das zu schreiben. Sie soll nicht wissen, wie schwer es mir wird, sie wiederzusehen. Ich habe mich in den oberen Räumen meines großen Hauses einquartiert und empfinde das glückliche Gefühl einer Wiedergeburt.«
Wie immer, teilte sich auch damals die erste Gesellschaft, die sich bei Hofe und auf den großen Bällen traf, in verschiedene Kreise, von denen jeder seine eigne Färbung hatte. Der größte dieser Kreise war der französische, der, mit Graf Rumjanzew und Caulaincourt an der Spitze, gewissermaßen das Bündnis mit Napoleon versinnbildlichte. In diesem Kreis spielte Helene, sobald sie sich nur in Petersburg wieder mit ihrem Mann vereinigt hatte, eine der ersten Rollen. In ihrem Hause verkehrten die Herren der französischen Gesandtschaft sowie eine Menge Leute, die durch Geist und Liebenswürdigkeit bekannt waren und zu dieser Richtung gehörten.
Während der Zeit der berühmten Zusammenkunft der beiden Kaiser war Helene mit in Erfurt gewesen und hatte von dort diese Beziehungen zu allen napoleonischen Größen Europas mitgebracht. In Erfurt hatte sie einen glänzenden Erfolg gehabt. Napoleon selber hatte, als sie ihm einmal im Theater auffiel, von ihr gesagt: »C’est un superbe animal.« Über ihre Erfolge als schöne und elegante Frau wunderte sich Pierre keineswegs, da sie in diesen Jahren noch schöner geworden war als früher. Was ihn aber in Erstaunen setzte, war, daß es ihr in den zwei Jahren gelungen war, sich den Ruf »einer ebenso geistreichen wie reizenden Frau« zu verschaffen. Der berühmte Fürst de Ligne schrieb ihr acht Seiten lange Briefe, und Bilibin sparte seine Geistesblitze auf, um sie zum erstenmal in Anwesenheit Helenes zum besten geben zu können. Im Salon der Gräfin Besuchowa empfangen zu werden, galt gewissermaßen für ein Zeugnis geistiger Reife, die jungen Leute lasen vor den Abendgesellschaften bei Helene Bücher durch, um in ihrem Salon über etwas sprechen zu können, die Gesandtschaftssekretäre und sogar die Gesandten selber vertrauten ihr diplomatische Geheimnisse an, so daß Helene gewissermaßen zu einer Macht geworden war. Pierre, der wußte, daß sie sehr dumm war, empfand immer ein sonderbares Gefühl von Zweifel und Angst, wenn er manchmal ihren Abendgesellschaften und Diners, wo von Politik, Dichtkunst und Philosophie gesprochen wurde, beiwohnte. Bei diesen Gesellschaften fühlte er sich immer in die Lage versetzt, in der sich ein Taschenspieler befinden muß, der jeden Augenblick erwartet, daß man hinter seine Schliche kommt. War es vielleicht aus dem Grund, weil zur Führung eines solchen Salons tatsächlich etwas Dummheit vonnöten ist, oder deshalb, weil den davon Betroffenen diese Täuschung selber Spaß machte – jedenfalls kam dieser Betrug nicht an den Tag, und Helenes Ruf einer »ebenso geistreichen wie reizenden Frau« stand so unerschütterlich fest, daß sie die fadesten, dümmsten Dinge sagen konnte und dennoch alle von jedem ihrer Worte entzückt waren und einen tiefen Sinn darin suchten, den sie sich selber niemals hätte träumen lassen.
Pierre war nun gerade der rechte Gatte, den eine so glänzende Dame von Welt brauchte. Er war jener zerstreute Sonderling und als Ehemann der Grandseigneur, der keinem im Weg war, und störte darum nicht nur den Gesamteindruck des vornehmen Tones in ihrem Salon durchaus nicht, sondern bot sogar durch seine entgegengesetzte Veranlagung für die Eleganz und den Takt seiner Frau einen für sie selber nur vorteilhaften Hintergrund. Infolge der steten inneren Sammlung, der ausschließlichen Beschäftigung mit nur geistigen Dingen und der aufrichtigen Nichtachtung alles übrigen während dieser zwei Jahre hatte sich Pierre in den Gesellschaften seiner Frau, die ihn so wenig interessierten, allen gegenüber jenen gleichgültigen, lässigen und gönnerhaften Ton angewöhnt, den man sich nicht künstlich zu eigen machen kann und der eben aus diesem Grund immer unwillkürlich Achtung einflößt.
Er ging in den Salon seiner Frau wie ins Theater, kannte alle, bekundete allen die gleiche Freude über ihr Erscheinen und zeigte sich gegen den einen ebenso gleichgültig wie gegen den andern. Manchmal mischte er sich in eine Unterhaltung, die ihn interessierte, und sprach, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob Herren von der Gesandtschaft da waren oder nicht, offen seine Ansichten aus, die mitunter durchaus nicht mit der gerade zur Zeit herrschenden Stimmung im Einklang standen. Doch sein Ruf als sonderbarer Gatte de la femme la plus distinguée de Pétersbourg hatte schon so festen Fuß gefaßt, daß niemand seine Entgleisungen ernst nahm.
Unter der Zahl der vielen jungen Leute, die täglich im Hause Helenes verkehrten, war Boris Drubezkoj, der im Dienst schon mit Erfolg vorwärtsgekommen war, nach Helenes Rückkehr aus Erfurt einer von denen, die dem Haus Besuchow am nächsten standen. Helene nannte ihn ihren Pagen und behandelte ihn wie ein Kind. Sie lächelte ihm zu wie jedem andern auch, und doch hatte Pierre manchmal ein unangenehmes Gefühl, wenn er dieses Lächeln sah. Boris legte Pierre gegenüber eine besondere Ehrerbietung an den Tag, in der sich Würde und Schwermut paarten. Eine so gefärbte Achtungsbezeigung war gleichfalls dazu angetan, Pierre zu beunruhigen. Er hatte vor drei Jahren unter jener Beleidigung, die ihm seine Frau zugefügt hatte, so sehr gelitten, daß er sich jetzt vor der Möglichkeit einer ähnlichen Kränkung nur dadurch zu retten suchte, daß er erstens einmal nicht der Gatte seiner Frau war, und zweitens einen Verdacht gar nicht in sich aufkommen ließ.
Nein, jetzt, wo sie ein Blaustrumpf geworden ist, wird sie wohl ihren Neigungen von früher gänzlich entsagt haben, sagte er sich im stillen. Es ist noch nie dagewesen, daß ein Blaustrumpf Herzensgelüste gehabt hätte, sprach er einen als Regel geltenden Satz nach, ohne selber zu wissen, woher er ihn genommen hatte, an den er aber zweifellos glaubte. Trotzdem wirkte Boris’ Anwesenheit im Salon seiner Frau – und er war fast beständig dort – sonderbarerweise physisch auf Pierre ein, lähmte ihm die Glieder und nahm allen seinen Bewegungen das Freie und Unbewußte.
Welch merkwürdige Antipathie! dachte Pierre. Und früher gefiel er mir doch ganz gut.
In den Augen der Welt war Pierre der große Herr, der etwas blinde und lächerliche Gatte einer berühmten Frau, ein kluger, komischer Kauz, der weder Nutzen noch Schaden stiftete, alles in allem aber ein anständiger, guter Kerl. In Pierres Seele aber ging in all dieser Zeit eine komplizierte, schwierige Entwicklung vor sich, die ihm manches offenbarte und ihn zu vielen Zweifeln und vielen Seelenfreuden führte.
Er fuhr fort, sein Tagebuch zu führen, und trug in dieser Zeit folgendes ein:
»Den 24. November.
Ich stand um acht Uhr auf, las in der Heiligen Schrift, ging dann meinen Geschäften nach« – auf den Rat seines Wohltäters war Pierre in den Dienst getreten und gehörte einem der Komitees an –, »kam zum Mittagessen nach Hause, speiste allein – bei der Gräfin waren eine Menge Gäste, die mir unangenehm sind –, aß und trank mäßig und schrieb nach dem Mittagessen etwas für die Brüder ab. Abends ging ich zur Gräfin und erzählte eine komische Geschichte von B. Daß ich dies nicht hätte tun dürfen, fiel mir erst in dem Augenblick ein, als alle bereits laut lachten.
Ich lege mich mit ruhigem und zufriedenem Herzen schlafen. Großer Gott, hilf mir, daß ich auf Deinen Wegen wandle und 1. den Zorn durch Sanftmut und Vorsicht, 2. die Lüsternheit durch Enthaltsamkeit und Abscheu überwinde und 3. mich von allem eitlen Treiben fernhalte, ohne mich jedoch von folgendem auszuschließen: à) vom Staatsdienst, b) von Familiensorgen, c) vom Umgang mit meinen Freunden und d) von Wirtschaftsgeschäften.«
»Den 27. November.
Ich stand spät auf, da ich mich, nachdem ich aufgewacht war, noch der Faulheit hingegeben und im Bett liegengeblieben war. Mein Gott, hilf mir und stärke mich, damit ich auf Deinen Wegen wandle! Ich las in der Heiligen Schrift, aber ohne die gebührende Sammlung. Dann kam der Bruder Urusow, und wir unterhielten uns über die Eitelkeiten dieser Welt. Er erzählte von den neuen Plänen des Kaisers. Ich wollte schon ein absprechendes Urteil darüber fällen, aber es fielen mir noch rechtzeitig unsere Grundsätze und die Worte meines Wohltäters ein, daß der wahre Freimaurer, wenn seine Teilnahme verlangt wird, ein eifriger Diener des Staates, sonst aber ein stiller Beschauer dessen, wozu er nicht berufen ist, sein soll. Die Zunge ist mein Feind.
Dann besuchten mich noch die Brüder G. W. und O. und wir hatten eine Vorbesprechung über die Aufnahme eines neuen Bruders. Sie wollten mir dabei das Amt des Rhetors übertragen. Aber ich fühlte mich dazu zu schwach und unwürdig. Dann kam die Rede auf die Erklärung der sieben Säulen und Stufen des Tempels: die sieben Wissenschaften, die sieben Tugenden, die sieben Laster, die sieben Gaben des Heiligen Geistes. Bruder O. sprach sehr schön. Am Abend vollzog sich die Aufnahme. Die neue Ausstattung der Räumlichkeiten trug viel zum prächtigen Gelingen des zeremoniellen Auftritts bei. Aufgenommen wurde Boris Drubezkoj. Ich hatte ihn vorgeschlagen und habe auch als Rhetor amtiert. Ein sonderbares Gefühl erregte mich die ganze Zeit über, während ich mit ihm allein in der dunklen Halle stand. Ich ertappte mich auf einem Gefühl des Hasses gegen ihn, das ich vergeblich zu überwinden suchte. Und deshalb hätte ich auch so aufrichtig gewünscht, ihn vom Bösen zu erretten und auf den Weg der Wahrheit zu führen, aber die üblen Gedanken über ihn wichen nicht von mir. Ich hatte den Eindruck, als hätte er beim Eintritt in unsere Brüderschaft nur das Ziel und den Wunsch vor Augen gehabt, sich wichtigen Persönlichkeiten, die sich in unserer Loge befinden, zu nähern und ihre Gunst zu erlangen. Er hat mich zwar ein paarmal gefragt, ob N. oder S. zu unserer Loge gehörten – worauf ich ihm keine Antwort geben konnte –, ist auch meiner Beobachtung nach gar nicht fähig, für unseren heiligen Orden die gebührende Achtung zu empfinden, weil er zu sehr mit seinem äußeren Menschen beschäftigt und von ihm eingenommen ist, um eine Veredlung seiner Seele zu wünschen, doch habe ich sonst keine Gründe, an ihm zu zweifeln. Dennoch scheint er mir unaufrichtig, und während der ganzen Zeit, die ich allein mit ihm in der dunklen Halle stand, kam es mir vor, als lächle er geringschätzig zu meinen Worten, so daß mich tatsächlich die Lust anwandelte, seine nackte Brust mit dem Degen, den ich auf sie gezückt hielt, zu durchbohren. Ich konnte keine schöne Rede halten und auch den Brüdern und dem Meister vom Stuhl gegenüber meine Zweifel nicht offen aussprechen. O du erhabener Baumeister der Natur, hilf mir, den Weg der Wahrheit zu finden, der aus diesem Labyrinth führt!«
Nach dieser Niederschrift waren im Tagebuch drei Seiten freigelassen und dann stand folgendes geschrieben:
»Ich hatte ein langes und belehrendes Zwiegespräch mit Bruder W. der mir riet, mich an Bruder $à. zu halten. Vieles wurde mir dadurch klar, obgleich ich nur ein Unwürdiger bin. Adonai ist der Name des Weltschöpfers, Elohim der Name des Lenkers und Leiters aller Dinge. Der dritte Name, der unaussprechlich ist, bedeutet das All. Die Gespräche mit Bruder W. stärken, erfrischen und festigen mich auf dem Weg der Tugend. In seiner Gegenwart kann kein Zweifel aufkommen. Deutlich sehe ich jetzt den Unterschied zwischen der armseligen Lehre weltlicher Wissenschaften und unserer heiligen, allumfassenden Kenntnis.
Die menschlichen Wissenschaften zergliedern alles, um es zu verstehen, sie schlagen alles tot, um es zu untersuchen. In unserem heiligen Orden ist alles ein großes Ganzes, jedes Ding wird in seiner Gesamtheit und in seinen Lebensfunktionen erkannt. Die Dreifaltigkeit – drei Urelemente aller Dinge: Schwefel, Quecksilber und Salz. Schwefel ist ölig und feurig, verbunden mit Salz erweckt er durch seinen Feuergehalt in diesem die Sucht, das Quecksilber anzuziehen, zu erfassen, festzuhalten und sich mit ihm zu neuen Körpern zu verbinden. Das Quecksilber ist eine dünne, flüchtige, geistige Substanz – Christus, der Heilige Geist, Er.«
»Den 3. Dezember.
Ich wachte spät auf, las in der Heiligen Schrift, war aber nicht recht mit meinem Herzen dabei. Dann ging ich aus dem Zimmer und schritt durch den Saal. Ich wollte nachdenken, statt dessen aber trat mir ein Vorfall wieder vor die Seele, der sich schon vor vier Jahren ereignet hat. Ich war in Moskau nach meinem Duell einmal mit Dolochow zusammengetroffen, und dieser hatte zu mir gesagt, er hoffe, daß ich mich nun trotz der Abwesenheit meiner Frau eines vollen Seelenfriedens erfreue. Ich hatte ihm damals nichts darauf geantwortet. Jetzt fielen mir alle Einzelheiten dieses Zusammentreffens wieder ein, ich sagte ihm im Geiste die gehässigsten Worte und gab ihm die spitzesten Antworten. Erst als ich mich in heißem Zorn sah, kam ich wieder zu mir und warf diese Gedanken beiseite, empfand aber nicht hinreichend Reue darüber. Dann kam Boris Drubezkoj und fing an, von verschiedenen Ereignissen zu erzählen. Ich war von allem Anfang an über seinen Besuch verstimmt gewesen und sagte etwas zu ihm, das seinen Worten zuwiderlief. Er entgegnete etwas darauf. Ich brauste auf und sagte ihm eine Menge unangenehmer und sogar grober Sachen. Er schwieg. Das alles kam mir erst ganz zufällig zum Bewußtsein, als es bereits zu spät war. Mein Gott, ich verstehe so gar nicht mit ihm umzugehen. Der Grund ist meine Eigenliebe. Ich schätze mich höher ein als ihn, mache mich dadurch aber nur bedeutend schlechter, als er ist, denn er übt Nachsicht gegen meine Grobheiten, ich aber, im Gegensatz zu ihm, empfinde gegen ihn nur Verachtung. Mein Gott, gib, daß ich in seiner Gegenwart deutlicher meine Schlechtigkeit erkenne und so handle, daß es auch ihm Nutzen bringt. Nach dem Mittagessen schlief ich ein Weilchen, und in dem Augenblick, als ich einschlief, hörte ich eine Stimme, die mir deutlich ins linke Ohr flüsterte: ›Dein Tag.‹
Mir träumte, ich wandelte in der Finsternis und fühlte mich plötzlich von Hunden umringt, aber ich ging ohne Furcht weiter. Da packte einer der kleineren Hunde mit den Zähnen mein linkes Bein und ließ es nicht wieder los. Ich würgte ihn mit den Händen, kaum aber hatte ich ihn losgerissen, als mich schon ein anderer packte, ein noch größerer. Ich fing an, ihn hochzuziehen, aber je höher ich ihn zog, um so größer und schwerer wurde er. Da trat plötzlich Bruder $à. auf mich zu, nahm mich an der Hand und führte mich zu einem Gebäude, zu dessen Eingang ein schmales Brett hinüberführte. Ich betrat es, aber das Brett bog sich und brach, und ich fing an, einen Zaun zu erklettern, zu dem ich kaum mit den Händen hinauflangen konnte. Nach großen Anstrengungen hatte ich meinen Körper so hinübergezogen, daß die Beine nach der einen Seite hingen und der Oberkörper nach der anderen. Ich schaute mich um und sah, daß Bruder $à. auf dem Zaun stand und mir eine große Allee und einen Garten zeigte. In diesem Garten stand ein großes, prächtiges Gebäude. Da wachte ich auf. Herr Gott, erhabener Baumeister der Natur! Hilf mir, diese Hunde, meine Leidenschaften, von mir loszureißen, von denen die letzte die Kräfte aller übrigen in sich vereint, und laß mich in jenen Tempel der Tugenden eintreten, den ich im Traum von Angesicht zu Angesicht schauen durfte.«
»Den 7. Dezember.
Ich träumte, Osip Alexejewitsch sitze in meinem Haus, und ich freute mich und wollte ihn aufs beste bewirten. Ich unterhielt mich fortwährend mit fremden Leuten, und auf einmal kam mir erst zum Bewußtsein, daß ihm das mißfallen könne. Ich wollte mich ihm nähern und ihn in meine Arme schließen, aber ich war ihm kaum näher getreten, so sah ich, daß sich sein Gesicht verwandelte und ganz jung wurde. Er flüsterte mir etwas aus der Lehre unseres Ordens zu, aber so leise, daß ich es nicht verstehen konnte. Dann gingen wir plötzlich alle aus dem Zimmer, und nun ereignete sich etwas Wunderbares. Wir saßen oder lagen alle am Fußboden. Er sagte etwas zu mir. Aber als wollte ich ihm alle meine Empfindungen zeigen, fing ich an, ohne auf seine Worte zu hören, mir vorzustellen, wie mein innerer Mensch beschaffen war und wie mich die Gnade Gottes beschattete. Dabei traten mir die Tränen in die Augen, und es war mir ganz lieb, daß er dies bemerkte. Aber er sah mich ärgerlich an, sprang auf und unterbrach seine Rede. Ich wurde verlegen und fragte ihn, ob das, was er gesagt habe, sich auf mich beziehe. Doch er gab mir keine Antwort, zeigte mir aber wieder ein freundliches Gesicht, und gleich darauf befanden wir uns in meinem Schlafzimmer, wo das zweischläfrige Bett steht. Er legte sich darauf, ganz an den Rand, und in mir entbrannte der Wunsch, ihn zu liebkosen und mich ebenfalls dorthin zu legen. Da war es mir, als fragte er mich: ›Sage mir die Wahrheit, welches ist deine Hauptleidenschaft? Hast du sie erkannt? Ich glaube, daß du sie bereits erkannt hast.‹ Ich wurde über diese Frage verwirrt und antwortete, meine Hauptleidenschaft sei die Trägheit. Er schüttelte mißtrauisch den Kopf. Da sagte ich ihm, noch verlegener werdend, ich lebte ja jetzt, seinem Rat gemäß, wieder mit meiner Frau zusammen, aber nicht wie Mann und Frau. Er erwiderte darauf, daß ich meiner Frau meine Liebe nicht entziehen dürfe, und gab mir zu verstehen, daß dies meine Pflicht sei. Ich gab ihm zur Antwort, daß ich mich dessen schäme, und plötzlich war alles verschwunden. Ich wachte auf, und die Worte aus der Heiligen Schrift kamen mir in den Sinn: ›Das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht scheinet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen.‹ Das Gesicht Osip Alexejewitschs aber war jung und licht gewesen. An diesem Tag erhielt ich einen Brief von meinem Wohltäter, in dem er mir über die Pflichten der Ehe schrieb.«
»Den 9. Dezember.
Ich hatte einen Traum, aus dem ich unter Herzklopfen erwachte. Mir träumte, ich wäre in Moskau, in meinem Hause, im großen Diwanzimmer, und aus dem Salon träte Osip Alexejewitsch. Ich erkannte sofort, daß sich bei ihm der Prozeß der Wiedergeburt bereits vollzogen hatte, und stürzte ihm entgegen. Ich küßte ihm die Hände, er aber sagte: ›Hast du bemerkt, daß ich ein anderes Gesicht habe?‹ Ich betrachtete ihn, wobei ich ihn nicht aus meinen Armen ließ, und sah, daß er ein ganz junges Gesicht, aber keine Haare auf dem Kopf hatte, und daß seine Züge ganz andere waren. Da sagte ich zu ihm: ›Ich hätte Sie erkannt, auch wenn ich Sie zufällig getroffen hätte.‹ Bei mir aber dachte ich: Ist das auch wahr, was ich da sage? Da sah ich ihn plötzlich wie einen Toten daliegen. Dann kam er wieder etwas zu sich, ging mit mir in das große Arbeitszimmer, ein großes, geschriebenes Buch in Folioformat in der Hand. Ich sagte zu ihm: ›Das habe ich geschrieben.‹ Er antwortete mir mit einem Neigen des Kopfes. Ich schlug das Buch auf. In diesem Buch waren alle Seiten schön bemalt. Ich wußte, daß diese Bilder die Liebesabenteuer der Seele mit ihrem Geliebten darstellten. Auf einer dieser Seiten erblickte ich das wunderbare Bild eines Mädchens, das in durchsichtigem Gewand und mit durchscheinendem Körper zu den Wolken emporflog. Ich wußte ganz genau, daß dieses Mädchen nichts anderes war als eine Darstellung des Hohenliedes. Und obgleich ich fühlte, daß ich etwas Böses tat, wenn ich dieses Bild betrachtete, konnte ich mich doch nicht von ihm losreißen. Herr Gott, hilf mir! Mein Gott, wenn es Dein Ratschluß ist, daß Du mich verlassen hast, so geschehe Dein Wille! Habe ich es aber selber verursacht, so lehre mich, was ich tun soll. Ich gehe in meiner Verderbtheit zugrunde, wenn Du mich ganz verläßt.«
Die Geldverhältnisse der Rostows waren in den zwei Jahren, die sie auf dem Lande verlebt hatten, keineswegs besser geworden. Obgleich Nikolaj Rostow unerschütterlich an seinem Vorhaben festhielt, bescheiden bei seinem abgelegenen Regiment weiterdiente und verhältnismäßig nur wenig Geld ausgab, so war doch die ganze Lebensweise in Otradnoje und besonders auch die Geschäftsführung Mitenkas so, daß die Schuldenlast von Jahr zu Jahr unaufhaltsam stieg. Die einzige Rettung, die sich dem alten Grafen noch bot, war offenbar der Staatsdienst, und so fuhr er denn nach Petersburg, um sich ein Pöstchen zu suchen und dabei gleichzeitig, wie er sich ausdrückte, seinen Mädelchen zum letztenmal ein paar lustige Tage zu verschaffen.
Kurz nach der Ankunft der Rostows in Petersburg hielt Berg um Weras Hand an, und sein Antrag wurde angenommen.
Obgleich die Rostows in Moskau zu den ersten Gesellschaftskreisen gehört hatten, wenn sie auch selber nicht wußten und sich weiter keine Gedanken darüber machten, zu welchen Kreisen sie eigentlich gehörten, so war die Gesellschaft, in der sie sich in Petersburg bewegten, doch gemischter und nicht so streng abgeschlossen. In Petersburg waren sie Provinzler, und dieselben Leute, die sich in Moskau bei den Rostows, ohne danach zu fragen, zu welcher Gesellschaft sie gehörten, sattgegessen hatten, ließen sich hier nicht zu ihnen herab.
Die Rostows führten in Petersburg ein ebenso offenes Haus wie in Moskau, und zu ihren Abendgesellschaften kamen die verschiedenartigsten Leute zusammen: Nachbarn aus Otradnoje, alte, wenig bemittelte Gutsbesitzer mit ihren Töchtern, eine Hofdame, Fräulein Peronskaja, Pierre Besuchow und der Sohn eines Postmeisters vom Land, der in Petersburg diente. Einige junge Herren verkehrten sehr bald als Hausfreunde bei den Rostows, wie Boris und Pierre, den der alte Graf einmal zufällig auf der Straße getroffen und gleich mit nach Hause geschleppt hatte, ferner Berg, der ganze Tage bei den Rostows verlebte und für die älteste Komtesse Wera alle Aufmerksamkeiten hatte, die ein junger Mann einer Dame nur erweisen kann, der er einen Antrag zu machen beabsichtigt.
Berg hatte nicht umsonst allen seine in der Schlacht bei Austerlitz verwundete Hand gezeigt und ganz überflüssigerweise mit der linken den Degen geführt. Er hatte diesem Vorfall solche Wichtigkeit beigemessen und ihn so unentwegt allen Leuten erzählt, daß auch wirklich alle von dem Nutzen und der Tüchtigkeit dieser Tat überzeugt waren und Berg für Austerlitz zwei Auszeichnungen erhielt.
Auch im Finnischen Krieg war es ihm gelungen, sich hervorzutun. Er hatte einen Granatsplitter aufgehoben, durch den ein Adjutant neben dem Oberkommandierenden getötet worden war, und ihn seinem Chef überreicht. Und auch diesen Vorfall erzählte er, ganz wie den bei Austerlitz, unentwegt und beharrlich allen Leuten, daß abermals alle glaubten, so solle und müsse ein tapferer Offizier handeln, und Berg auch im Finnischen Krieg mit zwei Auszeichnungen bedacht wurde. Im Jahre 1809 war er bereits Hauptmann bei der Garde, Ritter mehrerer Orden und zu einem besonders vorteilhaften Posten nach Petersburg abkommandiert.
Obgleich einige Spötter lächelten, wenn man ihnen von Bergs Verdiensten sprach, so konnte doch niemand bestreiten, daß er ein gewissenhafter, tüchtiger Offizier und bei seinen Vorgesetzten ausgezeichnet angeschrieben war, und überdies ein sittlich gefestigter junger Mann, der eine glänzende Karriere vor sich hatte und sich schon jetzt einer gesicherten Stellung in der Gesellschaft erfreute.
Vor vier Jahren hatte Berg einmal im Parkett eines Moskauer Theaters einen deutschen Kameraden getroffen, hatte ihm Wera Rostow gezeigt und auf deutsch zu ihm gesagt: »Die wird meine Frau werden«, und war von diesem Augenblick an entschlossen gewesen, sie zu heiraten. Jetzt in Petersburg zog er die Lage der Rostows und seine eigne in Erwägung und kam zu dem Schluß, daß es an der Zeit sei, einen Antrag zu machen.
Bergs Antrag wurde anfänglich mit mancherlei Bedenken aufgenommen, die für ihn nicht gerade schmeichelhaft waren.
Zuerst schien es sonderbar, daß der Sohn eines unbekannten livländischen Edelmanns einer Komtesse Rostowa einen Heiratsantrag machte, aber Bergs Hauptcharaktereigenschaft war eben jenes naive, gutmütige Selbstbewußtsein, so daß die Rostows schließlich dachten, es müsse doch wohl in der Ordnung sein, wenn er selber so fest überzeugt sei, daß es so gut und richtig sei. Außerdem waren die Vermögensverhältnisse der Rostows arg zerrüttet, was dem Bewerber doch nicht entgangen sein konnte, die Hauptsache aber war: Wera zählte bereits vierundzwanzig Jahre, war überall ausgegangen und hatte, obgleich sie zweifellos hübsch und klug war, bisher noch keinen Antrag erhalten. Also willigte man ein.
»Sehen Sie«, sagte Berg zu einem Kameraden, den er seinen Freund nannte, aber nur deshalb, weil er wußte, daß jedermann einen Freund zu haben pflegt, »sehen Sie, ich habe alles wohl erwogen und würde nicht heiraten, wenn ich mir in Gedanken nicht alles klargelegt und wenn sich eine Unstimmigkeit ergeben hätte. Aber im Gegenteil, Papa und Mama sind jetzt versorgt, ich habe ihnen das kleine Pachtgut in den Ostseeprovinzen verschafft, und ich selber kann bei meiner Sparsamkeit mit meinem Gehalt und ihrem Vermögen in Petersburg gut auskommen. Wir werden zu leben haben. Ich heirate nicht des Geldes wegen, das halte ich für unfair, aber natürlich muß die Frau eine Mitgift haben, wie auch der Mann das Seine beiträgt: ich mein Gehalt und sie ihre Verbindungen und etwas Vermögen. Das hat in einer Zeit wie der unsrigen schon einigen Wert, nicht wahr? Die Hauptsache aber ist: sie ist ein schönes, ehrbares Mädchen und liebt mich …«
Berg wurde rot und lächelte.
»Und auch ich liebe sie, denn sie hat einen guten, vernünftigen Charakter. Da ist noch eine andere Tochter im Haus, ihre Schwester … das ist nun ein und dieselbe Familie, und doch ist sie so ganz anders. Ein unangenehmer Charakter, und von Geist keine Spur, sie ist so … Sie wissen schon … mit einem Wort: unangenehm … Meine Braut dagegen … Aber Sie werden ja zu uns kommen …« fuhr Berg fort; er wollte sagen: »zum Mittagessen«, überlegte es sich aber noch einmal und sagte: »zum Tee«, wobei er, rasch mit der Zunge durchstoßend, einen kleinen runden Rauchring aus seinem Munde blies, als wollte er dadurch die Träume von seinem künftigen Glück greifbar zum Ausdruck bringen.
Nachdem die ersten Bedenken überwunden waren, die Bergs Antrag bei den Eltern hervorgerufen hatte, machte sich in der Familie die bei solchen Anlässen übliche freudige Feststimmung geltend, aber die Freude war keine echte, sondern nur eine äußerliche. Den Verwandten merkte man anläßlich dieser Verlobung eine gewisse Verlegenheit und Beschämung an, als wäre es ihnen peinlich, daß sie Wera so wenig liebhatten und sie jetzt so bereitwillig hergaben. Verlegener als alle war der alte Graf. Wahrscheinlich hätte er selber gar nicht sagen können, was eigentlich die Ursache dieser Verlegenheit war, aber der Grund lag nur in seinen finanziellen Verhältnissen. Er hatte keine Ahnung, was er eigentlich noch besaß, wieviel Schulden er hatte, und was für eine Mitgift er an Wera auszuzahlen imstande war. Als seine Töchter geboren wurden, hatte er jeder dreihundert Seelen als Mitgift bestimmt, aber eines dieser Dörfer war bereits verkauft, das andere verpfändet und die Frist abgelaufen, so daß es ebenfalls verkauft werden mußte und deshalb als Mitgift auch nicht in Frage kam. Bares Geld aber war erst recht nicht da.
Berg war schon über vier Wochen Bräutigam, und in acht Tagen sollte bereits die Hochzeit stattfinden, und noch immer hatte der Graf die Frage der Mitgift nicht entschieden und auch mit seiner Frau noch nicht darüber gesprochen. Bald wollte er das Rjasansche Gut für Wera teilen, bald für sie einen Wald verkaufen, bald sich durch einen Wechsel Geld verschaffen. Einige Tage vor der Hochzeit trat Berg eines Morgens sehr zeitig in das Arbeitszimmer des Grafen und bat mit liebenswürdigem Lächeln ehrerbietig seinen künftigen Schwiegervater, ihm doch mitzuteilen, was Komtesse Wera als Mitgift bekommen werde. Der Graf wurde über diese lang vorausgesehene Frage so verlegen, daß er ihm ohne zu überlegen, das erste beste zur Antwort gab, was ihm in den Sinn kam: »Das gefällt mir, daß du dich auch darum kümmerst, das gefällt mir, du wirst schon zufrieden sein …«
Und er klopfte Berg auf die Schulter und stand auf, um dem Gespräch so bald wie möglich ein Ende zu machen. Aber Berg erklärte, immer mit demselben liebenswürdigen Lächeln: wenn er nicht sicher wisse, was für eine Mitgift Wera erhalte, und nicht wenigstens einen Teil von dem, was ihr zugedacht sei, im voraus bekomme, sehe er sich gezwungen, zurückzutreten.
»Denn das müssen Sie doch selber einsehen, Graf, wenn ich mir jetzt zu heiraten erlaubte, ohne die sicheren Mittel zum Unterhalte meiner Frau zu haben, so wäre das von mir doch leichtsinnig gehandelt …«
Das Ende der Unterredung war, daß der Graf, der sich großmütig zeigen und weiteren Forderungen entgehen wollte, versprach, für Wera einen Wechsel über achtzigtausend Rubel auszustellen. Berg lächelte sanft, küßte den Grafen auf die Schulter und sagte, er sei ihm sehr dankbar, könne sich aber jetzt, wo er ein neues Leben anfange, nicht einrichten, wenn er nicht dreißigtausend Rubel in bar bekäme.
»Wenn es nur wenigstens zwanzigtausend sind, Graf«, fügte er hinzu, »und den Wechsel dann nur auf sechzigtausend.«
»Ja, ja, schön«, fiel der Graf hastig ein. »Nur nimmst du mir’s wohl nicht übel, mein Junge, wenn ich dir die zwanzigtausend in bar gebe und dann den Wechsel außerdem noch auf achtzigtausend ausstelle. Recht so? Na, komm, gib mir einen Kuß!«
Natascha war jetzt sechzehn Jahre alt und das Jahr 1809 angebrochen, dasselbe, das sie vor vier Jahren mit Boris zusammen an den Fingern abgezählt hatte, nachdem sie sich geküßt hatten. Seit jener Zeit hatte sie Boris nicht ein einziges Mal wiedergesehen. Vor Sonja und der Mutter hatte sie sich, wenn die Rede auf Boris gekommen war, ganz ungezwungen, als wäre das eine längst beschlossene Sache, dahin geäußert, daß dies früher nur eine Kinderei gewesen sei, über die zu reden gar nicht der Mühe wert und die schon längst vergessen sei. Im allergeheimsten Grund ihres Herzens quälte sie aber doch die Frage, ob ihr Versprechen Boris gegenüber ein Scherz oder eine wichtige, heilige Verpflichtung sei.
Seit dem Jahr 1805, als Boris von Moskau aus zur Armee gefahren war, hatte er die Rostows nicht wiedergesehen. Er war zwar einige Male in Moskau gewesen, war auch nahe an Otradnoje vorbeigefahren, hatte sie aber nie besucht.
Natascha war manchmal der Gedanke gekommen, daß er sie absichtlich nicht sehen wollte, und diese ihre Vermutungen wurden noch bestärkt durch den kalten Ton, mit dem die Eltern von ihm sprachen.
»Heutzutage erinnert man sich nicht mehr an seine alten Freunde«, sagte die Gräfin einmal, als man von Boris gesprochen hatte.
Auch Anna Michailowna war in letzter Zeit seltener bei den Rostows, legte dann immer besondere Würde an den Tag und sprach jedesmal begeistert und dankbar von den Verdiensten ihres Sohnes und von der glänzenden Karriere, die er machte.
Als nun die Rostows nach Petersburg kamen, machte Boris bei ihnen Besuch.
Er ging nicht ohne innere Erregung zu ihnen. Die Erinnerung an Natascha war das poetischste Kapitel aus seinem Leben. Dennoch ging er mit der festen Absicht hin, sowohl ihr wie auch ihren Eltern deutlich zu verstehen zu geben, daß die kindlichen Beziehungen zwischen ihm und Natascha weder für sie noch für ihn bindend sein könnten. Er hatte dank seinem engen Verhältnis zur Gräfin Besuchowa eine glänzende Stellung in der Gesellschaft, und dank einer hochstehenden Persönlichkeit, deren volles Vertrauen er genoß, eine ebenso glänzende Stellung im Dienst. Im Grund seines Herzens keimte bereits der Plan, sich mit einer der reichsten jungen Damen in Petersburg zu verheiraten, ein Plan, der sehr leicht zur Wirklichkeit werden konnte.
Als Boris bei den Rostows in den Salon trat, war Natascha auf ihrem Zimmer. Wie sie hörte, daß er gekommen war, lief sie errötend und fast im Sturmschritt in den Salon hinunter, das Gesicht verklärt von einem mehr als freundlichen Lächeln.
Boris hatte nur jene Natascha im kurzen Kleidchen mit den unter den Locken hervorblitzenden schwarzen Augen und dem mutwilligen Kinderlachen im Gedächtnis, die er vor vier Jahren gekannt hatte, und geriet nun, als jetzt eine ganz andere Natascha ins Zimmer trat, in Verlegenheit. Auf seinem Gesicht prägte sich ein entzücktes Staunen aus. Dieser Ausdruck machte Natascha Spaß.
»Du erkennst wohl deine kleine Freundin, unseren Wildfang, gar nicht wieder?« sagte die Gräfin.
Boris küßte Natascha die Hand und antwortete, er sei erstaunt, wie sehr sie sich verändert habe. »Wie hübsch Sie geworden sind!« rief er aus.
Das will ich meinen! erwiderten Nataschas lachende Augen.
»Und nicht wahr, Papa ist älter geworden?« fragte sie.
Natascha setzte sich hin, beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, die Boris und die Gräfin führten, und musterte schweigend ihren Kinderbräutigam bis auf die kleinsten Einzelheiten. Er fühlte diesen beharrlichen, freundlichen Blick schwer auf sich ruhen und schaute ab und zu nach ihr hin.
Die Uniform, die Sporen, die Halsbinde, der Scheitel – alles war bei Boris nach der neuesten Mode und comme il faut. Das bemerkte Natascha gleich. Er saß mit einer leichten Wendung zur Seite in einem Sessel neben der Gräfin, strich mit der rechten Hand den blendend weißen, wie angegossen sitzenden Handschuh der Linken glatt, erzählte mit besonders fein zusammengezogenen Lippen von dem lustigen Leben und Treiben der ersten Petersburger Gesellschaftskreise und erinnerte sich mit sanftem Spott an die früheren Zeiten in Moskau und an die Moskauer Bekannten. Nicht ohne Absicht, wie Natascha sofort herausfühlte, erzählte er, als man über den ältesten Adel sprach, vom Ball des Gesandten, auf dem er gewesen war, und erwähnte seine Einladungen zu N.N. und S.S.
Natascha saß die ganze Zeit schweigend da und sah ihn von unten her an. Dieser Blick beunruhigte und verwirrte Boris immer mehr. Oft sah er zu Natascha hinüber und brach seine Rede ab. Er blieb nicht länger als zehn Minuten sitzen, dann stand er auf und verbeugte sich. Immer noch sahen die neugierigen, herausfordernden und etwas spöttischen Augen ihn an.
Nach seinem ersten Besuch bei den Rostows sagte sich Boris, daß Natascha auf ihn noch dieselbe Anziehungskraft ausübe wie früher, daß er sich aber diesem Gefühl nicht hingeben dürfe, denn sie, ein Mädchen ohne alles Vermögen, zu heiraten, wäre der Ruin für seine Karriere, die früheren Beziehungen aber ohne Heiratsabsicht wieder anzuknüpfen – eine unehrenhafte Handlung. So beschloß Boris bei sich, allen Begegnungen mit Natascha aus dem Wege zu gehen, suchte sie aber trotz dieses Beschlusses nach einigen Tagen doch wieder auf, kam dann häufiger zu den Rostows und verbrachte schließlich ganze Tage bei ihnen. Ihm schwebte immer die Absicht vor, daß er sich unbedingt mit Natascha auseinandersetzen und ihr sagen wolle, man müsse alles Frühere vergessen, denn trotz allem … könne sie nicht seine Frau werden, da er kein Vermögen besitze und man sie ihm deshalb niemals geben würde. Aber er kam nicht dazu, und es war ihm auch peinlich, eine solche Erklärung abzugeben. Mit jedem Tag verstrickte er sich mehr.
Auch Natascha schien, wie ihre Mutter und Sonja beobachtet hatten, ganz wie früher in Boris verliebt zu sein. Sie sang ihm seine Lieblingslieder vor, zeigte ihm ihr Album und bat ihn, etwas hineinzuschreiben, erlaubte ihm aber nicht, sie an Früheres zu erinnern, sondern gab ihm zu verstehen, daß es jetzt doch viel schöner sei. Und so ging er jeden Tag wie umnebelt fort, hatte das nicht gesagt, was er zu sagen beabsichtigte, und wußte selber nicht, was er tat, warum er hinging und was für ein Ende das alles nehmen werde. Während dieser Zeit stellte Boris seine Besuche bei Helene ein, obgleich er täglich ein vorwurfsvolles Billett von ihr erhielt, und verlebte dafür seine Tage bei den Rostows.
Eines Abends, als die alte Gräfin in Nachthaube und Nachtjacke, ohne ihre falschen Locken, nur mit ihrem spärlichen eignen Haar, das unter dem weißen Kattunhäubchen hervorlugte, seufzend und stöhnend unter tiefen Verbeugungen auf dem Teppich ihr Abendgebet verrichtete, knarrte die Tür ihres Zimmers, und Natascha kam hereingelaufen, ebenfalls im Nachtgewand, mit Lockenwickeln und mit Pantoffeln an den bloßen Füßen. Die Gräfin sah sich um und runzelte die Stirn. Sie war soeben bei dem letzten Gebet angelangt: »Soll dieses Lager heut zum Totenbett für mich werden?« Aber ihre Gebetsstimmung war nun dahin.
Als Natascha, die mit gerötetem, lebhaftem Gesicht hereingelaufen war, ihre Mutter beten sah, blieb sie plötzlich stehen, kauerte sich auf der Stelle, wo sie stand, nieder und streckte unwillkürlich die Zunge heraus, als wolle sie sich selber zur Ruhe ermahnen. Als sie aber sah, daß ihre Mutter im Beten fortfuhr, schlich sie auf den Zehen ans Bett, streifte leicht die Pantoffeln ab, wobei sie mit dem einen kleinen Fuß schnell über den anderen glitt, und sprang auf jenes Lager, von dem die Gräfin gefürchtet hatte, daß es ihr Totenbett werden könne. Dieses Lager war ein hohes Federbett mit fünf immer kleiner werdenden Kissen. Natascha sprang hinein, versank in den Daunenpfühlen, kollerte sich nach der Wand hinüber und fing nun an, unter der Bettdecke Schabernacks zu treiben: bald legte sie sich lang, bald zog sie die Knie bis ans Kinn herauf, bald strampelte sie mit den Beinen, wobei sie kaum hörbar kicherte und bald den Kopf unter die Decke steckte, bald zu ihrer Mutter hinüberschielte.
Nachdem die Gräfin ihr Gebet beendet hatte, trat sie mit strenger Miene ans Bett, als sie aber sah, daß Natascha ihren Kopf unter der Decke versteckt hatte, flog ein gutmütiges, schwaches Lächeln über ihr Gesicht.
»Na, na, na!« sagte die Mutter.
»Mama, darf ich ein bißchen mit Ihnen schwatzen, ja?« fragte Natascha. »Also ein Küßchen aufs Herzgrübchen, und noch eins, und dann genug.«
Und sie umarmte die Mutter und küßte sie unters Kinn. In ihrem Benehmen gegen die Mutter legte Natascha immer eine äußerliche Derbheit an den Tag, war aber dabei so gewandt und zart, daß es der Mutter, wenn sie sie mit ihren Armen umschlang, nie weh tat noch unangenehm oder unbequem war.
»Na, was willst du mir denn heute erzählen?« fragte die Mutter, sich auf den Kissen zurechtlegend, nachdem sie gewartet hatte, bis Natascha, die sich zweimal um sicher selber herumgewälzt hatte, wieder neben ihr unter der Decke lag, die Arme herausgelegt hatte und ein ernsthaftes Gesicht machte. Diese nächtlichen Besuche Nataschas, die immer während der Zeit stattfanden, da der alte Graf im Klub war, waren für Mutter und Tochter ein Lieblingsvergnügen.
»Also, was kommt heute dran? Ich muß mit dir reden …«
Natascha hielt der Mutter die Hand vor den Mund.
»Von Boris … Ich weiß«, sagte sie ernsthaft. »Deshalb bin ich ja gekommen. Reden Sie nicht darüber, ich weiß. Doch nein, sagen Sie« – sie zog die Hand zurück – »sagen Sie, ist er nicht lieb?«
»Natascha, du bist jetzt sechzehn Jahre, wie ich so alt war wie du, war ich bereits verheiratet. Du sagst, Boris sei ein lieber Mensch. Das ist er, und ich liebe ihn wie einen eignen Sohn, aber was willst du eigentlich? Was denkst du dir dabei? Du hast ihm vollständig den Kopf verdreht, das sehe ich doch …«
Während die Gräfin das sagte, sah sie ihre Tochter an. Natascha lag da und blickte gerade und unbeweglich vor sich hin auf eine der aus Mahagoniholz geschnitzten Sphinxe, die die Ecken des Bettes zierten, so daß die Gräfin vom Gesicht ihrer Tochter nur das Profil sah. Der außerordentlich ernste und gesammelte Ausdruck dieses Gesichtes fiel der Gräfin auf.
Natascha hörte sie an und dachte nach.
»Nun, und was weiter?« fragte sie.
»Du hast ihm vollständig den Kopf verdreht, warum? Was willst du von ihm? Du weißt, daß du ihn niemals heiraten kannst.«
»Warum denn nicht?« fragte Natascha, ohne ihre Lage zu verändern.
»Weil er zu jung ist, weil er arm ist, weil er ein Verwandter ist und weil … weil du selber ihn gar nicht liebst.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es. Das ist nicht schön von dir, mein Liebling.«
»Wenn ich nun aber will …«, sagte Natascha.
»Schwatz doch kein dummes Zeug«, entgegnete die Gräfin.
»Wenn ich nun aber will …«, sagte Natascha.
»Natascha, in allem Ernst …«
Natascha ließ sie nicht zu Ende reden, zog die große Hand der Gräfin an sich, küßte sie erst oben, dann auf die Handfläche, drehte sie dann wieder herum und küßte sie auf den Knöchel des obersten Fingergelenkes, dann auf den Raum dazwischen, dann wieder auf den nächsten Knöchel und flüsterte dabei: »Januar, Februar, März, April, Mai.
Sagen Sie, Mama, warum schweigen Sie? So reden Sie doch«, fuhr sie fort und sah die Mutter an, die sie mit zärtlichen Blicken umfaßte und bei dieser Betrachtung alles vergessen zu haben schien, was sie noch hatte sagen wollen.
»Das taugt zu nichts, mein Herzblatt. Nicht jeder wird für eure kindlichen Freundschaftsbande Verständnis haben. Wenn man ihn in so vertrautem Verkehr mit dir sieht, so schadet das dir in den Augen der anderen jungen Leute, die bei uns aus und ein gehen, und, was die Hauptsache ist, ihn selber quälst du nur ganz zwecklos damit. Vielleicht hatte er für sich schon eine reiche Partie gefunden, und nun verliert er ganz den Kopf.«
»Hat er ihn wirklich verloren?« fragte Natascha.
»Ich werde dir etwas von mir selbst erzählen. Auch ich hatte einen Vetter …«
»Ich weiß, Kyrill Matwejitsch, aber das ist doch ein alter Mann?«
»Das war er nicht immer. Aber hör mal, Natascha, ich werde mit Boris reden. Er darf nicht mehr so oft zu uns kommen …«
»Warum darf er das nicht, wenn es ihm Spaß macht?«
»Darum, weil ich weiß, daß es doch zu nichts führt …«
»Woher wissen Sie das? Nein, Mama, reden Sie nicht mit ihm. Das ist doch dummes Zeug!« sagte Natascha in einem Ton, als wolle man ihr ihr Eigentum entreißen. »Wenn wir uns auch nicht heiraten werden, so mag er doch kommen, wenn es ihm und mir Vergnügen macht.«
Natascha sah die Mutter lächelnd an.
»Ich will ihn gar nicht heiraten, nur so«, wiederholte sie.
»Wie meinst du das, mein Liebling?«
»Nun eben: nur so! Es ist ja gar nicht nötig, daß ich ihn heirate, nur so.«
»Nur so«, wiederholte die Gräfin und brach plötzlich in ein gutmütiges Gelächter aus, wie alte Frauen lachen, wobei ihr ganzer Leib erschüttert wurde.
»Hören Sie doch auf zu lachen, hören Sie doch auf!« rief Natascha. »Das ganze Bett wackelt ja. Wie schrecklich ähnlich Sie mir sind, Sie lachen ebenso gern wie ich … Aber hören Sie doch auf!« Sie ergriff die beiden Hände der Gräfin, küßte sie neben den Knöchel des kleinen Fingers: »Juni, Juli«, und küßte dann den »August« auf der anderen Hand weiter. »Mama, ist er sehr in mich verliebt? Wie kommt es Ihnen vor? Waren die jungen Leute in Sie auch so verliebt? Er ist ein sehr, sehr lieber Mensch. Nur nicht ganz nach meinem Geschmack. Er ist so eng und schmal wie eine Wanduhr … Verstehen Sie mich nicht? … Eng und schmal und, wissen Sie, hellgrau …«
»Was schwatzest du da für Unsinn zusammen!« sagte die Gräfin.
Natascha ließ sich aber nicht irremachen: »Verstehen Sie das wirklich nicht? Nikolenka würde es verstehen … Besuchow, der ist blau, dunkelblau mit rot und viereckig.«
»Richtig, mit dem kokettierst du ja auch«, sagte die Gräfin lachend.
»Nein, er ist Freimaurer, das habe ich jetzt herausgekriegt. Ein famoser Mensch, dunkelblau mit rot … Wie soll ich Ihnen das nur erklären …«
»Mein liebes Frauchen«, hörte man die Stimme des Grafen hinter der Tür. »Schläfst du schon?«
Natascha sprang aus dem Bett, raffte hastig ihre Pantoffeln mit der Hand auf und lief barfuß aus dem Zimmer.
Sie konnte lange nicht schlafen. Immer wieder mußte sie daran denken, daß niemand das alles verstand, was sie fühlte und was in ihr war.
Sonja vielleicht? dachte sie und betrachtete das schlafende, zusammengerollte Kätzchen mit dem riesigen Zopf. Nein, wie sollte sie! Die ist zu tugendsam. Liebt ihren Nikolenka und will von nichts weiter wissen. Und auch Mama versteht mich nicht. Merkwürdig, wie klug ich bin und … wie lieb sie ist, fuhr sie fort, indem sie von sich in der dritten Person sprach, und stellte sich vor, daß dies irgendein sehr kluger, ja der allerklügste und allerbeste Mann von ihr sage. Sie ist die Vollkommenheit selber, fuhr dieser Mann fort, klug, außergewöhnlich nett und dann hübsch, auffallend hübsch und gewandt: schwimmt und reitet tadellos, und dann die Stimme! Das muß man sagen, eine wunderbare Stimme!
Und sie summte ihre Lieblingsmelodie aus einer Oper von Cherubini[99] vor sich hin, warf sich aufs Bett, lachte bei dem frohen Gedanken, daß sie nun gleich einschlafen werde, rief Dunjascha, damit sie das Licht auslösche, und wirklich war Dunjascha noch nicht aus dem Zimmer, als Natascha auch schon in jene andere, noch glücklichere Welt der Träume hinübergeglitten war, wo alles ebenso leicht und schön schien wie in der Wirklichkeit, nur vielleicht noch etwas schöner, weil es eben anders war.
Am folgenden Tag ließ die Gräfin Boris zu sich bitten und sprach mit ihm, und von diesem Tag an kam Boris nicht mehr zu den Rostows.
Am 31. Dezember, dem Silvesterabend, der dem Jahr 1810 voranging, fand bei einem hohen Würdenträger, der schon unter Katharina II. eine bedeutende Rolle gespielt hatte, ein Ball statt. Zu diesem Ball sollte nicht nur das ganze diplomatische Korps, sondern auch der Kaiser erscheinen.
Das Haus des berühmten Würdenträgers am Englischen Ufer erstrahlte im Glanz zahlloser Lichter, Vor der mit rotem Tuch ausgelegten, hellerleuchteten Einfahrt standen Polizeibeamte, und zwar nicht nur Gendarmen, sondern gerade vor der Einfahrt der Polizeimeister selber und noch ein Dutzend Polizeioffiziere. Equipagen rollten heraus, und immer wieder kamen neue angefahren mit Lakaien in roten Livreen oder mit Federhüten, Aus dem Wagen stiegen Herren in Uniform mit Ordenssternen und Bändern, Damen in Atlas und Hermelin schwebten vorsichtig über die mit Gepolter herabgeschlagenen Wagentritte und stiegen hastig und lautlos die mit Tuch belegte Freitreppe empor.
Fast jedesmal, wenn ein neuer Wagen vorfuhr, lief ein Flüstern durch die Menge, und man nahm die Hüte ab.
»Der Kaiser? … Nein, ein Minister … ein Fürst … der Gesandte … Hast du wohl den Federbusch gesehen? …« raunte man sich in der Menge zu. Einer von den Zuschauern, der besser gekleidet war als die anderen, schien alle zu kennen und nannte die berühmten Größen seiner Zeit mit Namen.
Während ein Drittel aller Gäste sich bereits auf dem Ball eingefunden hatte, waren die Rostows, die ebenfalls geladen waren, noch eifrig mit Vorbereitungen und Ankleiden beschäftigt. Was war über diesen Ball in der Familie Rostow geredet und was für endlose Vorbereitungen waren getroffen worden! Zuerst die Angst, ob sie überhaupt eingeladen würden, und dann die Sorge, ob auch die Kleider zur rechten Zeit fertig würden und ob auch alles so, wie es sein sollte, ausfallen werde.
Mit den Rostows zusammen sollte Marja Ignatjewna Peronskaja auf den Ball fahren, die eine Freundin und Verwandte der Gräfin war, hager, von gelblicher Gesichtsfarbe, eine Hofdame noch aus der alten Zeit, die den aus der Provinz kommenden Rostows in den höchsten Petersburger Kreisen als Führerin diente.
Um zehn Uhr abends hatten die Rostows die Hofdame vom Taurischen Garten abholen wollen, aber es war bereits fünf Minuten vor zehn Uhr, und die jungen Mädchen waren noch nicht angezogen.
Für Natascha war es der erste große Ball in ihrem Leben. Sie war um acht Uhr morgens aufgestanden und hatte sich den ganzen Tag in fieberhafter Aufregung und Geschäftigkeit befunden. Vom frühen Morgen an war all ihr Bemühen nur darauf gerichtet gewesen, daß sie alle drei: Mama, Sonja und sie selbst, so schön wie nur möglich gekleidet seien. Sonja und die Gräfin hatten sie in allem gewähren lassen. Die Gräfin sollte ein zimtfarbenes Samtkleid tragen und die beiden jungen Mädchen weiße, duftige Gewänder mit rosa Unterkleidern und Rosen am Mieder. Die Haare sollten à la grecque frisiert werden.
Alles Wesentliche war schon getan: Füße, Arme, Hals und Ohren waren besonders sorgfältig und ballmäßig gewaschen, parfümiert und gepudert worden, die durchbrochenen seidenen Strümpfe und die weißen Atlasschuhe mit den Bändern waren angezogen und die Frisuren beinahe beendet. Sonja war fast fertig mit dem Anziehen, die Gräfin ebenfalls, nur Natascha, die sich um alle abgemüht hatte, war dadurch etwas zurückgeblieben. Sie saß noch vor dem Spiegel, den Frisiermantel über die mageren Schultern geworfen. Sonja stand schon fertig mitten im Zimmer und steckte mit einer Nadel das letzte Band fest, wobei sie mit ihrem kleinen Finger so aufdrückte, daß es ihr weh tat und das Band unter der Stecknadel knirschte.
»So nicht, Sonja, so nicht«, rief Natascha, drehte sich während des Frisierens rasch um, fuhr aber gleich mit den Händen nach dem Kopf, weil die Zofe ihr Haar festhielt und es nicht so schnell hatte loslassen können. »So darfst du das Band nicht stecken. Komm mal her.«
Sonja kauerte neben Natascha hin, und diese steckte das Band anders.
»Aber gnädiges Fräulein, so kann ich unmöglich, frisieren«, sagte die Zofe, die Natasches Haar in der Hand hielt.
»Ach, mein Gott, so warte doch nur! Siehst du, so, Sonja!«
»Seid ihr bald fertig?« ertönte die Stimme der Gräfin. »Es ist gleich zehn Uhr.«
»Gleich, gleich. Sind Sie denn fertig, Mama?«
»Ich will mir nur noch die Toque[100] anstecken.«
»Machen Sie das nicht ohne mich«, rief Natascha. »Sie können das nicht so.«
»Ja, aber es ist doch schon zehn Uhr.«
Man hatte um halb elf auf dem Ball sein wollen, und nun war Natascha noch nicht angezogen, und man mußte noch nach dem Taurischen Garten fahren.
Nachdem die Frisur fertig war, lief Natascha im kurzen Unterröckchen, unter dem die Ballschuhe hervorguckten, und in einer Nachtjacke ihrer Mutter auf Sonja zu, musterte sie von oben bis unten und lief dann zur Mutter hinüber. Sie drehte und wendete ihr den Kopf nach allen Seiten, steckte dann die Toque fest, nahm sich kaum so viel Zeit, noch einen Kuß auf das graue Haar zu drücken, und lief dann wieder zu den Zofen hinüber, die noch den Rock ihres Ballkleides kürzer nähten.
Die ganze Sache hing nur noch an Nataschas Rock, der zu lang war; zwei Mädchen nähten ihn bereits kürzer, wobei sie in ihrer Hast, wenn sie zu Ende waren, die Fäden immer gleich abbissen. Eine dritte lief mit Stecknadeln zwischen den Lippen und Zähnen von der Gräfin zu Sonja und wieder zurück, und eine vierte hielt das ganze duftige Kleid in der hochgehobenen Hand.
»Mawruscha, mach doch schnell, mein Engel!«
»Geben Sie mir doch den Fingerhut herüber, gnädiges Fräulein.«
»Seid ihr denn nun endlich bald fertig?« fragte der Graf, von außen an die Tür herantretend. »Ein Parfüm habt ihr. Die Peronskaja wird schön warten!«
»Fertig, gnädiges Fräulein«, rief die Zofe und hob mit zwei Fingern das kürzer genähte Kleid in die Höhe, blies ein paar Fädchen aber und schüttelte es, als wolle sie durch diese Geste zeigen, daß sie sich der Duftigkeit und schneeweißen Reinheit dessen, was sie in den Händen hielt, bewußt war.
Natascha fing an, das Kleid überzuziehen.
»Gleich, gleich, komm jetzt nicht herein, Papa«, rief sie dem Vater, der die Tür aufmachen wollte, noch unter dem Rock ihres duftigen Kleides zu, der ihr ganzes Gesicht verhüllte.
Sonja klappte die Tür zu. Gleich darauf wurde der Graf hereingelassen. Er trug einen blauen Frack, lange Strümpfe und ausgeschnittene Schuhe und hatte reichlich Parfüm und Pomade verwendet.
»Ach Papa, wie fein du aussiehst, reizend!« rief Natascha, die mitten im Zimmer stand und die Falten ihres Kleides glattstrich.
»Halt, gnädiges Fräulein, halt!« rief das Mädchen, die neben Natascha niedergekniet war, das Kleid zurechtzupfte und die Stecknadeln mit der Zunge von einer Ecke des Mundes in die andere schob.
»Heiliger Strohsack!« rief Sonja in Verzweiflung aus, nachdem sie einen Blick auf Nataschas Kleid geworfen hatte, »heiliger Strohsack! Es ist immer noch zu lang!«
Natascha ging ein paar Schritte weiter zurück, um sich in dem großen Pfeilerspiegel sehen zu können. Das Kleid war tatsächlich noch zu lang.
»Bei Gott, gnädiges Fräulein, es ist nicht zu lang«, sagte Mawruscha, die auf dem Fußboden hinter Natascha her gerutscht war.
»Na, wenn’s eben zu lang ist, dann nähen wir’s halt kürzer. Das ist in einer Minute geschehen«, sagte die resolute Dunjascha, zog ihre Nähnadel aus dem Brusttuch und machte sich auf dem Fußboden gleich wieder an die Arbeit.
In diesem Augenblick trat die Gräfin im Samtkleid und mit ihrer Toque mit leisen Schritten, wie verlegen, ins Zimmer.
»Hui, meine schöne Frau!« rief der Graf aus. »Sie ist doch die Schönste von euch allen!«
Er wollte sie umarmen, aber sie wehrte ihn errötend ab, um nicht zerdrückt zu werden.
»Mama, die Toque muß noch ein wenig zur Seite«, rief Natascha. »Ich werde Sie Ihnen zurechtrücken.« Und sie sprang schnell auf ihre Mutter zu, die Mädchen aber, die kniend an ihrem Kleide nähten, konnten ihr nicht so schnell folgen und rissen ein Stück vom Kleid ab.
»Mein Gott, was ist los? Ich kann wahrhaftig nichts dafür …«
»Macht nichts. Ich nähe es wieder an. Das sieht kein Mensch!« sagte Dunjascha.
»Wie schön mein Goldkind ist, wie eine Prinzessin!« rief die Kindermuhme beim Eintreten schon in der Tür. »Und auch Sonjuschka! Schön wie die Engelchen!«
Endlich, ein Viertel vor elf, saß die ganze Familie in den beiden Wagen und fuhr ab. Aber sie mußten ja noch nach dem Taurischen Garten.
Fräulein Peronskaja war schon fertig. Trotz ihres Alters und ihrer Häßlichkeit hatten bei ihr doch genau dieselben Vorbereitungen stattgefunden wie bei den Rostows, nur nicht mit solcher Aufregung, da dies ja für sie eine gewohnte Beschäftigung war. Aber sie hatte ihren alten, häßlichen Leib ebenso gewaschen, parfümiert und gepudert, hatte sich ebenso sorgfältig hinter den Ohren gereinigt, und ebenso wie bei den Rostows hatte ihre alte Zofe entzückt den Feststaat ihrer Herrin bewundert, als diese in einer gelben Robe mit ihrem Abzeichen als Hofdame in den Salon getreten war.
Fräulein Peronskaja sprach sich lobend über die Toiletten der Rostowschen Damen aus. Die Rostowschen Damen wiederum bewunderten die Toilette und den Geschmack Fräulein Peronskajas, und ängstlich bemüht, die Frisuren nicht einzureißen und die Kleider nicht zu zerdrücken, nahmen sie gegen elf Uhr alle wieder in den Wagen Platz und fuhren ab.
Natascha hatte an diesem Tag vom frühen Morgen an nicht eine freie Minute gehabt und war deshalb nicht ein einziges Mal dazu gekommen, über das nachzudenken, was ihr bevorstand.
In der feuchten, kalten Luft, in dem engen, halbdunklen, schaukelnden Wagen malte sie sich zum erstenmal lebhaft aus, was dort auf dem Ball, in den hellerleuchteten Sälen, ihrer harrte: Musik, Blumen, Tänze, der Kaiser und die ganze glänzende Jugend Petersburgs. Aber das, was sie dort erwartete, war so herrlich, daß sie fast nicht daran glaubte, es könne sich verwirklichen, so wenig stimmte es mit ihren augenblicklichen Eindrücken von Kälte und Enge und Dunkelheit im Wagen überein. Einen wahren Begriff von dem, was ihr bevorstand, hatte sie erst in dem Augenblick, als sie das rote Tuch der Einfahrt überschritten hatte, in den Hausflur eingetreten war, den Pelz abgenommen hatte und nun neben Sonja vor der Mutter die blumengeschmückte, hellerleuchtete Treppe hinaufstieg. Da erst rief sie sich ins Gedächtnis zurück, wie sie sich auf dem Ball benehmen müsse, und bemühte sich, jene erhabene Würde anzunehmen, die sie für ein junges Mädchen auf einem Ball für unerläßlich hielt. Glücklicherweise aber fühlte sie, wie ihr dennoch die Augen durchgingen und durch den ganzen Saal flogen. Sie sah nichts deutlich, ihr Puls schlug wohl hundertmal in der Minute, und ihr Herz fing an mächtig zu klopfen. So war sie außerstande, jene erhabene Würde, durch die sie sich nur lächerlich gemacht hätte, anzunehmen, ging, vor Aufregung fast vergehend, weiter und bemühte sich nur mit allen Kräften, diese Aufregung zu verbergen. Und so gab sie sich gerade in einer Art und Weise, wie sie ihr am besten stand. Vor und hinter ihnen stiegen Gäste die Treppe hinauf, die ebenso leise zusammen flüsterten und ebenso ballmäßig gekleidet waren. Die Spiegel auf der Treppe spiegelten Damen in weißen, hellblauen und rosa Ballkleidern mit Perlen und Brillanten auf den bloßen Armen und Nacken wider.
Natascha sah in den Spiegel, konnte aber unter den vielen anderen ihr eignes Bild nicht herausfinden. Alles floß zu einem glänzenden Festzug zusammen. Nach Eintritt in den ersten Saal fühlte sich Natascha durch das gleichmäßige Durcheinanderbrausen von Stimmen, Schritten und Begrüßungen fast betäubt, das grelle Licht und der Glanz blendeten sie noch mehr. Der Herr und die Dame des Hauses, die schon seit einer halben Stunde an der Eingangstür standen und jedem neuen Gast in ein und demselben Ton immer wieder dieselben Worte sagten: »Charmé de vous voir«, begrüßten auch die Rostows und Fräulein Peronskaja in dieser Art.
Die beiden jungen Mädchen in ihren weißen Kleidern mit den gleichen Rosen in den schwarzen Haaren knicksten beide in gleicher Weise, aber unwillkürlich blieb der Blick der Dame des Hauses länger auf der schlanken Natascha haften. Sie betrachtete sie und lächelte ihr allein noch besonders zu, wie als Sonderzugabe zu dem Lächeln, das sie als Wirtin für alle hatte. Vielleicht dachte sie bei ihrem Anblick an ihre eigne goldene, unwiederbringlich verlorene Jugendzeit und an ihren ersten Ball. Auch der Herr des Hauses folgte Natascha mit den Blicken und fragte den Grafen, welche von beiden seine Tochter sei.
»Charmante«, sagte er und küßte sich die Fingerspitzen.
Die Gäste im Saal hatten sich in Erwartung des Kaisers an der Eingangstür zusammengedrängt. Die Gräfin stellte sich gleich vorn in die erste Reihe dieser Menge. Natascha hörte und fühlte, daß einige nach ihr fragten und zu ihr hinsahen. Sie begriff, daß sie denen, die ihr diese Aufmerksamkeit schenkten, gefiel, und diese Beobachtung beruhigte sie etwas.
Einige sind hier, die sind wie wir; es sind aber auch welche da, die nicht so gut aussehen, dachte sie.
Fräulein Peronskaja nannte der Gräfin alle berühmten Persönlichkeiten, die auf dem Ball anwesend waren.
»Dies dort ist der holländische Gesandte, sehen Sie, der alte Herr dort mit dem grauen Haar«, sagte Fräulein Peronskaja und zeigte auf einen alten Herrn mit reichem, lockigem, silbergrauem Haar, der von Damen umringt war, die er durch irgend etwas zum Lachen brachte.
»Und jetzt kommt Petersburgs Königin, die Gräfin Besuchowa«, fuhr sie fort und wies auf die eintretende Helene. »Wie schön sie ist! Sie steht Marja Antonowna nicht nach. Sehen Sie nur, wie sowohl die Jungen als auch die Alten gleich hinter ihr her sind. Und dabei ist sie ebenso klug wie schön … Man sagt, Prinz X. soll ihretwegen fast den Verstand verloren haben. Und sehen Sie, diese beiden Damen dort sind zwar nichts weniger als schön und doch noch mehr umringt.«
Sie zeigte auf eine ältere Dame mit einer sehr häßlichen Tochter, die durch den Saal gingen.
»Das ist eine Millionenbraut«, erklärte Fräulein Peronskaja. »Und da sind auch schon ihre Bewerber.«
»Der eine ist ein Bruder der Gräfin Besuchowa, Anatol Kuragin«, fuhr sie fort und wies auf einen hübschen Gardekavallerieoffizier, der an ihnen vorüberging und mit hocherhobenem Kopf über die Damen hinweg nach etwas ausspähte. »Ein hübscher Kerl! Nicht wahr? Man sagt, daß er dieses reiche junge Mädchen heiraten wird. Und da ist ja auch Ihr Vetter, Drubezkoj, der soll ihr auch den Hof machen. Man munkelt von vielen Millionen. Aber nein, das ist doch der französische Gesandte selber«, erwiderte sie der Gräfin, die nach Caulaincourt gefragt hatte. »Wie ein König schreitet er einher. Und dabei sind sie so liebenswürdig, diese Franzosen, so überaus liebenswürdig. In Gesellschaft kann man sich gar nichts Liebenswürdigeres vorstellen. Aber da ist sie ja. Nein, unsere Marja Antonowna ist doch die Schönste von allen! Und wie einfach sie angezogen ist! Entzückend! Und dieser Dicke mit der Brille ist ein internationaler Freimaurer«, fuhr Fräulein Peronskaja fort und zeigte auf Pierre. »Wenn Sie den neben seine Frau stellen, der reine Hanswurst!«
Pierre wälzte sich mit seinem dicken Körper vorwärts, brach sich Bahn durch die Menge und grüßte bald rechts, bald links ebenso nachlässig und gutmütig, als ob er durch ein Gedränge auf dem Markt ginge. Er schob sich durch die Menge und schien jemanden zu suchen.
Natascha freute sich, Pierres bekanntes Gesicht zu sehen, das Gesicht dieses Hanswurstes, wie ihn Fräulein Peronskaja genannt hatte. Sie wußte, daß Pierre die Rostows und ganz besonders sie selbst in der Menge suchte. Er hatte ihr versprochen, auf den Ball zu kommen und ihr Tänzer vorzustellen.
Aber Besuchow war noch nicht bis zu ihnen vorgedrungen, als er neben einem kleinen, sehr hübschen, brünetten Herrn in weißer Uniform stehenblieb, der sich am Fenster mit einem großen Herrn mit Orden und Ordensbändern unterhielt. Natascha erkannte den kleinen jungen Offizier in der weißen Uniform sofort: es war Bolkonskij, der ihr heute viel jünger, hübscher und lustiger vorkam.
»Da ist noch ein Bekannter, Bolkonskij, sehen Sie, Mama?« sagte Natascha und wies auf den Fürsten Andrej. »Wissen Sie noch, er blieb einmal in Otradnoje über Nacht bei uns.«
»Ach, den kennen Sie?« sagte Fräulein Peronskaja. »Ich kann ihn nicht ausstehen. Il fait à présent la pluie et le beau temps. Und eingebildet ist er, daß es keine Grenzen hat! Ganz nach seinem Vater geraten. Er ist mit Speranskij liiert, sie arbeiten irgendwelche Entwürfe aus. Sehen Sie nur, wie er sich wieder gegen diese Damen benimmt. Sie reden mit ihm, und er dreht sich um«, sagte sie und zeigte auf ihn. »Ich würde es ihm aber stecken, wenn er sich gegen mich so benähme wie gegen diese Damen eben.«
Plötzlich kam Leben in die Menge, ein Flüstern lief durch den Saal, man drängte zusammen und trat wieder auseinander. Zwischen den zwei Reihen, die sich augenblicklich bildeten, trat bei den Klängen der neu einsetzenden Musik der Kaiser in den Saal. Ihm folgten der Herr und die Dame des Hauses. Eilig nach rechts und links grüßend schritt der Kaiser durch die Menge, als läge ihm daran, diese ersten Begrüßungsaugenblicke so schnell wie möglich hinter sich zu haben. Die Musik spielte eine Polonäse, die damals durch ihren Text allen bekannt war. Dieser Text fing mit den Worten an: »Alexander und Elisabeth, voll Begeisterung schaun wir zu euch empor …« Der Kaiser trat in den Salon, die Menge drängte bis in die Türen nach, einige hohe Persönlichkeiten eilten hastig mit ganz verändertem Gesichtsausdruck ebenfalls hinein und kamen dann wieder heraus. Dann strömte die Menge wieder etwas von den Türen des Salons zurück, weil der Kaiser im Gespräch mit der Dame des Hauses sich wieder der Tür genähert hatte. Ein junger Mann kam mit verlegener Miene auf die Damen zu und bat sie, etwas beiseite zu treten. Trotzdem drängten einige mit einem Gesichtsausdruck, als hätten sie alle Anstandsregeln der Welt vergessen, immer weiter nach vorn, obgleich das Gedränge für ihre Toiletten nicht gerade vorteilhaft war. Die Herren traten auf ihre Damen zu, und die Paare stellten sich zur Polonäse auf.
Alle machten Platz, und der Kaiser trat, die Dame des Hauses am Arm führend, lächelnd und ohne auf den Tusch der Musik zu achten, aus der Tür des Salons. Hinter ihm ging der Herr des Hauses mit Marja Antonowna Naryschkina[101], dann schlossen sich die Gesandten an, die Minister und verschiedene Generäle, die Fräulein Peronskaja den Rostows unermüdlich nannte.
Über die Hälfte der Damen war bereits engagiert und hatte sich der Polonäse angeschlossen oder war eben dabei, sich einzureihen. Natascha fühlte, daß sie mit der Mutter und Sonja zu der kleineren Anzahl der Damen gehören würde, die an die Wand gedrängt und nicht zur Polonäse aufgefordert wurden. Sie stand da, ließ die dünnen Arme herunterhängen, hielt den Atem an, so daß sich ihre kindliche Brust nur kaum merklich hob und senkte, und sah mit glänzenden, erschrockenen Augen vor sich hin mit einem Ausdruck, als erwarte sie das höchste Glück oder das tiefste Herzeleid. Sie sah nicht auf den Kaiser noch auf alle die hochgestellten Persönlichkeiten, die Fräulein Peronskaja ihnen zeigte, sie hatte nur den einen Gedanken: Kommt denn wirklich keiner zu mir? Soll ich wirklich diesen ersten Tanz nicht mittanzen? Bemerkt mich wirklich keiner von all diesen Männern, die mich jetzt gar nicht zu sehen scheinen, und wenn sie auch nach mir hinschauen, mich mit einem Ausdruck ansehen, als wollten sie sagen: Ach, das ist sie nicht, da brauche ich gar nicht weiter hinzuschauen! Nein, das kann doch nicht sein! dachte sie. Sie müssen doch wissen, wie gern ich tanzen möchte, wie ausgezeichnet ich tanze, und was es für ein Vergnügen für sie sein würde, mit mir zu tanzen!
Die Klänge der Polonäse, die gar kein Ende zu nehmen schien, fingen in Nataschas Ohren schon an, wehmütig zu klingen, als erinnerten sie sie an etwas. Sie war dem Weinen nahe. Fräulein Peronskaja war von ihnen gegangen, der Graf befand sich am anderen Ende des Saales, und so standen denn die Gräfin, Sonja und sie in diesem Schwarm unbekannter Menschen, von denen keiner ihnen Aufmerksamkeit schenkte oder sie brauchte, so einsam und allein wie in einem Wald. Fürst Andrej ging mit einer Dame an ihnen vorüber und erkannte sie augenscheinlich nicht. Der hübsche Anatol schlenderte ebenfalls vorbei, unterhielt sich lächelnd mit der Dame, die er führte, und sah Natascha mit einem Blick ins Gesicht, als schaue er auf die kahle Wand. Boris ging zweimal an ihnen vorbei, wandte sich aber jedesmal ab. Da trat Berg mit seiner Frau, die nicht tanzten, auf sie zu.
Natascha berührte dieses Zusammenhocken der ganzen Familie hier auf dem Ball peinlich, als ob es keinen anderen Ort gäbe, wo man sich mit seiner Familie unterhalten könne, als ausgerechnet hier. Sie hörte nicht zu und sah Wera nicht an, die ihr etwas von einem grünen Kleid erzählte.
Endlich blieb der Kaiser mit seiner letzten Dame – er hatte mit dreien getanzt – stehen und die Musik verstummte. Ein besorgter Adjutant lief auf die Rostows zu und bat sie, noch etwas beiseite zu treten, obgleich sie schon ganz an der Wand waren. Da ertönte von der Galerie noch vorsichtig, aber streng im Takt eine lockend langsame Walzermelodie. Der Kaiser sah sich lächelnd im Saal um. Wohl eine Minute verging – keiner wollte den Anfang machen. Ein Adjutant, der Vortänzer war, trat auf die Gräfin Besuchowa zu und forderte sie auf. Sie hob lächelnd den Arm und legte ihn, ohne ihren Tänzer anzusehen, auf des Adjutanten Schulter. Der Adjutant und Vortänzer, ein Meister in seinem Fach, legte gemessen und ohne sich zu beeilen, aber selbstbewußt, den Arm fest um seine Dame, führte sie anfänglich in einer Glissade am äußersten Rande des Kreises hin, ergriff am Ende des Saales ihre linke Hand, schwenkte seine Dame herum, und nun hörte man durch die Klänge der immer schneller werdenden Musik nur noch, wie die Sporen an den flinken und gewandten Füßen des Adjutanten im Takte klirrten, und wie sich bei jedem Dreivierteltakt das Samtkleid seiner Tänzerin wie auflodernd blähte. Natascha sah ihnen zu und kämpfte mit den Tränen, weil sie diesen ersten Walzer nicht mittanzen durfte.
Fürst Andrej, in der weißen Uniform eines Kavallerieobersten, in Strümpfen und Schuhen, stand in den vordersten Reihen des Kreises, nicht weit von den Rostows entfernt. Baron Vierhof unterhielt sich gerade mit ihm über die erste Sitzung des Reichsrates[102], die morgen stattfinden sollte. Als Vertrauter Speranskijs und Mitarbeiter bei der Gesetzkommission konnte Fürst Andrej eine zuverlässige Auskunft über die morgige Sitzung geben, über die allerlei Gerüchte im Umlauf waren. Aber er hörte nicht auf das, was Vierhof zu ihm sagte, sondern blickte bald zum Kaiser hinüber, bald auf ein paar junge Herren, die tanzen wollten, sich aber nicht entschließen konnten, in den Kreis zu treten. Er beobachtete die Herren, die sich durch die Anwesenheit des Kaisers so einschüchtern ließen, und die Damen, die vor Verlangen, zum Tanz aufgefordert zu werden, fast vergingen.
Da trat Pierre auf den Fürsten Andrej zu und ergriff seine Hand.
»Sie tanzen doch sonst immer. Ich habe einen Schützling hier, die kleine Rostowa, fordern Sie die doch einmal auf«, sagte er.
»Wo ist sie?« fragte Bolkonskij. »Entschuldigen Sie«, wandte er sich an den Baron, »diese Unterhaltung wollen wir lieber anderswo zu Ende führen, auf einem Ball muß man doch tanzen.« Und er ging in der Richtung vor, die Pierre ihm angegeben hatte. Nataschas verzweifeltes, todunglückliches Gesicht sprang ihm gleich in die Augen. Er erkannte sie, erriet ihre Gefühle, begriff, daß sie zum erstenmal auf einem Ball war, dachte an ihr Gespräch am Fenster und trat mit heiterem Gesichtsausdruck auf die Gräfin Rostowa zu.
»Erlauben Sie, daß ich Sie mit meiner Tochter bekannt mache«, sagte die Gräfin errötend.
»Ich hatte bereits das Vergnügen, die Bekanntschaft Ihrer Fräulein Tochter zu machen, wenn sich die Komtesse noch meiner erinnert«, sagte Fürst Andrej mit einer artigen und tiefen Verbeugung, die mit den Bemerkungen Fräulein Peronskajas über seine Unhöflichkeit gänzlich in Widerspruch stand. Dann trat er auf Natascha zu, bat sie um einen Walzer und hob, ehe er diese Aufforderung noch zu Ende gesprochen hatte, schon den Arm, um ihre Taille zu umfassen. Nataschas todunglückliches Gesichtchen, auf dem die Erwartung tiefster Verzweiflung und höchster Wonne lag, überstrahlte plötzlich ein glückliches, dankbares, kindliches Lächeln.
Wie lang habe ich schon auf dich gewartet! schien dieses erschreckte und beglückte Mädchen zu sagen, während ein Lächeln über ihr Gesicht flog, das noch soeben den Tränen nahe gewesen war, und sie legte ihre Hand auf Fürst Andrejs Schulter. Sie waren das zweite Paar, das in den Kreis trat. Fürst Andrej war einer der besten Tänzer seiner Zeit, und auch Natascha tanzte ausgezeichnet. Ihre Füßchen in den weißen Atlasschuhen taten leicht, flink und fast wie von selbst ihre Pflicht, und ihr Gesicht strahlte in eitel Wonne. Ihr bloßer Hals und ihre bloßen Arme waren mager und häßlich im Vergleich mit Helenes vollen Formen. Ihre Schultern waren eckig, ihre Brust noch unentwickelt und ihre Arme dünn. Aber Helenes Körper hatten alle die tausend Blicke, die schon über ihn hingestreift waren, bereits gewissermaßen wie mit einem Lack überzogen, während Natascha dagegen als das junge Mädchen erschien, das, zum erstenmal entblößt, sich dessen sehr geschämt haben würde, wenn man ihr nicht versichert hätte, daß dies nicht anders gehe.
Fürst Andrej tanzte sehr gern, war jetzt zum Tanzen vorgetreten in dem Wunsch, möglichst bald den klugen, politischen Gesprächen, mit denen sich alle an ihn wandten, zu entgehen und den Dunstkreis von Verlegenheit, der sich in Gegenwart des Kaisers immer bildete, zu durchdringen, und hatte Natascha deshalb gewählt, weil Pierre sie ihm gezeigt hatte und sie das erste hübsche weibliche Wesen war, das ihm unter die Augen kam. Doch kaum hatte er diesen schlanken, biegsamen Körper umfaßt, der sich so dicht neben ihm bewegte und ihm aus so nächster Nähe zulächelte, als ihm ihre Reize wie feuriger Wein zu Kopf stiegen, und als er sie losließ, um Atem zu schöpfen, und stehenblieb und den Tanzenden zuschaute, fühlte er sich verjüngt und wie neugeboren.
Nach dem Fürsten Andrej trat Boris auf Natascha zu und forderte sie zum Tanz auf, dann kam der Vortänzer, der den Ball eröffnet hatte, und noch andere junge Leute, und Natascha hörte mit glühenden Wangen und glückstrahlendem Gesicht den ganzen Abend nicht wieder auf zu tanzen, wobei sie ihre überzähligen Kavaliere noch an Sonja abgab. Sie sah und hörte nichts von alledem, was die Aufmerksamkeit aller anderen auf diesem Ball so sehr in Anspruch nahm. Sie bemerkte nicht, daß sich der Kaiser lange mit dem französischen Gesandten unterhielt, sah nicht, daß er besonders gnädig mit der und der Dame sprach, merkte nicht, daß die Fürsten Soundso und Sowieso dies oder jenes taten und sagten, daß Helene großen Erfolg hatte und die besondere Aufmerksamkeit des Prinzen X. erregte, ja sie sah nicht einmal den Kaiser; und daß er fortgegangen war, merkte sie erst daran, daß nach seinem Weggang der Ball viel animierter wurde.
Eine der lustigen Kotillontouren vor dem Abendessen tanzte Fürst Andrej wieder mit Natascha. Er erinnerte sie an ihren ersten Zusammenstoß in der Allee von Otradnoje und an die Mondnacht, in der sie nicht hatte einschlafen können und er sie unfreiwillig belauscht hatte. Natascha wurde rot bei dieser Erinnerung und versuchte sich zu rechtfertigen, als schäme sie sich der Gefühle, deren unfreiwilliger Zeuge Fürst Andrej geworden war.
Wie alle Leute, die in der großen Welt aufgewachsen sind, freute sich Fürst Andrej jedesmal, wenn er in Gesellschaft mit einem Menschen zusammentraf, der nicht den Allerweltsstempel dieser Kreise trug. Und ein solcher Mensch war Natascha mit ihrem Staunen, ihrem Glück, ihrer Schüchternheit und ihren Fehlern beim Französischsprechen. Er verkehrte und unterhielt sich mit ihr ganz besonders zart und behutsam. Wenn er neben ihr saß und von den einfachsten, harmlosesten Dingen mit ihr plauderte, ergötzte er sich an dem glücklichen Leuchten ihrer Augen und an ihrem Lächeln, das nicht aus dem, was sie sagte, sondern aus einer allgemeinen inneren Glückseligkeit entsprang. Und wenn dann Natascha aufgefordert wurde, sich lächelnd erhob und durch den Saal tanzte, freute sich Fürst Andrej besonders über ihre schüchterne Anmut. Mitten im Kotillon kehrte Natascha, nachdem die eine Figur zu Ende war, atemlos auf ihren Platz zurück. Wieder trat ein Kavalier auf sie zu und wollte sie von neuem auffordern. Sie war müde und heiß und dachte sichtlich daran, zu danken, doch legte sie gleich wieder heiter die Hand auf die Schulter des neuen Tänzers und lächelte dem Fürsten Andrej nur zu.
Wie gern würde ich mich ausruhen und neben Ihnen sitzen, denn ich bin müde, aber Sie sehen ja, wie ich immer wieder aufgefordert werde, und ich freue mich darüber und bin glücklich und liebe sie alle. Wir beide, Sie und ich, verstehen das alles, sagte dieses Lächeln und noch vieles mehr. Als der Tänzer sie freiließ, lief Natascha durch den Saal, um noch zwei Damen zu ihrem Karree aufzufordern.
Wenn sie jetzt zuerst zu ihrer Cousine geht und dann erst zu einer anderen Dame, so soll sie meine Frau werden, sagte sich Fürst Andrej plötzlich ganz unvermittelt im stillen, während er nach ihr hinsah. Und wirklich ging Natascha erst zu ihrer Cousine.
Was für dummes Zeug einem manchmal durch den Kopf fährt, dachte Fürst Andrej, aber Tatsache ist jedenfalls, daß dieses junge Mädchen so reizend und eigenartig ist, daß sie keine vier Wochen hier tanzen wird, ohne einen Mann zu finden … Sie ist für Petersburg eine Seltenheit, dachte er, als Natascha, die Rose wieder an ihr Mieder steckend, sich neben ihn setzte.
Zum Schluß des Kotillons kam der alte Graf in seinem blauen Frack zu den Tanzenden hin. Er lud den Fürsten Andrej ein, ihn doch auch hier in Petersburg einmal zu besuchen, und fragte seine Tochter, ob sie sich gut amüsiere. Natascha gab erst keine Antwort und lächelte nur in einer Weise, aus der man den Vorwurf herauslesen konnte: Wie kann man da nur noch fragen! »So schön ist es wie noch nie im ganzen Leben!« rief sie dann, und Fürst Andrej sah, wie sie schnell ihre mageren Arme aufhob, um den Vater zu umarmen, sie aber gleich wieder sinken ließ. Und wirklich war Natascha so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Sie befand sich auf jener höchsten Stufe des Glücks, wo der Mensch eitel Liebe und Güte wird und alles Böse, alles Unglück und allen Kummer in der Welt gar nicht für möglich hält.
Pierre fühlte sich auf diesem Ball durch die Stellung, die seine Frau in den höchsten Kreisen einnahm, zum erstenmal verletzt und beleidigt. Er war finster und zerstreut. Er stand am Fenster, blickte durch seine Brille, ohne irgend jemanden zu sehen, und quer über seine Stirn zog sich eine breite Falte.
Natascha, die zu Tisch ging, kam an ihm vorüber.
Das finstere, traurige Gesicht Pierres fiel ihr auf. Sie blieb vor ihm stehen. Wie gern hätte sie ihm geholfen, ihm von der Fülle ihres Glückes etwas abgegeben.
»Es ist doch herrlich heute, Graf«, sagte sie, »nicht wahr?«
Pierre lächelte zerstreut, offenbar verstand er gar nicht, was sie sagte.
»Ja, ich freue mich sehr«, erwiderte er.
Wie kann nur jemand heute mißmutig sein, dachte Natascha, und noch dazu so ein guter Mensch wie dieser Besuchow. In ihren Augen waren alle, die auf dem Ball anwesend waren, gleich gute, liebe und herrliche Menschen, die sich liebhatten und einander gar nicht beleidigen konnten. Deshalb hatten aber auch alle die Pflicht, glücklich zu sein.
Am folgenden Tag dachte Fürst Andrej an den gestrigen Ball zurück, hielt sich aber nicht lange bei diesen Gedanken auf. Ja, ein recht glänzendes Fest. Und was war denn gleich noch … ach ja, die kleine Rostowa, ein reizender Kerl. Sie hat so etwas Frisches, Ungezwungenes, was sie von den andern Petersburger Damen unterscheidet. Das war aber auch alles, was er über den gestrigen Ball dachte, und dann ging er gleich, nachdem er Tee getrunken hatte, an seine Arbeit.
War es, weil er noch müde war und nur wenig geschlafen hatte, jedenfalls war der Tag für die Arbeit nicht günstig, und Fürst Andrej konnte nichts Rechtes schaffen. Er kam ins Kritisieren seiner eignen Arbeit hinein, wie das oft bei ihm zu geschehen pflegte, und er war deshalb froh, als er jemanden kommen hörte.
Der Eintretende war Bizkij, ein Herr, der verschiedenen Kommissionen angehörte, in allen Kreisen Petersburgs verkehrte, ein leidenschaftlicher Anhänger Speranskijs und aller neuen Ideen war, als eifrigster Neuigkeitskrämer von Petersburg galt und zu jenen Leuten gehörte, die sich ihre Gesinnungsrichtung wie etwa ein neues Kleid nach der Mode auswählen und deshalb immer den Eindruck machen, als wären sie die glühendsten Anhänger der jeweilig erwählten Richtung. Er war so in Geschäften, daß er kaum Zeit gehabt hatte, den Hut abzunehmen, rasch auf den Fürsten Andrej zulief und gleich zu reden anfing. Er hatte soeben alle Einzelheiten über die Sitzung des Reichsrates von heute morgen, der vom Kaiser eröffnet worden war, in Erfahrung gebracht, und schickte sich nun mit einem wahren Hochgenuß an, sie zum besten zu geben. Die Rede des Kaisers hatte Aufsehen erregt. Es war eine von jenen Reden gewesen, wie sie nur konstitutionelle Monarchen halten können.
»Der Kaiser hat geradezu gesagt, der Rat und der Senat seien Reichskörperschaften, er hat gesagt, die Grundlage einer Regierung dürfe nicht die Willkür sein, sondern feststehende Formen, er hat ferner gesagt, das Finanzwesen müsse umgestaltet und Berichte darüber müssen veröffentlicht werden«, erzählte Bizkij, wobei er die wichtigen Worte stark betonte und bedeutsam die Augen aufriß.
»Ja, das heutige Ereignis leitet eine neue Ära ein, eine bedeutende Ära in unserer Geschichte«, schloß er.
Fürst Andrej hörte seine Erzählung von der Eröffnung des Reichsrates, die er mit solcher Ungeduld erwartet und der er eine so weittragende Bedeutung zugeschrieben hatte, und wunderte sich, daß dieses Ereignis jetzt, wo es sich vollzogen hatte, ihn nicht nur wenig berührte, sondern ihm fast nichtig erschien. Mit leisem Lächeln hörte er den begeisterten Bericht Bizkijs an. Ein ganz einfacher Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Was gehen mich und Bizkij die Worte des Kaisers im Reichsrat an? Kann auch nur eines davon mich glücklicher oder besser machen?
Und diese einfache Erwägung machte plötzlich im Fürsten Andrej all sein früheres Interesse für die im Werden begriffenen Umwälzungen zunichte.
An diesem Tag sollte Fürst Andrej bei Speranskij speisen, »en petit comité«, wie sich dieser bei der Einladung ausgedrückt hatte. Diesem Mittagessen im Familien- und Freundeskreis eines Menschen, den er so sehr verehrte, hatte Fürst Andrej erst mit großer Spannung entgegengesehen, um so mehr, da er bisher Speranskij noch nie im häuslichen Kreise gesehen hatte. Heute aber hatte er keine rechte Lust mehr hinzugehen.
Dennoch erschien er zur festgesetzten Stunde zum Mittagessen in dem kleinen, eignen Haus Speranskijs am Taurischen Garten. In dem parkettierten Eßzimmer des kleinen Häuschens, das sich durch auffallende Sauberkeit auszeichnete, die etwas an klösterliche Reinlichkeit erinnerte, fand Fürst Andrej, der sich ein wenig verspätet hatte, um fünf Uhr bereits die ganze Tafelrunde dieses petit comité versammelt, das aus Speranskijs intimsten Freunden bestand. Außer der kleinen Tochter Speranskijs, die mit ihrem länglichen Gesicht große Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte, und ihrer Erzieherin waren keine Damen anwesend. Geladen waren Gervais, Magnizkij und Stolypin. Schon im Vorzimmer hörte Fürst Andrej laute Stimmen und ein helles, klares Lachen, ähnlich dem, wie man auf der Bühne zu lachen pflegt. Irgendeine Stimme, die wie Speranskijs Stimme klang, stieß deutlich hervor: »Ha … ha … ha …« Fürst Andrej hatte Speranskij noch nie lachen hören, aber dieses klangvolle, helle Lachen des Staatsmanns berührte ihn eigentümlich.
Fürst Andrej trat ins Speisezimmer ein. Die ganze Gesellschaft stand bereits um einen kleinen Tisch mit Gabelbissen zwischen den beiden Fenstern. Speranskij, im grauen Frack mit Ordensstern und augenscheinlich auch in derselben weißen Weste und hohen weißen Halsbinde, in denen er der berühmten Sitzung des Reichsrates beigewohnt hatte, stand mit vergnügtem Gesicht am Tisch. Die Gäste umringten ihn. Magnizkij erzählte, an Michail Michailowitsch gewandt, eine Anekdote. Speranskij hörte zu und lachte immer schon im voraus über das, was Magnizkij sagen wollte. In dem Augenblick, als Fürst Andrej ins Zimmer trat, wurden Magnizkijs Worte durch ein lautes Gelächter übertönt. Stolypin lachte laut und im tiefsten Baß, während er ein Stück Brot mit Käse kaute, Gervais lachte leise und zischend und Speranskij hell und klar.
Immer noch lachend reichte Speranskij dem Fürsten Andrej seine weiße gepflegte Hand.
»Freue mich sehr, Sie zu sehen, Fürst«, sagte er. »Einen Augenblick …« wandte er sich an Magnizkij, seine Erzählung unterbrechend. »Wir haben uns nämlich heute verabredet, beim Mittagessen recht vergnügt zu sein und kein Wort von geschäftlichen Dingen zu reden.« Und er wandte sich wieder an den Erzähler und fing von neuem an zu lachen.
Fürst Andrej sah mit Staunen und wehmütiger Enttäuschung auf den lachenden Speranskij, und hörte ihm zu. Das war nicht Speranskij, das war ein anderer Mensch, den Fürst Andrej gar nicht kannte. Alles, was ihm sonst an Speranskij geheimnisvoll und anziehend vorgekommen war, erschien ihm jetzt klar und abstoßend.
Bei Tisch verstummte die Unterhaltung nicht ein einziges Mal, und es war, als setze sie sich nur aus einer Sammlung witziger Anekdoten zusammen.
Magnizkij hatte seine lustige Geschichte noch nicht zu Ende erzählt, als auch schon ein anderer seine Bereitwilligkeit bekundete, etwas zu erzählen, was noch komischer war. Diese Anekdoten betrafen zum Teil, wenn auch nicht die Dienstverwaltung selber, so doch die im Dienste stehenden Persönlichkeiten. Es schien, als wäre man in dieser Gesellschaft so endgültig über die Nichtigkeit dieser Persönlichkeiten einig, daß man sie nur noch von der gutmütig komischen Seite nehmen könne. Speranskij erzählte, wie ein fast tauber hoher Beamter in der Sitzung von heute morgen, als er nach seiner Meinung gefragt worden sei, geantwortet habe, er sei ganz derselben Ansicht. Gervais gab eine ganze Revisionsgeschichte zum besten, bei der die Beschränktheit aller mitwirkenden Beamten geradezu phänomenal gewesen sei. Stotternd mischte sich nun auch Stolypin ins Gespräch und fing an, hitzig über die Mißstände der früheren Einrichtungen herzufallen, was dem Gespräch eine ernste Wendung zu geben drohte. Aber Magnizkij fing an, Stolypin wegen seiner Heftigkeit zu hänseln, Gervais unterstützte ihn hierbei, und so nahm die Unterhaltung wieder ihren früheren lustigen Charakter an.
Offenbar liebte es Speranskij, sich nach der Arbeit im Freundeskreis auszuruhen und lustig zu sein, und seine Gäste hatten Verständnis für diesen Wunsch und begnügten sich damit, ihn und sich selber aufzuheitern. Aber diese Fröhlichkeit schien dem Fürsten Andrej schwerfällig und nicht echt. Der helle Klang von Speranskijs Stimme berührte ihn unangenehm, und sein stetes Lachen, das einen falschen Unterton hatte, verletzte aus irgendeinem Grund seine Gefühle. Fürst Andrej lachte nicht mit und fürchtete, in dieser lustigen Gesellschaft aufzufallen. Aber niemand bemerkte, daß er die allgemeine Stimmung nicht teilte. Alle schienen äußerst vergnügt zu sein.
Er versuchte ein paarmal, sich in die Unterhaltung einzumischen, doch jedesmal wurden seine Worte wie Korkstücke aus dem Wasser wieder herausgespült, und es gelang ihm nicht, in den allgemeinen scherzhaften Ton mit einzustimmen.
Es war nichts Schlechtes und Unpassendes in dem, was sie sagten, alles war geistreich und hätte auch witzig sein können, aber irgend etwas und gerade das, was eine lustige Unterhaltung würzt, fehlte bei ihnen ganz, ja sie schienen nicht einmal zu wissen, daß es so etwas gibt.
Nach dem Essen standen Speranskijs Töchterchen und ihre Erzieherin auf. Speranskij streichelte das Kind mit seiner weißen Hand und küßte es. Aber auch diese Gebärde kam dem Fürsten Andrej unnatürlich vor.
Nach englischer Sitte blieben die Herren noch beim Portwein am Tische sitzen. Mitten in einem soeben neu begonnenen Gespräch über Napoleons Operationen in Spanien[103], die alle einstimmig bewunderten, konnte sich Fürst Andrej nicht enthalten, ihnen zu widersprechen. Speranskij lächelte, wünschte offenbar das Gespräch von der Richtung, die es einzuschlagen drohte, abzuwenden, und erzählte eine Anekdote, die zu dem, worüber man sprach, in gar keiner Beziehung stand. Einige Augenblicke waren alle still.
Man saß noch eine Weile bei Tisch, dann korkte Speranskij die Weinflasche zu und sagte: »Ein guter Wein ist heutzutage kaum mit Gold aufzuwiegen«, gab dann dem Diener die Flasche und stand auf. Alle anderen erhoben sich ebenfalls und gingen, in derselben lauten Unterhaltung begriffen, in den Salon. Man überreichte Speranskij zwei Briefe, die ein Kurier gebracht hatte. Er nahm sie und ging damit in sein Arbeitszimmer. Kaum war er hinausgegangen, so verstummte das allgemeine lustige Gespräch, und die Gäste fingen an, sich leise und vernünftig miteinander zu unterhalten.
»Nun, jetzt noch einen kleinen Vortrag«, sagte Speranskij, als er wieder aus seinem Arbeitszimmer heraustrat. »Dieser Magnizkij hat ein erstaunliches Talent!« fuhr er, zum Fürsten Andrej gewandt, fort.
Magnizkij stellte sich sogleich in Positur und fing an, ein paar französische Couplets vorzutragen, die er auf die verschiedensten bekannten Persönlichkeiten Petersburgs selber verfaßt hatte. Mehrmals wurde er dabei von lauten Beifallsäußerungen unterbrochen. Als er geendet hatte, trat Fürst Andrej auf Speranskij zu, um sich von ihm zu verabschieden.
»Wohin wollen Sie denn so früh?« fragte Speranskij.
»Ich habe mich für den Abend verabredet …«
Beide schwiegen. Fürst Andrej sah aus allernächster Nähe in Speranskijs Spiegelaugen, die keinen Einblick in sein Innerstes gewährten, und es kam ihm lächerlich vor, wie er irgend etwas von Speranskij und all der Arbeit, die mit ihm zusammenhing, hatte erwarten und all das, was Speranskij tat, hatte ernst nehmen können. Dieses abgemessene, künstlich heitere Lachen hallte noch lange in seinen Ohren nach, auch nachdem er schon von Speranskij fortgefahren war.
Nach Hause zurückgekehrt, ließ Fürst Andrej sein ganzes Leben in diesen drei Monaten in Petersburg noch einmal an seiner Seele vorüberziehen, und es erschien ihm in einem ganz neuen Licht. Er erinnerte sich an sein geschäftiges Hasten und Treiben, sein Suchen und Tasten, an die Geschichte seines Militärreglement-Entwurfs, den man zur Prüfung angenommen und nur deshalb mit Stillschweigen übergangen hatte, weil eine andere, viel schlechtere Arbeit bereits eingeliefert und dem Kaiser vorgelegt worden war. Er dachte an die Sitzungen seines Komitees, dem auch Berg als Mitglied angehörte, erinnerte sich, wie gesucht ausführlich in diesen Sitzungen all das behandelt wurde, was die äußeren Formen und den Gang der Sitzungen betraf, und wie gesucht kurz man über alles hinwegging, was den Kern der Angelegenheiten berührte. Er dachte an seine Gesetzgebungsarbeiten, wie er sorgfältig die Paragraphen der römischen und französischen Gesetzbücher ins Russische übertrug, und schämte sich dessen. Dann trat das Bild von Bogutscharowo lebhaft vor seine Seele, er dachte an seine Tätigkeit auf dem Lande, an seine Reise nach Rjasan, dachte an seine Bauern, an den Dorfältesten Dron, brachte auf sie das Personenrecht in Anwendung, das er hier auf dem Papier in Paragraphen einteilte, und wunderte sich, wie er sich so lange mit einer so unnützen Arbeit hatte beschäftigen können.
Am nächsten Tag machte Fürst Andrej in einigen Häusern, wo er noch nicht gewesen war, Besuch, so auch bei Rostows, deren Bekanntschaft er auf dem letzten Ball erneuert hatte. Er tat das nicht nur, um den Gesetzen der Höflichkeit zu genügen, nach denen er unbedingt zu den Rostows hinfahren mußte, sondern er hatte auch den Wunsch, dieses eigenartige, lebhafte junge Mädchen, an das zurückzudenken ihm so angenehm war, einmal im häuslichen Kreis zu sehen.
Natascha war eine der ersten, die ihm entgegenkamen. Sie trug ein blaues Hauskleid, in dem sie dem Fürsten Andrej noch besser gefiel als auf dem Ball. Sie und alle Rostows nahmen ihn einfach und herzlich und wie einen alten Freund auf. Die ganze Familie, die Fürst Andrej früher so hart beurteilt hatte, schien ihm jetzt aus lauter herrlichen, einfachen und guten Menschen zu bestehen. Ihre Gastfreundschaft und die gutmütige Art des alten Grafen, die in Petersburg besonders liebenswürdig anmutete, waren so herzlich, daß Fürst Andrej es nicht abschlagen konnte, zum Mittagessen zu bleiben. Ja, das sind gute, brave Menschen, dachte Bolkonskij. Freilich haben sie keine Spur von Verständnis dafür, was für ein Kleinod sie in Natascha besitzen, aber es sind gute Menschen, die einen prächtigen Hintergrund abgeben, von dem sich dieses eigenartig poetische, lebensvolle, reizende Mädchen vorzüglich abhebt.
Bolkonskij fühlte, daß Natascha in einer ihm ganz fremden, eigenartigen Welt lebte, die voll von Freuden war, die er nicht kannte, in eben jener fremden Welt, die schon damals in Otradnoje in der Allee und in der Mondnacht am Fenster solchen Reiz auf ihn ausgeübt hatte. Jetzt beunruhigte ihn diese Welt nicht mehr, er stand ihr nicht mehr fremd gegenüber, sondern empfand, nachdem er in sie eingetreten war, einen ihm bisher unbekannten Genuß.
Nach dem Mittagessen ging Natascha auf Fürst Andrejs Bitten ans Klavier und fing an zu singen. Fürst Andrej stand am Fenster, unterhielt sich mit den Damen und hörte ihr zu. Aber mitten in einem Satz brach er plötzlich ab und schwieg, weil er fühlte, wie ihm die Tränen in der Kehle aufstiegen, was er bei sich selbst niemals für möglich gehalten hätte. Er sah auf die singende Natascha, und etwas Neues, Beglückendes vollzog sich in seiner Seele. Er war glücklich, und doch war ihm dabei auch weh ums Herz. Er hatte ganz sicher keinen Grund zum Weinen, und doch kamen ihm die Tränen. Worüber? Über seine frühere Liebe? Über die kleine Fürstin? Über seine Enttäuschungen? … Über seine Hoffnungen auf die Zukunft? … Ja und nein. Der Hauptgrund, der ihm beinahe Tränen entlockt hätte, war der ihm plötzlich lebhaft zum Bewußtsein kommende furchtbare Gegensatz zwischen etwas unendlich Hohem und Grenzenlosem in ihm, und etwas Engem, Körperlichem, was er selber war und auch sie. Dieser Gegensatz quälte und beglückte ihn zugleich, während sie sang.
Kaum hatte Natascha geendet, so eilte sie auf ihn zu und fragte ihn, wie ihm ihre Stimme gefalle. Sie fragte ihn, wurde aber gleich, nachdem sie es gesagt hatte, verlegen, da ihr klar wurde, daß sie diese Frage nicht hätte stellen dürfen. Er sah sie lächelnd an und erwiderte, daß ihm ihr Gesang ebenso gefalle wie alles, was sie tue.
Erst spät abends fuhr Fürst Andrej von den Rostows nach Hause. Gewohnheitsgemäß legte er sich schlafen, aber er sah bald ein, daß an Schlaf nicht zu denken war. Bald zündete er das Licht an und richtete sich in seinem Bett auf, bald erhob er sich ganz, bald legte er sich wieder hin, ohne sich von seiner Schlaflosigkeit bedrückt zu fühlen, so froh und andersartig war ihm zumute, als wäre er aus einem dumpfigen Zimmer in die freie Gotteswelt hinausgetreten. Es kam ihm nicht einmal der Gedanke in den Sinn, daß er in Fräulein Rostowa verliebt sein könne, er dachte gar nicht ernstlich an sie, sondern träumte nur von ihr, und die Folge war, daß ihm sein ganzes Leben in neuem Licht erschien. Warum zermartere ich mich, warum mühe ich mich in diesem engen, geschlossenen Rahmen ab, wo doch das Leben, das ganze Leben mit all seinen Freuden und Herrlichkeiten offen vor mir liegt? sagte er sich. Und zum erstenmal nach langer Zeit fing er wieder an, glückliche Pläne für die Zukunft zu schmieden. Er beschloß, sich um die Erziehung seines Sohnes zu kümmern, einen Hauslehrer für ihn zu suchen und ihn mit seiner Heranbildung zu beauftragen. Dann wollte er Urlaub nehmen und ins Ausland reisen, nach England, in die Schweiz, nach Italien. Ich muß meine Freiheit genießen, solange ich mich noch so jung und kräftig fühle, sagte er sich; Pierre hatte recht, als er sagte, daß man an die Möglichkeit des Glückes glauben müsse, um glücklich zu sein, jetzt aber glaube ich daran. Überlassen wir es den Toten, die Toten zu begraben; solange man am Leben ist, muß man leben und glücklich sein.
Eines Morgens kam der Oberst Adolf Berg, den Pierre wie alle Moskauer und Petersburger kannte, in einer tadellosen, nagelneuen Uniform, das Haar ebenso über die Schläfen vorgekämmt und pomadisiert, wie es Kaiser Alexander Pawlowitsch trug, zu Pierre aufs Zimmer.
»Ich war soeben bei Ihrer Gattin, der Gräfin, und bin so unglücklich, daß meine Bitte kein Gehör gefunden hat; doch hoffe ich, daß ich bei Ihnen mehr Glück haben werde, Graf«, fügte er lächelnd hinzu.
»Was ist Ihnen gefällig, Oberst? Ich stehe zu Ihren Diensten.«
»Ich habe mich jetzt in meiner neuen Wohnung vollkommen eingerichtet«, teilte Berg mit, augenscheinlich überzeugt, daß sich jeder darüber freuen müsse, »und deshalb möchte ich gern eine kleine Abendgesellschaft für meine und meiner Frau Freunde geben.« Dabei lächelte er noch liebenswürdiger. »So wollte ich denn die Gräfin und Sie bitten, uns die Ehre zu erweisen, zu einer Tasse Tee und zum Abendessen zu uns zu kommen.«
Nur eine Gräfin Besuchowa, die einen Verkehr mit diesen Bergs für unter ihrer Würde hielt, konnte die Grausamkeit haben, eine solche Einladung abzuschlagen. Berg setzte ihm so deutlich auseinander, warum er eine kleine, aber feine Gesellschaft bei sich versammeln wolle und warum ihm gerade diese angenehm sei und warum ihm für Kartenspiel und noch üblere Vergnügen das Geld leid tue, während er für eine gute Gesellschaft gern bereit sei, Ausgaben zu machen, daß Pierre es ihm nicht abschlagen konnte und zu kommen versprach.
»Aber nicht so spät, Graf, wenn ich bitten darf, um zehn Minuten vor acht Uhr, wenn ich bitten darf. Wir wollen ein Spielchen machen, unser General wird auch kommen. Er ist sehr gütig gegen mich. Und dann essen wir zu Abend, Graf. Also machen Sie mir das Vergnügen.«
Während Pierre sonst überall zu spät kam, erschien er an diesem Tag bei den Bergs statt zehn Minuten vor acht bereits um dreiviertel acht. Doch die Bergs hatten alle ihre Vorbereitungen schon beendet und waren zum Empfang ihrer Gäste bereit.
Berg saß mit seiner Frau in seinem neuen, sauberen, hellerleuchteten Arbeitszimmer, das mit Büsten und Bildern geschmückt und mit nagelneuen Möbeln ausgestattet war. In einer soeben vom Schneider gekommenen, bis oben zugeknöpften Uniform saß er neben seiner Frau und erklärte ihr, daß man nur den Verkehr mit solchen Leuten pflegen könne und müsse, die über einem stünden, denn nur dann könne man Annehmlichkeiten aus ihrer Bekanntschaft ziehen. »Man kann ihnen dies und jenes absehen, kann sie auch mal um etwas bitten. Siehst du, so habe ich es von den untersten Rangstufen an gehalten.« Berg berechnete sein Leben nicht nach Jahren, sondern nach seinen Rangerhöhungen. »Meine einstigen Kameraden haben es bis heute noch zu nichts gebracht, ich aber vertrete den Regimentskommandeur, wenn er seinen Urlaub hat, und habe das Glück, dein Gatte zu sein.« Er stand auf und küßte Wera die Hand, wobei er auf dem Weg zu ihr die eine Ecke des Teppichs wieder zurechtschob, die sich umgeschlagen hatte. »Und wodurch habe ich das alles erworben? In erster Linie durch die Kunst, mir meine Bekannten auszuwählen. Natürlich versteht es sich von selbst, daß man gleichzeitig auch tüchtig und gewissenhaft sein muß.«
Berg lächelte in dem Bewußtsein seiner Überlegenheit über dieses unfähige weibliche Wesen, schwieg und überlegte sich, daß sie, wenn sie auch ein liebes Geschöpf war, doch immerhin ein unfähiges Weib sei, das gar nicht begreifen könne, was die Würde eines Mannes ausmache und was es hieß, ein Mann zu sein. Gleichzeitig lächelte aber auch Wera im Bewußtsein ihrer Überlegenheit über ihren zwar ganz tüchtigen und guten Mann, der aber, wie nach Weras Ansicht alle Männer, doch so verkehrte Ansichten vom Leben hatte. Berg urteilte nur nach seiner Frau und hielt alle weiblichen Wesen für schwache und dumme Geschöpfe. Und auch Wera urteilte nur nach ihrem Mann allein, verallgemeinerte ihre Beobachtungen und nahm an, daß alle Männer glaubten, den Verstand gepachtet zu haben, während sie doch in Wirklichkeit gar nichts verstünden und nur eingebildete Egoisten seien.
Berg stand auf, umarmte seine Frau vorsichtig, um den Spitzenüberwurf, der ihn so teures Geld gekostet hatte, nicht zu zerdrücken, und küßte sie mitten auf den Mund.
»Nur das eine wünsche ich mir, daß wir nicht so bald Kinder bekommen«, sagte er aus einer Gedankenverbindung heraus, die ihm selber nicht ganz klar war.
»Ja«, erwiderte Wera, »das wünsche ich mir auch durchaus nicht. Man muß sich ganz der Geselligkeit hingeben.«
»Genau so einen hatte die Fürstin Jusupowa«, sagte Berg und zeigte mit glücklichem gutmütigem Lächeln auf Weras Spitzenüberwurf.
In diesem Augenblick wurde Graf Besuchow gemeldet. Beide Gatten sahen sich mit selbstgefälligem Lächeln an, wobei jeder die Ehre dieses Besuches auf sein Konto schrieb.
Da kann man sehen, was es heißt, die rechte Auswahl unter seinen Bekannten zu treffen, dachte Berg, da kann man sehen, was es heißt, etwas auf sich zu geben.
»Ich bitte dich nur um das eine«, sagte Wera, »unterbrich mich nicht immer, wenn ich mich mit den Gästen unterhalte. Ich weiß doch selber, wie ich mich mit jedem abgeben und worüber ich mit jedem reden muß.«
Berg lächelte nur.
»Aber das geht doch nicht immer, manchmal muß man doch mit Männern Männergespräche führen«, sagte er.
Pierre wurde in einem strahlend neuen Salon empfangen, wo man sich nirgends hinsetzen konnte, ohne Symmetrie, Sauberkeit und Ordnung zu stören, und deshalb war es keineswegs merkwürdig und nur verständlich, daß Berg, wenn er schon die großmütige Absicht hatte, die Symmetrie der Sessel und Sofas einem so teuren Gast zuliebe aufzuheben, sich in dieser Hinsicht offenbar doch in peinlicher Unentschlossenheit befand und die Lösung dieser Frage dem Geschmack des Gastes überließ. Und so zerstörte denn Pierre diese Symmetrie, indem er sich einen Stuhl heranrückte; und augenblicklich eröffneten Berg und Wera ihre Abendgesellschaft, indem sie ihren Gast unterhielten und sich dabei immer gegenseitig unterbrachen.
Wera, die sich in ihrem Kopf zurechtgelegt hatte, Pierre müsse unbedingt über die französische Gesandtschaft unterhalten werden, steuerte geradeswegs auf dieses Thema los. Berg aber, der zu der Ansicht gekommen war, daß hier ein Männergespräch eher am Platz sei, unterbrach die Rede seiner Frau und berührte die Frage eines Krieges mit Österreich, sprang aber dann unwillkürlich von den allgemeinen auf persönliche Angelegenheiten über, indem er von den Vorschlägen erzählte, die ihm gemacht worden waren, falls er an einem Feldzug gegen Österreich teilnehmen wollte, und die Gründe erörterte, warum er diese Vorschläge nicht annehmen könne. Obgleich die Unterhaltung etwas an den Haaren herbeigezogen war und Wera sich über die Einmischung des männlichen Elements ärgerte, so fühlten doch beide Gatten mit Vergnügen, daß ihre Abendgesellschaft, obgleich vorläufig nur ein einziger Gast da war, einen recht guten Anfang genommen hatte und mit ihren Gesprächen, ihrem Tee und ihren angezündeten Kerzen so sehr jeder anderen Abendgesellschaft glich wie ein Wassertropfen dem anderen.
Bald kam auch Boris, Bergs früherer Regimentskamerad. Er behandelte Berg und Wera etwas gönnerhaft und von oben herab. Dann kam der Oberst mit seiner Frau, dann der General in eigner Person, dann die Rostows, und nun wurde die Abendgesellschaft wirklich wie alle anderen. Berg und Wera konnten beim Anblick dieses Lebens und Treibens in ihrem Salon, bei diesem ewigen Summen unzusammenhängender Gespräche, bei diesem Rascheln der Kleider und diesen endlosen Verbeugungen ein glückliches Lächeln nicht unterdrücken. Alles war bei ihnen wie bei den anderen auch. Auch sie hatten einen Ehrengast, den General, der sich lobend über ihre Wohnung aussprach, Berg auf die Schulter klopfte und mit väterlicher Eigenmächtigkeit die Aufstellung des Bostontisches anordnete. Der General setzte sich neben den Grafen Ilja Andrejewitsch, der nach ihm der vornehmste Gast war. Das Alter gesellte sich zum Alter, die Jugend zur Jugend, die Hausfrau präsidierte am Teetisch, auf dem in einem silbernen Körbchen dasselbe feine Gebäck stand, das es auch auf der Abendgesellschaft bei den Panins gegeben hatte – kurz, es war alles ganz so wie bei anderen auch.
Pierre als einer der vornehmsten Gäste mußte sich mit Ilja Andrejewitsch, dem General und dem Obersten an den Bostontisch setzen. Auf diese Weise kam er Natascha gerade gegenüber zu sitzen, deren merkwürdige Veränderung seit jenem Ball ihm auffiel. Natascha war schweigsam und sah nicht nur nicht so hübsch aus wie auf dem Ball, sondern hätte heute eher für häßlich gelten können, wenn ihr Gesicht nicht einen so sanften, gegen alles gleichgültigen Ausdruck gezeigt hätte.
Was hat sie nur? dachte Pierre und sah sie an. Sie saß neben der Schwester am Teetisch und antwortete Boris, der sich neben sie gesetzt hatte, auf seine Fragen nur widerwillig und ohne ihn anzusehen. Pierre hatte soeben eine ganze Trumpfflöte heruntergespielt und zum Entzücken seines Partners fünf Stiche gemacht, als er begrüßende Worte und die Schritte eines neuen Gastes, der ins Zimmer trat, hörte, und warf nun, während er seine Stiche einnahm, wieder einen Blick auf Natascha.
Was ist nur mit ihr geschehen? fragte er sich noch erstaunter.
Fürst Andrej stand mit zart aufmerksamem Gesichtsausdruck da und sagte etwas zu ihr. Sie hob den Kopf hoch, wurde rot und sah ihn an, sichtlich bemüht, ihr erregtes Atmen zu verbergen. Und der helle Glanz des inneren Feuers, das vorhin wie erloschen geschienen hatte, loderte wieder in ihren Augen auf. Sie war wie umgewandelt: soeben hatte sie noch für häßlich gelten können, und plötzlich war sie wieder ebenso hübsch wie auf dem Ball.
Fürst Andrej trat auf Pierre zu, und Pierre bemerkte, daß das Gesicht seines Freundes ganz anders und viel jünger aussah.
Während des Spieles mußte Pierre verschiedene Male den Platz wechseln, kam so bald mit dem Rücken, bald mit dem Gesicht gegen Natascha zu sitzen, und so stellte er im Verlauf der ganzen sechs Robber[104] seine Beobachtungen über sie und seinen Freund an.
Zwischen ihnen geht etwas Wichtiges vor, dachte Pierre, und ein frohes und zugleich bitteres Gefühl erregte ihn und ließ ihn seinen Kummer vergessen.
Nach dem sechsten Robber stand der General auf und sagte, so könne man unmöglich weiterspielen, und Pierre wurde frei. Natascha unterhielt sich nach der einen Seite mit Sonja und Boris, während Wera auf der anderen Seite mit einem feinen Lächeln den Fürsten Andrej in irgendein Gespräch gezogen hatte. Pierre trat auf seinen Freund zu und setzte sich mit der Frage, ob es wohl ein Geheimnis sei, was sie da miteinander besprächen, neben die beiden. Wera war das Interesse des Fürsten Andrej für Natascha nicht entgangen, sie fand, daß es auf einer Abendgesellschaft, auf einer richtigen Abendgesellschaft, unbedingt auch feine Anspielungen auf Gefühle geben müsse, und so hatte sie denn, die Zeit benutzend, da Fürst Andrej nicht in das allgemeine Gespräch verwickelt war, mit ihm eine Unterhaltung über Gefühle im allgemeinen und ihre Schwester im besonderen angefangen. Sie hielt es für notwendig, einem so klugen Gast gegenüber – denn dafür hielt sie den Fürsten Andrej – alle ihre diplomatischen Künste spielen zu lassen.
Als Pierre zu den beiden herantrat, bemerkte er, daß Wera mit selbstzufriedener Hingabe ihr Gespräch führte, und daß Fürst Andrej, was selten der Fall war, verlegen schien.
»Was meinen Sie?« fragte Wera mit feinem Lächeln. »Sie sind doch so scharfsichtig, Fürst, und durchschauen den Charakter eines Menschen auf den ersten Blick. Was glauben Sie von Natascha: kann sie in ihren Neigungen beständig sein, kann sie so wie andere Frauen« – damit meinte Wera sich selbst – »auf den ersten Blick einen Menschen liebgewinnen und ihm dann immer treu bleiben? Denn das halte ich doch für die wahre Liebe. Wie denken Sie darüber, Fürst?«
»Ich kenne Ihr Fräulein Schwester zu wenig«, erwiderte Fürst Andrej mit spöttischem Lächeln, unter dem er seine Verlegenheit verbergen wollte, »um eine so delikate Frage entscheiden zu können. Ferner habe ich die Beobachtung gemacht, daß eine Frau um so beständiger ist, je weniger sie gefällt«, fügte er hinzu und sah Pierre an, der sich in diesem Augenblick zu ihnen gesellte.
»Ja, da haben Sie recht, Fürst! In unserer Zeit«, fuhr Wera fort – sie sprach von »unserer Zeit«, wie das beschränkte Leute gern tun, als hätten sie an »unserer Zeit« besondere Eigentümlichkeiten herausgefunden und ihren Wert abzuschätzen verstanden, und als ob sich die Charaktereigenschaften der Menschen mit den Zeiten änderten –, »in unserer Zeit haben die jungen Mädchen so viele Freiheiten, daß le plaisir d’être courtisée bei ihnen oft ein wahres Gefühl erstickt. Et Natalie, il faut l’avouer, y est très sensible.«
Ihr Zurückkommen auf Natascha rief bei dem Fürsten Andrej ein ärgerliches Stirnrunzeln hervor, er wollte aufstehen, aber Wera fuhr mit noch feinerem Lächeln fort: »Ich glaube, keinem jungen Mädchen ist so die Cour gemacht worden wie ihr, aber niemals, bis auf die allerletzte Zeit, hat ihr jemand ernstlich gefallen. Das wissen Sie doch auch, Graf«, wandte sie sich an Pierre, »nicht einmal unser lieber Vetter Boris, der, unter uns gesagt, doch bis über die Ohren in sie verliebt war.«
Fürst Andrej wurde noch finsterer und schwieg.
»Sie sind doch mit Boris befreundet?« fragte ihn Wera.
»Ja, ich kenne ihn …«
»Sicher hat er Ihnen da auch von seiner Kinderliebe zu Natascha erzählt.«
»Hat denn eine solche Kinderliebe zwischen ihnen bestanden?« fragte Fürst Andrej, plötzlich rot werdend.
»Ja. Vous savez entre cousin et cousine cette intimité mène quelquefois à l’amour: le cousinage est un dangereux voisinage. N’est-ce pas?«
»Aber ganz sicher!« sagte Fürst Andrej, der mit einem Mal unnatürlich lebhaft wurde und Pierre zu necken anfing: er solle ja im Verkehr mit seinen fünfzigjährigen Cousinen in Moskau recht vorsichtig sein. Plötzlich aber stand er mitten in seinen scherzenden Worten auf, nahm Pierres Arm und führte ihn etwas beiseite.
»Was gibt’s?« fragte Pierre, der erstaunt in das merkwürdig belebte Gesicht seines Freundes sah und den Blick beobachtet hatte, den Fürst Andrej beim Aufstehen Natascha zuwarf.
»Ich muß unbedingt, unbedingt mit dir sprechen«, sagte Fürst Andrej. »Du kennst doch unsere Frauenhandschuhe bei den Freimaurern.« Er sprach von jenen Frauenhandschuhen, die jedem neu eintretenden Freimaurer überreicht wurden, damit er sie derjenigen Frau aushändige, die er liebe. »Ich … aber nein, ich werde später noch einmal mit dir darüber sprechen …«
Und mit einem seltsamen Leuchten in den Augen und einer merkwürdigen Unruhe in den Bewegungen trat Fürst Andrej auf Natascha zu und setzte sich neben sie. Pierre sah, wie er sie irgend etwas fragte, und wie sie ihm errötend antwortete.
Aber in diesem Augenblick trat Berg an Pierre heran und bat ihn flehentlich, sich doch an einer Diskussion über die spanischen Operationen zu beteiligen, die zwischen dem General und dem Obersten entbrannt war.
Berg war glücklich und zufrieden. Das frohe Lächeln schwand nicht aus seinem Gesicht. Ihre Abendgesellschaft war vollkommen gelungen und ganz ebenso wie alle die anderen Abendgesellschaften auch, an denen er je teilgenommen hatte. Alles war wie immer: die feinen, gedämpften Unterhaltungen der Damen, das Kartenspiel, der General mit seiner herausfordernden Stimme am Kartentisch, der Samowar, das Gebäck, nur eines hatte noch gefehlt, etwas, das er auf allen Abendgesellschaften, deren Beispiel ihm vorschwebte, beobachtet hatte: ein lautes Gespräch zwischen den Herren und eine Debatte über irgendein wichtiges und kluges Thema. Der General hatte nun ein solches Gespräch angefangen, und deshalb holte Berg Pierre schleunigst dazu heran.
Am nächsten Tag kam Fürst Andrej zu den Rostows zum Mittagessen, da ihn Graf Ilja Andrejewitsch eingeladen hatte, und verlebte den ganzen Tag bei ihnen.
Alle im Hause fühlten, wem die Besuche des Fürsten Andrej galten, und er selber machte auch kein Hehl daraus und bemühte sich, den ganzen Tag mit Natascha zusammen zu sein. Aber nicht nur auf Nataschas Herzen, die glücklich und entzückt, gleichzeitig aber auch erschrocken war, sondern auch auf dem ganzen Haus lastete wie ein Alp die Erwartung von etwas Wichtigem, das sich vollziehen sollte. Die Gräfin sah den Fürsten Andrej mit traurigen oder doch ernsten Augen an, wenn er mit Natascha sprach, und zog ihn künstlich und verlegen in irgendein gleichgültiges Gespräch, sobald er nur zu ihr hinblickte. Sonja fürchtete, Natascha allein zu lassen, fürchtete aber ebenso, zu stören, wenn sie bei ihnen blieb. Natascha sah vor ängstlicher Erwartung ganz blaß aus, wenn sie einmal einen Augenblick mit ihm allein blieb. Fürst Andrejs Schüchternheit fiel ihr auf. Sie fühlte, daß er ihr etwas sagen wollte, sich aber nicht dazu entschließen konnte.
Abends, als Fürst Andrej weggefahren war, kam die Gräfin zu Natascha und fragte sie flüsternd: »Nun, wie steht’s?«
»Um Gottes willen, fragen Sie mich jetzt nichts, Mama! Das kann man nicht mit Worten sagen«, erwiderte Natascha.
Trotzdem lag sie an diesem Abend lange, bald erregt, bald erschrocken, mit schweren Augen bei der Mutter im Bett. Sie erzählte ihr, daß er sie gelobt und ihr gesagt habe, er wolle bald ins Ausland reisen, daß er gefragt habe, wo sie den Sommer verleben würden, und auch Boris erwähnt habe.
»Aber so … so ist mir noch niemals ums Herz gewesen«, sagte sie. »Nur habe ich immer solche Angst, wenn er da ist, immer habe ich Angst, wenn er da ist. Was bedeutet das? Bedeutet das, daß er der Richtige ist? Ja? Mama, Sie schlafen wohl schon?«
»Nein, mein Liebling, mir ist selber bang zumute«, erwiderte die Mutter. »Aber geh jetzt.«
»Ich kann ja doch nicht schlafen. Was für ein Unsinn, schlafen! Mamachen, Mamachen, so ist mir noch nie ums Herz gewesen!« sagte sie verwundert und erschrocken über das Gefühl, dessen sie sich bewußt wurde. »Wer hätte so etwas denken können?«
Natascha glaubte, sich schon damals in Otradnoje, als sie den Fürsten Andrej zum erstenmal gesehen hatte, in ihn verliebt zu haben. Sie erschrak gleichsam vor dem seltsamen, unerwarteten Glück, daß sie gerade den Menschen, den sie schon damals auserwählt hatte – und davon war sie fest überzeugt –, daß sie diesen selben Menschen hier wiedergetroffen hatte, und er anscheinend nicht gleichgültig gegen sie war.
Und ausgerechnet jetzt, wo wir hier sind, mußte er nach Petersburg kommen. Und dann mußten wir uns auf diesem Ball treffen! Das alles ist eine Fügung des Schicksals. Es ist ganz klar, daß dies eine Fügung des Schicksals ist, und daß dies alles dazu geführt hat. Schon damals, als ich ihn nur sah, empfand ich etwas Sonderbares.
»Was hat er denn noch zu dir gesagt? Was sind denn das für Verse? Sag sie doch einmal her …«, sagte die Mutter nachdenklich und meinte die Verse, die Fürst Andrej Natascha ins Album geschrieben hatte.
»Mama, ist es nicht beschämend für mich, daß er Witwer ist?«
»Nun höre aber auf, Natascha! Bete zu Gott! Les mariages se font dans les cieux.«
»Mein liebes, bestes Mamachen, wie lieb habe ich Sie, und wie glücklich bin ich!« rief Natascha, weinte vor Glück und Erregung und umarmte die Mutter.
Zur selben Zeit saß Fürst Andrej bei Pierre und sprach mit ihm über seine Liebe zu Natascha und seine feste Absicht, sie zu seiner Frau zu machen.
An diesem Tag war bei der Gräfin Helene eine größere Gesellschaft versammelt: der französische Gesandte war da, der Prinz, der seit einiger Zeit ein häufiger Gast im Hause der Gräfin geworden war, und noch viele glänzende Damen und Herren. Pierre war unten gewesen, war durch die Säle gegangen und hatte alle durch seine starre, zerstreute und finstere Miene verblüfft.
Seit jenem Ball fühlte Pierre, wie ein neuer Anfall von Schwermut über ihn kam, und suchte verzweifelt dagegen anzukämpfen. Er war, als der Prinz anfing, häufiger bei seiner Frau zu verkehren, unerwarteterweise zum Kammerherrn ernannt worden und fühlte sich seit jener Zeit in der großen Gesellschaft bedrückt und beschämt. Immer häufiger kamen ihm seine früheren finsteren Gedanken von der Eitelkeit alles Menschlichen. Auch die zur gleichen Zeit von ihm gemachten Beobachtungen über die Gefühle seines Schützlings Natascha und des Fürsten Andrej trugen, wenn er seine Lage mit der seines Freundes verglich, dazu bei, seine finstere Gemütsstimmung noch mehr zu verdüstern. Dennoch gab er sich Mühe, nicht an seine Frau oder an Natascha und den Fürsten Andrej zu denken. Wieder erschien ihm alles nichtig im Vergleich mit der Ewigkeit, wieder drängte sich ihm die Frage auf: Wozu dies alles? Und so mühte er sich Tag und Nacht mit Freimaurerarbeiten ab, in der Hoffnung, dadurch seine böse Stimmung zu vertreiben.
Pierre hatte sich gegen zwölf aus den Gemächern seiner Frau zurückgezogen und saß nun in einem abgetragenen Schlafrock bei sich oben in seinem verräucherten, niedrigen Zimmer am Tisch und schrieb lange Akten aus Schottland für die Freimaurer ab, als jemand zu ihm ins Zimmer trat. Es war Fürst Andrej.
»Ach, Sie sind es«, sagte Pierre mit zerstreuter, nicht gerade erfreuter Miene. »Sehen Sie, ich arbeite«, fuhr er fort und wies mit einer Miene auf das Heft, als erwarte er von ihm, wie alle unglücklichen Menschen von ihrer Arbeit, Erlösung aus allen Lebensnöten.
Fürst Andrej blieb mit dem strahlenden, begeisterten Gesicht eines zu neuem Leben erwachten Menschen vor Pierre stehen, bemerkte dessen unglückliche Miene gar nicht und lächelte ihm im Egoismus seines Glückes zu.
»Ja, mein Lieber«, fing er an, »ich wollte es dir schon gestern sagen und bin nun heute eigens deshalb zu dir gekommen. Noch nie habe ich etwas Ähnliches empfunden. Ich bin verliebt, mein Freund.«
Pierre seufzte plötzlich auf und ließ sich mit der ganzen Last seines schweren Körpers neben Fürst Andrej auf dem Sofa nieder.
»In Natascha Rostowa, nicht wahr?« fragte er.
»Ja natürlich, in wen denn sonst? Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber dieses Gefühl ist stärker als ich. Gestern noch quälte ich mich und litt, aber auch diese Qualen möchte ich nicht um alles in der Welt missen. Ich habe früher überhaupt nicht gelebt. Erst jetzt fange ich damit an, aber ich kann nicht mehr ohne sie leben. Doch kann sie mich überhaupt lieben? Bin ich nicht zu alt für sie? Warum sagst du denn gar nichts?«
»Ich? Ich? Ich habe es Ihnen schon gesagt«, erwiderte Pierre, stand plötzlich auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich habe mir das schon immer gedacht … Dieses Mädchen ist ein solches Kleinod, eine solche … Es ist ein seltenes Mädchen … Mein lieber Freund, tun Sie mir bloß den Gefallen und quälen Sie sich nicht mit Grübeleien und Zweifeln, sondern heiraten Sie, heiraten Sie, heiraten Sie … Und ich bin überzeugt, daß Sie der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt sein werden.«
»Aber sie?«
»Natascha liebt Sie.«
»Rede doch keinen Unsinn …« sagte Fürst Andrej und sah Pierre lächelnd in die Augen.
»Sie liebt Sie, ich weiß es doch«, rief Pierre wütend.
»Nein, hör mal«, sagte Fürst Andrej und hielt ihn an der Hand fest. »Du begreifst doch wohl, in was für einer Lage ich mich befinde? Ich muß jemandem mein ganzes Herz ausschütten.«
»Na, so reden Sie doch, ich freue mich sehr«, erwiderte Pierre, und sein Gesicht nahm auch tatsächlich einen anderen Ausdruck an: die finsteren Falten glätteten sich, und er hörte dem Fürsten Andrej freundlich zu.
Bolkonskij schien ein ganz anderer, neuer Mensch geworden zu sein. Von seinem Weltschmerz, seiner Verachtung fürs Leben und seiner großen Enttäuschung war nichts mehr zu spüren. Pierre war der einzige Mensch, zu dem er sich offen aussprechen wollte, dafür schüttete er ihm aber auch sein ganzes Herz aus. Bald machte er leicht und kühn Pläne auf lange Zukunft hinaus oder sprach davon, daß er sein Glück nicht den Launen seines Vaters zum Opfer bringen dürfe und seinen Vater entweder zwingen müsse, seine Einwilligung zu dieser Ehe zu geben und Natascha zu lieben, oder sich ohne seine Zustimmung mit ihr vermählen müsse, bald wieder wunderte er sich wie über etwas Seltsames und Fremdes über jenes Gefühl, das sich so unabhängig von seinem eignen Willen seiner bemächtigt hatte.
»Ich hätte es nicht geglaubt, wenn es mir einer gesagt hätte, daß ich so lieben könnte«, sagte Fürst Andrej. »Es ist ein ganz anderes Gefühl als das, was ich früher empfunden habe. Die ganze Welt teilt sich für mich jetzt in zwei Hälften: auf der einen Seite – sie, und dort ist alles Glück, alle Hoffnung und alles Licht, auf der anderen – alles übrige, wo sie nicht ist, und dort ist aller Trübsinn und alle Finsternis …«
»Trübsinn und Finsternis«, wiederholte Pierre. »Ja, ja, das verstehe ich.«
»Und ich kann doch gar nicht anders, als das Licht lieben, das ist doch nicht meine Schuld. Ich bin glücklich, sehr glücklich. Du wirst mich verstehen. Ich weiß, daß du dich für mich freust.«
»Ja, ja«, bestätigte Pierre und sah seinen Freund mit gerührten, traurigen Augen an. Und je glänzender ihm das Geschick des Fürsten Andrej erschien, um so düsterer kam ihm sein eignes vor.
Zu einer Heirat brauchte Fürst Andrej aber die Einwilligung seines Vaters, und deshalb fuhr er am nächsten Tag nach Hause.
Der Vater nahm die Eröffnungen seines Sohnes äußerlich ganz ruhig entgegen, innerlich aber war er höchst ergrimmt. Er konnte nicht verstehen, wie ein anderer sein Leben ändern und noch etwas Neues hineintragen konnte, wo für ihn das Leben doch schon zu Ende war. Sie sollten mich doch wirklich noch die paar Jahre, so wie es mir paßt, zu Ende leben lassen, dann können sie ja machen, was sie wollen, dachte der Alte bei sich. Doch dem Sohn zeigte er jene Diplomatie, die er gegen ihn immer in den wichtigsten Augenblicken seines Lebens beobachtet hatte. In ruhigem Ton unterzog er die ganze Angelegenheit einer eingehenden Prüfung.
Erstens einmal sei es keine glänzende Partie, was Familie, Vermögen und Verbindungen betraf. Zweitens sei Fürst Andrej bereits über die ersten Jugendjahre hinaus und etwas kränklich, was der alte Fürst besonders betonte, sie dagegen sei noch sehr jung. Drittens habe er einen Sohn, den er einer so jungen Mutter wohl schwerlich überlassen könne. »Und viertens endlich«, sagte der Vater und sah seinen Sohn dabei spöttisch an, »bitte ich dich, schiebe die Angelegenheit noch ein Jahr auf, reise ins Ausland, werde erst einmal gesund, suche meinetwegen, wie du es ja wolltest, einen deutschen Erzieher für den kleinen Fürsten Nikolaj, und wenn dann nach einem Jahr deine Liebe, deine Leidenschaft oder deine Dickköpfigkeit – nenne es, wie du willst – noch ebenso groß sein sollte, dann heirate. Dies ist mein letztes Wort, versteh mich wohl, mein letztes …« schloß der Fürst in einem Ton, der deutlich besagte, daß nichts in der Welt ihn dazu bringen werde, diesen seinen Beschluß zu ändern.
Fürst Andrej merkte deutlich, daß der Alte hoffte, seine oder seiner künftigen Braut Liebe werde die Prüfung von einem Jahr nicht aushalten oder er, der alte Fürst, werde während dieser Zeit sterben, und so beschloß Fürst Andrej, den Wunsch seines Vaters zu erfüllen, indem er um Nataschas Hand anhielt, die Hochzeit aber noch ein Jahr hinausschob.
Drei Wochen nach dem letzten Abend bei den Rostows kehrte Fürst Andrej nach Petersburg zurück.
Am Tage nach ihrer Aussprache mit der Mutter hatte Natascha den ganzen Tag auf Bolkonskij gewartet, er aber war nicht gekommen. Auch am nächsten und am übernächsten Tag erwartete sie ihn vergeblich. Auch Pierre kam nicht, und Natascha, die nicht wußte, daß Fürst Andrej zu seinem Vater aufs Land gefahren war, konnte sich sein Fernbleiben gar nicht erklären.
So vergingen drei Wochen. Natascha wollte nirgends hingehen, schlich matt und niedergeschlagen wie ein Schatten durch die Zimmer, weinte nachts im geheimen und zeigte sich abends nie bei ihrer Mutter. Sie war sehr gereizt und wurde bei jeder Gelegenheit rot. Ihr schien, als müßte jedermann von ihrer Enttäuschung wissen, sich über sie lustig machen oder sie bedauern.
Bei all ihrem inneren Leid trug diese verletzte Eigenliebe noch zu ihrem Kummer bei.
Einmal kam sie zur Gräfin, wollte etwas zu ihr sagen und brach plötzlich in Tränen aus. Sie weinte wie ein Kind, das sich gekränkt fühlt, weil es nicht weiß, warum es bestraft worden ist. Die Gräfin schickte sich an, sie zu trösten. Natascha hörte anfänglich den Worten ihrer Mutter zu, dann aber unterbrach sie sie plötzlich: »Hören Sie auf, Mama, ich mache mir keine Gedanken und will mir auch gar keine machen. Er ist zu uns gekommen, und nun kommt er eben nicht mehr und damit gut …«
Ihre Stimme fing an zu beben, beinahe hätte sie wieder losgeheult, aber sie beherrschte sich und fuhr ganz ruhig fort: »Ich will überhaupt nicht heiraten. Und dann fürchte ich mich auch vor ihm. Und jetzt bin ich wieder ganz, ganz ruhig …«
Am Tag nach dieser Aussprache zog Natascha ihr altes Kleid wieder an, das ihr deshalb so lieb war, weil sie in ihm ihre Morgenstunden immer so lustig verbracht hatte, und von jenem Tag an begann sie wieder ihre alte Lebensweise, die nach dem Ball eine andere geworden war. Gleich nach dem Tee lief sie in den Saal, den sie seiner starken Resonanz wegen ganz besonders liebte, und fing an, hier ihre Solfeggien[105] zu singen. Nachdem sie mit der ersten Übung fertig war, stellte sie sich mitten in den Saal und wiederholte die eine Stelle, die ihr besonders gefallen hatte. Voller Freude, als vernähme sie es heute zum erstenmal, hörte sie, wie herrlich diese Töne dahinschwebten, den ganzen leeren Saal erfüllten und dann langsam verklangen. Ihr wurde plötzlich wieder ganz heiter zumute. Warum so viel darüber nachgrübeln, es ist doch auch so sehr schön, sagte sie sich und fing an, im Saal auf und ab zu gehen, wobei sie nicht mit gewöhnlichen Schritten über den hallenden Parkettfußboden ging, sondern bei jedem Schritt mit dem Absatz aufklappte – sie trug ganz neue Schuhe, die ihr sehr gut gefielen –, um sich dann auf die Stiefelspitze zu erheben, und horchte nun ebenso froh, wie sie soeben dem Klang ihrer Stimme gelauscht hatte, auf das taktmäßige Klappen ihrer Hacken und das Knarren ihrer Stiefelspitzen. Als sie am Spiegel vorbeiging, warf sie einen Blick hinein. Ja, das bin ich, schien ihr Gesichtsausdruck zu sagen, als sie sich im Spiegel erblickte. Es ist ja auch so ganz gut. Ich brauche gar niemanden.
Ein Diener wollte eintreten, um im Saal etwas in Ordnung zu bringen, aber sie ließ ihn nicht herein, machte die Tür wieder hinter ihm zu und setzte ihren Spaziergang fort. Sie hatte sich an diesem Morgen wieder in ihren Lieblingszustand, in den der Eigenliebe und Selbstverhimmelung, zurückversetzt. Was für ein goldiger Kerl ist doch diese Natascha! sagte sie wieder von sich, als spräche irgendein alle Männer in sich vereinender Dritter von ihr. Sie ist jung und hübsch, hat eine prächtige Stimme und tut keinem etwas zuleide. Also laßt doch gefälligst auch sie in Ruhe! Aber wenn man sie auch noch so sehr in Ruhe gelassen hätte, ruhig hätte sie trotzdem nicht sein können, das fühlte sie doch.
Im Vorzimmer wurde die Tür zum Flur aufgemacht und jemand fragte: »Sind die Herrschaften zu Hause?« Dann hörte man Schritte. Natascha blickte in den Spiegel, sah aber nicht mehr ihr Bild darin. Sie horchte auf das Geräusch im Vorzimmer. Als sie wieder auf ihr Gesicht sah, bemerkte sie, daß es ganz bleich war. Das war er. Sie wußte es ganz genau, obgleich sie kaum den Klang seiner Stimme durch die geschlossenen Türen hatte hören können.
Bleich und erschrocken lief Natascha in den Salon.
»Mama, Bolkonskij ist soeben gekommen!« rief sie. »Mama, das ist furchtbar, das ist unerträglich! Ich will nicht … diese Qual! Was soll ich nur machen? …«
Die Gräfin hatte noch nicht Zeit gefunden, ihr eine Antwort zu geben, als Fürst Andrej mit ernstem und erregtem Gesicht in den Salon eintrat. Doch kaum hatte er Natascha erblickt, so flog ein Leuchten über sein Gesicht. Er küßte der Gräfin und Natascha die Hand und nahm neben dem Sofa Platz.
»Wir haben lange nicht das Vergnügen gehabt …«, wollte die Gräfin anfangen, aber Fürst Andrej unterbrach sie, indem er gleich auf ihre Frage antwortete. Er hatte es sichtlich sehr eilig, das, was ihm am Herzen lag, auszusprechen.
»Ich habe Sie die ganze Zeit über nicht aufsuchen können, weil ich bei meinem Vater war: ich hatte eine äußerst wichtige Angelegenheit mit ihm zu besprechen. Erst gestern nacht bin ich zurückgekehrt«, sagte er mit einem Blick auf Natascha. »Ich muß mit Ihnen sprechen, Gräfin«, fuhr er dann fort, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte.
Die Gräfin seufzte schwer und senkte die Augen.
»Bitte, ich bin bereit«, sagte sie.
Natascha begriff, daß sie hinausgehen sollte, aber sie konnte es nicht tun, irgend etwas schnürte ihr die Kehle zu, und sie starrte dem Fürsten Andrej mit weitgeöffneten Augen ziemlich ungesittet gerade ins Gesicht.
Jetzt gleich? … In diesem Augenblick? … Nein, das kann doch nicht sein …, dachte sie.
Wieder sah er sie an, und dieser Blick gab ihr die Gewißheit, daß sie sich nicht getäuscht hatte. Ja, jetzt gleich, in diesem Augenblick sollte sich ihr Schicksal entscheiden.
»Geh hinaus, Natascha, ich rufe dich dann«, flüsterte ihr die Gräfin zu.
Natascha sah den Fürsten Andrej und ihre Mutter mit erschrockenen, flehenden Blicken an und ging hinaus.
»Ich bin gekommen, Gräfin, um Sie um die Hand Ihrer Tochter zu bitten«, sagte Fürst Andrej.
Über das Gesicht der Gräfin flog eine jähe Röte, aber sie antwortete nicht sogleich.
»Ihr Antrag …«, fing sie dann gemessen an – er schwieg und sah ihr gerade in die Augen –, »Ihr Antrag …«, sie geriet etwas in Verlegenheit, »ist uns angenehm, und … ich nehme Ihren Antrag an, ich freue mich darüber. Und auch mein Mann … ich hoffe … aber es wird ja von ihr selbst abhängen …«
»Ich werde es ihr sagen, sobald ich Ihre Einwilligung dazu habe. Werden Sie mir diese geben?« fragte Fürst Andrej.
»Ja«, sagte die Gräfin und reichte ihm die Hand, und als er sich über diese Hand beugte, drückte sie in einem Gemisch von Zärtlichkeit und Fremdsein ihre Lippen auf seine Stirn. Sie wollte ihn lieben wie ihren Sohn, aber sie fühlte, daß er ein Fremder für sie war und sie Angst vor ihm hatte. »Ich bin überzeugt«, fuhr sie dann fort, »daß auch mein Mann seine Einwilligung geben wird. Aber Ihr Herr Vater …«
»Mein Vater, den ich von meinen Plänen bereits in Kenntnis gesetzt habe, hat mir seine Einwilligung unter der unerläßlichen Bedingung gegeben, daß die Hochzeit nicht vor Ablauf eines Jahres stattfindet. Das wollte ich Ihnen noch mitteilen«, sagte Fürst Andrej.
»Freilich, Natascha ist ja noch sehr jung, aber ein Jahr ist doch eine recht lange Zeit.«
»Es geht nicht anders«, erwiderte Fürst Andrej seufzend.
»Ich werde sie Ihnen hereinschicken«, sagte die Gräfin und ging hinaus.
»Herr, erbarme dich unser!« betete sie, während sie nach der Tochter suchte.
Sonja sagte, Natascha sei im Schlafzimmer. Sie saß auch wirklich auf ihrem Bett, blaß und mit brennenden Augen, hielt den Blick auf das Heiligenbild gerichtet, bekreuzigte sich heftig und murmelte etwas vor sich hin. Als sie die Mutter sah, sprang sie auf und lief ihr entgegen.
»Was ist, Mama? Was ist?«
»Komm, geh hinunter zu ihm. Er hält um deine Hand an«, sagte die Gräfin, und Natascha schien es, als klänge ihre Stimme kalt. »Geh … geh«, sagte die Mutter noch einmal wehmütig und vorwurfsvoll zu der hinwegeilenden Tochter und seufzte schwer.
Natascha wußte nicht, wie sie in den Salon gekommen war. Als sie durch die Tür trat und ihn erblickte, blieb sie plötzlich stehen. Soll dieser fremde Mensch jetzt wirklich alles für mich sein? fragte sie sich, aber augenblicklich kam ihr auch schon die Antwort: Ja, alles: er allein ist mir jetzt teurer als alles auf der Welt.
Fürst Andrej trat mit niedergeschlagenen Augen auf sie zu.
»Ich habe Sie von dem Augenblick an geliebt, als ich Sie zum erstenmal gesehen habe. Darf ich hoffen?«
Sie sah ihn an, und der ernste, leidenschaftliche Ausdruck auf seinem Gesicht machte großen Eindruck auf sie. Ihre Züge schienen zu sagen: Wozu noch fragen? Warum an etwas zweifeln, dessen man sicher ist. Wozu sprechen, wenn man ja doch das, was man fühlt, nicht mit Worten ausdrücken kann?
Sie trat einen Schritt auf ihn zu und blieb wieder stehen. Er ergriff ihre Hand und küßte sie. »Lieben Sie mich?«
»Ja, ja«, stieß Natascha beinahe ärgerlich hervor und seufzte laut, dann noch einmal, und dann immer wieder und wieder und brach schließlich in Schluchzen aus.
»Aber was ist? Was haben Sie denn?«
»Ach, ich bin so glücklich«, erwiderte sie, unter Tränen lächelnd, beugte sich näher zu ihm hin, zögerte einen Augenblick, als ob sie sich fragte, ob sie das auch dürfe, und küßte ihn.
Fürst Andrej hielt ihre beiden Hände in den seinen, sah ihr in die Augen und fand in seinem Herzen die frühere Liebe zu ihr nicht wieder. Seine Gefühle hatten eine plötzliche Wandlung erfahren: der frühere poetische und geheimnisvolle Reiz des Verlangens war geschwunden, dafür fühlte er etwas wie Mitleid mit ihrer weiblichen und kindlichen Schwäche, fürchtete sich vor ihrer Hingabe und Gläubigkeit und war sich der schweren und zugleich frohen Pflicht bewußt, die ihn auf ewig an sie knüpfte. Und wenn auch das Gefühl, das er jetzt empfand, nicht mehr so licht und poetisch war wie das frühere, so war es dafür doch ernster und stärker.
»Hat Ihnen maman gesagt, daß unsere Hochzeit nicht vor einem Jahr sein kann?« fragte Fürst Andrej und sah ihr dabei immer noch in die Augen.
Bin ich das wirklich, ich, das Kind, wie sie mich immer nennen? dachte Natascha. Bin ich wirklich von diesem Augenblick an Frau und diesem fremden, lieben und klugen Mann, den sogar der Vater hochachtet, ebenbürtig? Träume ich nicht? Ist es wirklich wahr, daß ich das Leben nun ernst nehmen muß und eine Erwachsene bin, daß von nun an die Verantwortung für jedes Wort, für jede Tat auf mir selber ruht? Aber was hat er mich doch eben gefragt?
»Nein«, erwiderte sie, ohne recht verstanden zu haben, was er sie gefragt hatte.
»Verzeihen Sie mir«, sagte Fürst Andrej, »aber Sie sind noch so jung, und ich habe schon soviel im Leben durchmachen müssen. Mir ist bang um Sie. Sie kennen sich selbst noch nicht.«
Natascha hörte ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zu, bemüht, den Sinn seiner Worte zu erfassen, verstand ihn aber nicht.
»Wie schwer mir dieses Jahr auch werden wird, das mich von meinem Glück trennt«, fuhr Fürst Andrej fort, »so können Sie doch während dieser Zeit sich selber prüfen. Ich bitte Sie jetzt nur, mich nach einem Jahr glücklich zu machen, aber Sie sind vollständig frei: unser Verlöbnis bleibt geheim, und wenn Sie zu der Überzeugung gelangen sollten, daß Sie mich nicht lieben oder einen anderen lieber hätten …« fügte Fürst Andrej mit gezwungenem Lächeln hinzu.
»Warum reden Sie so?« unterbrach ihn Natascha. »Sie wissen es ja doch, daß ich Sie von jenem selben Tag an, als Sie zum erstenmal nach Otradnoje kamen, gleich liebgewonnen habe«, sagte sie, fest überzeugt, daß sie die Wahrheit sprach.
»In diesem einen Jahr werden Sie sich selber kennen lernen …«
»Ein ganzes Jahr!« rief Natascha, und erst jetzt begriff sie, daß die Hochzeit ein Jahr hinausgeschoben werden sollte. »Aber warum denn ein Jahr? Warum ein ganzes Jahr?«
Fürst Andrej wollte ihr die Gründe dieses Aufschubs erklären, aber Natascha hörte nicht auf ihn.
»Und anders geht es nicht?« fragte sie.
Fürst Andrej gab keine Antwort, aber auf seinem Gesicht stand die Unabänderlichkeit dieses Entschlusses geschrieben.
»Das ist ja entsetzlich! Nein, das ist furchtbar, entsetzlich!« stieß plötzlich Natascha hervor und fing wieder an zu schluchzen. »Ich sterbe, wenn ich noch ein ganzes Jahr warten muß: das ist unmöglich, das ist furchtbar!«
Sie blickte ihrem Bräutigam ins Gesicht und sah einen Ausdruck des Mitleids und des Staunens in seinen Zügen.
»Nein, nein, ich werde es ertragen«, sagte sie und trocknete plötzlich ihre Tränen. »Ich bin ja so glücklich.«
Da traten Vater und Mutter ins Zimmer und segneten Bräutigam und Braut.
Von diesem Tag an kam Fürst Andrej als Bräutigam ins Rostowsche Haus.
Eine Verlobungsfeier fand nicht statt, und es wurde niemandem die Verlobung Bolkonskijs mit Natascha angezeigt, darauf bestand Fürst Andrej. Da er ja selber die Ursache des Aufschubs sei, sagte er, müsse auch er allein die ganzen schweren Folgen tragen, die sich daraus ergeben. Er sagte, er habe sich durch sein Wort auf ewig verpflichtet, Natascha aber solle nicht gebunden sein, er lasse ihr die volle Freiheit. Sollte sie nach einem halben Jahr fühlen, daß sie ihn nicht liebe, so stehe ihr voll und ganz das Recht zu, ihn abzuweisen. Natürlich wollten weder Natascha noch ihre Eltern etwas davon wissen, aber Fürst Andrej bestand auf seinem Willen.
Bolkonskij war nun jeden Tag bei den Rostows, aber er verkehrte nicht wie ein Bräutigam mit Natascha: er sagte »Sie« zu ihr und küßte ihr nur die Hand. Zwischen ihm und ihr hatten sich seit seinem Antrag enge, schlichte Beziehungen angeknüpft, die so ganz anders als ihre früheren waren. Es war, als hätten sie sich bisher überhaupt noch nicht gekannt. Beide erinnerten sich gern daran, mit was für Augen sie einander angesehen hatten, als noch nichts zwischen ihnen gewesen war; sie fühlten sich jetzt als ganz andere Wesen: damals war alles an ihnen verstellt gewesen, jetzt war alles einfach und aufrichtig.
Anfänglich fühlte sich die ganze Familie im Verkehr mit dem Fürsten Andrej etwas unbehaglich, er erschien ihnen wie ein Mensch aus einer ganz anderen Welt, und Natascha hatte Mühe, ihre Angehörigen an Bolkonskij zu gewöhnen, und versicherte allen mit Stolz, daß er zwar besonders scheine, im Grund aber ebenso ein Mensch sei wie sie alle, und daß sie gar keine Angst vor ihm habe und keiner sich vor ihm zu fürchten brauche. So gewöhnte sich die Familie nach einigen Tagen an ihn und führte, ohne sich Zwang anzulegen, ihr Leben in der Art wie früher weiter, und er selber nahm an diesem Leben teil. Mit dem Grafen unterhielt er sich über die Wirtschaft, mit der Gräfin und Natascha über Toilettenfragen und mit Sonja über ihre Albums und Handarbeiten.
Bisweilen sprachen die Rostowschen Familienmitglieder unter sich und auch in Gegenwart des Fürsten Andrej ihre Verwunderung darüber aus, wie doch das alles so gekommen sei und welch offenkundige Vorzeichen dem vorausgegangen seien: der Besuch des Fürsten Andrej in Otradnoje, ihre Übersiedlung nach Petersburg, die Ähnlichkeit zwischen Natascha und dem Fürsten Andrej, welche die Kindermuhme gleich beim ersten Besuch Bolkonskijs festgestellt hatte, das Zusammentreffen von Andrej und Nikolaj im Felde 1805. Und noch vieles andere mehr, was man als Vorzeichen für das, was sich ereignet hatte, deutete, wurde von den Familienmitgliedern in Erinnerung gebracht.
Im Hause herrschte jene poetische Stille und Langweile, welche die Gegenwart eines Bräutigams und einer Braut stets mit sich bringt. Oft, wenn sie alle zusammensaßen, sagte keiner ein Wort. Und wenn dann manchmal alle aufstanden und hinausgingen, blieb das Brautpaar allein im Zimmer sitzen und schwieg in derselben Weise weiter. Selten sprachen sie von ihrem künftigen Leben. Fürst Andrej empfand peinliche Angst, mit ihr darüber zu sprechen. Natascha teilte diese Empfindung wie alle seine Gefühle, die sie ständig erriet.
Einmal fragte ihn Natascha nach seinem Sohn. Fürst Andrej wurde rot, was in letzter Zeit häufig bei ihm der Fall war und Natascha ganz besonders gefiel, und erwiderte, sein Sohn werde nicht mit ihnen zusammenleben.
»Warum denn nicht?« fragte Natascha erschrocken.
»Ich möchte dem Großvater den Kleinen nicht wegnehmen und dann …«
»Wie lieb ich ihn haben würde!« sagte Natascha, die sogleich seinen Gedanken erriet. »Aber ich verstehe, Sie wollen nicht, daß es irgendeinen Vorwand geben soll, Ihnen und mir Vorwürfe zu machen.«
Der alte Graf trat manchmal auf den Fürsten Andrej zu, küßte ihn und fragte ihn um Rat über Erziehungsfragen, die Petja betrafen, oder über Nikolajs dienstliche Angelegenheiten. Die alte Gräfin seufzte, wenn sie die beiden ansah. Sonja hatte fortwährend Angst, überflüssig zu sein, und bemühte sich ständig, einen Vorwand zu finden, sie allein zu lassen, obgleich sie gar kein Verlangen danach hatten. Wenn Fürst Andrej sprach – er konnte ausgezeichnet erzählen –, hörte ihm Natascha voll Stolz zu; wenn sie selber sprach, bemerkte sie voll Angst und Freude, daß er sie aufmerksam und prüfend ansah. Verwundert fragte sie sich im stillen: Was sucht er in mir? Was will er mit seinem Blick erforschen? Wenn er nun das nicht findet, was er mit seinem Blick in mir sucht?
Manchmal geriet sie in die ihr eigene, lustige und tolle Laune hinein, und dann hatte sie es besonders gern, wenn sie hörte und sah, wie Fürst Andrej lachte. Er lachte sehr selten, wenn er aber einmal lachte, gab er sich dafür auch ganz seinem Lachen hin, und Natascha fühlte sich ihm nach einem solchen Lachen jedesmal wieder näher. Sie wäre vollkommen glücklich gewesen, wenn sie nicht der Gedanke an die bevorstehende, immer näher rückende Trennungszeit erschreckt hätte, wie auch er bei dem bloßen Gedanken an diese Zeit immer blaß wurde und ein Frösteln verspürte.
Am Tag vor seiner Abfahrt von Petersburg brachte Fürst Andrej Pierre mit zu den Rostows, der seit dem Ball nicht ein einziges Mal bei ihnen gewesen war. Pierre schien zerstreut und verlegen. Er unterhielt sich nur mit der Mutter. Natascha setzte sich mit Sonja an den Schachtisch, was dem Fürsten Andrej als Aufforderung diente, sich zu ihnen zu gesellen. Er trat an den Schachtisch heran.
»Kennen Sie Besuchow schon lange?« fragte er Natascha. »Mögen Sie ihn gern?«
»Ja, er ist ein prächtiger Mensch, aber spaßig, sehr spaßig.«
Und wie immer, wenn sie von Pierre sprach, fing sie an, Anekdoten von seiner Zerstreutheit zu erzählen, die zum Teil erfunden waren und ihm nur zugeschrieben wurden.
»Sie wissen, ich habe ihm unser Geheimnis anvertraut«, sagte Fürst Andrej. »Ich kenne ihn von Kind auf. Er hat ein goldenes Herz. Ich bitte Sie um eines, Natalie«, sagte er plötzlich sehr ernst, »wenn ich fortgehe, kann Gott weiß was alles passieren. Sie können aufhören, mich zu lieben … Nun, ich weiß, daß ich mit Ihnen darüber nicht sprechen darf. Mit einem Wort: was Ihnen auch zustoßen möge, wenn ich nicht da bin …«
»Aber was soll mir denn zustoßen?…«
»Was für ein Kummer Sie auch immer bedrücken sollte«, fuhr Fürst Andrej fort, »und auch Sie bitte ich darum, Mademoiselle Sophie, was sich auch immer ereignen sollte, wenden Sie sich nur an ihn allein um Rat und Hilfe. Er ist ein zerstreuter und komischer Mensch, aber er hat ein goldenes Herz.«
Weder Vater und Mutter noch Sonja noch Fürst Andrej selber vermochten vorauszusehen, wie die Trennung von ihrem Bräutigam auf Natascha wirken werde. Rot und erregt und mit trockenen Augen ging sie an diesem Tag im Hause umher, beschäftigte sich mit den allernichtigsten Dingen, als begriffe sie gar nicht, was ihr bevorstand. Auch als er ihr beim Abschied zum letzten Male die Hand küßte, weinte sie nicht. »Gehen Sie nicht fort!« sagte sie nur zu ihm mit einer Stimme, die er lange nicht vergessen konnte und die ihn zwang, noch einmal darüber nachzudenken, ob er tatsächlich doch nicht lieber dableiben sollte. Auch als er fortgefahren war, weinte sie nicht und blieb nur, ohne eine Träne zu vergießen, ein paar Tage auf ihrem Zimmer, zeigte für nichts Interesse, sondern sagte nur immer: »Ach, warum, warum ist er nur fortgereist?«
Doch vierzehn Tage nach seiner Abreise genas sie, ganz unerwartet für ihre Angehörigen, von ihrer seelischen Krankheit und wurde wieder die alte, die sie früher gewesen war, nur mit einer anderen seelischen Physiognomie, so wie Kinder mit einem ganz anderen Gesicht wieder aus dem Bett aufstehen, wenn sie lang krank gelegen haben.
Fürst Nikolaj Andrejewitsch Bolkonskij war in diesem Jahr, in dem sein Sohn ins Ausland fuhr, körperlich und geistig bedeutend schwächer geworden. Er zeigte sich noch gereizter als früher, und die Ausbrüche eines grundlosen Zornes entluden sich zum größten Teil über Prinzessin Marjas Haupt. Wie absichtlich machte er alle ihre schwachen Seiten ausfindig, um sie innerlich um so grausamer zu quälen. Prinzessin Marja hatte zwei Leidenschaften und daher auch zwei Quellen des Glückes: die eine war ihr Neffe Nikoluschka und die andere ihre Religion, und diese beiden Punkte bildeten nun für den Spott des Fürsten die Lieblingsangriffspunkte. Von was auch immer man sprach, stets lenkte er das Gespräch auf die Frömmelei und Scheinheiligkeit der alten Jungfern oder auf das Verwöhnen und Verhätscheln kleiner Kinder. »Du willst wohl aus ihm« – er sprach von Nikolenka – »eine ebensolche alte Jungfer machen, wie du selber eine bist? Gib dir keine Mühe, Fürst Andrej braucht einen Sohn, aber kein Frauenzimmer!« sagte er. Oder er wandte sich an Mademoiselle Bourienne und fragte sie in Gegenwart Prinzessin Marjas, wie ihr die russischen Popen und Heiligenbilder gefielen, und zog dies alles ins Lächerliche.
So kränkte er Prinzessin Marja ununterbrochen aufs schwerste, aber seiner Tochter kostete es nicht einmal Anstrengung, ihm zu verzeihen. Konnte denn ihr Vater überhaupt ihr gegenüber eine Schuld haben, konnte er denn ungerecht gegen sie sein, da er sie doch, wie sie wußte, liebte? Und was war eigentlich Gerechtigkeit? Prinzessin Marja hatte nie über dieses stolze Wort »Gerechtigkeit« nachgedacht. All die verwickelten Gesetze der Menschen untereinander liefen bei ihr in dem einen schlichten und klaren Gebot zusammen, im Gebot der Nächstenliebe und Selbstaufopferung, das uns von Ihm gegeben worden war, der selber liebend für die Menschheit gelitten hatte, wo Er doch selber ein Gott war. Was kümmerte sie die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit anderer? Sie mußte ja lieben und leiden, und das tat sie denn auch.
Im Winter war Fürst Andrej nach Lysyja-Gory gekommen. Er war heiter, sanft und zärtlich gewesen, wie ihn Prinzessin Marja lange nicht gesehen hatte. Sie hatte geahnt, daß irgend etwas mit ihm geschehen sein müsse, aber er hatte ihr nichts von seiner Liebe erzählt. Vor seiner Abreise hatte er lange über irgend etwas mit dem Vater verhandelt, und Prinzessin Marja hatte bemerkt, wie sie vor dem Abschiednehmen beide unzufrieden miteinander gewesen waren.
Bald nach Fürst Andrejs Abreise schrieb Prinzessin Marja aus Lysyja-Gory einen Brief an ihre Freundin Julie Karagina nach Petersburg, die sie nach der Art junger Mädchen mit allerlei Träumen umwob und gern mit ihrem Bruder verheiratet hätte. Julia Karagina hatte soeben Trauer bekommen, da ihr Bruder in der Türkei gefallen war.
»Meine liebe, gute Freundin Julie, wieder sieht man, daß das Leid unser aller Los ist. Der Verlust, den Sie erlitten haben, ist so entsetzlich, daß ich ihn mir nicht anders erklären kann, als daß Gott aus besonderer Gnade und Liebe zu Ihnen Sie prüfen will, Sie und Ihre vortreffliche Frau Mutter. Dennoch, meine liebe Freundin, die Religion und nur die Religion allein kann uns, wenn ich auch nicht sagen möchte trösten, so doch vor der Verzweiflung retten. Nur die Religion allein kann uns das erklären, was der Mensch allein und ohne ihre Hilfe niemals begreifen würde: warum gute, hochherzige Menschen, die ihr Glück auf Erden finden würden und nicht nur niemandem schaden, sondern auch für das Glück anderer unentbehrlich sind, warum solche Menschen von Gott abberufen werden und solche, die böse, unnütz und schädlich sind und anderen und sich selber nur zur Last fallen, am Leben bleiben. Der erste Todesfall, den ich erlebt habe und niemals vergessen werde, der Tod meiner lieben Schwägerin, hat diese Gedanken in mir wachgerufen. Ebenso wie Sie jetzt das Schicksal fragen, warum Ihr herrlicher Bruder sterben mußte, ebenso fragte ich damals, warum gerade Lisa, dieser Engel, nicht weiterleben durfte, der nicht nur keinem Menschen je etwas Böses tat, sondern auch niemals etwas anderes als liebe, edle Gedanken in seinem Herzen hegte. Und nun sind schon fünf Jahre seit jener Zeit verflossen, liebe Freundin, und ich fange in meinem armseligen Verstande schon an, klar zu begreifen, warum sie sterben mußte und wie ihr Tod doch nur ein Ausdruck der unendlichen Gnade des Schöpfers ist, wie ja alle Seine Werke, wenn wir sie auch zum großen Teil nicht verstehen, nur eine Offenbarung Seiner unendlichen Liebe zu Seinen Geschöpfen sind. Oft denke ich, daß sie vielleicht zu engelhaft unschuldig gewesen ist, um die Kraft zu haben, alle Pflichten einer Mutter auf sich zu nehmen. Als junge Frau war kein Vorwurf gegen sie zu erheben, vielleicht hätte sie aber als Mutter nicht ebenso sein können. Und so hat sie jetzt nicht nur in uns und insonderheit im Fürsten Andrej ein reines Mitleiden und eine reine Erinnerung zurückgelassen, sondern auch sicherlich dort oben einen Platz erhalten, auf den ich nicht zu hoffen wage. Um aber nicht nur von ihr allein zu reden, so hat dieser zeitige und furchtbare Tod, ganz abgesehen von all dem Kummer, doch einen äußerst segensreichen Einfluß auf mich und meinen Bruder ausgeübt. Damals, im Augenblick des Verlustes selber, konnten mir solche Gedanken natürlich nicht kommen, damals hätte ich sie mit Entsetzen von mir gejagt, jetzt aber steht das alles für mich klar und zweifelsfrei fest. Ich schreibe Ihnen das alles, liebe Freundin, nur um Sie von der Wahrheit des Wortes aus der Heiligen Schrift zu überzeugen, das ich mir zur Richtschnur im Leben erwählt habe: ›Es fällt kein Haar von Deinem Haupt ohne Seinen Willen.‹ Und da Sein Wille nur von Seiner unendlichen Liebe für uns geleitet wird, gereicht uns alles, was immer auch mit uns geschehen möge, nur zu unserem Segen.
Sie fragen, ob wir den nächsten Winter in Moskau verleben werden. Ich glaube nicht, und möchte es auch nicht, trotz des Wunsches, Sie wiederzusehen. Und Sie werden staunen, wenn Sie hören, daß der Grund hierfür – Bonaparte ist. Aber das hängt so zusammen: Mit der Gesundheit meines Vaters geht es merklich bergab, er kann keinen Widerspruch ertragen und wird von Tag zu Tag reizbarer. Diese Reizbarkeit macht sich, wie Sie wissen, vorzugsweise bei politischen Dingen geltend. Er kann den Gedanken nicht ertragen, daß Bonaparte mit allen Herrschern Europas wie ein Gleichgestellter verhandelt, und nun gar mit unserem Zaren, einem Enkel der großen Katharina! Wie Sie wissen, stehe ich selber allen politischen Dingen vollkommen gleichgültig gegenüber, aber aus den Worten meines Vaters und seinen Gesprächen mit Michail Iwanowitsch erfahre ich alles, was in der Welt draußen vorgeht, und in besonderheit auch, was für Ehrungen diesem Bonaparte bezeigt werden, und mich dünkt, Lysyja-Gory ist der einzige Ort auf dem ganzen Erdball, wo man ihn nicht als großen Menschen, ja, nicht einmal als französischen Kaiser anerkennt. Und diese Ehrungen Bonapartes sind es, die mein Vater nicht ertragen kann. Ich glaube, dies ist der Grund, warum er nicht gern von einer Übersiedlung nach Moskau redet, da er vornehmlich infolge seiner politischen Überzeugung Zusammenstöße voraussieht, die bei seiner Art und Weise, niemandem gegenüber ein Blatt vor den Mund zu nehmen, sondern allen seine Meinung offen herauszusagen, sicherlich auch nicht ausbleiben würden. Alles, was er durch eine Kur dort gewinnen würde, würde er durch die unvermeidlichen Streitereien über Bonaparte sogleich wieder einbüßen. Auf jeden Fall wird sich das alles in Bälde entscheiden.
Unser Familienleben geht seinen alten Gang weiter, eine Ausnahme bildete nur der Besuch meines Bruders Andrej. Er hat sich, wie ich Ihnen schon schrieb, in letzter Zeit recht verändert. Erst jetzt, in diesem Jahr, ist er nach seinem Schmerz seelisch wieder vollkommen aufgelebt. Er war wieder so, wie ich ihn als Kind gekannt habe: gutmütig, zärtlich und von so goldenem Herzen, wie ich seinesgleichen gar nicht kenne. Mir schien, als habe er eingesehen, daß das Leben für ihn noch nicht zu Ende ist. Aber abgesehen von dieser seelischen Veränderung, kam er mir körperlich doch recht matt vor. Er war magerer und nervöser geworden. Ich ängstige mich recht um ihn und bin froh, daß er nun endlich diese Reise ins Ausland unternimmt, die ihm die Ärzte schon so lange verschrieben hatten. Ich hoffe, daß er dadurch ganz wiederhergestellt wird.
Sie schrieben mir, daß man in Petersburg von ihm als von einem äußerst tüchtigen, gebildeten und klugen jungen Mann spricht. Verzeihen Sie meiner Eigenliebe als Schwester – daran habe ich nie gezweifelt. Es ist ganz unmöglich, all das Gute aufzuzählen, was er hier an allen getan hat, von den Bauern angefangen bis hinauf zu den Edelleuten. Bei seiner Übersiedlung nach Petersburg sind ihm alle Ehrungen zuteil geworden, die ihm gebühren. Ich wundere mich nur, wie diese Gerüchte von Petersburg nach Moskau dringen können, und dazu noch so unwahre Gerüchte wie das von einer vermutlichen Heirat meines Bruders mit der kleinen Rostowa, das Sie mir ebenfalls schrieben. Ich glaube kaum, daß Andrej sich je wieder verheiraten wird, mit wem es auch immer sei, und ganz besonders nicht mit ihr. Und zwar aus folgenden Gründen: ich weiß erstens, daß der Kummer über den Verlust seiner Frau, wenn er auch selten davon spricht, doch zu tief in seinem Herzen Wurzel geschlagen hat, als daß er sich jemals entschließen könnte, ihr eine Nachfolgerin und unserem kleinen Engel eine Stiefmutter zu geben, und zweitens ist jenes junge Mädchen, soviel ich weiß, nicht eine Frau von der Art, die meinem Bruder gefallen könnte. Ich glaube nicht, daß Fürst Andrej sie sich zur Gattin erwählen wird, und sage auch ganz offen: ich würde es nicht wünschen.
Aber ich bin ins Schwatzen gekommen, da habe ich nun schon zwei Blätter vollgeschrieben. Leben Sie wohl, meine liebe Freundin, Gott der Herr bewahre Sie in Seinem heiligen, allmächtigen Schutz. Meine kleine Freundin, Mademoiselle Bourienne, sendet Ihnen tausend Grüße.
Marie.«
Mitten im Sommer erhielt Prinzessin Marja plötzlich einen Brief vom Fürsten Andrej aus der Schweiz, in dem er ihr eine merkwürdige und unerwartete Neuigkeit mitteilte. Er setzte sie von seiner Verlobung mit Natascha Rostowa in Kenntnis. Sein ganzer Brief atmete liebende Begeisterung für seine Braut und zärtliche Freundschaft und Vertrauen zu seiner Schwester. Er schrieb, noch nie in seinem Leben habe er so geliebt wie jetzt, und erst jetzt verstehe er das Leben und habe es wahrhaft erkannt. Er bat die Schwester, ihm zu verzeihen, daß er ihr bei seinem Besuch in Lysyja-Gory nichts von diesem seinem Entschluß gesagt habe, obgleich er mit dem Vater schon darüber gesprochen habe. Er habe es ihr aus dem Grund nicht gesagt, weil Prinzessin Marja dann den Vater um seine Einwilligung gebeten und diesen dadurch, ohne etwas zu erreichen, nur gereizt und die ganze Last seines Unwillens auf sich geladen hätte.
»Übrigens«, schrieb er, »war ja auch die Sache damals noch nicht so endgültig beschlossen, wie sie es jetzt ist. Damals hat mir der Vater die Frist von einem Jahr gesetzt, und jetzt sind nun schon sechs Monate, also die Hälfte der bestimmten Wartezeit vergangen, und ich bestehe fester denn je auf meinem Entschluß. Wenn die Ärzte mich hier im Bad nicht zurückhielten, wäre ich selbst nach Rußland gekommen, so aber muß ich meine Rückkehr noch um drei Monate aufschieben. Du kennst mich und mein Verhältnis zum Vater. Ich brauche ihn nicht, ich war von ihm unabhängig und werde es auch immer sein, aber gegen seinen Willen zu handeln, seinen Zorn zu verdienen, wo er doch womöglich nur so kurze Zeit noch unter uns weilt, würde die Hälfte meines Glückes zunichte machen. Ich werde jetzt über dieselbe Angelegenheit einen Brief an ihn schreiben und bitte Dich, ihm diesen Brief in einem günstigen Augenblick zu überreichen und mir dann mitzuteilen, mit welchen Augen er dies alles ansieht, und ob für mich die Hoffnung besteht, daß er zu einer Verkürzung dieser Frist um vier Monate seine Einwilligung gibt.«
Nach langem Schwanken, nach vielen Bedenken und Gebeten gab Prinzessin Marja endlich ihrem Vater diesen Brief. Tags darauf sagte der alte Fürst in ruhigem Ton zu ihr:
»Sage deinem Bruder, er soll warten, bis ich tot bin … Es wird nicht mehr lange dauern, er wird bald frei sein …«
Prinzessin Marja wollte etwas entgegnen, aber der Vater ließ sie nicht zu Wort kommen und redete immer lauter und lauter drauflos: »Heirate, heirate nur, mein Herzenssöhnchen … Eine schöne Verwandtschaft! … Kluge Leute, nicht wahr? Reiche Leute, nicht wahr? Ja, gewiß! Eine schöne Stiefmutter für Nikoluschka wäre das! Schreibe ihm nur, meinetwegen kann er schon morgen heiraten. Sie wird Nikoluschkas Stiefmutter und ich heirate dann die kleine Bourienne! … Ha ha ha! Damit auch er eine Stiefmutter bekommt! Aber das eine sage ich euch: in meinem Hause dulde ich nicht noch ein solches Frauenzimmer mehr. Mag er heiraten, meinetwegen, er lebt ja für sich. Und vielleicht ziehst auch du dann zu ihm«, wandte er sich an Prinzessin Marja, »meinen Segen hast du, immer fort mit Schaden, immer fort mit Schaden …«
Nach diesem Zornausbruch redete der alte Fürst nicht ein einziges Mal wieder über die Sache. Aber der verhaltene Ärger über die Sinnesart seines Sohnes kam im Verkehr zwischen Vater und Tochter zum Ausdruck. Zu den früheren Anlässen für seine Spöttereien kam noch ein neuer: die Anspielungen auf die Stiefmutter und auf seine Liebenswürdigkeiten gegen Mademoiselle Bourienne.
»Warum soll ich sie denn nicht heiraten?« sagte er zu seiner Tochter. »Sie wird eine prächtige Fürstin abgeben.«
Und zu ihrem größten Befremden und Staunen fing Prinzessin Marja an zu bemerken, daß ihr Vater tatsächlich in letzter Zeit die Französin immer näher und näher zu sich heranzog. Prinzessin Marja schrieb dem Fürsten Andrej, wie der Vater seinen Brief aufgenommen habe, aber sie tröstete den Bruder, indem sie ihm die Hoffnung ließ, der Vater werde sich vielleicht doch noch mit dem Gedanken aussöhnen.
Nikoluschka und seine Erziehung, Andrej und die Religion waren der Trost und die Freude in Prinzessin Marjas Leben. Da aber jeder Mensch noch eigne, persönliche Hoffnungen braucht, so nährte sie überdies noch in der geheimsten Tiefe ihres Herzens verborgene Träume und Hoffnungen, die den Haupttrost ihres Lebens bildeten. Und diese tröstenden Träume und Hoffnungen verdankte sie ihren Gottesleuten, jenen verzückten Pilgern, die sie besuchten, ohne daß der alte Fürst etwas davon wußte. Je älter Prinzessin Marja wurde, je mehr sie das Leben kennen und beobachten lernte, um so mehr wunderte sie sich über die Kurzsichtigkeit der Menschen, die auf dieser Erde Genuß und Glück suchten und sich abplagten und abmühten, kämpften und einander Böses zufügten, nur um dieses unmögliche, lasterhafte Glück, das nur in ihrer Einbildung bestand, zu erreichen. Fürst Andrej hatte seine Frau geliebt, sie war gestorben, aber trotzdem wollte er bei einer anderen Frau sein Glück von neuem suchen. Der Vater war dagegen, weil er für seinen Sohn eine angesehenere, reichere Partie wünschte. Und sie alle kämpften und litten und quälten sich zum Schaden ihrer Seele, ihrer ewigen Seele, nur um ein Glück zu erreichen, das nicht länger als einen Augenblick dauert. Und nicht genug, daß man sich innerlich dessen bewußt ist: Christus, der Sohn Gottes, ist selber auf die Erde herabgestiegen und hat es allen geoffenbart, daß dieses Leben bloß eine kurze Frist währt und nur eine Prüfung ist. Trotzdem klammern sich aber alle an dieses Leben und glauben in ihm ihr Glück zu finden. Daß dies niemand begreift? dachte Prinzessin Marja. Niemand außer diesen verachteten Gottesleuten, die mit dem Bettelsack auf der Schulter durch die Hinterpforte zu mir schleichen, aus Angst, dem Fürsten unter die Augen zu kommen, und sich dabei nicht etwa vor eignen Leiden fürchten, sondern nur davor, ihn zu einer Sünde zu veranlassen. Seine Heimat und Familie zu verlassen, alle Sorge um irdisches Glück von sich zu werfen und aller Bande ledig unter fremdem Namen im groben Kittel von Ort zu Ort zu wandern, keinem etwas Böses zu tun, sondern für alle zu beten, und sowohl die zu segnen, die einen von ihrer Schwelle jagen, als auch die, die einen beschützen – das ist die höchste Wahrheit und das vollkommenste Leben.
Da war die Wallfahrerin Fedosjuschka, eine kleine, stille, pockennarbige Frau von etwa fünfzig Jahren, die schon über dreißig Jahre lang barfuß und in Fesseln von Ort zu Ort pilgerte. Diese liebte Prinzessin Marja besonders. Als sie ihr eines Tages im dunkeln, nur vom Schein der Ewigen Lampe erhellten Zimmer aus ihrem Leben erzählt hatte, war der Gedanke, daß einzig diese Fedosjuschka den wahren Weg des Lebens gefunden habe, mit solcher Gewalt über Prinzessin Marja gekommen, daß sie den Entschluß gefaßt hatte, selber wallfahrten zu gehen. Als Fedosjuschka dann schlafen gegangen war, dachte Prinzessin Marja noch lange darüber nach, und der Entschluß, daß sie, so seltsam es auch scheinen möge, dennoch unbedingt wallfahrten gehen müsse, reifte endgültig in ihr. Sie vertraute diese ihre Absicht nur einem Mönch, dem Vater Akinsij, an, der ihr Beichtvater war, und dieser billigte ihren Entschluß. Unter dem Vorwand, es einer Wallfahrerin zu schenken, verschaffte sich Prinzessin Marja ein neues Pilgergewand: einen härenen Kittel, Bastschuhe, einen Kaftan und ein schwarzes Tuch. Oft trat sie zu dem geweihten Spind, das diese Heiligtümer barg, blieb zögernd davor stehen und überlegte, ob nicht der Zeitpunkt schon gekommen sei, wo sie ihre Absicht zur Ausführung bringen müsse.
Oft, wenn sie den Erzählungen der Pilgerinnen lauschte, versetzten sie deren einfache Worte, die ihnen selber mechanisch waren, für Prinzessin Marja aber einen tiefen Sinn bargen, in eine solche Erregung, daß sie schon mehrmals bereit war, alles hinzuwerfen und aus dem Hause zu laufen. Sie sah sich im Geiste schon zusammen mit Fedosjuschka im groben Kittel, den Bettelsack auf dem Rücken, auf der staubigen Landstraße dahinpilgern, ohne Neid, ohne irdische Liebe und ohne jedes Verlangen von einem Heiligen zum andern wallfahrten und letzten Endes dort landen, wo es weder Kummer noch Herzeleid gibt, sondern nur ewige Freude und Seligkeit.
Wenn ich an einen Ort komme, werde ich dort beten; gewöhne ich mich da nicht ein und empfinde ich keine Liebe zu dieser Stätte, gehe ich weiter. Und so werde ich pilgern bis zu der Zeit, wo die Füße unter mir zusammenbrechen werden, und mich dann hinlegen und irgendwo sterben, und dann endlich in jenen ewigen, stillen Hafen eingehen, wo es weder Kummer noch Herzeleid gibt … dachte Prinzessin Marja.
Dann aber, wenn sie ihren Vater und besonders auch den kleinen Koko sah, verlor sie wieder die Kraft zu ihrem Entschluß, weinte im geheimen und war sich bewußt, eine große Sünderin zu sein, denn sie liebte ihren Vater und den kleinen Neffen mehr als Gott.