Zweiter Teil

1

Im Oktober 1805 besetzten die russischen Truppen die Dörfer und Städte des Erzherzogtums Österreich, und immer noch neue Regimenter kamen aus Rußland herbei, fielen den Einwohnern durch Einquartierung zur Last und bezogen endlich bei der Festung Braunau ein Lager. In Braunau war das Hauptquartier des Oberkommandierenden Kutusow.

Am 11. Oktober 1805[*] hatte eines jener soeben in Braunau eingetroffenen Regimenter ungefähr eine halbe Meile vor der Stadt Aufstellung genommen und erwartete die Besichtigung des Oberkommandierenden. Trotz der nichtrussischen Gegend und des nichtrussischen Rahmens – Obstgärten, Steinmauern, Ziegeldächer, ferne Berge – und trotz der nichtrussischen Bevölkerung, die neugierig die Soldaten betrachtete, sah dieses Regiment genauso aus wie jedes andere russische Regiment, das sich irgendwo, mitten in Rußland, zu einer Besichtigung bereitmacht.

Am Abend vorher war nach fast zurückgelegtem Marsch der Befehl gekommen, daß der Oberkommandierende das Regiment noch auf dem Marsch besichtigen wolle. Wenn auch der Wortlaut des Befehls dem Obersten unklar schien und sich die Frage erhob, wie man ihn verstehen solle: ob in Marschuniform oder nicht, so wurde doch im Rat der Bataillonsführer beschlossen, das Regiment in Paradeuniform vorzuführen, nach dem Grundsatz, daß es immer besser ist, eine zu tiefe Verbeugung zu machen, als nur eine halbe.

Nach einem dreißig Werst langen Marsch hatten die Soldaten die ganze Nacht kein Auge schließen dürfen, hatten ihre Sachen gereinigt und ausgebessert, und die Adjutanten und Kompanieführer hatten gerechnet und die Leute abgezählt. Am Morgen war dann aber auch das Regiment nicht mehr jener lang auseinandergezogene, unordentliche Haufen wie gestern abend und auf den letzten Märschen, sondern eine geordnete Masse von zweitausend Soldaten, wo jeder Mann seinen Platz und seine Aufgabe kannte, und wo jeder Knopf und jeder Riemen am rechten Platz war und vor Sauberkeit strahlte.

Aber nicht nur äußerlich war alles in Ordnung. Wäre der Oberkommandierende auf den Einfall gekommen, auch unter die Uniformen zu schauen, so hätte er bei jedem ein gleich sauberes Hemd und in jedem Tornister die vorgeschriebene Anzahl Sachen vorgefunden, ›das ganze Gelumpe‹, wie die Soldaten zu sagen pflegten. Nur etwas ließ zu wünschen übrig: das Schuhwerk. Über die Hälfte der Leute hatte zerrissene Stiefel. Doch an diesem Mangel war nicht der Oberst schuld. Denn trotz seiner wiederholten Forderungen hatte er von den österreichischen Militärbehörden kein Schuhzeug erhalten, obwohl das Regiment schon tausend Werst marschiert war.

Der Regimentskommandeur war ein bejahrter, aber noch lebenslustiger General mit grauen Augenbrauen und grauem Backenbart, dessen Brustumfang noch größer war als seine Schulternbreite. Er trug eine ganz neue Uniform, die allerdings vom Zusammenlegen etwas faltig geworden war. Die dicken goldenen Epauletten drückten seine mächtigen Schultern nicht nach unten, sondern schienen sie im Gegenteil hochzuziehen. Der Regimentskommandeur sah aus wie ein Mensch, der voller Glück eine der feierlichsten Handlungen seines Lebens vollzieht. Er schritt mit etwas gekrümmtem Rücken vor der Front auf und ab, und sein starker Körper erbebte bei jedem Schritt. Man konnte es ihm ansehen, daß er sich über sein Regiment freute, sich glücklich pries, sein Kommandeur zu sein, und sich mit ganzer Seele nur mit seinem Regiment beschäftigte. Trotzdem zeigte sein zuckender Gang, daß er neben den militärischen Interessen auch das Gesellschaftsleben und das weibliche Geschlecht nicht vernachlässigte.

»Nun, mein lieber Michail Mitritsch«, wandte er sich an einen Bataillonskommandeur – dieser trat lächelnd vor, und es war beiden anzusehen, daß sie gleich glücklich waren –, »heute nacht haben wir etwas zu knacken gehabt! Aber es scheint ja ganz gut gegangen zu sein. Allzu sehr verlottert sieht das Regiment ja wohl nicht aus. Nicht wahr?«

Der Bataillonskommandeur verstand die vergnügte Ironie und lachte.

»Sogar auf dem Paradeplatz in Petersburg könnten wir uns so sehen lassen.«

»Nicht wahr?« sagte der Kommandeur.

In diesem Augenblick erschienen auf dem Weg von der Stadt her, auf dem Signalposten verteilt waren, zwei Reiter: ein Adjutant und ein Kosak, der hinter ihm herritt.

Der Adjutant war aus dem Hauptquartier abgeschickt worden, um dem Regimentskommandeur das zu bestätigen, was im gestrigen Befehl undeutlich ausgedrückt war: nämlich, daß der Oberkommandierende das Regiment ganz in dem Zustand zu sehen wünschte, wie es marschierte, das heißt in Mänteln, in Helmüberzügen und ohne alle Vorbereitungen.

Zu Kutusow war am Abend vorher ein Mitglied des Hofkriegsrates aus Wien gekommen mit dem dringenden Ansinnen, möglichst schnell loszumarschieren, um mit den Armeen des Erzherzogs und Macks zusammenzustoßen. Kutusow, der eine solche Vereinigung für unvorteilhaft hielt, hatte nun die Absicht, neben anderen Beweisen für seine Ansicht, dem österreichischen General zu zeigen, in welch trauriger Verfassung die Truppen aus Rußland ankamen. Zu diesem Zweck wollte er dem Regiment entgegenfahren; und je schlechter nun der Zustand des Regimentes war, um so angenehmer mußte es für den Oberkommandierenden sein. Wenn auch der Adjutant alle diese Einzelheiten nicht kannte, so meldete er doch dem Regimentskommandeur den dringenden Befehl des Oberkommandierenden, die Leute sollten in Mänteln und Helmbezügen erscheinen, andernfalls würde der Oberkommandierende unzufrieden sein. Als der Regimentskommandeur diese Worte hörte, ließ er den Kopf hängen, zuckte schweigend die Schultern und streckte aufgeregt die Arme aus.

»Da haben wir ja was Schönes angerichtet!« brummte er vor sich hin. »Sehen Sie, Michail Mitritsch, ich habe es Ihnen doch gleich gesagt, wenn er es auf dem Marsch sehen will, dann müssen die Leute in Mänteln antreten«, wandte er sich vorwurfsvoll an den Bataillonskommandeur. »Ach Gott, ach Gott!« fügte er hinzu, trat dann aber mit entschlossener Miene vor und rief mit seiner ans Kommandieren gewöhnten Stimme: »Die Herren Kompanieführer, die Feldwebel … Wird Seine Exzellenz bald kommen?« wandte er sich an den Adjutanten, mit einer respektvoll höflichen Miene, die der Person galt, von der er sprach.

»In einer Stunde, glaube ich.«

»Haben wir noch so viel Zeit, daß sich die Leute umziehen können?«

»Ich weiß nicht, Herr General.«

Der Regimentskommandeur ging selber zu den Reihen hin und gab den Befehl, es sollten wieder die Mäntel angezogen werden. Die Kompanieführer liefen vor ihren Kompanien auf und ab, die Feldwebel eilten aufgeregt hin und her, weil die Mäntel nämlich nicht ganz in Ordnung waren, und im selben Augenblick kamen die vorhin so regelmäßig und schweigend dastehenden Karrees in Bewegung. Sie zogen sich auseinander, und ein dumpfes Summen von Stimmen wurde hörbar. Überall liefen Soldaten hin und her. Mit einem Ruck warfen sie die Schultern zurück, zogen den Tornister über den Kopf, nahmen die Mäntel ab und hoben beide Arme hoch, um damit in die Ärmel zu fahren.

Nach einer halben Stunde war die frühere Ordnung wiederhergestellt, nur sahen die vorhin schwarzen Karrees jetzt grau aus. Der Regimentskommandeur trat wieder in seinem zuckenden Gang vor die Front und musterte das Regiment von weitem.

»Was ist denn da noch? Was ist das!« schrie er, stehen bleibend. »Der Kompanieführer der dritten Kompanie hierher!«

»Der Kompanieführer der dritten Kompanie zum Herrn General … der Kompanieführer zum Herrn General … von der dritten Kompanie zum Kommandeur!« liefen Stimmen die Reihen entlang, und der Adjutant eilte fort, um den noch nicht erschienenen Offizier zu suchen.

Als das Rufen der eifrigen Stimmen, die bereits den Sinn entstellt hatten und »Der Herr General zur dritten Kompanie!« schrien, am Bestimmungsort angelangt war, trat der gewünschte Offizier aus seiner Kompanie hervor und eilte, obwohl er doch schon alt und an Laufen nicht mehr gewöhnt war, im Trab zum General, wobei er ungeschickt mit den Fußspitzen am Boden anhakte. Das Gesicht des Hauptmanns sah so ängstlich und unruhig aus wie das eines Schülers, der eine Aufgabe hersagen soll, die er nicht gelernt hat. Auf seiner augenscheinlich von unmäßigem Trinken geröteten Nase zeigten sich Flecken, und seine Lippen zitterten.

Der Regimentskommandeur musterte den Hauptmann von oben bis unten, als dieser ganz außer Atem herankam, obgleich er seinen Schritt verlangsamte, je näher er dem Regimentskommandeur kam.

»Na, Sie werden Ihren Leuten wohl demnächst noch Unterröcke anziehen! Was?« schrie der Regimentskommandeur mit vorgeschobenem Unterkiefer und zeigte auf einen Soldaten in den Reihen der dritten Kompanie, dessen Mantel durch feineres Tuch und eine andere Farbe unter den übrigen Mänteln auffiel. »Und Sie selber, wo stecken Sie denn eigentlich? Der Oberkommandierende wird erwartet, und Sie entfernen sich von Ihrem Platz? Wie? Ich werde Sie lehren, die Leute zur Besichtigung Kosakenröcke anziehen zu lassen!«

Der Kompanieführer ließ keinen Blick von seinem Vorgesetzten und preßte seine zwei Finger immer fester an den Mützenschirm, als ob in diesem Anpressen jetzt seine einzige Rettung läge.

»Nun, warum schweigen Sie? Wer hat sich da bei Ihnen als Ungar verkleidet?« spottete der Regimentsführer in strengem Ton.

»Eure Exzellenz …«

»Na, was heißt ›Eure Exzellenz, Eure Exzellenz, Eure Exzellenz‹! Aber was ›Eure Exzellenz‹ heißen soll, das weiß keiner.«

»Eure Exzellenz, das ist Dolochow, der Degradierte«, sagte leise der Hauptmann.

»Ja, ist er denn zum Feldmarschall degradiert oder zum gemeinen Soldaten? Wenn er zum Gemeinen degradiert ist, dann muß er sich auch so kleiden wie alle übrigen.«

»Eure Exzellenz haben es ihm selber für die Dauer des Krieges gestattet.«

»Ich hätte das gestattet? Ich hätte das gestattet? Ja, so seid ihr immer, ihr jungen Leute«, sagte der Regimentskommandeur und wurde etwas ruhiger. »Ich hätte es gestattet? Sagt man euch mal etwas, dann macht ihr gleich …« Der Regimentskommandeur schwieg. »Sagt man euch mal etwas, dann macht ihr gleich … Was soll das heißen?« fuhr er dann wieder gereizter fort, »also bitte, ziehen Sie Ihre Leute anständig an.«

Der Regimentskommandeur sah sich nach seinem Adjutanten um und ging dann mit seinem zuckenden Gang zum Regiment hin. Man konnte es ihm ansehen, daß er sich in seiner gereizten Stimmung wohlfühlte und daß er beim Abschreiten der Front noch nach einem weiteren Vorwand suchte, um in Zorn geraten zu können. Nachdem er noch einen Offizier wegen eines nicht blankgeputzten Ordens und einen andern wegen einer schiefstehenden Reihe angefahren hatte, ging er zur dritten Kompanie.

»Wi-i-i-ie stehst du da? Wo ist das Bein? Wo das Bein ist?« schrie der Regimentskommandeur mit gekränkter Stimme. Er befand sich noch fünf Mann von Dolochow entfernt, der den bläulichen Mantel trug.

Dolochow stellte langsam das gebogene Bein gerade und sah mit seinem heiteren und frechen Blick dem General gerade ins Gesicht.

»Warum hast du einen blauen Mantel an? Herunter damit! Feldwebel! Dem Mann hier einen andern Mantel geben! So ein lum…« Er kam nicht dazu, das Wort zu Ende zu sprechen.

»Herr General, ich bin verpflichtet, jeden Befehl zu erfüllen, aber nicht verpflichtet …«, fing Dolochow schnell an.

»Maul halten im Glied! Maul halten, Maul halten!«

»Nicht verpflichtet, Beleidigungen hinzunehmen«, sprach Dolochow mit lauter tönender Stimme seinen Satz zu Ende.

Die Augen des Generals und des Gemeinen begegneten einander. Der General schwieg. Ärgerlich zog er die straffe Schärpe nach unten.

»Wollen Sie sich bitte umziehen«, sagte er und ging weiter.

2

»Er kommt!« schrie in diesem Augenblick der Posten.

Der Regimentskommandeur bekam einen roten Kopf und lief auf sein Pferd zu. Mit zitternden Händen griff er nach dem Steigbügel, schwang sich hinauf und setzte sich zurecht. Dann zog er mit strahlendem, entschlossenem Gesicht den Säbel, öffnete den Mund auf einer Seite und machte sich bereit, loszuschreien. Durch das Regiment ging ein Schütteln wie bei einem Vogel, der sein Gefieder geputzt hat. Dann stand alles regungslos da.

»Still-ll-gestanden!« schrie der Regimentskommandeur mit markerschütternder Stimme, die zugleich seine eigene Freude, seine Strenge gegen das Regiment und seinen Gruß für den ankommenden Vorgesetzten verkündete.

Auf der großen, breiten, mit Bäumen bepflanzten, unchaussierten Landstraße kam, leise in den Federn klirrend, in schnellem Trabe ein hoher, blauer, vierspänniger Wiener Wagen angefahren. Hinter dem Wagen ritt das Gefolge und eine Eskorte Kroaten. Neben Kutusow saß der österreichische General in seinem weißen Waffenrock, der sich unter all den schwarzen russischen Uniformen ganz merkwürdig ausnahm. Die Kalesche hielt vor dem Regiment. Kutusow und der österreichische General sprachen leise miteinander. Kutusow setzte, schwerfällig auftretend, den Fuß aufs Trittbrett und lächelte flüchtig, als ob diese zweitausend Mann, die ihn und ihren Regimentskommandeur mit angehaltenem Atem ansahen, überhaupt nicht da wären.

Ein zweiter Kommandoruf ertönte. Wieder ging ein klirrendes Schütteln durch das ganze Regiment. Die Soldaten präsentierten die Gewehre. Durch die Totenstille hörte man die schwache Stimme des Oberkommandierenden, der ein paar Worte der Begrüßung sprach. Dann brüllte das Regiment los: »Wir wünschen Ihnen Gesundheit, Exzellenz!« und wieder erstarrte alles.

Solange die Begrüßung dauerte, blieb Kutusow auf derselben Stelle stehen. Dann aber schritt er neben dem General in der weißen Uniform zu Fuß die Front ab, begleitet von seinem Gefolge.

Aus dem ganzen Gebaren des Regimentskommandeurs: wie er den Oberkommandierenden begrüßte, wie er seine Augen fast in ihn hineinbohrte, wie er sich reckte und streckte, wie er vornübergeneigt hinter den Generälen die Reihen entlangging und dabei kaum seine zuckenden Bewegungen unterdrücken konnte, wie er bei jedem Wort und jeder Bewegung des Oberkommandierenden zu diesem hinsprang – aus alledem konnte man erkennen, daß er mit noch größerer Wonne die Pflichten eines Untergebenen als die eines Vorgesetzten erfüllte.

Im Vergleich zu anderen Regimentern, die zur selben Zeit in Braunau angekommen waren, befand sich das Regiment, dank der Strenge und Emsigkeit seines Kommandeurs, in recht gutem Zustand! Die Zahl der Nachzügler und Kranken betrug nur zweihundertsiebzehn Mann. Alles war in Ordnung bis auf das Schuhwerk.

Kutusow schritt die Reihen ab und blieb hin und wieder stehen, um einige freundliche Worte an ein paar Offiziere zu richten, die er noch vom Türkenkrieg[53] herkannte. Bisweilen sprach er auch mit diesem oder jenem einfachen Soldaten. Als er das Schuhzeug sah, schüttelte er einige Male den Kopf und zeigte es dem österreichischen General mit einer Miene, die erkennen ließ, daß er zwar niemandem deswegen einen Vorwurf mache, aber doch feststellen müsse, wie schlecht es damit bestellt sei. Der Regimentskommandeur lief dabei jedesmal nach vorn, um kein Wort von dem, was der Oberkommandierende über das Regiment sagte, zu versäumen. Ein zwanzig Mann starkes Gefolge kam in einem Abstand, daß man jedes leise gesprochene Wort noch hören konnte, hinter Kutusow her. Die Herren unterhielten sich miteinander und lachten auch bisweilen. Dicht hinter dem Oberkommandierenden ging ein hübscher junger Mensch, sein Adjutant. Es war Fürst Bolkonskij. Neben ihm schritt sein Kamerad Neswizkij, ein langer Stabsoffizier mit gutmütig lächelndem hübschem Gesicht und verschwommenen Augen. Neswizkij konnte sich das Lachen über einen schwarzhaarigen Husarenoffizier, der neben ihm ging, kaum verkneifen. Dieser Husarenoffizier blickte starr und ohne zu lächeln mit ernsthaftem Gesicht auf den Rücken des Regimentskommandeurs und ahmte jede seiner Bewegungen nach. Immer wenn der Regimentskommandeur zusammenzuckte und sich nach vorn beugte, zuckte auch der Husarenoffizier auf dieselbe Art zusammen, und beugte sich genauso nach vorn. Neswizkij lachte und stieß die anderen an, damit auch sie dem Spaßvogel zusehen sollten.

Kutusow ging langsam und müde an den Tausenden von Augen vorbei, die fast aus ihren Höhlen zu rollen schienen, während sie auf den hohen Vorgesetzten hinblickten. Als er zur dritten Kompanie gekommen war, blieb er plötzlich stehen. Das Gefolge, das dieses plötzliche Halten nicht vorausgesehen hatte, kam unwillkürlich näher an ihn heran.

»Ah, Timochin!« sagte der Oberkommandierende, als er den Hauptmann mit der roten Nase erkannte, der vorhin wegen des blauen Mantels in seiner Kompanie einen Rüffel bekommen hatte.

Timochin hatte, während ihm vom Regimentskommandeur vorhin dieser Verweis erteilt worden war, so stramm dagestanden, daß man hätte meinen mögen, ein weiteres Sichausrecken sei unmöglich. Doch in diesem Augenblick, als sich der Oberkommandierende an ihn wandte, reckte sich der Hauptmann so hoch, daß es den Anschein hatte, als müsse er an dieser Haltung zugrundegehen, wenn der Oberkommandierende ihn noch einige Augenblicke länger angesehen hätte. Kutusow wandte sich schnell um, da er anscheinend für die Lage des Hauptmanns Verständnis hatte und ihm doch nur alles Gute wünschte. Über des Oberkommandierenden aufgeschwemmtes Gesicht, das von einer Narbe entstellt war, lief ein kaum merkliches Lächeln.

»Wieder ein Kamerad von Ismail[54]«, sagte er, »ein tapferer Offizier! Bist du zufrieden mit ihm?« fragte Kutusow den Regimentskommandeur.

Der Regimentskommandeur, der sich, ohne es zu merken, in dem ihm nachahmenden Husarenoffizier widerspiegelte, zuckte zusammen, trat vor und antwortete: »Sehr zufrieden, Euer Exzellenz.«

»Wir haben ja alle unsere Schwächen«, sagte Kutusow lächelnd und ging weiter. »Der hatte eben eine besondere Vorliebe für Bacchus.«

Der Regimentskommandeur erschrak, da er nicht recht wußte, ob das nicht etwa seine Schuld sei. Er antwortete nichts. In diesem Augenblick bemerkte der Husarenoffizier den Gesichtsausdruck des Hauptmanns mit der roten Nase und dem eingeschnürten Bauch und ahmte ihn so treffend nach, daß Neswizkij dieses Mal das Lachen nicht mehr unterdrücken konnte. Kutusow drehte sich um. Aber der Offizier war so vollkommen Herr über sein Mienenspiel, daß er in dem Augenblick, da Kutusow sich umwandte, ein ganz ernsthaftes, respektvolles und unschuldiges Gesicht aufsetzte, obgleich er soeben noch eine Grimasse geschnitten hatte.

Die dritte Kompanie war die letzte. Kutusow dachte einen Augenblick nach: anscheinend wollte er sich auf etwas besinnen. Fürst Andrej trat aus dem Gefolge hervor und sagte leise etwas zu ihm auf französisch.

»Sie haben befohlen, Sie an den Degradierten Dolochow zu erinnern, der sich bei diesem Regiment befindet.«

»Wo ist hier Dolochow?« fragte Kutusow.

Dolochow, der nun einen grauen Soldatenmantel angezogen hatte, konnte es nicht erwarten, bis man ihn vorrief. Die schlanke Gestalt des blonden Soldaten mit den hellblauen Augen trat vor die Front. Er ging zu dem Oberkommandierenden hin und salutierte.

»Eine Beschwerde?« fragte Kutusow und zog die Stirn etwas in Falten.

»Das ist Dolochow«, meldete Fürst Andrej.

»Ah«, sagte Kutusow. »Ich hoffe, daß diese Lehre dich bessern wird. Versieh deinen Dienst ordentlich. Seine Majestät ist gnädig. Auch ich werde dich nicht vergessen, wenn du es verdienst.«

Die hellblauen Augen sahen den Oberkommandierenden ebenso kühn an wie den Regimentskommandeur, als ob sie durch ihren Ausdruck die konventionelle Kluft überbrücken wollten, die den Oberkommandierenden so weit vom gemeinen Soldaten trennt.

»Ich bitte nur um eins, Eure Exzellenz«, sagte er mit seiner helltönenden, festen, nicht hastigen Stimme, »ich bitte nur darum, mir Gelegenheit zu geben, meine Schuld wiedergutzumachen und meine Ergebenheit für Kaiser und Reich beweisen zu können.«

Kutusow wandte sich ab. Über sein Gesicht lief dasselbe Lächeln wie vorhin, als er sich von dem Hauptmann Timochin abgewandt hatte. Er drehte sich um und zog die Stirn in Falten, als wolle er damit ausdrücken, daß alles, was Dolochow sagte und noch hätte sagen können, ihm längst, längst bekannt und schon zuwider sei, und daß dies alles gar nicht das Richtige sei. Er drehte sich um und begab sich zu seiner Kalesche.

Das Regiment löste sich in einzelne Kompanien auf und marschierte nach den angewiesenen Quartieren nicht weit von Braunau, wo es Schuhzeug und Monturen zu erhalten und dann nach den schweren Märschen auszuruhen hoffte.

»Sie sind mir doch nicht gram, Prochor Ignatjitsch«, sagte der Regimentskommandeur, als er an der nach ihrem Quartier marschierenden dritten Kompanie vorbeiritt und zu dem Hauptmann Timochin kam, der voranmarschierte. Auf dem Gesicht des Regimentskommandeurs spiegelte sich nach dieser glücklich abgelaufenen Besichtigung eine unverhohlene Freude. »Das ist nun einmal so im kaiserlichen Dienst … Da kann man manchmal nicht anders … Man muß ja bisweilen auch mal einen anfahren … Ich bin ja auch immer der erste, der sich dann entschuldigt. Sie kennen mich ja … Er ist sehr zufrieden gewesen!« damit reichte er dem Kompanieführer die Hand.

»Aber ich bitte Sie, Herr General, wie sollte ich wagen«, antwortete der Hauptmann, und seine Nase wurde noch röter. Er lächelte und öffnete dabei den Mund, in dem zwei Vorderzähne fehlten, die ihm in der Schlacht bei Ismail mit einem Kolben ausgeschlagen worden waren.

»Und sagen Sie dem Herrn Dolochow, daß ich ihn nicht vergessen werde; er soll ganz beruhigt sein. Ja, sagen Sie es ihm bitte, ich wollte schon immer fragen, wie es ihm geht, wie er sich führt, und …«

»Im Dienst ist er sehr ordentlich, Euer Exzellenz, aber im Charakter …«, erwiderte Timochin.

»Na, was denn, was ist mit seinem Charakter?« fragte der Regimentskommandeur.

»Es kommt so über ihn an manchen Tagen, Euer Hochwohlgeboren. Mal ist er klug, verständig und gutmütig, mal ist er wieder wie ein Tier. In Polen hätte er fast einen Juden totgeschlagen, wie Sie wohl wissen.«

»Nun ja, nun ja«, sagte der Regimentskommandeur, »man muß immerhin den jungen Mann in seinem Unglück bedauern. Und dann hat er doch einflußreiche Verbindungen … Also sagen Sie es ihm …«

»Zu Befehl, Euer Exzellenz«, erwiderte Timochin und ließ durch ein Lächeln erkennen, daß er den Wunsch seines Chefs verstehe.

»Gut, gut.«

Der Regimentskommandeur suchte Dolochow in den Reihen auf und hielt sein Pferd an.

»Nach dem ersten Gefecht erhalten Sie die Epauletten wieder«, sagte er zu ihm.

Dolochow sah sich nach ihm um und sagte nichts. Der spöttischlächelnde Ausdruck seines Mundes änderte sich nicht.

»Also, gut denn«, fuhr der Regimentskommandeur fort, »die Leute bekommen von mir jeder einen Becher Schnaps«, fügte er lauter hinzu, damit ihn die Soldaten hören sollten. »Ich danke euch allen! Gott sei Dank!«

Er bog um die dritte Kompanie herum und ritt zu einer anderen weiter.

»Na, er ist doch ein guter Mensch«, sagte Timochin zu einem jüngeren Offizier, der hinter ihm ging.

»Ja, das kann man wohl sagen, er ist ja doch auch unser ›Herzkönig‹« – der Kommandeur hatte im Regiment den Spitznamen ›Herzkönig‹ –, »da muß er ja doch auch ein gutes Herz haben«, erwiderte lachend der Offizier.

Die gute Laune der Vorgesetzten nach dieser glücklich verlaufenen Besichtigung ging auch auf die Soldaten über. Die Kompanie marschierte fröhlich dahin. Von allen Seiten hörte man lustige Stimmen.

»Wie kann man bloß sagen, daß Kutusow nur ein Auge habe?«

»Na, ist das etwa nicht richtig? Er kann doch nur auf einem Auge sehen.«

»Nein, mein Bester, der kann besser sehen als du. Die Stiefel und die Fußlappen, alles hat er sich besehen. Und wie er auf meine Beine guckte, na, Bruder, ich dachte schon …«

»Und der andere, der Österreicher, der mit ihm war, rein wie mit Kreide beschmiert sah der aus. Ganz wie weißes Mehl. Na, stelle dir bloß einmal vor, wie soll man da nur die Uniformen sauber kriegen?«

»Du! Fedjoscha! Hat er vielleicht gesagt, wann es losgehen wird, du standest doch ganz nahe dran. Es heißt ja, daß der Bonaparte selber in Braunau ist.«

»Der Bonaparte in Braunau? Was quatschst du da, du Schafskopf! Was du nicht alles weißt! Vorerst revoltiert noch der Preuße. Aber mit dem wird der Österreicher schon fertig werden, und wenn der erst ruhig ist, dann geht der Krieg mit dem Bonaparte los. Und da sagt der Mensch, daß der Bonaparte in Braunau steht. Da kann man sehen, wie dumm du bist. Hör lieber besser zu.«

»Diese verfluchten Quartiermacher! Die fünfte Kompanie biegt schon in ihr Dorf ein, gleich werden sie abkochen, wir aber sind immer noch nicht bis zu unserm Quartier gekommen.«

»Gib mir mal einen Zwieback her, du hinkender Teufel, du!«

»Hast du mir etwa gestern Tabak gegeben? Warte nur, mein Bester! Na, da hast einen, nun zieh aber ab!«

»Wenn sie doch wenigstens einmal Rast machen würden, sonst müssen wir noch fünf Werst laufen, ehe wir was zu essen kriegen.«

»Wenn uns die Deutschen wenigstens Kutschen stellen würden. Wer in Kutschen fährt, ist ein feiner Hund!«

»Das ist ein ganz närrisches Volk hier, dort hinten waren es ja noch Polen, die gehören doch noch zu Rußland. Aber hier sind weiter nichts als Deutsche, nur Deutsche.«

»Sänger nach vorn!« ertönte der Ruf des Hauptmanns.

Aus allen Gruppen traten ungefähr zwanzig Mann vor und stellten sich an die Spitze der Kompanie. Der Vorsänger, ein Trommler, drehte sein Gesicht den Sängern zu, winkte dann mit der Hand und stimmte die schleppende Melodie eines Soldatenliedes an, das mit den Worten beginnt:

Bruder, wenn die Sonne golden aufsteigt …

und mit den Worten endet:

Wird uns mit Väterchen Kamenskij Ruhm zuteil.

Dieses Lied war während des Türkenkrieges entstanden und wurde jetzt in Österreich gesungen, nur mit der Abänderung, daß man an Stelle der Worte ›Väterchen Kamenskij‹ ›Väterchen Kutusow‹ setzte.

Nachdem der Trommler, ein hagerer, hübscher Soldat von etwa vierzig Jahren, bei diesen letzten Worten das Lied nach Soldatenart kurz abgebrochen hatte, schleuderte er den Arm zur Seite, als wolle er etwas zur Erde werfen, sah sich dabei streng nach den Sängern um und kniff die Augen zusammen. Als er sich überzeugt hatte, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren, fuhr er mit beiden Händen in die Luft, als hebe er einen unsichtbaren wertvollen Gegenstand vorsichtig über seinen Kopf, hielt die Arme einige Sekunden in dieser Lage hoch und schleuderte sie dann plötzlich heftig zur Seite.

O du mein Häusel, lieb und traut …

»Mein neues Häusel«, fielen zwanzig Stimmen ein, und der Löffelträger sprang trotz seines schweren Gepäcks flink nach vorn, ging rückwärts vor der Kompanie her und wiegte die Schultern, wobei er bald diesem, bald jenem mit den Löffeln drohte. Die Soldaten schlenkerten nach dem Takt des Liedes mit den Armen, marschierten mit weitausgreifenden Schritten, und kamen dabei unwillkürlich in gleichen Tritt. Hinter der Kompanie hörte man Räderrollen, das Knirschen von Wagenfedern und Pferdegetrappel. Kutusow kehrte mit seinem Gefolge in die Stadt zurück. Der Oberkommandierende winkte ab, damit die Leute ohne Ehrenbezeigung weitermarschieren sollten. Seinem Gesicht und den Mienen seines Gefolges war anzusehen, welches Vergnügen sie bei den Klängen dieses Liedes und beim Anblick des tanzenden Soldaten und der fröhlich und munter dahinmarschierenden Kompanie empfanden.

Auf der rechten Seite, wo die Kalesche die Kompanie überholte, fiel in der zweiten Reihe unwillkürlich jedem der blauäugige Gemeine Dolochow auf, der besonders flott und stramm nach dem Takte des Liedes marschierte und dabei die Gesichter der Vorbeifahrenden mit einer solchen Miene ansah, als bedaure er alle, die in diesem Augenblick nicht mit seiner Kompanie marschierten. Jener Husarenkornett aus Kutusows Gefolge, der den Regimentskommandeur nachgeahmt hatte, blieb hinter der Kalesche zurück und ritt an Dolochow heran.

Der Husarenkornett Scherkow hatte eine Zeitlang in Petersburg jener ausgelassenen Gesellschaft angehört, deren Anführer Dolochow gewesen war. Scherkow hatte im Ausland Dolochow als gemeinen Soldaten wiedergetroffen, es aber nicht für nötig gehalten, ihn zu kennen. Jetzt nach Kutusows Gespräch mit dem Degradierten wandte er sich erfreut an ihn wie an einen alten Bekannten.

»Liebster Freund, wie geht es dir?« rief er zwischen das Singen der Soldaten hinein und hielt sein Pferd in gleichem Schritt mit der Kompanie.

»Wie es mir geht?« antwortete Dolochow kühl, »nun wie du siehst.«

Das muntere Lied gab der ausgelassenen Fröhlichkeit, mit der Scherkow ihn angesprochen hatte, einen ganz besonderen Ton und ließ die absichtliche Kälte, die in Dolochows Antwort lag, noch mehr hervortreten.

»Wie kommst du mit deinen Vorgesetzten aus?« fragte Scherkow.

»Ganz gut, es sind nette Leute. Wie hast du dich denn in den Generalstab hineinbohren können?«

»Ich bin abkommandiert worden. Bin du jour.«

Sie schwiegen.

Einen Falken ließ sie fliegen

Aus dem Ärmel, aus dem rechten …

klang das Soldatenlied und weckte unwillkürlich eine mutige, fröhliche Stimmung. Hätten die beiden nicht bei den Klängen des Liedes miteinander gesprochen, so hätte ihr Gespräch wohl einen anderen Verlauf genommen.

»Ist es eigentlich wahr, daß die Österreicher geschlagen sind?« fragte Dolochow.

»Weiß der Teufel, man sagt es, ja.«

»Freut mich«, antwortete Dolochow kurz und deutlich, wie es zum Liede paßte.

»Nun, wie steht’s? Komm doch mal abends zu uns, damit wir ein Spielchen machen können«, sagte Scherkow.

»Ihr habt wohl recht viel Geld?«

»Komm nur!«

»Ich kann nicht. Habe mir gelobt, nicht zu trinken und zu spielen, bis ich befördert bin.«

»Also dann nach dem ersten Gefecht …«

»Werden sehen.«

Wieder schwiegen sie.

»Also komm nur, wenn du was brauchst, beim Stabe wird man dir immer gern helfen.«

Dolochow lächelte.

»Mach dir keine Sorgen. Wenn ich was brauche, werde ich nicht erst darum bitten. Ich werde es mir selber nehmen.«

»Nun ja, ich meinte ja nur so …«

»Und ich meinte auch nur so.«

»Na, leb wohl.«

»Leb wohl.«

Und hoch über ferne Lande

Flog er zurück ins Vaterland.

Scherkow gab seinem Pferd die Sporen. Aufgeregt tänzelte es von einem Fuß auf den andern und wußte nicht, mit welchem es ausholen sollte. Schließlich setzte es an und sprengte davon, jagte ebenfalls im Takte des Liedes an der Kompanie vorbei und holte die Kalesche ein.

3

Nachdem Kutusow in Begleitung des österreichischen Generals von der Besichtigung zurückgekehrt war, ging er in sein Arbeitszimmer und rief seinen Adjutanten. Er verlangte Berichte, die sich auf den Zustand der angekommenen Truppen bezogen, und noch einige Briefe, die er von Erzherzog Ferdinand, dem Oberbefehlshaber der Vorhut, erhalten hatte.

Fürst Andrej Bolkonskij trat mit den gewünschten Papieren ins Arbeitszimmer. Vor einer auf dem Tisch ausgebreiteten Landkarte saßen Kutusow und das österreichische Mitglied des Hofkriegsrates.

»Ah«, machte Kutusow, während er sich nach seinem Adjutanten umblickte, wie wenn er ihn mit diesem Wort auffordern wollte, noch einen Augenblick zu warten, und setzte dann die begonnene Unterhaltung wieder auf französisch fort.

»Ich kann Ihnen nur das eine sagen, General«, versicherte Kutusow mit jener angenehmen Eleganz der Ausdrucksweise und Betonung, die jeden zwang, seinen ohne Eile gesprochenen Worten zuzuhören, – es war Kutusow anzumerken, daß er sich auch selber mit Vergnügen reden hörte. »Ich kann Ihnen nur das eine sagen, General: wenn die Sache nur von meinen persönlichen Wünschen abhinge, so wäre der Wille Seiner Majestät des Kaisers Franz schon lange erfüllt. Ich hätte mich längst mit dem Erzherzog vereinigt. Und glauben Sie mir auf mein Ehrenwort, daß es für mich persönlich eine große Freude gewesen wäre, wenn ich den Oberbefehl über die Armeen einem erfahreneren und geschickteren General – und an solchen glänzenden Generälen ist ja Österreich reich – übergeben und dadurch die schwere Verantwortung von mir abwälzen könnte. Aber die Verhältnisse sind nun einmal stärker als wir, General.«

Kutusow lächelte mit einer Miene, als wolle er sagen: Sie sind vollkommen berechtigt, mir nicht zu glauben, und mir ist es ja auch ganz gleichgültig, ob Sie mir nun glauben oder nicht, aber Sie haben keinen Grund, mir das zu sagen. Und darauf kommt es ja schließlich an.

Der österreichische General machte eine unzufriedene Miene, war aber gezwungen, Kutusow in gleicher Weise zu antworten.

»Im Gegenteil«, sagte er in einem knurrigen und ärgerlichen Ton, der zu der schmeichelhaften Bedeutung der von ihm gebrauchten Redensarten durchaus nicht paßte, »im Gegenteil, die Teilnahme Eurer Exzellenz an der gemeinsamen Sache wird von Seiner Majestät außerordentlich hoch eingeschätzt, aber wir fürchten, daß die gegenwärtige Verzögerung die ruhmgekrönten russischen Truppen und ihren Oberkommandierenden der Lorbeeren berauben könnte, die sie in den Schlachten zu ernten gewohnt sind«, schloß er seine Rede, auf die er sich offenbar vorher vorbereitet hatte.

Kutusow verbeugte sich und lächelte unverändert weiter.

»Ich bin außerdem vollkommen überzeugt und vermute auf Grund des letzten Briefes, mit dem mich Seine Kaiserliche Hoheit Erzherzog Ferdinand beehrt hat, daß die österreichischen Truppen unter dem Befehl eines so geschickten Feldherrn, wie es General Mack ist, jetzt bereits einen entscheidenden Sieg davongetragen haben und unsere Hilfe gar nicht mehr brauchen«, fuhr Kutusow fort.

Der General runzelte die Stirn. Wenn man auch keine positiven Nachrichten von einer Niederlage der Österreicher erhalten hatte, so waren doch zu viele Umstände vorhanden, welche die allgemein verbreiteten ungünstigen Gerüchte bestätigten. Daher klang Kutusows Vermutung von einem Sieg der Österreicher fast wie Spott. Doch Kutusow lächelte sanft, und zeigte immer noch dieselbe Miene, die da sagte, daß er zu dieser Annahme ganz berechtigt sei. Und in der Tat berichtete der letzte Brief, den er von Macks Armee erhalten hatte, von einem Sieg und der außerordentlich vorteilhaften strategischen Lage der Armee.

»Gib mal bitte den Brief her«, sagte Kutusow und wandte sich an den Fürsten Andrej. »Bitte, sehen Sie!«

Mit einem spöttischen Lächeln in den Mundwinkeln las Kutusow dem österreichischen General folgende Stelle aus dem Brief des Erzherzogs auf deutsch vor:

»Wir haben vollkommen konzentrierte Kräfte, nahe an siebzigtausend Mann, um den Feind, wenn er den Lech passiert, angreifen und schlagen zu können. Da wir Herren von Ulm sind, können wir auch des Vorteils, Herr der beiden Donauufer zu bleiben, nicht verlustig gehen, mithin auch jeden Augenblick, wenn der Feind den Lech nicht passieren sollte, über die Donau gehen, uns auf seine Kommunikationslinie werfen, die Donau weiter unterhalb wieder überschreiten und dem Feind, wenn er sich mit ganzer Macht gegen unsere treuen Alliierten wenden sollte, diese seine Absicht alsobald vereiteln. Wir werden daher dem Zeitpunkt, da die Kaiserlich-Russische Armee ausgerüstet sein wird, mutig entgegenharren und sodann gemeinschaftlich leicht die Möglichkeit finden, dem Feind das Schicksal zu bereiten, das er verdient.«

Kutusow seufzte schwer auf, als er diese langen Sätze zu Ende gelesen hatte. Aufmerksam und freundlich sah er das Mitglied des Hofkriegsrates an.

»Aber Eure Exzellenz kennen doch die weise Regel, die da gebietet, man soll immer nur das Schlechteste vermuten«, sagte der österreichische General, der anscheinend mit diesen Späßen ein Ende machen und zur Sache kommen wollte.

Unwillkürlich sah er sich nach dem Adjutanten um.

»Entschuldigen Sie, General«, unterbrach ihn Kutusow und wandte sich gleichzeitig an den Fürsten Andrej. »Höre, mein Lieber, hole doch mal von Koslowskij alle Berichte unserer Kundschafter. Hier sind zwei Briefe vom Grafen Nostiz, hier ein Brief Seiner Kaiserlichen Hoheit, des Erzherzogs Ferdinand, und hier noch mehr«, sagte er und gab ihm einige Papiere. »Aus allen diesen Schriften stelle auf französisch ein sauberes Memorandum zusammen, einen Auszug zur Übersicht all der Nachrichten, die wir von den Operationen der österreichischen Armee erhalten haben. Wenn du das gemacht hast, übergib es Seiner Exzellenz.«

Fürst Andrej neigte den Kopf zum Zeichen, daß er vom ersten Wort an nicht nur alles verstanden habe, was Kutusow gesagt hatte, sondern auch das, was Kutusow damit sagen wollte. Er nahm die Papiere, machte eine Verbeugung gegen beide und ging mit leisen Schritten über den Teppich ins Wartezimmer.

Obgleich nur kurze Zeit verflossen war, seit Fürst Andrej Rußland verlassen hatte, war doch inzwischen schon eine große Veränderung mit ihm vorgegangen. Im Ausdruck seines Gesichts, in seinen Bewegungen und in seinem Gang war fast nichts mehr von seiner früheren Blasiertheit, Müdigkeit und Schlaffheit zu merken. Er sah aus wie ein Mensch, der keine Zeit hat, über den Eindruck, den er auf andere macht, nachzudenken, weil er völlig mit einer angenehmen und fesselnden Sache beschäftigt ist. Seinem Gesicht war anzusehen, daß er mit sich und seiner Umgebung zufrieden war. Sein Lächeln und sein Blick waren fröhlicher und anziehender geworden.

Kutusow, den er noch in Polen eingeholt hatte, hatte ihn sehr freundlich empfangen und ihm versprochen, ihn nicht zu vergessen. Er hatte ihn vor allen anderen Adjutanten ausgezeichnet, ihn nach Wien mitgenommen und ihm Aufträge wichtigster Art gegeben. Aus Wien hatte dann Kutusow an seinen alten Kameraden, den Vater des Fürsten Andrej, geschrieben: »Ihr Sohn erweckt die Hoffnung, ein Offizier zu werden, der sich durch Kenntnisse, Charakterfestigkeit und pünktliche Diensterfüllung auszeichnet. Ich schätze mich glücklich, einen solchen Untergebenen bei mir zu haben.«

Unter seinen Kameraden im Stabe waren über die Person des Fürsten Andrej zwei ganz entgegengesetzte Meinungen im Umlauf, ebenso wie in der Petersburger Gesellschaft. Die einen – und das war die Minderheit – glaubten, Fürst Andrej sei etwas ganz Besonderes, etwas anderes als sie selber und alle übrigen Menschen. Sie erwarteten von ihm große Leistungen, hörten ihm aufmerksam zu, waren entzückt von ihm und suchten ihm ähnlich zu werden. Gegen diese Leute benahm sich Fürst Andrej einfach und liebenswürdig. Die andern, die Mehrzahl, liebten ihn nicht. Sie hielten ihn für einen aufgeblasenen, kalten und unangenehmen Menschen. Aber auch mit diesen Leuten verstand sich Fürst Andrej so zu stellen, daß sie ihn respektierten und sogar fürchteten.

Als Fürst Andrej aus Kutusows Arbeitszimmer in das Wartezimmer trat, ging er mit den Papieren zu seinem Kameraden, dem diensttuenden Adjutanten Koslowskij, der mit einem Buch am Fenster saß.

»Nun, was gibt es, Fürst?« fragte Koslowskij.

»Ich habe Befehl, ein Memorandum zu machen, warum wir nicht vorrücken.«

»Aber wozu denn?«

Fürst Andrej zuckte mit den Achseln.

»Sind keine Nachrichten von Mack eingetroffen?« fragte Koslowskij.

»Nein.«

»Wenn es wahr wäre, daß er geschlagen ist, so wären doch schon Nachrichten gekommen.«

»Wahrscheinlich«, versetzte Fürst Andrej und begab sich zur Ausgangstür.

Doch in diesem Augenblick kam ihm jemand entgegen, trat eilig ins Wartezimmer und schlug hinter sich die Tür zu. Es war ein großer, anscheinend eben erst angekommener österreichischer General im Überrock mit einer schwarzen Binde um den Kopf und dem MariaTheresien-Orden am Halse. Fürst Andrej blieb stehen.

»Ist General en chef Kutusow da?« fragte der angekommene österreichische General hastig mit scharfer deutscher Aussprache, sah sich nach beiden Seiten um und ging, ohne stehenzubleiben, auf die Tür des Arbeitszimmers zu.

»Der General en chef ist beschäftigt«, erwiderte Koslowskij, ging eilig auf den unbekannten General zu und versperrte ihm den Weg zur Tür. »Wen darf ich melden?«

Der unbekannte General sah verächtlich von oben bis unten den nur kleinen Koslowskij an, als wundere er sich darüber, daß man ihn hier nicht kannte.

»Der General en chef ist beschäftigt«, sagte Koslowskij noch einmal in ruhigem Ton.

Der Österreicher zog die Stirn in Falten, seine Lippen zitterten und zuckten. Er nahm sein Notizbuch vor, kritzelte etwas mit dem Bleistift hin, riß das Blatt heraus und gab es dem Adjutanten. Dann ging er mit schnellen Schritten zum Fenster, warf sich in einen Stuhl und musterte alle im Zimmer Anwesenden, wie wenn er fragen wollte, weshalb sie ihn alle so ansähen. Er hob den Kopf hoch, reckte den Hals heraus, als wolle er etwas sagen, stieß aber dann gleich darauf, wie gedankenlos vor sich hinsingend, einen seltsamen Laut aus, den er jedoch sofort wieder abbrach. Die Tür zum Arbeitszimmer ging auf, und auf ihrer Schwelle erschien Kutusow.

Der General mit dem verbundenen Kopf bückte sich, als wolle er einer Gefahr aus dem Wege gehen, und ging mit seinen dünnen Beinen in großen, schnellen Schritten auf Kutusow zu.

»Vous voyez le malheureux Mack«, sagte er mit fast gebrochener Stimme.

Das Gesicht Kutusows, der in der Tür des Arbeitszimmers stand, blieb einige Augenblicke vollständig starr. Dann liefen Falten wie Wellen über sein Gesicht, so daß sich die Stirne kraus zog. Er neigte respektvoll seinen Kopf, schloß die Augen, ließ Mack an sich vorbeigehen und schloß selber hinter sich die Tür.

Das schon vorher verbreitete Gerücht über die Niederlage der Österreicher und die Kapitulation der ganzen Armee bei Ulm fand seine Bestätigung. Nach einer halben Stunde wurden nach allen Richtungen Adjutanten mit Befehlen abgeschickt, aus denen zu ersehen war, daß auch die russischen Truppen, die bisher untätig geblieben waren, bald mit dem Feinde zusammentreffen sollten.

Fürst Andrej war einer der wenigen Offiziere, für die der Gesamtgang der militärischen Operationen das Hauptinteresse bildete. Als er Mack gesehen und die Einzelheiten seines Unglücks erfahren hatte, wußte er, daß der Feldzug nun schon zur Hälfte verloren war. Er erkannte die schwierige Lage, in der sich die russischen Truppen befanden, und stellte sich lebhaft vor, was die Armee nun zu erwarten hatte, und welche Rolle sie dabei spielen werde. Unwillkürlich empfand er ein aufregendem, freudiges Gefühl bei dem Gedanken, daß das selbstbewußte Österreich in seiner Ehre getroffen war, und daß er selber nun vielleicht in wenigen Tagen den Zusammenstoß zwischen Russen und Franzosen, den ersten seit Suworow, mitansehen und selbst daran teilnehmen könne. Aber er fürchtete das Genie Bonapartes, das sich stärker erweisen könne als alle Tapferkeit der russischen Truppen, und doch konnte er es auch wiederum nicht über sich gewinnen, seinem Helden eine schmähliche Niederlage zu wünschen.

Aufgeregt und gereizt durch diese Gedanken ging Fürst Andrej in sein Zimmer, um seinem Vater, an den er jeden Tag schrieb, einen Brief zu schreiben. Auf dem Korridor traf er mit seinem Zimmerkameraden Neswizkij und dem Spaßvogel Scherkow zusammen, die wie immer über irgend etwas lachten.

»Warum bist du so finster«, fragte Neswizkij, als er das blasse Gesicht und die blitzenden Augen des Fürsten Andrej bemerkte.

»Jetzt hat wohl keiner Ursache, vergnügt zu sein«, antwortete Bolkonskij.

In dem Augenblick, als Fürst Andrej mit Neswizkij und Scherkow zusammentraf, kamen ihnen von der anderen Seite des Korridors das am Abend vorher angekommene Mitglied des Hofkriegsrates entgegen und Strauch, jener österreichische General, der bei Kutusows Stabe stand, um die Verpflegung der russischen Armee zu beaufsichtigen. Auf dem breiten Korridor war genügend Raum, so daß die Generäle bequem an den drei Offizieren hätten vorbeigehen können; aber Scherkow drängte Neswizkij mit dem Arm beiseite und rief ganz atemlos: »Sie kommen, sie kommen! Treten Sie zur Seite. Weg frei, bitte, Weg frei!«

Die Generäle gingen vorbei, und ihren Mienen war anzusehen, daß sie gern lästige Ehrenbezeigungen vermieden hätten. Auf dem Gesicht des Spaßvogels Scherkow erschien plötzlich ein dummfrohes Lächeln, als könne er seine Freude gar nicht unterdrücken.

»Eure Exzellenz«, sagte er auf deutsch, trat vor und wandte sich an den österreichischen General, »ich habe die Ehre, zu gratulieren.« Er neigte den Kopf und machte wie Kinder, die tanzen lernen, zuerst mit dem einen, dann mit dem andern Bein einen Kratzfuß.

Der General, Mitglied des Hofkriegsrates, sah ihn streng an; aber als er die Echtheit dieses dummen Lächelns bemerkte, konnte er es nicht über sich bringen, dem Redenden nicht für einen Augenblick Gehör zu schenken. Er kniff die Augen zusammen und zeigte damit, daß er ihn anhören wolle.

»Ich habe die Ehre zu gratulieren, General Mack ist angekommen, ganz gesund, nur hier hat er was abbekommen«, fügte er mit strahlendem Lächeln hinzu und zeigte auf seinen Kopf.

Der General runzelte die Stirn, wandte sich ab und ging weiter.

»Gott, wie naiv«, sagte er ärgerlich, als er einige Schritte weitergegangen war.

Neswizkij umarmte mit lautem Gelächter den Fürsten Andrej; aber Bolkonskij war noch blasser geworden, stieß ihn mit zorniger Miene zurück und wandte sich an Scherkow. Die nervöse Gereiztheit, in die ihn der Anblick Macks, die Nachricht von seiner Lage und der Gedanke an das, was der russischen Armee jetzt bevorstand, versetzt hatten, machte sich jetzt Luft und ging in Wut über den unangebrachten Scherz Scherkows über.

»Wenn Sie, mein Herr«, sagte er mit durchdringender Stimme, wobei sein Unterkiefer leicht zitterte, »durchaus ein Hansnarr sein wollen, so kann ich Sie daran nicht hindern. Aber ich erkläre Ihnen, wenn Sie sich noch einmal erdreisten, in meiner Gegenwart solche Albernheiten zu machen, so werde ich Sie lehren, wie Sie sich zu benehmen haben.«

Neswizkij und Scherkow waren so erstaunt über diesen Wutausbruch, daß sie schweigend und mit weitaufgerissenen Augen Bolkonskij ansahen.

»Was denn? Ich habe doch nur gratuliert«, sagte Scherkow.

»Ich scherze nicht mit Ihnen, bitte schweigen Sie«, rief Bolkonskij, faßte Neswizkij beim Arm und ging mit ihm von Scherkow fort, der keine Antwort finden konnte.

»Aber hör mal, was hast du denn eigentlich, mein Lieber?« fragte Neswizkij, der ihn beruhigen wollte.

»Was ich habe?« wiederholte Fürst Andrej und blieb vor Erregung stehen. »Aber so begreife doch: sind wir Offiziere, die ihrem Kaiser und Vaterland dienen, sich über einen gemeinsamen Erfolg freuen und über eine gemeinsame Niederlage trauern, oder sind wir nur Lakaien, die kein Interesse an dem Befinden ihrer Herrschaft haben? Vierzigtausend Mann niedergemetzelt und die Armee unserer Verbündeten aufgerieben, und Sie finden das zum Lachen?« fuhr er auf französisch fort, als wolle er durch diese französische Phrase seiner Meinung noch stärkeren Ausdruck verleihen. »Das paßt wohl für einen so dummen Jungen, wie jener Mensch ist, mit dem Sie Freundschaft geschlossen haben, aber nicht für Sie, nicht für Sie! Nur dumme Jungen können sich in dieser Weise amüsieren«, fuhr Fürst Andrej dann wieder auf russisch fort, sprach aber dieses Wort dumme Jungen’ mit französischer Betonung aus, da er bemerkt hatte, daß Scherkow ihn noch hören konnte.

Er wartete, ob der Kornett noch etwas antworten würde. Der aber drehte sich um und verließ den Korridor.

4

Das Pawlograder Husarenregiment lag zwei Meilen von Braunau im Quartier. Die Schwadron, in der Nikolaj Rostow als Junker stand, war in dem deutschen Dorf Salzeneck einquartiert. Dem Chef dieser Schwadron, Rittmeister Denissow[55], der in der ganzen Kavalleriedivision unter dem Namen Waska Denissow bekannt war, hatte man das beste Quartier im Dorf zugewiesen, und bei ihm wohnte der Junker Rostow, seit er das Regiment in Polen eingeholt hatte.

Am 11. Oktober, an demselben Tag, an dem durch die Nachricht von Macks Niederlage im Hauptquartier alles auf die Beine gebracht wurde, ging das Lagerleben in der Husarenschwadron in alter Weise weiter. Denissow hatte die ganze Nacht über Karten gespielt und war noch nicht nach Hause gekommen, als Rostow am frühen Morgen zu Pferde vom Fouragieren zurückkehrte. In seiner Junkeruniform ritt er zur Haustreppe, schwang, sich abstoßend, mit einer gewandten, jugendlichen Bewegung sein Bein übers Pferd und blieb einen Augenblick im Steigbügel stehen, als ob er sich noch nicht von seinem Pferde trennen könne. Endlich sprang er herab und rief den Burschen heran.

»He, Bondarenko, Freundchen!« sagte er zu dem Husaren der eilig auf das Pferd zustürzte, »führ es noch ein bißchen herum«, fuhr er mit jener heiteren, brüderlichen Freundlichkeit fort, mit der alle jungen, glücklichen Leute zu sprechen pflegen.

»Zu Befehl, Euer Durchlaucht!« antwortete der Kleinrusse[56] und nickte fröhlich mit dem Kopf.

»Paß auf und führ es gut herum!«

Ein anderer Husar stürzte ebenfalls auf das Pferd zu, aber Bondarenko hatte ihm schon die Zügel über den Hals geworfen. Man konnte sehen, daß der Junker gute Trinkgelder gab, und daß es vorteilhaft war, sein Bursche zu sein. Rostow streichelte seinem Pferde den Hals, dann die Kruppe und blieb an der Haustreppe stehen.

»Tadellos! Das wird ein famoser Gaul werden!« sagte er lächelnd vor sich hin. Dann faßte er den Säbel und lief mit klirrenden Sporen die Stufen hinauf.

Der deutsche Quartierwirt, in dicker Joppe und Zipfelmütze, sah, die Mistgabel in der Hand, mit der er gerade den Dung ausräumte, aus dem Kuhstall heraus. Das Gesicht des Deutschen leuchtete auf, als er Rostow erblickte. Er lächelte fröhlich und zwinkerte ihm zu.

»Schönen guten Morgen, schönen guten Morgen!« rief er ihm zu. Offenbar machte es ihm Vergnügen, den jungen Mann zu begrüßen.

»Schon so fleißig?« fragte Rostow auf deutsch mit demselben heiteren, brüderlichen Lächeln, das ständig auf seinem lebhaften Gesicht lag. »Hoch die Österreicher! Hoch die Russen! Hoch Kaiser Alexander!« rief er dem Deutschen zu und wiederholte damit die Worte, die ihm manchmal sein deutscher Quartierwirt zugerufen hatte.

Der Deutsche lachte. Er trat ganz aus der Tür des Kuhstalls heraus, riß die Zipfelmütze herunter, schwenkte sie über seinem Kopf und schrie: »Es lebe die ganze Welt!«

Rostow schwenkte ebenso wie der Deutsche seine Mütze über dem Kopf und schrie lachend: »Vivat die ganze Welt!«

Obwohl weder der Deutsche, der seinen Kuhstall ausmistete, noch Rostow, der mit seinem Beritt Heu geholt hatte, Grund zu solcher Freude hatten, sahen sich die beiden doch glückselig und mit brüderlicher Liebe an, nickten sich zum Zeichen ihrer Zuneigung zu und gingen dann lächelnd auseinander: der Deutsche in seinen Kuhstall und Rostow in das Haus, das er mit Denissow zusammen bewohnte.

»Was macht dein Herr?« fragte er Lawruschka, den Burschen Denissows, der im ganzen Regiment als geriebener Kunde bekannt war.

»Seit gestern abend ist er nicht hier gewesen. Wahrscheinlich hat er verloren«, antwortete Lawruschka. »Das kenne ich schon: wenn er gewonnen hat, kommt er frühzeitig, um damit zu prahlen. Kommt er am Morgen aber nicht, dann haben sie ihn tüchtig gerupft und dann ist er bei jämmerlicher Laune. Befehlen Sie Kaffee?«

»Ja, bring mir welchen her!«

Nach zehn Minuten brachte Lawruschka den Kaffee.

»Der Herr kommt«, sagte er, »jetzt geht es mir schlecht!«

Rostow schaute durchs Fenster und erblickte Denissow, der nach Hause zurückkehrte. Denissow war nicht groß von Gestalt, hatte ein rotes Gesicht, glänzende, schwarze Augen, einen struppigen Bart und krauses Haar. Er trug einen aufgeknöpften Dolman[57], weite, faltig herabhängende Reithosen und eine ganz zerdrückte Husarenmütze, die er ins Genick geschoben hatte. Finster und mit gesenktem Kopf näherte er sich der Treppe.

»Lawruschka!« schrie er laut und ärgerlich. »Nimm mir doch die Sachen ab, du alte Tranlampe!«

»Na, ich komme ja schon«, antwortete Lawruschkas Stimme.

»Ah, du bist auch schon auf«, sagte Denissow, ins Zimmer tretend.

»Schon lange«, erwiderte Rostow, »ich bin schon nach Heu geritten und habe auch Fräulein Mathilde schon gesehen.«

»So so! Aber mich haben sie gestern ausgebeutelt, mein Lieber, wie einen Hundesohn!« schrie Denissow, der das R schlecht aussprechen konnte, was in der Aufregung noch mehr hervortrat. »So ein Pech! So ein Pech! Als du fort warst, ging’s los. He! Tee her!«

Denissow zog die Stirn kraus, wie wenn er lachen wollte, und zeigte dabei seine kurzen, kräftigen Zähne. Dann fuhr er sich mit seinen kurzen Fingern durch das buschige, dichte, schwarze Haar.

»Der Teufel hat mich auf den Gedanken gebracht, zu dieser ›Ratte‹ zu gehen« – ›Ratte‹ war der Spitzname eines Offiziers –, sagte er und rieb sich mit beiden Händen Stirn und Gesicht, »kannst du dir so etwas vorstellen: nicht eine Karte, nicht eine einzige gute Karte hat er mir gegeben!«

Denissow nahm die ihm gereichte, angerauchte Pfeife, umfaßte sie fest mit der Faust, stieß damit so derb auf den Fußboden, daß das Feuer verschüttet wurde, und schrie dann weiter: »Simpel läßt er mir, und Paroli gewinnt er[58]! Simpel läßt er mir, und Paroli gewinnt er!«

Dabei schüttete er das Feuer aus, zerschlug die Pfeife und warf sie beiseite. Dann schwieg er eine Zeitlang und sah dann plötzlich Rostow mit seinen blitzenden, schwarzen Augen fröhlich an.

»Wenn’s hier wenigstens noch Weiber gäbe! Aber immer nur saufen und saufen und weiter nichts! Käme es nur bald einmal zum Loshauen! He, wer ist da?« wandte er sich zur Tür, als er hörte, wie draußen Schritte dicker Stiefel mit klirrenden Sporen haltmachten und jemand respektvoll hüstelte.

»Der Wachtmeister!« meldete Lawruschka.

Denissow zog die Stirn noch mehr in Falten.

»Scheußlich!« sagte er und warf seine Geldbörse mit einigen Goldstücken auf den Tisch.

»Rostow, lieber Junge, zähl doch mal nach, wieviel noch übriggeblieben ist, und steck dann die Börse unters Kissen«, sagte er und ging zum Wachtmeister hinaus. Rostow nahm das Geld und fing an, es zu zählen, indem er mechanisch die alten Goldstücke von den neuen trennte.

»Ah, guten Tag, Teljanin! Gestern hat man mich aber schön ausgenommen!« hörte man Denissows Stimme aus dem Nebenzimmer.

»Bei wem denn? Bei Bykow, bei der ›Ratte‹? Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte eine andere, hohe Stimme, und gleich darauf trat Leutnant Teljanin, ein kleiner Offizier, der bei derselben Eskadron stand, zu Rostow ins Zimmer.

Rostow steckte die Börse schnell unters Kissen und drückte die ihm entgegengestreckte kleine, feuchte Hand. Teljanin war vor dem Feldzug wegen irgendeiner Sache aus der Garde in dieses Regiment versetzt worden. Er führte sich sehr gut, aber man hatte ihn nicht gern, und besonders Rostow konnte seinen unbegründeten Widerwillen gegen diesen Offizier weder überwinden noch verbergen.

»Nun, junger Kavallerist, wie macht sich denn mein ›Rabe‹ bei Ihnen?« ›Rabe‹ war das Reservereitpferd, das Teljanin an Rostow verkauft hatte.

Der Leutnant blickte dem, mit dem er sprach, nie ins Gesicht. Seine Augen irrten beständig von einem Gegenstand zum andern. »Ich habe Sie heute vorbeireiten sehen.«

»Oh, ganz gut, es ist ein prächtiges Pferd«, antwortete Rostow, obwohl das Tier, das er für siebenhundert Rubel gekauft hatte, nicht die Hälfte dieses Preises wert war. »Nur lahmt es jetzt etwas auf dem linken Vorderfuß«, fügte er hinzu.

»Der Huf ist aufgeplatzt, das macht nichts! Ich werde Ihnen zeigen, wie man das nietet.«

»Ja, bitte, zeigen Sie mir das«, erwiderte Rostow.

»Gewiß, gewiß, das ist kein Geheimnis, aber für das Pferd werden Sie mir noch dankbar sein.«

»Ich will es mal gleich vorführen lassen«, rief Rostow, um Teljanin loszuwerden, und ging hinaus, um das anzuordnen.

Im Flur saß Denissow mit einer Pfeife im Mund zusammengekrümmt auf der Schwelle. Vor ihm stand der Wachtmeister und stattete ihm einen Bericht ab. Als Denissow Rostow erblickte, runzelte er die Stirn und zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach dem Zimmer, wo Teljanin saß; dann zog er die Stirn noch krauser und schüttelte sich vor Widerwillen.

»Ich kann diesen Kerl nun einmal nicht ausstehen«, sagte er, ohne sich in Gegenwart des Wachtmeisters Zwang anzutun.

Rostow zuckte die Schultern, als wollte er sagen: »Ich auch nicht, aber was ist da zu machen?« und kehrte, nachdem er seine Anweisungen gegeben hatte, zu Teljanin zurück.

Dieser saß noch immer in derselben nachlässigen Haltung da, in der Rostow ihn verlassen hatte, und rieb sich seine kleinen weißen Hände.

Es gibt nun mal solch widerwärtige Gesichter, dachte Rostow, als er ins Zimmer trat.

»Nun, haben Sie das Pferd vorführen lassen?« fragte Teljanin, stand auf und sah sich nachlässig um.

»Jawohl.«

»Na, dann kommen Sie also mit. Ich will nur noch Denissow nach dem gestrigen Befehl fragen. Haben Sie ihn bekommen, Denissow?«

»Nein, noch nicht. Wohin gehen Sie?«

»Ich will diesem jungen Mann hier zeigen, wie man ein Pferd beschlagen muß«, antwortete Teljanin.

Sie gingen zu den Stufen vor der Tür und dann in den Pferdestall. Der Leutnant zeigte, wie man das Nieten machen müsse, und ging dann nach Hause.

Als Rostow ins Zimmer zurückkehrte, stand auf dem Tisch eine Flasche mit Branntwein und daneben lag eine Wurst. Denissow saß davor und kritzelte mit der Feder über ein Papier. Finster sah er Rostow ins Gesicht.

»Ich schreibe ihr«, sagte er.

Er stützte sich, die Feder in der Hand haltend, auf den Tisch und freute sich sichtlich über die Gelegenheit, alles das, was er schreiben wollte, schneller mündlich zum Ausdruck bringen zu können. So teilte er Rostow den Inhalt seines Briefes mit.

»Siehst du, mein Freund«, sagte er, »wir schlafen, solange wir nicht lieben … Wir sind Kinder des Staubes … aber wenn man sich verliebt, dann ist man ein Gott, dann ist man rein wie am ersten Tag der Geburt … Wer ist denn da schon wieder? … Jag ihn zum Teufel! Ich habe keine Zeit!« rief er Lawruschka zu, der ohne jede Schüchternheit zu ihm getreten war.

»Na, wer soll es denn sein? Sie haben es ja selber befohlen. Der Wachtmeister kommt, um das Geld zu holen.«

Denissow zog die Stirn in Falten und wollte schon etwas herausschreien, schwieg aber dann.

»Eine verteufelte Geschichte«, brummte er vor sich hin. »Wieviel Geld ist da noch in der Börse?« fragte er Rostow.

»Sieben neue und drei alte.«

»Scheußlich! Na, was stehst du da wie ein Ölgötze? Schick den Wachtmeister her!« schrie Denissow Lawruschka an.

»Bitte, Denissow, nimm doch Geld von mir, ich habe welches«, sagte Rostow und wurde rot.

»Ich borge nicht gern meine Freunde an, das tue ich nicht gern«, knurrte Denissow.

»Wenn du das Geld nicht von mir annimmst, wie es doch kameradschaftlich wäre, so kränkst du mich damit. Ich habe doch wirklich genug«, wiederholte Rostow.

»Nein, nein!«

Denissow ging ans Bett, um die Börse unter dem Kopfkissen hervorzuholen.

»Wo hast du sie denn hingelegt, Rostow?«

»Unter das untere Kissen.«

»Da ist sie nicht.«

Denissow warf beide Kissen auf die Erde. Die Börse war nicht da.

»Das ist doch merkwürdig!«

»Halt, du hast sie vielleicht heruntergeworfen«, sagte Rostow, hob die Kissen einzeln hoch und schüttelte sie aus. »Sollte ich etwa vergessen haben, wo ich sie hingesteckt habe? Ach nein, ich habe dabei noch gedacht, daß du sie immer wie einen Schatz unter das Kissen legst«, sagte er.

»Hier habe ich die Börse hingelegt. Wo ist sie?« wandte er sich an Lawruschka.

»Ich bin gar nicht im Zimmer gewesen. Wo Sie das Geld hingelegt haben, wird es wohl auch noch sein.«

»Es ist aber nicht da.«

»So machen Sie es ja immer. Sie werfen Ihre Sachen irgendwohin und vergessen es dann. Sehen Sie doch mal in Ihrer Tasche nach.«

»Nein, wenn ich nicht an den Schatz gedacht hätte«, entgegnete Rostow, »aber ich kann mich genau besinnen, daß ich das Geld dorthin gelegt habe.«

Lawruschka durchwühlte das ganze Bett, blickte darunter und auch unter den Tisch, durchsuchte das ganze Zimmer und blieb endlich mitten in der Stube stehen. Denissow folgte schweigend allen Bewegungen Lawruschkas, und als dieser verwundert die Arme ausbreitete und sagte, daß die Börse nirgends zu finden sei, drehte er sich nach Rostow um.

»Rostow, mach keine Dummejungenstreiche …«

Rostow fühlte Denissows Blick auf sich gerichtet, hob seine Augen und senkte sie im gleichen Augenblick wieder. Alles Blut, das irgendwo unterhalb seiner Kehle eingezwängt gewesen war, strömte ihm ins Gesicht und in die Augen. Er konnte kaum Atem holen.

»Und im Zimmer war doch niemand als der Leutnant und Sie selber. Hier muß sie also doch sein«, meinte Lawruschka.

»Nun, dann rühr dich, du verdammte Drahtpuppe, und suche sie«, schrie Denissow plötzlich, der ganz dunkelrot geworden war, und stürzte mit einer drohenden Geste auf den Burschen los. »Schaff die Börse zur Stelle! Sonst laß ich dich totpeitschen! Alle laß ich totpeitschen!«

Rostow vermied es, Denissow anzusehen. Er knöpfte sich die Jacke zu, band sich den Säbel um und setzte die Mütze auf.

»Ich sage dir, die Börse muß hier sein«, schrie Denissow, schüttelte den Burschen an der Schulter und stieß ihn gegen die Wand.

»Denissow! Laß ihn! Ich weiß, wer sie genommen hat«, sagte Rostow und ging zur Tür, ohne die Augen aufzuheben.

Denissow blieb stehen und dachte einen Augenblick nach. Anscheinend verstand er, worauf Rostow anspielte. Er faßte ihn bei der Hand.

»Unsinn!« schrie er so laut, daß sich die Adern an Hals und Stirn wie Stricke blähten. »Ich sage dir, du bist verrückt geworden. Ich lasse mir das nicht bieten, die Börse ist hier! Ich werde diesem Tölpel das Fell abziehen, dann wird sie schon da sein.«

»Ich weiß, wer sie genommen hat«, wiederholte Rostow mit zitternder Stimme und ging zur Tür.

»Und ich sage dir: wag es nicht, das zu tun!« schrie Denissow und stürzte auf den Junker zu, um ihn zurückzuhalten.

Aber Rostow riß seine Hand los und richtete seine Augen so starr und mit solcher Wut auf Denissow, als ob dieser sein größter Feind wäre.

»Verstehst du auch, was du da sagst?« rief er mit zitternder Stimme; »außer mir ist niemand im Zimmer gewesen als er. Also, wenn er es nicht war …«

Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen und lief hinaus.

»Der Teufel soll dich holen und alle andern dazu«, waren die letzten Worte, die Rostow hörte.

Rostow kam zu Teljanins Quartier.

»Der Herr ist nicht zu Hause; er ist zum Stabe geritten«, meldete Teljanins Bursche. »Ist irgend etwas geschehen?« fragte der Bursche, der sich über das verstörte Gesicht des Junkers wunderte.

»Nein, nichts.«

»Wenn Sie einen Augenblick früher gekommen wären, hätten Sie ihn noch angetroffen«, sagte der Bursche.

Der Regimentsstab lag drei Werst von Salzeneck entfernt. Ohne noch einmal nach Hause zu gehen, nahm sich Rostow ein Pferd und ritt hin. Im Dorfe, wo der Stab lag, war eine Schenke, in der die Offiziere verkehrten. Rostow ritt auf die Schenke zu. Vor der Haustür sah er Teljanins Pferd stehen.

Im zweiten Zimmer der Schenke saß der Leutnant vor einem Teller mit Bratwürsten und einer Flasche Wein.

»Ah, Sie sind auch hergekommen, junger Mann!« sagte er lächelnd und zog die Augenbrauen hoch.

»Ja«, erwiderte Rostow, als koste es ihn große Mühe, dieses Wort auszusprechen, und setzte sich an den Nebentisch.

Beide schwiegen. Im Zimmer saßen noch zwei Deutsche und ein russischer Offizier. Niemand sagte ein Wort, man hörte nur das Klappern der Messer auf den Tellern und das Schmatzen des Leutnants. Als Teljanin sein Frühstück verzehrt hatte, zog er eine Doppelbörse aus der Tasche. Mit seinen feinen, weißen Fingern schob er die Ringe auseinander, holte ein Goldstück heraus, zog die Brauen hoch und gab es dem Kellner.

»Bitte, schnell!« sagte er.

Das Goldstück war neu. Rostow stand auf und ging auf Teljanin zu.

»Darf ich mir mal Ihre Börse ansehen?« sagte er mit leiser, fast unhörbarer Stimme.

Teljanin reichte sie ihm hin. Seine Augen huschten unter den noch immer hochgezogenen Brauen unruhig umher.

»Ja, eine schöne Börse, ja … ja …«, sagte er und wurde plötzlich blaß. »Sehen Sie sich die Börse nur an, junger Mann«, fügte er hinzu.

Rostow nahm die Börse in die Hand, sah sie an, musterte das Geld, das in der Börse war, und blickte dann wieder Teljanin an. Der Leutnant schaute sich, seiner Gewohnheit nach, rings um und schien dann auf einmal sehr lustig zu werden.

»Wenn wir erst in Wien sein werden, dann laß ich mein ganzes Geld dort. Aber hier, in diesen dreckigen Nestern, weiß man ja gar nicht, wie man es ausgeben soll«, sagte er. »Na, geben Sie her, junger Mann, ich will nun gehen.«

Rostow schwieg.

»Was wollen Sie denn jetzt machen? Auch frühstücken? Es gibt hier gut zu essen«, fuhr Teljanin fort, »also geben Sie her.«

Er streckte die Hand aus und griff nach der Börse. Rostow ließ sie los. Teljanin nahm die Börse und steckte sie in die Tasche seiner Reithose. Seine Brauen zogen sich nachlässig in die Höhe, und sein Mund öffnete sich ein wenig, als ob er sagen wollte: ›Nun ja, ich stecke eben meine Börse in die Tasche, und das ist ganz einfach und geht niemanden etwas an.‹

»Nun, junger Mann?« sagte er aufseufzend und sah unter den hochgezogenen Augenbrauen hervor Rostow ins Gesicht.

Wie ein Leuchten lief etwas mit der Schnelligkeit eines elektrischen Funkens aus Teljanins Augen in die Rostows und wieder zurück, lief noch einmal hin und wieder her, aber es dauerte nur einen Augenblick.

»Kommen Sie mit«, sagte Rostow und faßte Teljanin bei der Hand – er schleppte ihn fast ans Fenster. »Dieses Geld gehört Denissow, Sie haben es genommen«, flüsterte er ihm ins Ohr.

»Wie? … Was? … Wie können Sie es wagen … was?« rief Teljanin. Aber diese Worte klangen wie ein kläglicher, verzweifelter Aufschrei, wie ein Flehen um Verzeihung. Als Rostow den Ton dieser Stimme hörte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Nun zweifelte er nicht mehr. Er empfand ein freudiges Gefühl, und gleichzeitig tat ihm dieser Unglückliche, der vor ihm stand, von Herzen leid. Aber er mußte das, was er einmal angefangen hatte, nun auch zu Ende führen.

»Hier sind Leute, die Gott weiß was denken werden«, murmelte Teljanin, griff nach seiner Mütze und ging in ein kleines, leeres Zimmer nebenan. »Wir müssen uns auseinandersetzen.«

»Ich weiß es genau und werde es beweisen«, sagte Rostow.

»Ich …«

Alle Muskeln in Teljanins erschrockenem bleichem Gesicht fingen an zu zittern. Seine Augen irrten immer noch umher, aber sie blieben gesenkt und erhoben sich nicht, um Rostow anzusehen. Man hörte ein Schluchzen.

»Graf! Richten Sie einen jungen Menschen nicht zugrunde … hier ist das unselige Geld, nehmen Sie es«, er warf das Geld auf den Tisch. »Ich habe einen alten Vater, eine Mutter! …«

Rostow nahm das Geld und wich Teljanins Blick aus. Ohne ein Wort zu sagen, ging er aus dem Zimmer. Doch an der Tür blieb er noch einmal stehen und kehrte sich um.

»Mein Gott«, sagte er mit Tränen in den Augen, »wie konnten Sie nur so etwas tun?«

»Graf …« fing Teljanin an und wollte auf den Junker zugehen.

»Rühren Sie mich nicht an«, sagte Rostow und wich ihm aus. »Wenn Sie in Not sind, so nehmen Sie dieses Geld.« Er warf ihm seine eigene Börse hin und lief aus dem Zimmer.

5

Am Abend desselben Tages unterhielten sich in Denissows Quartier die Offiziere seiner Schwadron lebhaft miteinander.

»Ich sage Ihnen, Rostow, Sie müssen sich beim Regimentskommandeur entschuldigen«, rief ein großer Stabsrittmeister dem erregten, dunkelrot gewordenen Rostow zu.

Der Stabsrittmeister Kirsten, ein langer Mensch mit schon ergrautem Haar, einem mächtigen Schnurrbart und groben Zügen in seinem runzligen Gesicht, war zweimal wegen einer Ehrenangelegenheit degradiert worden und hatte sich zweimal wieder heraufgedient.

»Ich lasse mir von keinem Menschen sagen, daß ich lüge«, rief Rostow. »Er hat behauptet, ich lüge, und da habe ich zu ihm gesagt, daß er lügt. Und dabei bleibt es. Er kann mich meinetwegen jeden Tag zum Tagesdienst heranziehen und mich in Arrest stecken, aber niemand kann mich zwingen, um Verzeihung zu bitten. Und wenn er als Regimentskommandeur es seiner für unwürdig hält, mir Satisfaktion zu geben …«

»Warten Sie, mein Lieber; hören Sie mich an«, unterbrach ihn der Stabsrittmeister mit seiner Baßstimme, und strich sich ruhig den langen Schnurrbart glatt, »Sie haben dem Regimentskommandeur in Gegenwart anderer Herren gesagt, daß ein Offizier gestohlen habe …«

»Es war nicht meine Schuld, daß dieses Gespräch in Gegenwart anderer Offiziere stattfand. Vielleicht hätte ich in Gegenwart anderer nicht davon sprechen sollen. Aber ich bin eben kein Diplomat. Gerade deshalb bin ich ja in ein Husarenregiment eingetreten, weil ich dachte, daß man hier nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen brauche. Wenn er aber sagt, daß ich lüge …, so soll er mir auch Satisfaktion geben …«

»Das ist ja alles ganz gut und schön. Es denkt ja niemand daran, daß Sie ein Feigling sind. Darum handelt es sich hier nicht. Fragen Sie einmal Denissow, ob das nicht unerhört ist, wenn ein Junker von seinem Regimentskommandeur Satisfaktion verlangt.«

Denissow biß sich auf den Schnurrbart und hörte mit finsterer Miene dem Gespräch zu. Offenbar wollte er sich nicht daran beteiligen. Auf die Frage des Stabsrittmeisters schüttelte er verneinend den Kopf.

»In Gegenwart anderer Offiziere haben Sie dem Regimentskommandeur von dieser Gemeinheit erzählt«, fuhr der Stabsrittmeister fort, »und Bogdanytsch« – so wurde der Regimentskommandeur von den Offizieren genannt – »hat Sie gehörig heruntergeputzt …«

»Er hat mich gar nicht heruntergeputzt, sondern gesagt, ich spräche die Unwahrheit.«

»Nun ja, und darauf haben Sie ihm eine ungehörige Antwort gegeben und deshalb müssen Sie sich entschuldigen.«

»Auf keinen Fall!« rief Rostow.

»So etwas hätte ich von Ihnen nicht erwartet«, sagte der Stabsrittmeister ernst und streng. »Sie wollen sich nicht entschuldigen, mein Lieber? Und dabei haben Sie sich nicht nur an ihm, sondern am ganzen Regiment, an uns allen, schwer vergangen. Sehen Sie, das hätten Sie so machen müssen: Sie hätten es sich überlegen und um Rat fragen müssen, wie man in einer solchen Sache zu handeln hat. Sie aber platzen damit ohne weiteres in Gegenwart von Offizieren heraus. Was soll der Regimentskommandeur jetzt machen? Soll er den Leutnant vors Gericht bringen und das ganze Regiment dadurch bloßstellen? Wegen eines einzigen schwarzen Schafes das ganze Regiment in Schande bringen? So meinen Sie es doch, nicht wahr? Wir aber sind anderer Meinung. Bogdanytsch ist ein tüchtiger Mann, er hat Ihnen gesagt, daß Sie etwas Unwahres behaupten. Das ist unangenehm, aber was ist da zu machen, mein Lieber? Sie haben sich diese Suppe ja selber eingebrockt. Und jetzt, wo man die Sache vertuschen will, wollen Sie sich aus irgendeinem unangebrachten Stolz heraus nicht entschuldigen, sondern alles an die große Glocke hängen. Es wurmt Sie, daß Sie jetzt Strafdienst machen müssen und sich vor einem alten ehrlichen Offizier entschuldigen sollen. Wie Bogdanytsch als Mensch auch immer sein mag, jedenfalls ist er ein tapferer, ehrenhafter alter Oberst. Ihnen fällt es schwer, sich zu entschuldigen. Das Regiment aber bloßzustellen, das fällt Ihnen nicht schwer?« Die Stimme des Stabsrittmeisters fing an zu zittern. »Sie, junger Mann, sind nur vorübergehend hier im Regiment. Heute sind Sie hier, morgen irgendwo anders als Adjutant. Was kümmert es Sie, wenn man sagen wird: ›Unter den Pawlograder Offizieren gibt es Diebe.‹ Uns aber ist das nicht gleichgültig. Habe ich nicht recht, Denissow? Uns ist das nicht gleichgültig.«

Denissow schwieg immer noch und rührte sich nicht, sondern blickte nur hin und wieder Rostow mit seinen glänzenden schwarzen Augen an.

»Ihnen ist Ihr Stolz heilig, Sie wollen nicht um Entschuldigung bitten«, fuhr der Stabsrittmeister fort, »aber uns Alten, die wir hier im Regiment groß geworden sind und, geb’s Gott, auch hier mal sterben werden, uns geht die Ehre des Regiments über alles, und Bogdanytsch weiß das. Ja, uns geht die Ehre des Regiments über alles! Das ist nicht schön von Ihnen, nicht schön. Nehmen Sie es mir übel oder nicht, aber ich sage immer die Wahrheit frei heraus. Das ist nicht schön von Ihnen.«

Der Stabsrittmeister stand auf und wandte sich von Rostow ab.

»Er hat recht, hol’s der Teufel«, schrie Denissow und sprang auf. »Na, Rostow, na!«

Rostow wurde rot und blaß und sah bald den einen, bald den anderen Offizier an.

»Nein, meine Herren, nein … Denken Sie nicht … Ich verstehe Sie … doch Sie denken nicht richtig von mir … ich … für mich … ich bin stets für die Ehre des Regiments … und wie! Ich werde es im Gefecht zeigen, daß für mich die Ehre der Fahne … nun ja, es stimmt, ich bin schuld! …« Tränen standen in seinen Augen. »Ich habe mich arg vergangen, arg vergangen! … Nun, was wollen Sie noch mehr?«

»So ist’s recht, Graf«, schrie der Stabsrittmeister, drehte sich um und schlug ihm mit seiner großen Hand auf die Schulter.

»Ich hab dir gesagt«, schrie Denissow, »daß er ein famoses Kerlchen ist!«

»So ist es recht, Graf«, wiederholte der Stabsrittmeister, als wolle er Rostow für sein Eingeständnis durch die Anrede mit seinem Grafentitel belohnen. »Gehen Sie hin und bitten Sie um Entschuldigung, Euer Erlaucht, gehen Sie!«

»Meine Herren, ich will alles tun, niemand soll von mir auch nur ein Wort von dieser Sache weiter hören«, sagte Rostow mit flehender Stimme, »aber um Entschuldigung bitten, nein, das kann ich bei Gott nicht. Machen Sie, was Sie wollen. Soll ich mich etwa entschuldigen und um Verzeihung bitten wie ein Schuljunge?«

Denissow lachte.

»Das wird dann für Sie nur um so schlimmer sein. Bogdanytsch trägt einem so etwas nach. Sie werden für Ihre Dickköpfigkeit büßen müssen«, sagte Kirsten.

»Herr Gott, das ist doch keine Dickköpfigkeit! Ich kann es Ihnen nicht beschreiben, was für ein Gefühl … ich kann nicht …«

»Nun, wie Sie wollen«, sagte der Stabsrittmeister. »Wo ist denn aber dieser Schuft eigentlich geblieben?« fragte er Denissow.

»Er hat sich krank gemeldet. Es ist der Befehl gekommen, ihn morgen vom Offizierskorps auszuschließen«, erwiderte Denissow.

»Das muß bei ihm krankhaft gewesen sein, anders kann man das gar nicht erklären«, sagte der Stabsrittmeister.

»Ob es nun krankhaft war oder nicht, mir soll er nicht noch einmal unter die Augen kommen, ich schlage ihn tot«, schrie Denissow blutdürstig.

Da trat Scherkow ins Zimmer.

»Wie kommst du denn hierher?« wandten sich die Offiziere sofort an den Eintretenden.

»Es geht los, meine Herren, Mack hat sich ergeben, vollständig, mit der ganzen Armee …«

»Das ist ja Schwindel!«

»Ich habe ihn selber gesehen.«

»Wie? Mack hast du gesehen? Mack, wie er leibt und lebt?«

»Es geht los! Es geht los! Gebt ihm eine Flasche Wein für diese Nachricht. Wie bist du aber hierher geraten?«

»Eben wegen dieses Kerls, wegen Mack, haben sie mich wieder ins Regiment zurückgeschickt. Ein österreichischer General hat sich beschwert. Ich hatte ihm zu Macks Ankunft gratuliert … Aber was ist denn mit dir, Rostow? Du siehst ja so rot aus, als kämst du gerade aus dem Dampfbad?«

»Ja, Kamerad, hier spielt jetzt eine dumme Geschichte seit zwei Tagen.«

Da trat der Regimentsadjutant ein und bestätigte die von Scherkow gebrachte Nachricht. Der Marschbefehl für morgen war eingetroffen.

»Also es geht los, meine Herren.«

»Nun Gott sei Dank, wir haben auch schon zu lange stillgesessen.«

6

Kutusow zog sich in der Richtung nach Wien zurück und zerstörte hinter sich die Brücken über den Inn bei Braunau und über die Traun bei Linz. Am 23. Oktober überschritten die russischen Truppen die Enns. Der russische Train, die Artillerie und die Truppenkolonnen kamen gegen Mittag durch die Stadt Enns, die auf beiden Seiten des Flusses liegt.

Es war ein warmer, regnerischer Herbsttag. Die weite Aussicht, die sich von jener Anhöhe erschloß, wo die russischen Batterien zum Schutz der Brücke aufgestellt waren, wurde bald durch den feinen Schleier eines schräg fallenden Regens verdeckt, bald lag sie wieder im hellen Sonnenschein da, der alle Gegenstände wie mit Lack überzogen aussehen ließ. Unten, zu ihren Füßen, sahen die Soldaten das Städtchen liegen mit seinen weißen Häusern und roten Dächern, seiner Kirche und einer Brücke, auf der zu beiden Seiten russische Truppen dichtgedrängt vorüberfluteten. An einer Biegung der Donau sah man Schiffe, eine Insel und ein Schloß mit einem Park, der vom Wasser der Enns umspült wurde, die sich hier in die Donau ergießt. Das linke, felsige, mit Fichtenwäldern bedeckte Donauufer trat deutlich hervor, und weiter, in geheimnisvoller Ferne, dämmerten grüne Höhen; aus einem wilden Fichtenwald, den, wie es von weitem schien, noch keines Menschen Fuß je betreten hatte, ragten die Türme eines Klosters hervor. Und weiter hinten auf einem Berge, jenseits der Enns, sah man die Vorposten des Feindes.

Vorn auf der Anhöhe, zwischen den Geschützen, stand ein General, der Befehlshaber der Nachhut, mit einem Offizier à la suite und betrachtete die Gegend durch ein Fernglas. Etwas weiter hinten saß auf einer Lafette Neswizkij, der vom Oberkommandierenden zur Nachhut abgeschickt worden war. Der Kosak, der Neswizkij begleitet hatte, reichte ihm Tasche und Feldflasche hin, und Neswizkij bewirtete nun die Offiziere mit Pasteten und echtem Doppelkümmel. Die Offiziere umringten ihn voller Freude: die einen lagen auf den Knien, andere wieder saßen mit untergeschlagenen Beinen auf dem feuchten Gras.

»Ja, dieser österreichische Fürst, der sich hier das Schloß gebaut hat, ist gar nicht so dumm gewesen. Eine herrliche Gegend. Aber warum essen Sie nicht, meine Herren?« sagte Neswizkij.

»Ich danke ergebenst, Fürst«, sagte einer der Offiziere, dem es ein großes Vergnügen machte, sich mit einem so hohen Stabsoffizier unterhalten zu können, »eine prächtige Gegend. Wir sind dicht am Park vorbeigegangen und haben zwei Hirsche gesehen. Und was für ein wunderbares Haus!«

»Sehen Sie nur, Fürst«, sagte ein anderer, der gern noch eine Pastete genommen hätte, sich aber ein wenig genierte und daher so tat, als betrachte er die Gegend, »sehen Sie nur, unsere Infanterie hat sich da schon ’rangemacht. Da, auf der Wiese, hinter dem Dorf, schleppen drei Mann etwas fort. Die werden sich das Schloß schon vornehmen«, meinte er mit sichtlichem Behagen.

»Ja, richtig«, erwiderte Neswizkij. »Nein, was ich aber gern möchte«, fügte er hinzu und zerkaute dabei eine Pastete in seinem schönen Mund, »mich da ’ranpirschen.«

Er zeigte auf das Kloster mit den Türmen, das auf dem Berg sichtbar war. Lächelnd kniff er seine blitzenden Augen zusammen.

»Das wäre doch fein, meine Herren.«

Die Offiziere lachten.

»Wenn wir auch bloß diese Nönnchen ein bißchen aufschrecken könnten. Es sollen junge Italienerinnen sein. Wirklich, fünf Jahre meines Lebens gäb’ ich drum.«

»Denen ist es doch gewiß auch langweilig dort«, sagte lachend ein anderer Offizier, der noch etwas dreister war.

Unterdessen zeigte der Offizier à la suite, der vorne stand, dem General einen bestimmten Punkt, und der General sah durchs Fernrohr hin.

»Ja ja, stimmt schon, stimmt schon«, brummte der General ärgerlich. Er nahm das Fernrohr von den Augen weg und zuckte die Schultern. »Sie haben recht. Gleich werden sie den Übergang beschießen. Warum trödeln aber auch unsere Leute so lange?«

Auf der andern Seite des Flusses war eine feindliche Batterie jetzt auch mit bloßem Auge zu erkennen. Ein milchig-weißes Rauchwölkchen stieg von ihr auf. Gleich darauf ertönte ein ferner Schuß, und man konnte beobachten, wie die russischen Truppen auf der Brücke auf einmal in Eile gerieten.

Neswizkij erhob sich prustend und ging lächelnd auf den General zu.

»Möchten Exzellenz nicht auch einen Bissen essen?« fragte er.

»Eine dumme Geschichte«, sagte der General, ohne ihm zu antworten. »Unsere Leute haben sich zu viel Zeit genommen.«

»Soll ich hinreiten, Exzellenz?« fragte Neswizkij.

»Ja, reiten Sie bitte hin«, sagte der General und wiederholte ihm das, was er schon einmal ausführlich befohlen hatte. »Sagen Sie den Husaren, sie sollen zuletzt die Brücke überschreiten und sie dann hinter sich abbrennen, wie ich es befohlen habe. Vorerst sollen sie aber die Brennmaterialien auf der Brücke noch gut prüfen.«

»Zu Befehl«, antwortete Neswizkij.

Er rief den Kosaken, der das Pferd hielt, herbei, ließ Tasche und Feldflasche aufpacken und schwang seinen schweren Körper behend in den Sattel.

»Ich reite jetzt zu den Nonnen, tatsächlich«, sagte er zu den Offizieren, die ihn lächelnd ansahen, und ritt dann auf einem gewundenen Pfad den Berg hinab.

»Nun wollen wir mal sehen, wie weit unsere Geschütze reichen, Hauptmann, legen Sie los!« sagte der General und wandte sich an den Artilleristen. »Sie sollen nun auch Ihren Spaß haben nach der vielen Langenweile!«

»Die Mannschaften an die Geschütze!« kommandierte der Offizier.

Im Nu kamen die Artilleristen fröhlich von den Feuern herbeigelaufen und luden die Kanonen.

»Erstes Geschütz, Feuer!« ertönte das Kommando.

Wuchtig prallte das erste Geschütz zurück. Betäubend dröhnte das Metall der Kanone, und eine Granate sauste pfeifend über die Köpfe der Unsrigen den Berg hinab. Sie flog bei weitem nicht bis zum Feind hin. Eine Rauchwolke zeigte den Platz, wo sie einschlug und platzte.

Die Gesichter der Soldaten und Offiziere hellten sich bei diesem Ton förmlich auf. Alle hatten sich erhoben und waren damit beschäftigt, zu beobachten, wie unten unsere Truppen marschierten, die ganz deutlich zu sehen waren, und wie weiter hinten der Feind heranrückte. In diesem Augenblick trat die Sonne ganz aus den Wolken heraus, und der feierliche Klang dieses einzelnen Schusses ging in den leuchtenden Sonnenglanz über und rief eine fröhliche, mutige Stimmung hervor.

7

Zwei feindliche Geschosse waren bereits über den Fluß geflogen, deshalb war das Gedränge dort sehr groß. Mitten auf der Brücke stand Fürst Neswizkij. Er war gerade vom Pferd gestiegen und drückte seinen dicken Leib gegen das Geländer. Lachend sah er sich nach seinem Kosaken um, der mit den beiden Pferden am Zügel einige Schritte hinter ihm stand. Jedesmal, wenn Fürst Neswizkij weitergehen wollte, drängten ihn Soldaten und Wagen zurück und preßten ihn wieder an das Geländer. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu lächeln.

»He du, Brüderchen«, sagte der Kosak zu einem Fuhrparksoldaten, der mit seinem Wagen auf die Infanterie losfuhr, die sich dicht um die Räder und Pferde drängte. »He, kannst du nicht warten? Du siehst doch, daß ein General vorbeireiten will.«

Doch auf den Trainsoldaten machte der Generalstitel nicht den geringsten Eindruck und er rief den Soldaten, die ihm den Weg versperrten, zu: »He, Landsleute, links ran! Wartet mal!«

Aber die Landsleute marschierten auf der Brücke Schulter an Schulter, so daß die Bajonette aneinanderstießen, wie eine feste Masse dahin, ohne sich aufhalten zu lassen.

Fürst Neswizkij blickte über das Geländer in den Fluß und sah den schnellen, schäumenden, kleinen Wellen der Enns zu, die kräuselnd ineinanderflossen, den Brückenpfahl umwogten und einander zu überholen strebten. Als er dann aufschaute, erblickte er auf der Brücke dieselben einförmigen, aber lebenden Wellen: Soldaten, Tschakos, Tschakoschnüre, Tornister, Bajonette, lange Gewehre und unter den Tschakos Gesichter mit breiten Backenknochen, eingefallenen Wangen und sorglos-müden Mienen, und Beine, die auf dem klebrigen Schmutz der Brückenbohlen dahinmarschierten. Bisweilen drängte sich durch diese einförmigen Wogen der Soldaten wie ein weißer Schaumspritzer auf den Wellen der Enns ein Offizier im Mantel hindurch, dessen Gesichtsausdruck von dem der einfachen Soldaten auffallend abstach. Ab und zu wurde von den Wellen der Infanterie ein zu Fuß gehender Husar, ein Offiziersbursche oder ein Einwohner wie ein auf dem Flusse tanzender Holzspan über die Brücke getragen. Dann wieder segelte ein von allen Seiten umdrängter Kompanie- oder Offizierswagen, der bis oben mit Gepäck vollgepackt und mit einem Lederüberzug bedeckt war, wie ein auf dem Fluß treibender Baumstamm über die Brücke.

»Sieh einer an, das flutet ja und flutet, als ob ein Damm gebrochen wäre«, sagte der Kosak und blieb hoffnungslos stehen. »Sind da drüben noch viele von euch?«

»Eine Million, weniger einen Mann!« sagte augenzwinkernd ein lustiger Soldat in zerrissenem Mantel, der dicht neben ihm vorüberging, und verschwand augenblicklich wieder im Gedränge. Hinter ihm ging ein anderer, ein alter Soldat.

»Wenn die« – ›die‹ waren immer die Feinde – »uns jetzt hier auf der Brücke eins aufbrummen«, sagte finster der alte Soldat und wandte sich an einen Kameraden, »dann wirst du dich nicht mehr zu kratzen brauchen.«

Auch dieser Soldat ging vorüber. Hinter ihm fuhr ein anderer auf einem Wagen.

»Wo zum Teufel hast du nur die Fußlappen hingestopft?« fragte ein Offiziersbursche, der hinterherlief, und wühlte hinten im Wagen herum.

Auch dieser wogte mit dem Fuhrwerk vorbei. Hinter ihm kamen lustige, anscheinend angetrunkene Soldaten.

»Mensch, wie der ihm da mit dem Kolben in die Zähne knallte …«, erzählte lustig der eine in hoch aufgeschürztem Mantel und holte dabei weit mit dem Arm aus.

»Ja, ja, das war aber auch ein feiner Schinken«, antwortete der andere lachend.

Und auch sie gingen vorüber, ohne daß Neswizkij erfahren hätte, wem man die Zähne eingeschlagen hatte und wie das mit dem Schinken zusammenhing.

»Gott, wie sie laufen! Weil die eine kalte Kanonenkugel abschießen, denken alle gleich, sie werden erschossen«, sagte ärgerlich und vorwurfsvoll ein Unteroffizier.

»Wie sie an mir vorbeiflog, Onkelchen, die Kanonenkugel«, schwatzte ein junger Soldat mit einem riesig großen Mund und wollte sich dabei halbtot lachen, »da bin ich ganz erstarrt vor Schreck. Donnerwetter! Wirklich! Bin ich aber erschrocken, mächtig erschrocken«, sagte er, als wollte er sich damit rühmen daß er so erschrocken sei.

Und auch der ging vorüber.

Hinter ihm folgte ein Wagen, der ganz anders aussah als alle übrigen, die bisher vorbeigekommen waren. Es war ein deutscher Zweispänner, der anscheinend mit einer ganzen Hauseinrichtung beladen war. Hinten am Wagen, den ein Deutscher fuhr, war eine schöne scheckige Kuh mit prallem Euter angebunden. Auf den Betten saß eine Frau mit einem Säugling, eine alte Großmutter und ein junges, rotbackiges, gesund aussehendes deutsches Mädchen. Anscheinend wurden diese fortziehenden Einwohner auf eine besondere Erlaubnis hin durchgelassen. Die Augen aller Soldaten waren auf diese Frauen gerichtet, und solange der Wagen, der sich nur Schritt für Schritt vorwärts bewegen konnte, nebenher fuhr, bezogen sich alle Bemerkungen der Soldaten nur auf die beiden Frauen. Auf allen Gesichtern lag fast ein und dasselbe Lächeln, das durch die unreinen Gedanken in bezug auf diese Weiber hervorgerufen wurde.

»Siehst, der Wurstfresser[59] macht sich auch aus dem Staube.«

»Verkauf die Frau«, rief ein anderer Soldat und wandte sich an den Deutschen, der mit gesenkten Augen ärgerlich und erschrocken mit großen Schritten weiterging.

»Die hat sich aber fein gemacht! Das ist Sache!«

»Wenn du bei denen im Quartier liegen könntest, was, Fedotow?«

»Das haben wir alles schon erlebt, mein Lieber!«

»Wohin fahrt ihr denn?« fragte ein Infanterieoffizier, der einen Apfel aß und ebenfalls lächelte, während er das hübsche Mädchen ansah.

Der Deutsche schloß die Augen und deutete damit an, daß er nichts verstehe.

»Willst du den haben? Nimm«, sagte der Offizier und reichte dem Mädchen einen Apfel.

Das Mädchen lächelte und nahm ihn. Während die Frauen vorüberfuhren, hatte Neswizkij, wie alle übrigen auf dieser Brücke, kein Auge von ihnen gelassen. Nach ihnen kamen wieder ebensolche Soldaten mit ebensolchen Gesprächen, und schließlich blieben alle stehen. Wie das des öfteren geschieht, waren die Pferde eines Kompaniewagens am Ausgang der Brücke steckengeblieben, und der ganze Haufen mußte warten.

»Was bleiben die da vorne stehen? Ist das eine Ordnung?« fragten die Soldaten. »Was drängelst du denn so, Satan! Kannst nicht warten? Das wird noch viel toller werden, wenn die erst mal die Brücke in Brand schießen. Seht mal den Offizier dort, den haben sie auch festgedrängt«, riefen die Soldaten in dem stehen bleibenden Haufen von allen Seiten, sahen einander an und drängten alle nach vorn, dem Ausgang zu.

Während Neswizkij über die Brücke auf das Wasser der Enns sah, hörte er einen ihm noch neuen Ton, wie wenn ein großes Etwas schnell näher käme und dann ins Wasser plumpste.

»Siehst, wie weit die schon schießen«, sagte ernst ein dicht neben ihm stehender Soldat, der sich ebenfalls nach diesem Geräusch umschaute.

»Man will uns Beine machen, daß wir schneller rübergehen sollen«, bemerkte ein anderer unruhig.

Die Menge kam wieder in Bewegung. Neswizkij begriff jetzt, daß dies eine Kanonenkugel gewesen war.

»He! Kosak! Das Pferd her!« rief er. »Na, ihr da! Zur Seite, zur Seite! Weg frei!!«

Mit großer Anstrengung arbeitete er sich zu seinem Pferde durch. Unaufhörlich schreiend kam er endlich vorwärts. Die Soldaten preßten sich zusammen, um ihm den Weg frei zu machen, drängten aber dann wieder gegen ihn vor, so daß sie ihm das eine Bein einquetschten. Die ihm zunächst Stehenden waren nicht schuld daran, da sie von hinten vorwärts gedrängt wurden.

»Neswizkij, Neswizkij! So hör doch nur, du Fratz!« hörte man in diesem Augenblick von hinten eine heisere Stimme rufen.

Neswizkij sah sich um und erblickte, etwa fünfzehn Schritte durch die lebendige, sich fortbewegende Masse der Infanterie von ihm entfernt, Waska Denissow mit seinem roten Gesicht. Die Mütze auf dem schwarzen, zottigen Haar hatte er keck ins Genick geschoben, und über der Schulter hing ihm der Dolman.

»Befiehl doch diesen verfluchten Kerlen, daß sie dir Platz machen sollen«, schrie Denissow, der sich anscheinend in Wut befand, und seine glänzenden, kohlschwarzen, etwas geröteten Augen rollten. Den Säbel, den er in der Scheide gelassen hatte, hielt er in seiner kleinen unbehandschuhten Hand, die ebenso rot war wie sein Gesicht, und schwenkte ihn wild hin und her.

»Du hier, Waska?« rief Neswizkij freudig zurück. »Was tobst du denn so?«

»Meine Schwadron kann nicht durch«, schrie Waska Denissow wütend, zeigte seine weißen Zähne und gab seinem schönen Vollblutaraber die Sporen. Das Pferd bewegte unruhig die Ohren, als es an die Bajonette stieß, schnaubte, daß der weiße Schaum aus seinen Nüstern spritzte, schlug dröhnend mit den Hufen auf die Brückenbohlen und wäre anscheinend bereit gewesen, über das Brückengeländer zu setzen, wenn sein Reiter es ihm erlaubt hätte.

»Was soll das? Wie die Hammel! Ganz wie die Hammel! Weg da! Platz machen! Bleib doch stehen, Mensch, du da mit dem Wagen! Sonst ziehe ich dir eins mit dem Säbel über!« schrie er, und wirklich zog er seinen Säbel und fuchtelte mit ihm in der Luft herum.

Die Soldaten drängten sich mit erschrockenen Gesichtern dicht zusammen, und Denissow drang bis zu Neswizkij vor.

»Du bist ja heute gar nicht betrunken?« sagte Neswizkij zu Denissow, als dieser zu ihm herangeritten war.

»Man hat ja nicht einmal mehr die Zeit, sich zu betrinken«, antwortete Waska Denissow, »den ganzen Tag muß das Regiment bald hierhin, bald dahin preschen. Wenn losgehauen werden muß, dann meinetwegen loshauen! Aber was das hier heißen soll, weiß der Teufel.«

»Du siehst ja heute wie ein Stutzer aus!« sagte Neswizkij und musterte Denissows neuen Dolman und seine neue Satteldecke.

Denissow lächelte. Er holte aus seiner Säbeltasche ein Taschentuch hervor, das mit Parfüm getränkt war, und hielt es Neswizkij unter die Nase.

»Was sein muß, muß sein. Heute geht es ins Gefecht. Da hab’ ich mich rasiert, parfümiert, und mir die Zähne geputzt.«

Neswizkijs achtunggebietende Gestalt, von seinem Kosaken begleitet, und Denissows entschlossenes Vorgehen, der mit seinem Säbel herumfuchtelte und wild drauflos schrie, hatten solche Wirkung, daß sich die beiden Offiziere endlich auf die andere Seite der Brücke durcharbeiten und die Infanterie zum Stehen bringen konnten. Neswizkij fand am Ausgang der Brücke den Oberst, dem er den Befehl überbringen sollte, und ritt dann, nachdem er seinen Auftrag erledigt hatte, zurück.

Nachdem Denissow den Weg frei gemacht hatte, hielt er am Ausgang der Brücke an. Lässig hielt er seinen Hengst zurück, der zu den andern Pferden hinstrebte und mit den Beinen ausschlug, und schaute nach seiner Schwadron, die ihm entgegenkam. Auf den Brückenbohlen klapperten helle Hufschläge, so daß es klang, als ob einige Pferde im Galopp darübersprengten, und die Schwadron, mit ihren Offizieren an der Spitze, zog, je vier Mann in einer Reihe, über die Brücke und ritt auf die andere Seite hinüber.

Die zum Haltmachen gezwungene Infanterie drängte sich in dem zertretenen Schmutz auf der Brücke zusammen und betrachtete die sauberen, elegant gekleideten Husaren, die in guter Ordnung an ihnen vorbeiritten, mit jenem besonderen, wenig wohlwollenden Gefühl der Fremdheit und des Spottes, wie es die verschiedenen Truppengattungen bei einer Begegnung gewöhnlich an den Tag zu legen pflegen.

»Aufgeputzt sind die Kerls! Die passen höchstens auf den Podnowinskij-Boulevard[60]

»Was können die wohl nützen? Die sind doch bloß zum Staate da!« sagte ein anderer.

»Infanteristen, macht nicht solchen Staub!« scherzte ein Husar, dessen Pferd tänzelte und dabei einen Infanteristen mit Schmutz bespritzte.

»Wenn man dich zwei Tagemärsche mit dem Affen auf dem Buckel hätte laufen lassen, dann möchte ich mal sehen, wie deine Schnürchen da aussehen würden«, gab der Infanterist zurück und wischte sich mit dem Ärmel den Schmutz aus dem Gesicht.

»Wer da oben auf so ’nem Pferde sitzt, ist ja gar kein Mensch mehr, höchstens ’n Vogel!«

»Dich müßte man mal auf ein Pferd setzen, Sikin, du würdest da gut aussehen«, verspottete ein Gefreiter einen mageren kleinen Soldaten, der unter seinem schweren Tornister ganz krumm dastand.

»Nimm doch einen Knüppel zwischen die Beine, dann hast du auch ein Pferd!« rief der Husar zurück.

8

Der Rest der Infanterie drängte sich am Eingang der Brücke trichterförmig zusammen und marschierte dann eilig hinüber. Endlich waren alle Wagen vorbeigefahren, das Gedränge wurde geringer, und das letzte Bataillon betrat die Brücke. Nur die Husaren von Denissows Schwadron waren noch auf der anderen, dem Feind zugewandten Seite der Brücke zurückgeblieben. Von unten, von der Brücke her, war der Feind, der von den gegenüberliegenden Höhen gut sichtbar war, nicht zu sehen, da unten in der Schlucht, durch die der Fluß strömte, der Horizont durch die eine halbe Werst entfernte, davorliegende Anhöhe begrenzt wurde. Im Vordergrund lag eine freie Fläche, auf der sich hier und da Kosakenpatrouillen hin und her bewegten.

Plötzlich zeigten sich auf dem gegenüberliegenden Höhenweg Truppen in blauen Mänteln und Artillerie. Das waren Franzosen. Die Kosakenpatrouillen ritten im Trabe bergab. Alle Offiziere und Mannschaften von Denissows Schwadron gaben sich zwar Mühe, von anderen Dingen zu reden und nach einer anderen Seite hinzusehen, dachten aber doch immer nur an das, was dort auf dem Berge vor sich ging. Immer wieder blickten sie nach den am Horizont auftauchenden winzigen Pünktchen, in denen sie feindliche Truppen erkannten.

Das Wetter hatte sich am Nachmittag wieder aufgeklärt. Die Sonne senkte sich strahlend auf die Donau und die dunkeln Berge ihrer Ufer nieder. Ringsum war alles still, nur hin und wieder schallten von jenem Berge die Hornsignale und Rufe des Feindes herüber. Zwischen der Schwadron und dem Feind befanden sich nur noch die kleinen Patrouillentrupps und ein leerer Raum von einigen hundert Metern Breite. Der Feind schoß nicht mehr, doch um so deutlicher machte sich jene strenge, drohende, feste und doch schwer zu bestimmende Grenze bemerkbar, die zwei feindliche Truppen voneinander trennt.

Einen Schritt über diese Grenze, diese warnende Grenze, welche die Lebenden von den Toten trennt, und man weiß nichts mehr von Leid, man ist tot. Und was ist dort? Wer ist da drüben? Dort hinter diesem Feld, hinter diesem Baum und hinter diesem Dach, das von der Sonne beleuchtet wird? Niemand weiß es, und doch möchte es jeder wissen. Es ist furchtbar, diese Grenze zu überschreiten, und doch möchte es jeder tun, obgleich er weiß, daß er früher oder später diese Grenze ja doch überschreiten muß und dann erfahren wird, was dort auf jener Seite ist, ebenso wie er unvermeidlich erfahren wird, was jenseits des Grabes ist. Aber man ist stark, gesund, fröhlich und angeregt und umgeben von ebensolchen gesunden und lebhaft erregten Menschen. Eine solche Empfindung hat jeder Mensch, der sich dem Feind gegenüber befindet, wenn er sich auch innerlich darüber nicht klar wird. Dieses Gefühl verleiht allen Eindrücken in jenen Augenblicken einen besonderen Glanz und eine beseligende Schärfe.

Auf dem Hügel, wo der Feind stand, zeigte sich ein Rauchwölkchen, und eine Kugel sauste pfeifend über die Köpfe der Husaren hin. Die Offiziere, die zusammenstanden, ritten an ihre Plätze, und die Husaren hielten die Zügel strammer. In der Schwadron war es ganz still. Alle sahen nach vorn auf den Feind und den Regimentskommandeur und warteten auf das Kommando. Eine zweite, eine dritte Kugel sauste vorbei. Es war klar, daß man auf die Husaren schoß; aber die Kugeln flogen gleichmäßig schnell und pfeifend über ihre Köpfe weg und schlugen irgendwo hinter ihnen ein. Niemand sah sich um, aber bei jedem Zischen einer vorbeisausenden Kanonenkugel hob sich wie auf Kommando die ganze Schwadron, mit ihren bei aller Verschiedenheit doch so einförmigen Gesichtern, in den Steigbügeln, hielt, solange die Kugel vorbeipfiff, den Atem an und ließ sich dann wieder in die Sättel zurücksinken. Ohne die Köpfe zu drehen, schielten die Soldaten einer nach dem anderen hin und beobachteten neugierig, welchen Eindruck das Schießen wohl auf die Kameraden machte. Auf jedem Gesicht, von Denissow angefangen bis zum Hornisten, prägte sich um die Lippen und um das Kinn herum ein und derselbe gemeinsame Zug aus, der Kampflust, Zorn und Erregung verriet. Der Wachtmeister runzelte die Stirn und musterte die Soldaten, als wolle er eine Strafe über sie verhängen. Ein Junker namens Mironow bückte sich bei jeder Kugel, die vorbeiflog. Rostow befand sich auf der linken Flanke und saß auf seinem »Raben«, der sich sehr gut ausnahm, obgleich seine Hufe noch nicht recht in Ordnung waren. Der Junker sah so glücklich aus wie ein Schüler, der vor einem großen Publikum zum Examen aufgerufen wird und überzeugt ist, daß er es mit Auszeichnung bestehen wird. Klar und heiter sah er alle an, als bäte er, auf ihn zu schauen, wie ruhig er trotz der Kugeln dasaß. Doch auch auf seinem Gesicht zeigte sich, um den Mund herum, ganz gegen seinen Willen, jener selbe neue und strenge Zug.

»Wer bückt sich da immer? Junker Mironow! Das geht nicht! Sehen Sie mich an!« schrie Denissow, der nicht ruhig auf seinem Platz bleiben konnte und vor der Schwadron hin und her ritt.

Waska Denissows Gesicht mit der Stulpnase und dem schwarzen Haar, und seine ganze kleine, gedrungene Gestalt mit der behaarten, sehnigen Hand, deren kurze Finger den Griff des gezogenen Säbels umspannt hielten, sahen genauso aus, wie sie immer aussahen, besonders des Abends, wenn er die zweite Flasche ausgetrunken hatte, vielleicht nur etwas röter als gewöhnlich. Er reckte seinen Kopf hoch wie ein Vogel, wenn er getrunken hat, und drückte mit den kleinen Füßen seinem Araber unbarmherzig die Sporen in die Flanken. Nach hinten zurückgelehnt, sprengte er dann zur anderen Seite der Schwadron hinüber und schrie mit heiserer Stimme, die Leute sollten ihre Pistolen nachsehen. Dann ritt er zu Kirsten. Der Stabsrittmeister kam auf seiner breiten, stämmigen Stute Denissow entgegen. Sein Gesicht mit dem langen Schnurrbart war ernst wie immer, nur seine Augen glänzten mehr als gewöhnlich.

»Wozu das alles?« sagte er zu Denissow, »zum Losschlagen kommt es ja doch nicht! Du wirst sehen, wir müssen wieder zurück.«

»Weiß der Teufel, was die machen«, knurrte Denissow. »Ah, Rostow«, rief er, als er das fröhliche Gesicht des Junkers bemerkte, »na, nun hast du ja erreicht, worauf du so lange gewartet hast.«

Er lächelte beifällig und freute sich anscheinend über den Junker. Rostow fühlte sich vollkommen glücklich. In diesem Augenblick erschien der Kommandeur auf der Brücke. Denissow sprengte zu ihm hin.

»Exzellenz, erlauben Sie, daß wir attackieren? Ich werde sie verjagen.«

»Was sollen hier Attacken«, erwiderte der Kommandeur in verdrießlichem Ton und zog die Stirn kraus, als ob ihn eine Fliege belästige. »Warum stehen Sie überhaupt noch hier? Sie sehen doch, die Patrouillen ziehen sich zurück. Führen Sie die Schwadron zurück.«

Die Schwadron überschritt die Brücke und kam aus dem Schußbereich heraus, ohne einen Mann verloren zu haben. Hinter ihr kam noch die zweite Schwadron, die in Vorpostenkette ausgeschwärmt war, über die Brücke zurück; und dann räumten auch die letzten Kosaken die andere Seite des Flusses.

Die beiden Schwadronen der Pawlograder Husaren überschritten die Brücke und ritten dann hintereinander auf den Berg zurück. Der Regimentskommandeur Karl Bogdanytsch Schubert kam zu Denissows Schwadron und ritt im Schritt an Rostow vorüber, ohne diesen zu beachten, obgleich sie sich seit der Geschichte mit Teljanin noch nicht wieder gesehen hatten. Rostow, der sich hier an der Front in der Macht dieses Menschen, vor dem er sich jetzt schuldig fühlte, zu befinden glaubte, verwandte keinen Blick von dem athletischen Rücken, dem blonden Hinterkopf und dem roten Hals des Regimentskommandeurs. Es schien Rostow, als ob diese Nichtbeachtung von seiten Bogdanytschs nur erheuchelt und dessen ganzes Sinnen und Trachten jetzt nur darauf gerichtet sei, die Tapferkeit des Junkers auf die Probe zu stellen. Daher reckte er sich hoch auf und sah sich fröhlich um. Bald schien es ihm, als reite Bogdanytsch absichtlich so nahe an ihn heran, um ihm seine schneidige Haltung an der Front zu zeigen, bald glaubte er wieder, sein Feind werde jetzt absichtlich die Schwadron in eine verwegene Attacke hineinschicken, um ihn, Rostow, dadurch zu bestrafen. Und dann wieder stellte er sich vor, wie nach der Attacke der Regimentskommandeur zu ihm hinreiten und ihm, dem Verwundeten, die Hand zur Versöhnung reichen werde.

Da kam die allen Pawlograder Husaren bekannte Gestalt Scherkows mit den hochgezogenen Schultern – er war erst kürzlich wieder aus dem Regiment ausgeschieden – auf den Regimentskommandeur zugeritten. Scherkow war, nachdem er aus dem Hauptquartier entfernt worden war, nicht lange im Regiment geblieben. Er hatte erklärt: So dumm, sich an der Front abzuschinden, sei er nicht, wenn er beim Stabe, ohne etwas zu tun zu brauchen, doch viel mehr Auszeichnungen erhalten könne. Er hatte es verstanden, als Meldeoffizier beim Fürsten Bagration unterzukommen. Jetzt ritt er zu seinem früheren Vorgesetzten hin, um ihm einen Befehl des Kommandierenden der Nachhut zu überbringen.

»Herr Oberst«, sagte er mit finsterem Ernst zu Rostows Feind und sah dabei auch gleichzeitig seine Kameraden an, »es ist befohlen, haltzumachen und die Brücke in Brand zu stecken.«

»Wer befiehlt das?« fragte düster der Oberst.

»Wer das befohlen hat, weiß ich nicht, Herr Oberst«, antwortete der Kornett ernsthaft. »Ich weiß nur, daß der Fürst zu mir gesagt hat: ›Reite zum Oberst und sage ihm, die Husaren sollen schnell kehrtmachen und die Brücke in Brand stecken.‹«

Gleich nach Scherkow langte ein Offizier à la suite mit dem gleichen Befehl beim Obersten an. Und bald hinter diesem Offizier à la suite kam der dicke Neswizkij angesprengt, auf einem Kosakenpferd, das ihn nur mit Mühe im Galopp tragen konnte.

»Aber was ist denn das, Herr Oberst?« schrie er noch im Reiten, »ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen die Brücke in Brand stecken, und jetzt ist da solch eine Verwirrung draus geworden. Dort im Stabe verlieren sie schon ganz den Verstand, niemand wird draus klug, was das heißen soll.«

Ohne irgendwelche Hast zu zeigen, ließ der Oberst das Regiment haltmachen und wandte sich an Neswizkij.

»Sie haben mir nur etwas von Brennstoffen gesagt«, erwiderte er. »Aber davon, daß ich die Brücke in Brand stecken soll, haben Sie mir kein Wort gesagt.«

»Aber ich bitte Sie, mein Lieber«, ereiferte sich Neswizkij, der sein Pferd angehalten hatte und die Mütze abnahm, um sich mit seiner dicken Hand die schweißtriefenden Haare glattzustreichen, »ich sollte nichts davon gesagt haben, daß die Brücke angesteckt werden soll, wenn doch schon die Brennstoffe hingelegt waren?«

»Ich bin für Sie kein ›mein Lieber‹, Herr Stabsoffizier! Sie haben mir nichts davon gesagt, daß ich die Brücke anstecken soll. Ich kenne meinen Dienst und bin gewohnt, jeden Befehl strikt zu erfüllen. Sie haben mir gesagt, die Brücke soll angesteckt werden, aber wer sie anstecken soll, das habe ich selbst vom Heiligen Geist nicht erfahren können …«

»Na ja, so ist es ja immer«, sagte Neswizkij und machte eine resignierende Handbewegung. »Wie kommst du denn hierher?« wandte er sich an Scherkow.

»Aus eben dem selben Grunde. Aber du bist ja ganz durchnäßt, darf ich dich nicht erst einmal auswringen?«

»Sie sagten, Herr Stabsoffizier …« fuhr der Oberst in beleidigtem Ton fort.

»Herr Oberst«, fiel ihm der Offizier à la suite ins Wort, »Eile tut not, sonst wird der Feind seine Geschütze nahe heranbringen und mit Kartätschen schießen.«

Der Oberst blickte schweigend den Offizier à la suite, den dicken Stabsoffizier und Scherkow an, und zog dann die Stirne kraus.

»Ich werde die Brücke in Brand stecken«, antwortete er in feierlichem Ton, als wollte er damit sagen, daß er trotz aller Unannehmlichkeiten, die man ihm bereitete, dennoch seine Pflicht erfüllen werde.

Mit seinen langen, muskulösen Beinen schlug er so ungestüm gegen sein Pferd, als ob dieses an allem schuld wäre, ritt vor die Front und befahl der zweiten Schwadron, derselben, in der Rostow unter Denissows Kommando stand, wieder zur Brücke zurückzukehren.

»Es ist schon richtig«, dachte Rostow, »er will mich auf die Probe stellen.« Sein Herz krampfte sich zusammen, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. »Nun soll er mal sehen, ob ich ein Feigling bin«, dachte er.

Wieder zeigte sich auf all den fröhlichen Gesichtern dieser ernste Zug, der in jenem Augenblick zu bemerken gewesen war, als die Schwadron im Kugelregen gestanden hatte. Rostow sah unverwandt seinen Feind, den Regimentskommandeur, an, um auf dessen Gesicht die Bestätigung seiner Vermutung zu finden. Aber der Oberst blickte Rostow nicht ein einziges Mal an, sondern sah, wie immer vor der Front, ernst und feierlich aus. Ein Kommando ertönte.

»Schnell, schnell«, riefen einige Stimmen in Rostows Nähe.

Sporenklirrend und mit den Säbeln an den Zügeln hängenbleibend, stiegen die Husaren eilig ab, ohne zu wissen, was sie jetzt tun sollten. Sie bekreuzigten sich. Rostow sah nun nicht mehr nach dem Regimentskommandeur hin. Dazu hatte er jetzt keine Zeit mehr. Er fürchtete, fürchtete klopfenden Herzens nur das eine: er könne hinter den Husaren zurückbleiben und nicht mit ihnen mitkommen. Seine Hand zitterte, als er sein Pferd dem Pferdeburschen übergab, und er fühlte, wie mit jedem Pulsschlag das Blut nach seinem Herzen strömte. Denissow ritt, sich nach rückwärts werfend, an ihm vorüber und rief irgend etwas mit lauter Stimme. Dann sah Rostow nichts mehr als Husaren, die sporenklirrend und mit den Säbeln rasselnd an ihm vorüberliefen.

»Tragbahren!« rief eine Stimme hinter ihm.

Rostow dachte gar nicht darüber nach, was das zu bedeuten hatte, wenn Tragbahren verlangt wurden. Er lief, was er konnte, immer nur bemüht, allen voran zu sein; doch vor der Brücke geriet er, weil er nicht auf seine Füße geschaut hatte, in den morastigen, zertrampelten Schmutz, stolperte und fiel auf die Hände. Die andern rannten an ihm vorüber.

»An beiden Seiten, Rittmeister«, hörte er die Stimme des Regimentskommandeurs rufen, der vorausgeritten war und nun mit feierlichem und fröhlichem Gesicht nicht weit von der Brücke haltgemacht hatte.

Rostow rieb sich seine schmutzigen Hände an den Reithosen ab, sah sich nach seinem Feind um und wollte weiterlaufen, da er meinte, je weiter er vorwärts liefe, desto besser würde es sein. Aber Bogdanytsch, der ihn gar nicht gesehen und auch nicht erkannt hatte, rief ihm zu: »Wer läuft denn da mitten auf der Brücke. Nach rechts rüber, zurück, Junker!« schrie er ärgerlich und wandte sich dann an Denissow, der seine Tapferkeit zeigen wollte und auf die Brückenbohlen geritten war.

»Wozu Ihr Leben unnötig aufs Spiel setzen, Rittmeister! Sie sollten lieber absteigen.«

»Je nun! Wen’s treffen soll, den trifft’s«, antwortete Waska Denissow und drehte sich im Sattel um.

Inzwischen standen Neswizkij, Scherkow und der Offizier à la suite außer Schußweite beisammen und schauten bald nach diesem kleinen Häuflein Husaren, die mit ihren gelben Tschakos, ihren mit dunkelgrünen Schnüren besetzten Jacken und grünen Reithosen geschäftig unten an der Brücke hin und her liefen, und bald wieder nach der anderen Seite hinüber, wo in der Ferne blaue Mäntel und mit Pferden untermischte Gruppen auftauchten, die man leicht als Artillerie erkennen konnte.

Werden sie die Brücke noch anstecken können oder nicht? Wer wird eher zur Stelle sein? Ob sie wohl noch hinkommen und die Brücke anzünden, oder ob die Franzosen bis auf Kartätschenreichweite heranfahren und sie beschießen? Klopfenden Herzens legte sich diese Fragen unwillkürlich jeder einzelne Mann dieser großen Truppenmenge vor, die oberhalb am Berg stand und beim hellen Abendlicht nach der Brücke und den Husaren und nach jener Seite hinüberschaute, wo die blauen Mäntel mit den Bajonetten und Geschützen herangerückt kamen.

»O je! Jetzt geht’s den Husaren schlecht!« sagte Neswizkij. »Sie sind kaum noch einen Kartätschenschuß voneinander entfernt.«

»War ganz unnötig, daß er so viele Leute dahinunter geführt hat«, sagte der Offizier à la suite.

»Tatsächlich!« erwiderte Neswizkij. »Er hätte nur zwei tüchtige Kerls hinzuschicken brauchen, das hätte genügt.«

»Ach, Durchlaucht«, mischte sich, ohne einen Blick von den Husaren zu verwenden, in seiner naiven Manier, aus der man nie erraten konnte, ob das, was er sagte, ernst gemeint war oder nicht, Scherkow ins Gespräch, »ach, Durchlaucht! Wie können Sie nur so etwas sagen! Wenn er nur zwei Leute hingeschickt hätte, wer sollte ihm dann den Wladimirorden am Bande dafür geben? So aber, wenn auch immer ein paar Mann dabei niedergeschossen werden, kann er doch wenigstens lobend auf seine Schwadron hinweisen und bekommt dann selber ein Bändchen dafür. Ja, unser Bogdanytsch kennt sich darin schon aus!«

»Da«, sagte der Offizier à la suite, »da sind die Kartätschen.«

Er zeigte auf die französische Artillerie, die ihre Geschütze von den Protzen abhängte und dann wieder zurückfuhr.

Auf der Seite der Franzosen, dort aus jenen Gruppen, wo die Geschütze standen, stieg eine Rauchwolke auf. Dann eine zweite, eine dritte, alle fast zur gleichen Zeit, und im selben Augenblick, als der Donner des ersten Schusses herüberschallte, stieg eine vierte Rauchwolke auf. Darauf ertönten wieder zwei Knalle, kurz hintereinander, und dann ein dritter.

»Ach, ach!« stöhnte Neswizkij, als ob ihn ein brennender Schmerz quälte, und faßte den Offizier à la suite bei der Hand, »sehen Sie, einer ist gefallen, ist gefallen, gefallen.«

»Zwei, scheint es?«

»Wenn ich Kaiser wäre, ich würde nie Krieg führen«, fuhr Neswizkij, sich abwendend, fort.

Die französischen Geschütze wurden schnell wieder geladen. Französische Infanterie in blauen Mänteln eilte im Laufschritt zur Brücke. Wieder erschienen Rauchwölkchen, diesmal aber in verschiedenen Abständen. Kartätschen prasselten und krachten auf die Brücke. Doch Neswizkij konnte jetzt nicht sehen, was dort vor sich ging. Eine dichte Rauchsäule stieg von jener Stelle auf. Es war den Husaren noch rechtzeitig gelungen, die Brücke in Brand zu stecken, und die französischen Batterien schossen nicht mehr mit der Absicht, sie daran zu hindern, sondern nur, weil die Geschütze nun einmal gerichtet waren und ja auch Feinde da waren, auf die man schießen konnte.

Die Franzosen konnten noch drei Schüsse abgeben, bevor die Husaren zu ihren Pferden zurückkehrten. Zwei Salven waren schlecht gezielt, und die ganze Kartätschenladung über sie hinweggeflogen, dafür traf aber der dritte und letzte Schuß mitten in das Häuflein Husaren hinein und streckte drei Mann zu Boden.

Rostow, der mit seinen Beziehungen zu Bogdanytsch ganz beschäftigt war, war auf der Brücke stehen geblieben und wußte nicht, was er anfangen sollte. Zum Drauflosschlagen – denn so hatte er sich eine Schlacht immer vorgestellt – war keiner da, und beim Anstecken der Brücke konnte er auch nicht mithelfen, da er keinen Strohbrand mitgebracht hatte wie die anderen Soldaten. Er stand da und sah sich um. Da plötzlich prasselte etwas auf die Brücke, wie wenn Nüsse ausgeschüttet würden, und einer der Husaren, der ihm am nächsten gestanden hatte, sank mit lautem Stöhnen auf das Geländer. Rostow lief mit ein paar anderen zu ihm hin. Wieder schrie jemand: »Tragbahren!« Vier Mann packten den Husaren und hoben ihn auf.

»Oh-oh-oh-oh! Laßt mich liegen, um Christi willen!« schrie der Verwundete; aber sie hoben ihn dennoch auf und legten ihn auf die Tragbahre.

Nikolaj Rostow wandte sich ab und blickte, als suche er irgend etwas, in die Ferne, auf das Wasser der Donau, nach dem Himmel, nach der Sonne. Wie schön war der Himmel, wie blau, wie ruhig, wie tief! … Wie hell und feierlich die untergehende Sonne! Wie freundlich-glänzend schimmerte das Wasser der Donau in der Ferne. Und noch schöner waren die blauen Berge hinter der Donau, das Kloster, die geheimnisvollen Schluchten und die Wipfel der Fichtenwälder, die vom Nebel umhüllt waren, … dort war es still, dort war das Glück … Nichts, nichts würde ich mir wünschen, nichts, als nur dort zu sein, dachte Rostow. In mir selbst und in dieser Sonne ist so viel Glück, hier aber ist nur Stöhnen, Leid, Angst, Ungewißheit, Hast … Da … schon wieder ein Schrei, und wieder laufen alle irgendwohin zurück und ich laufe mit ihnen: und da ist er, der Tod, über mir, um mich … Noch einen Augenblick – und ich sehe vielleicht diese Sonne, dieses Wasser und diese Schluchten nie wieder.

In diesem Augenblick verschwand die Sonne hinter den Wolken. Rostow sah noch andere Tragbahren. Und alles, die Todesfurcht, die Tragbahren, die Liebe zur Sonne und zum Leben – alles das verschmolz in ihm zu einem schmerzlich beklemmenden Gefühl.

»Herr Gott, der du im Himmel bist, errette mich, vergib mir und beschütze mich«, flüsterte Rostow vor sich hin.

Die Husaren waren zu ihren Pferden zurückgekommen, die Stimmen wurden lauter und ruhiger, die Tragbahren verschwanden aus den Augen.

»Na, mein Lieber, hast du nun Pulver gerochen?« schrie Waska Denissows Stimme Rostow ins Ohr.

Es ist vorüber … ich aber bin ein Feigling, ja ein Feigling, dachte Rostow und nahm, schwer Atem holend, aus den Händen des Pferdeburschen seinen »Raben« entgegen, der das eine Bein etwas seitwärts hielt, und stieg auf.

»Was war denn das, Kartätschen?« fragte er Denissow.

»Ja, und was für welche!« schrie Denissow. »Unsere Kerls haben ihre Sache famos gemacht! Aber das ist eine scheußliche Arbeit! Eine Attacke, ja das ist eine Sache, die Spaß macht, da kann man drauflos hauen! Hier aber … weiß der Teufel, was das ist. Die schossen ja nach uns wie nach einer Scheibe!«

Denissow ritt zu der nicht weit von Rostow haltenden Gruppe hin, wo der Regimentskommandeur mit Neswizkij, Scherkow und dem Offizier à la suite sprach.

Niemand scheint etwas bemerkt zu haben, dachte Rostow. Und wirklich hatte ihm niemand etwas angemerkt, weil ein jeder das Gefühl kannte, das ein Junker, der noch nicht im Feuer gewesen ist, durchmachen muß.

»Das wird aber ein Bericht werden!« sagte Scherkow. »Passen Sie mal auf, ich werde zum Leutnant befördert.«

»Melden Sie dem Fürsten, daß ich die Brücke in Brand gesteckt habe«, sagte der Oberst in feierlicher Freude.

»Und wenn man nach den Verlusten fragt?«

»Nicht der Rede wert!« erwiderte der Oberst mit tiefster Baßstimme, »zwei Husaren sind verwundet und einer hat ins Gras gebissen!« sagte er mit sichtlicher Freude, wobei er ein glückliches Lächeln nicht unterdrücken konnte, als er die schöne Wendung »einer hat ins Gras gebissen« mit klangvoller Stimme aussprach.

9

Verfolgt von einer hunderttausend Mann starken Armee unter Bonapartes Oberbefehl, unfreundlich aufgenommen von einer feindlich gesinnten Bevölkerung, ohne Vertrauen auf ihre Bundesgenossen, ungenügend verproviantiert und gezwungen, unter Bedingungen zu kämpfen, die niemand vorausgesehen hatte, zog sich die russische Armee mit ihren fünfunddreißigtausend Mann unter Kutusows Oberkommando eilig donauabwärts zurück. Kutusow machte nur halt, wenn der Feind ihn einholte, und verteidigte sich in Nachhutgefechten nur, soweit dies notwendig war, um sich ohne Verlust der Bagage zurückziehen zu können. Es fanden Gefechte bei Lambach, Amstetten und Melk statt. Aber trotz der Tapferkeit und Standhaftigkeit, mit der, wie selbst der Feind anerkannte, die Russen kämpften, war die Folge dieser Gefechte ein nur noch schnellerer Rückzug. Die österreichischen Truppen, der Gefangennahme bei Ulm entgangen, hatten sich bei Braunau mit Kutusow vereinigt, trennten sich aber jetzt wieder von der russischen Armee, und Kutusow war nun auf seine eigenen schwachen und erschöpften Streitkräfte angewiesen. Man konnte gar nicht mehr daran denken, Wien zu verteidigen. Statt eines nach allen Gesetzen der neuen strategischen Wissenschaft tief durchdachten Vormarschkrieges – ein Plan, den Kutusow während seines Wiener Aufenthaltes vom österreichischen Hofkriegsrat erhalten hatte – bestand jetzt Kutusows einziges, fast unerreichbares Ziel nur darin, seine Armee nicht, wie die Macks bei Ulm, vernichten zu lassen, sondern sich mit den aus Rußland angekommenen neuen Streitkräften zu vereinigen.

Am 28. Oktober setzte Kutusow mit seiner Armee auf das linke Ufer der Donau über und machte hier zum ersten Male halt, da ihn der Fluß von den Hauptstreitkräften der Franzosen trennte. Am 30. Oktober griff er die auf dem linken Ufer der Donau stehende Division Mortier an und schlug sie. In diesem Gefecht wurden zum erstenmal Trophäen erbeutet: eine Fahne und mehrere Geschütze, außerdem wurden zwei feindliche Generäle gefangengenommen. Nach einem Rückzug von vierzehn Tagen hatten die russischen Truppen zum erstenmal haltgemacht und nicht nur das Schlachtfeld behauptet, sondern sogar die Franzosen in die Flucht geschlagen. Obgleich die Truppen zerlumpt, erschöpft und durch den Verlust an Zurückgebliebenen, Verwundeten, Toten und Kranken auf ein Drittel zusammengeschmolzen waren; obwohl Kranke und Verwundete mit einem Brief Kutusows, der sie der Menschenliebe des Feindes anempfahl, auf der anderen Seite der Donau zurückgelassen werden mußten; wenngleich auch die großen Krankenhäuser und Privatgebäude in Krems, die in Lazarette umgewandelt waren, alle die Kranken und Verwundeten schon nicht mehr zu fassen vermochten – trotz alledem hob dieses Haltmachen bei Krems und der Sieg über Mortier die Stimmung der Truppen doch ganz beträchtlich. In der ganzen Armee wie auch im Hauptquartier waren äußerst freudige, wenn auch falsche Gerüchte im Umlauf, über ein angebliches Heranmarschieren russischer Heereskolonnen, über irgendeinen Sieg, den die Österreicher errungen haben sollten, und über den Rückzug des erschrockenen Bonaparte.

Fürst Andrej befand sich während dieser Schlacht bei Krems an der Seite des österreichischen Generals Schmidt, der in diesem Gefecht fiel. Fürst Andrejs Pferd wurde verwundet, und er selbst erhielt einen leichten Streifschuß an der Hand. Zum Zeichen ganz besonderer Gnade wurde er darauf vom Oberkommandierenden mit der Nachricht von diesem Sieg an den österreichischen Hof geschickt, der sich schon nicht mehr in Wien, das ja von französischen Truppen bedroht wurde, sondern in Brünn befand.

Als Fürst Andrej am Abend nach der Schlacht, erregt, aber nicht ermüdet – trotz seiner äußerlich nicht sehr stark scheinenden Konstitution konnte Fürst Andrej physische Strapazen weit besser ertragen als die stärksten Leute –, mit dem Bericht Dochturows nach Krems zu Kutusow geritten kam, wurde er noch in derselben Nacht als Kurier nach Brünn abgeschickt. Als Kurier abgesandt zu werden, versprach neben einer augenblicklichen Auszeichnung auch noch eine weitere Beförderung.

Es war eine dunkle, aber sternklare Nacht. Schwarz zog sich der Weg durch den weißen Schnee, der am Abend vorher, am Tage der Schlacht, gefallen war. Während Fürst Andrej in seiner Postkutsche dahinjagte, überdachte er bald die verschiedenen Eindrücke der Schlacht, die nun vorüber war, bald malte er sich freudig aus, welchen Eindruck die Siegesnachricht hervorbringen werde, indem er sich daran erinnerte, wie freudig ihn der Oberkommandierende und seine Kameraden beim Überbringen dieser Nachricht empfangen hatten. Er befand sich in dem Seelenzustand eines Menschen, der lange und sehnsüchtig auf ein Glück gewartet und es endlich errungen hat. Sobald er die Augen schloß, hörte er wieder das Knattern der Gewehre und Geschütze, das sich mit dem Räderrollen und der Vorstellung des Sieges verschmolz. Dann wieder bemächtigte sich seiner der Wahn, die Russen seien auf der Flucht und er selbst getötet, aber er erwachte sogleich wieder und erlebte nun mit einem Glücksgefühl gewissermaßen von neuem, daß nichts dergleichen geschehen war, sondern daß im Gegenteil er lebte und die Franzosen flohen. Wieder fielen ihm alle Einzelheiten des Sieges ein, seine besonnene Tapferkeit während der Schlacht, und beruhigt schlummerte er von neuem ein.

Auf die dunkle, sternklare Nacht folgte ein heller, heiterer Morgen. Der Schnee fing in der Sonne zu tauen an, die Pferde sprengten schnell dahin, und gleichförmig zogen rechts und links immer neue mannigfaltige Wälder, Felder und Dörfer vorbei. Auf einer der Stationen überholte Fürst Andrej eine Reihe von Wagen mit russischen Verwundeten. Der Offizier, der den Transport führte, hatte sich auf dem vordersten Wagen lang ausgestreckt und schrie einen Soldaten mit groben Schimpfworten an. In den langen, deutschen Wagen, die auf dem steinigen Wege holpernd aufstießen, lagen meist sechs oder auch noch mehr bleiche, verbundene, schmutzige, verwundete Soldaten. Einige von ihnen unterhielten sich – Fürst Andrej hörte die russischen Worte –, während andere ihr Brot aßen. Die Schwerverwundeten blickten mit sanfter und schmerzlicher Miene und kindlichem Interesse schweigend dem an ihnen vorbeijagenden Kurier nach.

Fürst Andrej ließ seinen Wagen halten und fragte einen der Soldaten, wann und in welchem Gefecht sie verwundet worden seien.

»Vorgestern, an der Donau«, antwortete der Soldat. Fürst Andrej zog seine Geldbörse hervor und gab dem Soldaten drei Goldstücke.

»Für alle«, fügte er, an den herantretenden Offizier gewandt, hinzu. »Laßt euch nur bald auskurieren«, wandte er sich wieder an die Soldaten, »es wird noch viele Gefechte geben.«

»Nun, Herr Adjutant, was gibt es Neues?« fragte der Offizier, der sich anscheinend gern unterhalten wollte.

»Nur Gutes! Vorwärts!« rief er dem Postillion zu und jagte weiter.

Es war schon ganz dunkel, als Fürst Andrej in Brünn einfuhr. Er sah sich plötzlich von hohen Häusern, von dem Lichtschein der Läden, Fenster und Laternen und von schönen Equipagen umgeben, die über das Pflaster rasselten, und die Atmosphäre einer großen, belebten Stadt umfing ihn, die nach dem Lagerleben auf einen Krieger immer eine so große Anziehungskraft ausübt. Trotz der eiligen Fahrt und der schlaflosen Nacht ließ sich Fürst Andrej sogleich zum Schlosse fahren, denn er fühlte sich jetzt frischer als am Abend vorher. Seine Augen leuchteten in einem fieberhaften Glanz, und die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, lösten einander schnell und klar ab. Lebhaft stellte er sich alle Einzelheiten der Schlacht immer wieder vor, aber nicht mehr verschwommen wie erst, sondern in ganz deutlicher Form, in kurzer, knapper Darstellung, wie er sie dem Kaiser Franz vortragen wollte. Schnell überdachte er alle Fragen, die man zufällig an ihn richten könne, und alle Antworten, die er darauf geben müsse. Er vermutete, daß man ihn sofort dem Kaiser vorstellen werde. Aber an der großen Einfahrt des Palastes kam ein Beamter auf ihn zu und geleitete ihn, als er in ihm einen Kurier erkannte, zu einem anderen Portal.

»Vom Korridor nach rechts; dort werden Euer Hochwohlgeboren den diensttuenden Flügeladjutanten finden«, sagte der Beamte zu ihm, »der wird Sie zum Kriegsminister führen.«

Der diensttuende Flügeladjutant, der den Fürsten empfing, bat, einen Augenblick zu warten, und ging zum Kriegsminister hinein. Nach fünf Minuten kam er wieder, verbeugte sich besonders höflich und ließ Fürst Andrej vorausgehen. Er führte ihn durch den Korridor in ein Zimmer, wo der Kriegsminister arbeitete. Es schien fast, als wolle sich der Flügeladjutant durch seine ausgesuchte Höflichkeit gegen etwaige Versuche unliebsamer Familiarität von Seiten des russischen Abgesandten schützen.

Die freudige Stimmung des Fürsten Andrej verlor sich immer mehr, je näher er der Tür des Ministerzimmers kam. Er fühlte sich gekränkt, und dieses Gefühl der Kränkung ging im gleichen Augenblick, ohne daß er es selber merkte, in ein Gefühl grundloser Verachtung über. Doch sein findiger Verstand ließ ihn augenblicklich den Standpunkt erkennen, von dem aus er ein Recht hatte, sowohl den Adjutanten wie den Kriegsminister zu verachten: Denen muß das natürlich sehr leicht erscheinen, Siege zu erringen, da sie noch niemals Pulver gerochen haben, dachte er und kniff seine Augen verächtlich zusammen. Absichtlich langsam trat er in das Arbeitszimmer des Kriegsministers ein. Seine Verstimmung verstärkte sich noch, als er den Kriegsminister erblickte, der vor einem großen Tisch saß und in den ersten zwei Minuten den Eintretenden überhaupt nicht beachtete. Der Kriegsminister hatte seinen kahlen, an den Schläfen schon ergrauten Kopf zwischen zwei Wachskerzen niedergebeugt und las einige Schriftstücke durch, wobei er sich mit Bleistift Notizen machte. Als sich die Tür öffnete und Schritte hörbar wurden, las er, ohne den Kopf zu heben, erst ruhig zu Ende.

»Nehmen Sie das, und geben Sie es weiter«, sagte er zu seinem Adjutanten und gab diesem die Schriftstücke; auch jetzt noch schenkte er dem Kurier keine Beachtung.

Entweder interessiert die Tätigkeit der Kutusowschen Armee den Kriegsminister weniger als all die andern Dinge, die ihn beschäftigen, oder er will es den russischen Kurier wenigstens fühlen lassen, dachte Fürst Andrej. Aber mir kann das ja ganz gleichgültig sein.

Endlich schob der Kriegsminister die übrigen Schriftstücke zurück, legte sie Rand auf Rand zusammen und blickte dann auf. Er hatte einen klugen Charakterkopf. Doch in dem Augenblick, als er sich an Fürst Andrej wandte, veränderte sich plötzlich der kluge und charakterfeste Ausdruck seines Gesichtes, und zwar anscheinend gewohnheitsmäßig und absichtlich: ein dummes, erheucheltes Lächeln blieb auf seinem Gesicht zurück, das seine Unechtheit gar nicht zu verbergen suchte, ein Lächeln, wie es einem Menschen eigen ist, der täglich viele Bittsteller hintereinander zu empfangen hat.

»Von Generalfeldmarschall Kutusow?« fragte er. »Hoffentlich gute Nachrichten? Ein Zusammenstoß mit Mortier hat stattgefunden? Ein Sieg? Na, es ist auch Zeit.«

Er nahm die Depesche, die an ihn gerichtet war, und las sie mir wehmütiger Miene.

»Ach mein Gott, ach mein Gott! Schmidt!« sagte er auf deutsch. »So ein Unglück! So ein Unglück!«

Nachdem er die Depesche durchflogen hatte, legte er sie auf den Tisch, sah den Fürsten Andrej an und überlegte sich anscheinend etwas.

»Ach, welch ein Unglück! Ein entscheidendes Treffen, sagen Sie? Monier ist aber doch nicht gefangengenommen.« Er dachte nach. »Ich freue mich, daß Sie gute Nachrichten gebracht haben, wenn auch der Sieg mit dem Tode Schmidts teuer bezahlt ist. Seine Majestät wird Sie wahrscheinlich zu sehen wünschen, heute jedoch nicht mehr. Ich danke Ihnen, gehen Sie, ruhen Sie sich aus. Kommen Sie morgen nach der Parade zum Empfang. Übrigens werde ich Ihnen noch Nachricht zukommen lassen.«

Das einfältige Lächeln, das während der Unterhaltung verschwunden war, stellte sich wieder auf dem Gesicht des Kriegsministers ein.

»Auf Wiedersehen. Ich danke Ihnen sehr. Seine Majestät der Kaiser wird Sie wahrscheinlich zu sehen wünschen«, wiederholte er und verneigte sich.

Als Fürst Andrej den Palast verließ, hatte er das Gefühl, als habe er das ganze Interesse und das ganze Glück, das dieser Sieg in ihm erweckt hatte, nun in die Hände dieser gleichgültigen Leute, in die Hände dieses Kriegsministers und seines höflichen Adjutanten gelegt. Seine ganze Denkweise hatte sich plötzlich verändert: die Schlacht kam ihm jetzt wie etwas längst Vergangenes und wie eine ferne Erinnerung vor.

10

Fürst Andrej stieg in Brünn bei seinem Bekannten, dem russischen Diplomaten Bilibin, ab.

»Ah, mein lieber Fürst, ein angenehmerer Gast konnte gar nicht kommen«, rief Bilibin, als er Fürst Andrej entgegenkam. »Franz, tragen Sie die Sachen des Fürsten in mein Schlafzimmer!« wandte er sich an den Diener, der Bolkonskij geleitete. »Was? Als Siegesbote? Herrlich! Und ich sitze hier und bin krank, wie Sie sehen.«

Nachdem sich Fürst Andrej gewaschen und umgekleidet hatte, ging er in das prunkvoll ausgestattete Arbeitszimmer des Diplomaten und setzte sich zu dem für ihn bereiteten Empfangsessen hin. Bilibin ließ sich in aller Ruhe am Kamin nieder.

Fürst Andrej, der nicht nur während seiner Reise, sondern schon den ganzen Feldzug hindurch jegliche Bequemlichkeiten des Lebens, Reinlichkeit und Behaglichkeit hatte entbehren müssen, empfand jetzt ein angenehmes Gefühl der Befriedigung inmitten dieser prunkvollen Lebenseinrichtungen, an die er von Kindheit an gewöhnt war. Außerdem war es ihm angenehm, nach diesem Empfang beim österreichischen Hofe, wenn auch nicht russisch zu sprechen – man unterhielt sich ja französisch –, so doch wenigstens mit einem Russen reden zu können, der, wie er annahm, die allgemeine und jetzt besonders lebhaft empfundene Abneigung der Russen gegen die Österreicher teilte.

Bilibin war ein Mann von fünfunddreißig Jahren, Junggeselle, und gehörte denselben Gesellschaftskreisen an wie Fürst Andrej. Sie waren schon in Petersburg bekannt gewesen, hatten einander aber bei dem letzten Aufenthalt des Fürsten Andrej mit Kutusow in Wien noch näher kennengelernt.

War Fürst Andrej ein junger Mann, der beim Militär eine glänzende Karriere zu machen versprach, so konnte man von Bilibin in der Diplomatie fast noch mehr erwarten. Er war zwar noch ein junger Mensch, aber kein junger Diplomat mehr, da er bereits mit sechzehn Jahren in den Dienst getreten war. Er hatte in Paris und in Kopenhagen Hervorragendes geleistet und nahm jetzt in Wien eine ziemlich bedeutende Stellung ein. Der Kanzler und der russische Gesandte in Wien kannten ihn gut und schätzten ihn. Er war nicht einer aus der großen Zahl derjenigen Diplomaten, die, um gute Diplomaten zu sein, nur negative Eigenschaften zu haben, gewisse Dinge nicht zu tun und nur Französisch zu können brauchen, sondern einer von jenen, die ihre Arbeit verstehen und lieben. Trotz seiner Trägheit verbrachte er manche Nacht am Schreibtisch. Er arbeitete gleichmäßig gut, von welcher Art auch immer seine Arbeit sein mochte. Ihn interessierte nicht das Wozu, sondern das Wie. Es war ihm gleichgültig, worin seine diplomatische Arbeit bestand, aber ein Zirkular, ein Memorandum oder einen Bericht kunstvoll, genau und elegant abzufassen, darin fand er ein großes Vergnügen. Abgesehen von diesen schriftlichen Arbeiten schätzte man an Bilibin auch noch seine Kunst, sich in den höchsten Kreisen zu bewegen und mit den höchsten Persönlichkeiten zu verhandeln.

Gespräche liebte Bilibin, ebenso wie seine Arbeit, nur dann, wenn sie elegant und geistreich waren. In Gesellschaft wartete er immer nur auf eine Gelegenheit, irgend etwas Bemerkenswertes sagen zu können, und griff nur in solchen Fällen in das Gespräch ein. Die Rede Bilibins war ständig gespickt mit originell-geistreichen, formvollendeten Aussprüchen, die stets von allgemeinem Interesse waren. Diese Aussprüche stellte Bilibin im Laboratorium seines Geistes sorgfältig her und hielt sie absichtlich so, daß auch wenig begabte Menschen der Gesellschaft sie bequem behalten und leicht von einem Salon in den anderen tragen konnten. Und wirklich, les mots de Bilibine se colportaient dans les salons de Vienne, und hatten häufig auch Einfluß auf sogenannte wichtige Dinge.

Bilibins mageres, ausgemergeltes, gelbliches Gesicht war ganz von tiefen Falten durchfurcht, die stets so sauber und sorgfältig gewaschen aussahen wie die Fingerspitzen nach einem Bade. Die Bewegungen dieser Falten bildeten sein Mienenspiel. Bald runzelte sich seine Stirn, und die Augenbrauen zogen sich hoch, bald senkten sie sich wieder herab, und dann bildeten sich große Furchen auf den Backen. Seine tiefliegenden kleinen Augen blickten immer heiter und geradeaus.

»Also nun berichten Sie mal von Ihren Heldentaten!« fing er an.

Bolkonskij erzählte in bescheidener Weise, ohne sich selbst dabei zu erwähnen, von dem Gefecht und dem Empfang beim Kriegsminister.

»Ils m’ont reçu avec ma nouvelle comme un chien dans les quilles«, schloß er seinen Bericht.

Bilibin lächelte, und seine Hautfalten glätteten sich.

»Cependant, mon cher«, sagte er und betrachtete dabei von weitem seine Fingernägel, während er die Haut über dem linken Auge hochzog, »malgré la haute estime que je professe für das rechtgläubige russische Heer, j’avoue que votre victoire n’est pas des plus victorieuses.«

Er redete weiter französisch wie vorhin und sprach nur dann russisch, wenn er einem Wort einen verächtlichen Sinn geben wollte.

»Wie? Ihr stürzt euch mit eurer ganzen Masse auf den unglücklichen Monier, der nur eine Division unter sich hat, und dieser Monier entgleitet dann noch euren Händen? Das soll ein Sieg sein?«

»Na, Spaß beiseite«, erwiderte Fürst Andrej, »wir können immerhin ohne Prahlerei behaupten, daß dies doch ein wenig besser gewesen ist als Ulm …«

»Warum habt ihr uns nicht wenigstens einen, nur einen einzigen Marschall gefangengenommen?«

»Weil nicht immer alles so kommt, wie man will, und sich eine Schlacht niemals so programmmäßig abwickelt wie eine Parade. Wie ich Ihnen schon sagte, glaubten wir, dem Feind um sieben Uhr morgens in den Rücken fallen zu können, und um fünf Uhr abends waren wir dann noch nicht einmal soweit.«

»Ja, warum seid ihr denn nicht um sieben Uhr morgens hingekommen? Ihr hättet eben um sieben Uhr morgens hinkommen müssen«, sagte Bilibin lächelnd, »Ihr hättet um sieben Uhr morgens ankommen müssen.«

»Warum haben Sie nicht Bonaparte auf diplomatischem Wege beigebracht, daß es für ihn besser sei, Genua aufzugeben?« fragte Fürst Andrej in dem gleichen Ton.

»Ich weiß«, fiel ihm Bilibin ins Wort, »Sie denken, es ist leicht, Marschälle gefangen zu nehmen, wenn man neben dem Ofen auf dem Sofa sitzt. Das ist schon richtig … aber immerhin, warum habt ihr ihn nicht gefangengenommen? Deshalb wundern Sie sich nicht, wenn nicht nur der Kriegsminister, sondern auch Seine Majestät Kaiser und König Franz über Ihren Sieg nicht sehr beglückt sein wird. Ja, auch ich, der unglückliche Sekretär der russischen Gesandtschaft, fühle kein Bedürfnis, meinem Franz zum Zeichen der Freude einen Taler zu geben, damit er mit seinem Liebchen in den Prater gehen kann … Ach so, hier gibt es ja gar keinen Prater.«

Er blickte dem Fürsten Andrej gerade in die Augen, und seine zusammengezogene Stirn glättete sich plötzlich.

»Jetzt bin ich an der Reihe, mein Lieber, einige Fragen zu stellen«, sagte Bolkonskij. »Ich muß gestehen, ich begreife das einfach nicht, aber vielleicht gehen diese diplomatischen Feinheiten über meinen schwachen Verstand. Aber das verstehe ich nicht: Mack verliert eine ganze Armee, der Erzherzog Ferdinand und der Erzherzog Karl geben kein Lebenszeichen von sich und machen Fehler auf Fehler. Schließlich ist es nur Kutusow, der einen wirklichen Sieg erringt und den Nimbus der Franzosen zerstört – und da interessiert sich der Kriegsminister nicht einmal so weit dafür, daß er Einzelheiten darüber erfahren möchte.«

»Eben deshalb, mein Lieber, voyez-vous, mon cher: Ein Hurra für den Zaren, für Rußland, für den Glauben. Tout ça est bel et bon, aber was gehen uns, das heißt, den österreichischen Hof, eure Siege an? Bringen Sie uns eine gute Nachricht von einem Sieg Erzherzog Karls oder Erzherzog Ferdinands – un archiduc vaut l’autre, wie Sie wissen – und wenn das auch nur ein Sieg über eine Feuerwehrabteilung Bonapartes wäre – dann ist das eine andere Sache, dann werden wir das mit Kanonenschüssen in die Welt hinausdonnern. Aber was Sie uns da bringen, kann uns nur ärgern, als wäre es in böser Absicht geschehen. Der Erzherzog Karl tut gar nichts. Der Erzherzog Ferdinand bedeckt sich auch nicht gerade mit Lorbeeren. Wien habt ihr aufgegeben und verteidigt es nicht mehr, comme si vous nous disiez: Gott helfe uns und euch und eurer Hauptstadt! Und gerade den General, den wir alle liebten, Schmidt, führt ihr in den Kugelregen, daß er fällt, und beglückwünscht uns dann zu diesem Sieg. Sie müssen selber zugeben, daß man eine aufreizendere Nachricht als die, welche Sie bringen, schon gar nicht ausdenken kann. C’est comme un fait exprès, comme un fait exprès. Und dann, wenn ihr auch wirklich einen glänzenden Sieg errungen hättet, oder meinetwegen sogar der Erzherzog Karl, was könnte das noch an dem allgemeinen Gang der Dinge ändern? Jetzt, wo Wien von französischen Truppen besetzt ist, kommt das doch alles zu spät.«

»Was? Wien ist besetzt, ist besetzt?«

»Nicht nur besetzt, sondern Bonaparte ist sogar in Schönbrunn eingezogen, und der Graf, unser lieber Wrbna, begibt sich zu ihm, um sich von ihm seine Befehle zu holen.«

Bolkonskij fühlte sich durch die Reiseeindrücke, den Empfang und besonders durch das Diner so ermüdet, daß er die ganze Tragweite dieser Nachricht, die er zwar hörte, nicht fassen konnte.

»Heute war Graf Lichtenfels hier«, fuhr Bilibin fort, »und zeigte mir einen Brief, in dem die Parade der französischen Truppen in Wien ausführlich beschrieben wird. Le prince Murat et tout le tremblement … Sie sehen also, daß Ihr Sieg gar nicht so besonders erfreulich ist und Sie deshalb nicht als Retter empfangen werden können.«

»Mir ist das wirklich vollkommen gleichgültig«, erwiderte Fürst Andrej, der zu verstehen begann, daß seine Nachricht von einer Schlacht bei Krems angesichts solcher Ereignisse, wie die Besetzung der österreichischen Hauptstadt, wirklich wenig Bedeutung haben konnte. »Wie ist das denn aber gekommen, daß Wien besetzt ist? Und die Brücke, der berühmte Brückenkopf und Fürst Auersperg? Bei uns lief das Gerücht um, daß Fürst Auersperg Wien verteidige.«

»Fürst Auersperg steht hier auf dieser Seite der Donau und verteidigt uns. Ich glaube allerdings, sehr schlecht, aber immerhin, er verteidigt uns doch. Wien aber liegt auf der anderen Seite der Donau. Nein, die Brücke ist noch nicht genommen, und ich hoffe, sie wird auch nicht genommen werden, da sie unterminiert ist, und man befohlen hat, sie zu sprengen. Andernfalls wären wir schon längst in den böhmischen Bergen, und Sie mit Ihrer Armee würden jetzt eine schlimme Viertelstunde zwischen zwei Feuern durchzukosten haben.«

»Das bedeutet aber noch nicht, daß der Feldzug zu Ende ist?« fragte Fürst Andrej.

»Ich denke doch, daß er zu Ende ist. Und das glauben diese großen Schlafmützen hier auch, wenn sie es auch nicht zu sagen wagen. Es wird schon so kommen, wie ich Ihnen zu Beginn des Feldzuges gesagt habe: nicht Ihre Schießereien bei Dürrenstein entscheiden die Sache und überhaupt nicht das Pulver, sondern die Leute, die es erfunden haben«, sagte Bilibin und wiederholte damit eines seiner Witzworte, wobei er die Stirne glatt zog und einen Augenblick innehielt. »Die Frage ist jetzt nur die: Was wird die Berliner Zusammenkunft Kaiser Alexanders mit dem König von Preußen bringen? Wenn Preußen in den Bund eintritt, on forcera la main a l’Autriche, und der Krieg geht weiter. Tritt es nicht ein, dann handelt es sich nur noch darum, zu verabreden, wo man die Präliminarien für ein neues Campo Formio[61] aufstellen soll.«

»Was für eine außerordentliche Genialität!« rief plötzlich Fürst Andrej, preßte seine kleine Hand zusammen und schlug damit auf den Tisch. »Und was dieser Mensch für ein Glück hat!«

»Buonaparte?« sagte Bilibin in fragendem Ton; er runzelte die Stirn und gab damit zu verstehen, daß sogleich ein »mot« folgen werde.

»Buonaparte?« wiederholte er und betonte dabei besonders das u, »ich glaube, jetzt, wo er Österreich von Schönbrunn aus die Gesetze diktiert, il faut lui faire grâce de l’u. Ich werde eine entscheidende Neuerung einführen und ihn von nun an einfach Bonaparte nennen.«

»Nein, Spaß beiseite«, sagte Fürst Andrej, »glauben Sie wirklich, daß der Feldzug zu Ende ist?«

»Passen Sie auf, was ich glaube: Österreich ist diesmal der Dumme gewesen, daran ist es nicht gewöhnt. Nun muß es die Zeche bezahlen. Es ist deshalb der Dumme gewesen, weil erstens seine Provinzen verwüstet sind – on dit: der Rechtgläubige est terrible pour le pillage – und zweitens die Armee vernichtet und die Hauptstadt eingenommen ist; und das alles nur pour les beaux yeux Seiner sardinischen Majestät[62]. Unter uns gesagt, mein Lieber, ich habe so eine dunkle Ahnung, daß man uns betrügt. Ich wittere geheime Beziehungen zwischen Österreich und Frankreich, Projekte für einen Frieden, einen himmlischen Frieden, einen Sonderfrieden.«

»Das kann doch nicht möglich sein!« rief Fürst Andrej aus, »das wäre ja zu niederträchtig!«

»Qui vivra, verra«, erwiderte Bilibin und zog die Stirn wieder glatt, zum Zeichen, daß er das Gespräch hierüber für beendet hielt.

Als Fürst Andrej in das für ihn hergerichtete Zimmer kam und sich dann in reiner Wäsche in die Daunenbetten und die angewärmten parfümierten Kissen legte, da hatte er das Gefühl, als läge die Schlacht, über die zu berichten er hergekommen war, in weiter, weiter Ferne hinter ihm. Das Bündnis mit Preußen, der Verrat Österreichs, der neue Triumph Napoleons und morgen die Cour, die Parade und der Empfang bei Kaiser Franz nahmen seine Gedanken ganz in Anspruch.

Er schloß die Augen, doch im selben Augenblick dröhnten ihm schon wieder die Kanonade, das Gewehrfeuer, das Rattern seines Reisewagens in den Ohren. Wieder kommen wie langgezogene Fäden die Musketiere vom Berge herab, die Franzosen schießen und er fühlt, wie sein Herz bebt. Mit Schmidt zusammen reitet er vorwärts, die Kugeln pfeifen lustig um ihn herum, und er empfindet ein Gefühl verzehnfachter Lebensfreude, wie er es seit seiner Kindheit noch nicht wieder empfunden hatte.

Er erwachte.

»Ja, dies alles ist geschehen …«, murmelte er und lächelte kindlich glücklich über sich selber. Dann schlief er den tiefen, festen Schlaf der Jugend.

11

Am anderen Morgen erwachte er erst spät. Als er sich die Eindrücke des vergangenen Tages wieder ins Gedächtnis zurückrief, fiel ihm vor allem ein, daß er sich ja heute dem Kaiser vorstellen sollte. Dann dachte er an den Kriegsminister, an den höflichen österreichischen Adjutanten, an Bilibin und an das Gespräch von gestern abend. Er legte für die Fahrt ins Schloß seine volle Paradeuniform an, die er schon lange nicht mehr getragen hatte, und trat dann frisch, lebhaft und hübsch anzusehen, mit seiner verbundenen Hand in Bilibins Arbeitszimmer.

Im Zimmer befanden sich gerade vier Herren vom diplomatischen Korps. Den einen von ihnen, den Fürsten Hippolyt Kuragin, der Sekretär bei der Botschaft war, kannte Bolkonskij bereits. Mit den anderen machte ihn Bilibin bekannt.

Diese Herren, die bei Bilibin weilten, lauter reiche, lebenslustige junge Leute aus der ersten Gesellschaft, bildeten auch hier wie in Wien einen besonderen Kreis, den Bilibin, das Haupt dieses Kreises, »die Unsrigen«, »les nôtres«, nannte. Dieser Kreis, der fast ausschließlich aus Diplomaten bestand, hatte anscheinend seine eigenen Interessen, die mit Krieg und Politik nichts zu tun hatten, Interessen, die die höchsten Gesellschaftssphären oder Beziehungen zu gewissen Damen oder die Bureauangelegenheiten ihres Dienstes betrafen. Diese Herren nahmen den Fürsten Andrej allem Anschein nach gern in ihren Kreis auf, eine Ehre, die sie sonst nur wenigen erwiesen. Aus Höflichkeit und um das Gespräch in Gang zu bringen, richteten sie zuerst einige Fragen über die Armee und über die Schlacht an ihn, dann aber ging die Unterhaltung in Geplauder und fröhliche Scherze über, die sich ungezwungen und lose aneinanderreihten.

»Es war einfach köstlich«, sagte einer, der von dem Mißerfolg eines Kollegen, eines Diplomaten, erzählte, »es war einfach köstlich, wie der Kanzler ihm noch ausdrücklich sagte, seine Versetzung nach London sei eine Beförderung, und er solle sie als eine solche betrachten. Sie können sich vorstellen, was der für ein Gesicht gemacht hat!«

»Aber was noch schlimmer ist, meine Herren, ich muß Kuragin vor Ihnen anklagen; da ist ein armer Mensch im Unglück, und dieser Don Juan, dieser fürchterliche Mensch, macht sich das zunutze.«

Fürst Hippolyt lag in einem Voltairesessel und hatte die Beine über die Lehne gelegt. Er lachte.

»Parlez-moi de ça«, sagte er.

»Oh, Sie Don Juan, Sie falsche Kreatur!« riefen die Herren von allen Seiten.

»Sie wissen nicht, Bolkonskij«, wandte sich Bilibin an den Fürsten Andrej, »daß alle Verheerungen der französischen Armee (beinahe hätte ich gesagt der russischen) nichts sind im Vergleich zu dem, was dieser Mensch hier unter den Frauen angerichtet hat.«

»La femme est la compagne de l’homme«, warf Fürst Hippolyt ein und betrachtete seine hochgezogenen Füße durch die Lorgnette.

Bilibin und die »Unsrigen« lachten laut auf, als sie Hippolyt ins Gesicht sahen, und Fürst Andrej merkte, daß dieser Hippolyt, auf den er, wie er sich eingestehen mußte, wegen seiner Frau beinahe eifersüchtig gewesen war, in dieser Gesellschaft die Zielscheibe des Witzes abgab.

»Nein, ich muß Ihnen Kuragin einmal vorführen, wenn er in seinem Fahrwasser ist«, sagte Bilibin leise zu Bolkonskij. »Er ist einfach kostbar, wenn er über Politik spricht. Diese Wichtigtuerei muß man gesehen haben.«

Er setzte sich neben Hippolyt, zog die Falten auf seiner Stirn zusammen und begann mit ihm ein Gespräch über Politik. Fürst Andrej und die anderen umringten die beiden.

»Le cabinet de Berlin ne peut pas exprimer un sentiment d’alliance«, begann Fürst Hippolyt und sah dabei alle vielsagend an, »sans exprimer … comme dans sa dernière note … vous comprenez … vous comprenez … et puis si Sa Majesté l’Empereur ne déroge pas au principe de notre alliance …«

»Attendez, je n’ai pas fini …« sagte er zu Fürst Andrej und faßte ihn am Arm, »je suppose que l’intervention sera plus forte que la nonintervention. Et …« er schwieg. »On ne pourra pas imputer à la fin de non-recevoir notre dépêche du 28 octobre. Voilà comment tout cela finira.«

Er ließ den Arm Bolkonskijs los und gab damit kund, daß er nun mit seiner Rede vollständig zu Ende sei.

»Demosthènes, je te reconnais au caillou[63] que tu as caché dans ta bouche d’or«, sagte Bilibin, dessen Haarschopf auf dem Kopf vor Vergnügen bebte.

Alle lachten, Hippolyt selber noch lauter als die anderen. Man sah, daß ihm beim Lachen alles weh tat und er kaum Atem holen konnte; aber trotzdem vermochte er dieses tolle Gelächter, das sein sonst so unbewegliches Gesicht ganz in die Länge zog, nicht zu unterdrücken.

»Nun passen Sie mal auf, meine Herren«, sagte Bilibin, »Bolkonskij ist als Gast hier in meinem Hause und auch als Gast in Brünn. Ich möchte ihn, soweit das in meinen Kräften steht, mit allen Genüssen, die das hiesige Leben bietet, traktieren. Wenn wir in Wien wären, dann wäre das nicht weiter schwer. Hier aber, dans ce vilain trou morave, ist das schon schwieriger, und ich muß Sie daher sehr bitten, mir zu helfen. Il faut lui faire les honneurs de Brunn. Sie übernehmen das Theater, ich das Gesellschaftsleben und Hippolyt natürlich die Frauen.«

»Man muß ihm Amélie zeigen, eine reizende Puppe!« sagte einer der »Unsrigen« und küßte dabei seine Fingerspitzen.

»Überhaupt müssen wir diesem blutdürstigen Kriegersmann wieder menschlichere Ansichten beibringen«, versetzte Bilibin.

»Ich werde wohl kaum von Ihrer Gastfreundschaft Gebrauch machen können, meine Herren. Aber jetzt ist es Zeit, daß ich wegfahre«, sagte Bolkonskij mit einem Blick auf seine Uhr.

»Wohin wollen Sie denn?«

»Zum Kaiser.«

»Oh – oh, oh!«

»Nun dann auf Wiedersehen, Bolkonskij. Auf Wiedersehen, Fürst. Kommen Sie recht pünktlich zum Mittagessen«, ertönte es von allen Seiten, »wir erwarten Sie.«

»Wenn Sie mit dem Kaiser reden, dann achten Sie nur recht darauf, die gute Ordnung der Proviantlieferungen und der Marschrouten möglichst lobend hervorzuheben«, sagte Bilibin, als er Bolkonskij ins Vorzimmer hinausbegleitete.

»Ich möchte ja gerne loben, aber ich kann es nicht, da ich die Verhältnisse zu genau kenne«, antwortete Bolkonskij lächelnd.

»Nun reden Sie nur überhaupt so viel wie möglich. Audienzen sind nämlich des Kaisers Leidenschaft; aber er selber redet nicht gern und versteht es auch nicht, wie Sie ja sehen werden.«

12

Bei der Cour sah Kaiser Franz dem Fürsten Andrej, der an dem ihm angewiesenen Platz zwischen österreichischen Offizieren stand, nur aufmerksam ins Gesicht und winkte ihm dann mit seinem langen Kopf zu. Und nach der Cour teilte derselbe Flügeladjutant wie gestern dem Fürsten Bolkonskij sehr höflich mit, daß der Kaiser ihm eine Audienz gewähren wolle.

Kaiser Franz empfing ihn mitten im Zimmer stehend. Bevor das Gespräch begann, fiel es dem Fürsten Andrej auf, daß der Kaiser gewissermaßen verlegen war, rot wurde und nicht wußte, was er sagen sollte.

»Sagen Sie, wann hat die Schlacht begonnen?« fragte er dann schnell.

Fürst Andrej antwortete.

Auf diese Frage folgten noch andere, die ebenso einfach waren: ob Kutusow gesund sei? Wie lange er von Krems aus gefahren sei und so weiter. Der Kaiser sprach in einem Ton, als bestünde seine ganze Absicht nur darin, eine gewisse Anzahl von Fragen zu stellen. Die Antworten aber auf diese Fragen – das war ganz unverkennbar – interessierten ihn nicht im geringsten.

»Um wieviel Uhr begann die Schlacht?« fragte der Kaiser.

»Ich kann Euer Majestät nicht genau sagen, um wieviel Uhr die Schlacht in der Front begonnen hat, aber in Dürrenstein, wo ich mich befand, begannen unsere Truppen den Angriff um sechs Uhr abends«, erwiderte Bolkonskij und wurde lebhafter, denn er nahm bei dieser Frage an, daß es ihm jetzt gelingen werde, die in seinem Kopf schon fertig ausgearbeitete wahrheitsgetreue Schilderung von alledem, was er wußte und gesehen hatte, dem Kaiser zu unterbreiten.

Doch Kaiser Franz lächelte und fiel ihm ins Wort.

»Wieviel Meilen sind das?«

»Von wo bis wo, Majestät?«

»Von Dürrenstein bis Krems.«

»Dreieinhalb Meilen, Majestät.«

»Haben die Franzosen das linke Ufer verlassen?«

»Wie die Kundschafter meldeten, sind die letzten in der Nacht auf Flößen übergesetzt.«

»Ist genügend Fourage in Krems?«

»Fourage ist nicht in der Menge geliefert worden wie …«

Der Kaiser fiel ihm ins Wort.

»Um wieviel Uhr fiel der General Schmidt?«

»Gegen sieben Uhr, glaube ich.«

»Gegen sieben Uhr. Sehr traurig! Sehr traurig!«

Dann sagte der Kaiser, er danke ihm, und verneigte sich. Fürst Andrej ging aus dem Zimmer und sah sich im selben Augenblick von Höflingen umringt. Von allen Seiten sahen ihn freundliche Augen an und klangen ihm freundliche Worte ins Ohr. Der Flügeladjutant von gestern machte ihm Vorwürfe, warum er nicht im Schlosse abgestiegen sei, und stellte ihm sein Haus zur Verfügung. Der Kriegsminister trat an ihn heran und gratulierte ihm zum Maria-Theresien-Orden dritter Klasse, den der Kaiser ihm verliehen hatte. Ein Kammerherr der Kaiserin lud ihn zu Ihrer Majestät ein; auch die Erzherzogin wünschte ihn zu sehen. Er wußte nicht, wem er zuerst antworten sollte, und mußte sich erst einige Augenblicke sammeln. Der russische Gesandte faßte ihn am Arm, führte ihn zu einem Fenster und begann mit ihm zu sprechen.

Bilibins Behauptungen trafen nicht zu. Die Nachricht, die Fürst Andrej gebracht hatte, wurde sehr freudig aufgenommen. Ein Dankgottesdienst wurde angesetzt, Kutusow mit dem Großkreuz des Maria-Theresien-Ordens belohnt, und die ganze Armee erhielt Auszeichnungen. Bolkonskij bekam Einladungen über Einladungen und mußte den ganzen Morgen den Hauptwürdenträgern Österreichs Visiten abstatten.

Nachdem er gegen fünf Uhr nachmittags seine Besuche beendet hatte, fuhr er nach Hause zu Bilibin und faßte unterwegs in Gedanken einen Brief über die Schlacht und die Reise nach Brünn an seinen Vater ab.

Vor der Tür des Hauses, das Bilibin bewohnte, stand ein halbbepackter Reisewagen, und Franz, der Diener Bilibins, trat, mühsam einen Koffer schleppend, gerade aus der Tür.

Fürst Andrej war, ehe er zu Bilibin fuhr, noch in einer Buchhandlung gewesen, um sich für den Feldzug mit Büchern zu versehen, und hatte sich dort im Laden etwas länger aufgehalten.

»Was ist denn los?« fragte Bolkonskij.

»Ach, Durchlaucht«, erwiderte Franz und wälzte den Koffer mühsam auf den Wagen. »Wir ziehen noch weiter, der Bösewicht ist schon wieder hinter uns her.«

»Was sagst du? Was?« fragte Fürst Andrej.

Bilibin kam Bolkonskij entgegen. Auf seinem sonst immer ruhigen Gesicht prägte sich eine gewisse Erregung aus.

»Non, non, avouez que c’est charmant«, sagte er, »cette histoire du pont de Tabor« – eine Brücke in Wien –. »Ils l’ont passé sans coup férir.«

Fürst Andrej begriff von alledem nichts.

»Ja aber woher kommen Sie denn, daß Sie noch nicht wissen, was jeder Kutscher in der Stadt schon weiß?«

»Ich komme von der Erzherzogin. Dort habe ich nichts gehört.«

»Haben Sie denn nicht gesehen, daß überall gepackt wird?«

»Nein … Aber was ist denn eigentlich los?« fragte Fürst Andrej ungeduldig.

»Was los ist? Die Franzosen haben die Brücke, die Auersperg verteidigen sollte, überschritten, man hat sie nicht gesprengt, so daß Murat jetzt schon auf der Landstraße nach Brünn marschiert und heute oder morgen hier sein wird.«

»Hier sein wird? Aber warum hat man denn die Brücke nicht gesprengt, wenn sie doch unterminiert war?«

»Das frage ich Sie. Niemand weiß das, auch Bonaparte nicht.«

Bolkonskij zuckte die Achseln.

»Wenn die Brücke überschritten ist, dann ist auch die Armee vernichtet: sie wird abgeschnitten werden«, sagte er.

»Das ist es ja gerade, was man bezweckt hat«, erwiderte Bilibin. »Hören Sie bloß: Die Franzosen rücken also in Wien ein, wie ich Ihnen schon sagte. Alles sehr schön. Am andern Tag, also gestern, setzten sich die Marschälle Murat, Lannes und Belliard aufs Pferd und reiten zur Brücke hin. Beachten Sie wohl, alle drei sind Gaskogner[64]. ›Meine Herren‹, sagte der eine von ihnen, ›Sie wissen doch, daß die Taborbrücke unterminiert ist und daß am anderen Ende ein furchtbarer Brückenkopf steht mit fünfzehntausend Mann, die den Befehl haben, die Brücke zu sprengen und uns nicht durchzulassen. Unserm Kaiser Napoleon wäre es jedoch angenehm, wenn wir die Brücke hätten. Also wollen wir drei doch mal hinreiten und sie nehmen.‹ ›Gut, gut, reiten wir!‹ stimmen die andern bei; und so reiten sie zur Brücke, nehmen sie, marschieren darüber und gehen jetzt mit der ganzen Armee auf dieser Seite der Donau gegen uns vor, gegen uns und euch und eure Verbindungstruppen.«

»Lassen Sie doch die Scherze«, murmelte Fürst Andrej ernst und betrübt.

Diese Nachricht stimmte ihn traurig, aber gleichzeitig fühlte er dabei eine freudige Erregung.

Kaum hatte er gehört, daß sich die russische Armee in solch bedrängter Lage befand, da schoß ihm auch schon der Gedanke durch den Kopf, daß er dazu bestimmt sei, sie aus dieser Lage zu retten, daß dies für ihn das Toulon werden könne[65], das ihn aus den Reihen der unbekannten Offiziere emporheben und ihm den ersten Weg zum Ruhm eröffnen werde. Während er Bilibin zuhörte, stellte er sich schon in Gedanken vor, wie er zur Armee kommen, dort im Kriegsrat seine Meinung, die allein die Armee noch retten könne, abgeben werde, und wie er dann mit der Ausführung dieses Planes betraut werden würde.

»Lassen Sie doch die Scherze«, sagte er.

»Ich scherze durchaus nicht«, fuhr Bilibin fort, »nichts ist wahrer und trauriger als dies. Die Herren reiten also allein zur Brücke, schwenken weiße Tücher, versichern, daß Waffenstillstand sei und daß sie, die Marschälle, jetzt zum Fürsten Auersperg reiten müßten, um mit ihm die Verhandlungen zu beginnen. Der diensttuende Offizier läßt sie auf den Brückenkopf. Sie erzählen ihm tausend Gaskogner Schwindeleien vor, sagen, der Krieg sei zu Ende, Kaiser Franz habe eine Zusammenkunft mit Bonaparte anberaumt, und sie selber wünschten den Fürsten Auersperg zu sprechen, na, und was solcher Gaskonaden noch mehr waren. Der Offizier schickt zu Auersperg, um ihn holen zu lassen; die Franzosen umarmen die Offiziere, scherzen, setzen sich auf die Kanonen, und unterdessen rückt unbemerkt ein französisches Bataillon auf die Brücke, wirft die Säcke mit den Sprengstoffen ins Wasser und marschiert dann auf den Brückenkopf los. Endlich erscheint der Generalleutnant selbst, unser lieber Fürst Auersperg von Mautern.

›Liebwertester Feind! Du Blüte der österreichischen Armee! Du Held der Türkenkriege! Unsere Feindschaft ist zu Ende, wir können einander die Hand reichen. Kaiser Napoleon brennt vor Verlangen, den Fürsten Auersperg kennenzulernen.‹ Nun, kurz und gut, diese Herren, die nicht umsonst Gaskogner sind, wickeln Auersperg mit schönen Worten dermaßen ein, und er ist so entzückt von dieser so schnell hergestellten Intimität mit den französischen Marschällen, so geblendet von dem Anblick des Mantels und der Straußenfedern Murats, qu’il n’y voit que du feu, et oublie celui qu’il devait faire, faire sur l’ennemi.« Trotz der Lebhaftigkeit seiner Rede vergaß Bilibin nicht, nach diesem mot eine kleine Pause zu machen, um Fürst Andrej Zeit zu lassen, es gehörig zu würdigen. »Das französische Bataillon läuft auf den Brückenkopf, nagelt die Kanonen zu, und die Brücke ist genommen. Und dann, was noch besser ist«, fuhr er fort, und seine Erregung legte sich allmählich bei dem Genuß, den er an seiner eigenen Schilderung fand, »jener Sergeant, der an der Kanone aufgestellt war, auf deren Signalschuß die Minen angebrannt und die Brücke gesprengt werden sollte, dieser Sergeant wollte schon losschießen, als er die Franzosen auf die Brücke zulaufen sah, aber Lannes hielt ihn am Arm zurück. Der Sergeant, anscheinend klüger als sein General, geht zu Auersperg und sagt: ›Fürst, man betrügt Sie, da kommen die Franzosen.‹ Murat sieht das Spiel verloren, wenn er den Sergeanten weiterreden läßt. Mit heuchlerischer Verwunderung (ein echter Gaskogner!) wendet er sich an Auersperg: ›Aber ich kenne ja die von aller Welt so gerühmte österreichische Disziplin gar nicht wieder‹, sagt er, ›Sie lassen es zu, daß ein Untergebener so mit Ihnen spricht?‹ C’est génial! Le prince d’Auersperg se pique d’honneur et fait mettre le sergeant aux arrêts. Non, mais avouez que c’est charmant toute cette histoire du pont de Tabor. Ce n’est ni bêtise, ni lâcheté …«

»C’est trahison peut-être«, erwiderte Fürst Andrej und stellte sich dabei schon lebhaft graue Mäntel, Wunden, Pulverdampf, Gewehrgeknatter und den Ruhm vor, der ihn erwartete.

»Non plus. Cela met la cour dans de trop mauvais draps«, fuhr Bilibin fort. »Ce n’est ni trahison, ni lâcheté, ni bêtise; c’est comme à Ulm …« – er dachte anscheinend nach, um nach einem Ausdruck zu suchen – »… c’est … c’est du Mack. Nous sommes mackés«, schloß er und fühlte, daß er damit ein neues Wort geprägt hatte, ein Wort, das oft wiederholt werden würde.

Die Falten, die er bisher auf seiner Stirn zusammengezogen hatte, glätteten sich zum Zeichen seiner vergnügten Stimmung, und flüchtig lächelnd betrachtete er seine Fingernägel.

»Wohin gehen Sie?« fragte er plötzlich und wandte sich an Fürst Andrej, der aufgestanden war und sich in sein Zimmer begeben wollte.

»Ich reise ab.«

»Wohin denn?«

»Zur Armee.«

»Aber Sie wollten doch noch zwei Tage bleiben?«

»Jetzt muß ich sofort reisen.«

Fürst Andrej traf Anordnungen für seine Abreise und begab sich auf sein Zimmer.

»Wissen Sie was, mein Lieber«, sagte Bilibin, als er dann zu ihm ins Zimmer kam, »ich habe über Sie nachgedacht. Warum wollen Sie eigentlich abfahren?«

Und wie zum Beweise für die Unwiderlegbarkeit dessen, was er sagen wollte, zogen sich die Falten auf seiner Stirne glatt. Fürst Andrej sah sein Gegenüber fragend an und gab keine Antwort.

»Warum wollen Sie abreisen? Ich weiß, Sie halten es für Ihre Pflicht, jetzt zur Armee zu stoßen, weil sie in Gefahr ist. Ich verstehe das, mein Lieber, das ist Heroismus.«

»Durchaus nicht«, erwiderte Fürst Andrej.

»Aber Sie sind ein Philosoph, seien Sie es nun auch voll und ganz. Betrachten Sie die Dinge auch von der anderen Seite, und Sie werden sehen, daß es im Gegenteil Ihre Pflicht ist, sich zu erhalten. Überlassen Sie diesen Endkampf andern Leuten, die zu nichts weiter taugen … Es ist Ihnen nicht befohlen worden, zurückzureisen, und von hier sind Sie noch nicht entlassen. Also können Sie hier bleiben und mit uns fahren, wohin ein unglückliches Geschick uns führt. Es heißt, es gehe nach Olmütz. Olmütz ist eine sehr nette Stadt. Und wir beide können dann zusammen ganz friedlich in meiner Kalesche fahren.«

»Lassen Sie doch diese Scherze, Bilibin«, sagte Bolkonskij.

»Ich sage Ihnen das in aller Aufrichtigkeit und Freundschaft. Überlegen Sie sich’s. Wohin und wozu wollen Sie jetzt abfahren, wo Sie doch hier bleiben können? Zwei Möglichkeiten sind es nur, die Ihnen bevorstehen«, er zog die Haut über seiner linken Schläfe zusammen, »entweder kommen Sie gar nicht bis zur Armee hin, und der Friede wird schon vorher geschlossen, oder es kommt zur Schlacht, und Sie müssen die ganze Niederlage und Schmach der Kutusowschen Armee miterleben.«

Bilibin zog die Haut auseinander; er fühlte, daß sein Schluß, der nur zwischen diesen beiden Dingen die Wahl ließ, unwiderlegbar sei.

»Da gibt es nichts zu überlegen«, erwiderte Fürst Andrej kühl und dachte bei sich: Ich fahre ja deshalb, um die Armee zu retten.

»Mon cher, vous êtes un héros«, entgegnete Bilibin.

13

Nachdem sich Bolkonskij vom Kriegsminister verabschiedet hatte, fuhr er noch in derselben Nacht zur Armee. Er wußte selber nicht, wo er sie finden sollte, und fürchtete schon, auf dem Wege nach Krems von den Franzosen abgefangen zu werden.

In Brünn war der ganze Hof und alles, was dazugehörte, mit Packen beschäftigt. Das schwere Gepäck hatte man schon nach Olmütz abgeschickt. Bei Etzelsdorf kam Fürst Andrej auf die große Landstraße, wo sich die russische Armee mit größter Eile und Unordnung fortbewegte. Die Straße war so von Wagen versperrt, daß es unmöglich war, in einer Equipage weiterzufahren. Fürst Andrej ließ sich von einem Kosakenoffizier ein Pferd und einen Kosaken geben und ritt, die Wagen überholend, hungrig und müde weiter, um den Oberkommandierenden und seinen eigenen Wagen zu suchen. Unterwegs kamen ihm die schlimmsten Hiobsbotschaften über die Lage der Armee zu Ohren, und der Anblick dieser unordentlich dahineilenden Truppen bestätigte diese Gerüchte nur zu sehr.

»Cette armée russe, que l’or de l’Angleterre a transportée des extrémités de l’univers, nous allons lui faire éprouver le même sort (le sort de l’armée d’Ulm).« An diese Worte Bonapartes, die er bei Beginn des Feldzuges in einem Befehl an seine Armee gerichtet hatte, mußte Fürst Andrej jetzt unwillkürlich denken. Sie erweckten in ihm Bewunderung für den genialen Helden, gleichzeitig aber auch ein Gefühl beleidigten Stolzes und die Hoffnung, sich Ruhm zu erwerben.

Doch wenn mir nun nichts weiter übrigbleibt als zu sterben? dachte er. Auch das, wenn es sein muß! Ich werde es nicht schlechter machen als andere.

Mit Geringschätzung blickte Fürst Andrej auf diese endlosen Truppenmassen, die wirr durcheinander marschierten, auf diese Fuhrwerke, Munitionskolonnen, Artillerie und Wagen, Wagen und Wagen von allen möglichen Sorten, die einander überholten und drei, vier Reihen breit den schmutzigen Weg versperrten. Von allen Seiten, von vorn und von hinten, soweit das Ohr nur reichen konnte, hörte man Rädergerassel, das Schüttern der Wagen, Fuhrwerke und Lafetten, Pferdegetrappel, Peitschenschläge, Anfeuerungsrufe und Flüche von Soldaten, Burschen und Offizieren. Zu beiden Seiten des Weges sah man überall bald Pferdekadaver, die zum Teil schon abgehäutet waren, bald zerbrochene Wagen liegen, neben denen, auf irgend etwas wartend, vereinzelte Soldaten saßen, bald wieder Mannschaften, die von ihren Kompanien abgekommen waren und nun truppweise in die benachbarten Dörfer strömten oder aus den Ortschaften Hühner, Hammel, Heu oder gefüllte Säcke herausschleppten. Da, wo die Straße sich senkte oder anstieg, wurden diese Haufen dichter, und man hörte dort ein fortwährendes Schreien und Stöhnen. Soldaten, die bis zu den Knien im Schmutz versanken, packten die Wagen an, um sie weiterzuschieben, Peitschen knallten, Hufe glitten aus, Stränge rissen, und jeder schrie, was er schreien konnte. Die Offiziere, die den Marsch beaufsichtigten, ritten zwischen den Fuhrwerken hin und her. Ihre Stimmen waren inmitten dieses allgemeinen Getöses nur schwach zu hören, und ihren Gesichtern war anzusehen, daß sie an der Möglichkeit verzweifelten, dieser Unordnung Herr zu werden.

Das also ist unser liebes, rechtgläubiges Heer, dachte Bolkonskij und erinnerte sich an Bilibins Worte.

Er wollte irgendeinen von diesen Leuten fragen, wo sich der Oberkommandierende befinde, und ritt auf eine dieser Wagenkolonnen zu. Ihm entgegen kam ein sonderbarer Einspänner, der anscheinend von einem Soldaten mit einfachen Mitteln zusammengezimmert war und ein Mittelding zwischen einem Bauernwagen, einem Kabriolett und einer Kalesche bildete. In diesem Wagen saß ein Soldat, der die Pferde lenkte, und innen, hinter dem Schutzleder, unter dem Verdeck, eine ganz in Tücher gehüllte Frau. Fürst Andrej ritt heran und wollte sich schon mit seiner Frage an diesen Soldaten wenden, als plötzlich das verzweifelte Schreien der in dieser Kibitka sitzenden Frau seine Aufmerksamkeit ablenkte. Der Offizier, der die Fuhrparkkolonnen beaufsichtigte, hatte auf den Kutscher der Kalesche eingeschlagen, weil er an den anderen Wagen vorbeifahren wollte, und die Knutenschläge hatten das Schutzleder der Equipage getroffen. Die Frau schrie gellend auf. Als sie Fürst Andrej erblickte, bog sie sich über das Schutzleder hinaus, streckte ihre mageren Arme aus dem Schal hervor und winkte ihm zu.

»Adjutant, Herr Adjutant«, schrie sie, »… um Gottes willen, schützen Sie mich! … Was soll aus mir werden? Ich bin die Frau des Arztes vom siebenten Jägerregiment … man läßt uns nicht durch! Wir sind zurückgeblieben und haben die Unsrigen verloren.«

»Ich schlag dich zu Brei, dreh um!« schrie der Offizier wütend den Soldaten an, »kehr um mit deiner Schlampe!«

»Herr Adjutant, schützen Sie mich! Was soll aus mir werden!« schrie die Frau des Arztes.

»Bitte, lassen Sie diesen Wagen durch. Sehen Sie nicht, daß eine Frau drinsitzt?« sagte Fürst Andrej und ritt auf den Offizier zu.

Der Offizier sah ihn an und wandte sich dann, ohne ihm eine Antwort zu geben, wieder an den Soldaten: »Ich werde dich lehren, hier vorbeizufahren! Zurück!«

»Lassen Sie den Wagen durch, sage ich Ihnen«, wiederholte Fürst Andrej und preßte die Lippen zusammen.

»Wer bist du denn?« wandte sich plötzlich der Offizier mit der Wut eines Trunkenen an ihn. »Wer bist du?« Er betonte das »Du«. »Du bist wohl ein Vorgesetzter? Ja? Hier bin ich der Vorgesetzte und nicht du! Zurück da!« schrie er noch einmal, »sonst schlag ich dich zu Brei.«

Offenbar hatte der Offizier gerade an diesem Ausdruck besonderes Wohlgefallen.

»Der hat aber jetzt dem Adjutanten eins ausgewischt!« rief eine Stimme von hinten.

Fürst Andrej sah, daß sich der Offizier in jenem trunkenen Zustand grundloser Wut befand, wo man nicht mehr weiß, was man spricht. Er sah, daß sein Eintreten für die Doktorsfrau in der Kibitka nur das zur Folge zu haben drohte, was er am meisten auf der Welt fürchtete, nämlich das, was man französisch mit ridicule bezeichnet. Aber ein instinktives Gefühl gab ihm etwas anderes ein. Kaum hatte der Offizier die letzten Worte gesprochen, als Fürst Andrej mit einem vor Wut entstellten Gesicht auf ihn zuritt, die Knute hob und schrie: »Lassen Sie … den … Wagen … durch!«

Der Offizier machte eine Handbewegung, als ob er sagen wollte: »Na, meinetwegen«, und ritt dann eilig fort.

»Diese ganze Unordnung kommt bloß von diesen Stabsoffizieren«, knurrte er vor sich hin. »Macht meinetwegen, was ihr wollt!«

Ohne aufzusehen ritt Fürst Andrej von der Doktorsfrau, die ihn ihren Retter nannte, fort. Mit Widerwillen dachte er noch einmal an alle Einzelheiten dieser erniedrigenden Szene und sprengte dann auf jenes Dorf zu, wo sich, wie man ihm gesagt hatte, der Oberkommandierende befinden sollte.

Dort angekommen, stieg er vom Pferde und ging in das erste Haus, in der Absicht, sich dort wenigstens einen kurzen Augenblick auszuruhen, etwas zu essen und alle diese trüben, peinigenden Gedanken zur Klarheit zu zwingen.

»Das ist ja eine Bande von Wegelagerern, aber keine Armee mehr!« dachte er, während er am Fenster des ersten Hauses vorüberging. Da hörte er eine bekannte Stimme seinen Namen rufen.

Er drehte sich um. Aus dem kleinen Fenster sah ihm Neswizkijs schönes Gesicht entgegen. Dieser kaute mit vollen Backen, winkte ihm mit der Hand zu und rief:

»Bolkonskij, Bolkonskij! Na, hörst du denn nicht, komm schnell her!«

Als Fürst Andrej ins Haus trat, fand er Neswizkij und noch einen anderen Adjutanten, die gerade aßen. Rasch wandten sie sich an Bolkonskij mit der Frage, ob er nichts Neues wisse. Auf ihren Gesichtern, die dem Fürsten Andrej doch so gut bekannt waren, lag ein Ausdruck der Furcht und Unruhe. Bei Neswizkijs sonst stets lachendem Gesicht fiel dies besonders auf.

»Wo ist der Oberkommandierende?« fragte Bolkonskij.

»Dort in jenem Haus«, antwortete der Adjutant.

»Ist es denn wahr, daß Frieden geschlossen und kapituliert wird?« rief Neswizkij.

»Das frage ich euch! Ich weiß von gar nichts, weiß nur, daß ich mich mit Anstrengung bis zu euch durchgearbeitet habe.«

»Na, und bei uns, mein Lieber, da ist der Teufel los! Fürchterlich! Ich muß gestehen: über Mack haben wir gelacht, uns aber geht es jetzt noch schlimmer«, sagte Neswizkij. »Na, aber setz dich hin, iß etwas!«

»Ihren Wagen werden Sie nicht wiederfinden, Fürst, überhaupt nichts werden Sie finden, und Ihr Peter ist sicher Gott weiß wo!« meinte der andere Adjutant.

»Wo ist denn das Hauptquartier?«

»In Znaim übernachten wir.«

»Ich habe alles, was ich brauche, auf zwei Pferde packen lassen«, sagte Neswizkij. »Die Leute haben das wirklich ausgezeichnet gemacht. Jetzt können wir meinetwegen durch die ganzen böhmischen Berge fliehen. Es steht schlimm, schlimm, mein Lieber. Aber was ist mit dir? Du bist wohl nicht ganz wohl, daß du so zitterst?« fragte Neswizkij, als er bemerkte, daß Fürst Andrej zusammenzuckte, als ob er eine Leidener Flasche[66] berührt hätte.

»Es ist nichts«, antwortete Fürst Andrej.

Er hatte in diesem Augenblick gerade an die Doktorsfrau gedacht und an den Zusammenstoß mit dem Offizier der Fuhrparkkolonnen.

»Was macht der Oberkommandierende denn hier?« fragte er.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Neswizkij.

»Ich sehe nur, daß dies alles schauderhaft, schauderhaft, schauderhaft ist«, sagte Fürst Andrej und ging in das Haus, wo sich der Oberkommandierende befinden sollte.

Fürst Andrej kam an Kutusows Equipage, an den abgehetzten Reitpferden seines Gefolges und den Kosaken vorüber, die laut miteinander sprachen. Er trat in den Flur. Wie man Fürst Andrej gesagt hatte, befand sich Kutusow mit Fürst Bagration und Weyrother in der Stube. Weyrother war der österreichische General, der den gefallenen Schmidt ersetzen sollte. Im Flur hockte der kleine Koslowskij vor einem Schreiber, der auf einem umgestülpten Kübel saß, sich die Rockaufschläge umgekrempt hatte und hastig schrieb. Koslowskijs Gesicht sah abgespannt aus, anscheinend hatte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er blickte den Fürsten Andrej an und nickte ihm nicht einmal zu.

»Zweite Linie … hast du das?« fuhr er, dem Schreiber diktierend, fort, »das Kiewer Grenadierregiment, das Podolsker …«

»Ich komme nicht nach, Euer Hochwohlgeboren«, sagte der Schreiber respektlos und ärgerlich und sah zu Koslowskij auf.

In diesem Augenblick hörte man hinter der Tür Kutusows Stimme erregt und unzufrieden etwas sagen. Eine andere, unbekannte Stimme unterbrach ihn. Am Klange dieser Stimme, an dem achtlosen Blick, mit dem Koslowskij ihn angesehen hatte, an der Respektlosigkeit des abgespannten Schreibers und daran, daß dieser und Koslowskij so nahe beim Oberkommandierenden auf dem Fußboden neben einem Kübel saßen und die Kosaken, die die Pferde hielten, so laut vor den Fenstern lachten – aus alledem ersah Fürst Andrej, daß sich etwas Ernstes und Unheilvolles vorbereitete.

Fürst Andrej wandte sich mit einer Frage an Koslowskij.

»Gleich, Fürst«, erwiderte Koslowskij, »Disposition für Bagration.«

»Also doch Kapitulation?«

»Keineswegs; es sind Anordnungen zur Schlacht getroffen worden.«

Fürst Andrej ging auf die Tür zu, hinter der die Stimmen zu hören waren. Doch im selben Augenblick, als er die Tür aufmachen wollte, schwiegen die Stimmen im Zimmer still, die Tür wurde von innen geöffnet, und Kutusow mit seiner Adlernase in dem aufgedunsenen Gesicht erschien auf der Schwelle. Der Fürst stand Kutusow gerade gegenüber; aber an dem Ausdrucke des einen Auges, mit dem der Oberkommandierende nur noch sehen konnte, war zu erkennen, Gedanken und Sorgen beschäftigten ihn so stark, daß sie ihn geradezu der Sehkraft beraubten. Er blickte seinem Adjutanten direkt ins Gesicht und erkannte ihn nicht.

»Nun, wie steht’s, bist du fertig?« wandte er sich an Koslowskij.

»Sofort, Euer Exzellenz.«

Bagration, ein kleiner, hagerer Mann in mittleren Jahren, mit zielbewußtem, unbeweglichem Gesicht von orientalischem Typ, trat hinter dem Oberkommandierenden aus dem Zimmer.

»Ich habe die Ehre, mich zurückzumelden«, wiederholte Fürst Andrej ziemlich laut und überreichte dem Oberkommandierenden einen Brief.

»Ah! Aus Wien zurück? Schön. Nachher, nachher!«

Kutusow trat mit Bagration vor die Tür.

»Nun, Fürst, lebe wohl«, sagte er zu Bagration. »Christus sei mit dir. Ich segne dich zu deiner großen Tat.«

Das Gesicht Kutusows zeigte plötzlich einen weichen Ausdruck, und Tränen traten ihm in die Augen. Er zog mit seiner linken Hand Bagration an sich und bekreuzigte ihn mit seiner rechten, an der er einen Ring trug, mit einer ihm anscheinend ganz geläufigen Gebärde. Dann hielt er ihm seine dicke Wange hin, Bagration aber küßte ihn auf den Hals.

»Christus sei mit dir«, wiederholte Kutusow und trat auf seine Kalesche zu.

»Setze dich zu mir«, sagte er dann zu Bolkonskij.

»Exzellenz, ich möchte mich gern nützlich machen. Gestatten Sie mir, in der Abteilung des Fürsten Bagration zu bleiben?«

»Steig ein«, sagte Kutusow, und fügte, als er bemerkte, daß Bolkonskij zögerte, hinzu: »Ich brauche selber gute Offiziere, die brauche ich selber.«

Sie nahmen in der Kalesche Platz und fuhren einige Minuten schweigend dahin.

»Noch viel, viel, alles steht uns noch bevor«, sagte Kutusow mit dem durchdringenden Blick eines alten, erfahrenen Mannes, als wisse er alles, was in Bolkonskijs Seele vorging. »Wenn von seiner Abteilung morgen nur ein Zehntel wiederkommen wird, dann werde ich Gott danken«, fügte er hinzu, als spräche er mit sich selbst.

Fürst Andrej blickte Kutusow an, und unwillkürlich blieben seine Augen auf dem ihm jetzt aus nächster Nähe sichtbaren ausgelaufenen Auge Kutusows und auf den sauber gewaschenen Falten einer Narbe an seiner Schläfe haften, wo ihm bei Ismail eine Kugel durch den Kopf gedrungen war. Ja, er hat ein Recht, so ruhig von dem Untergang anderer zu sprechen, dachte Bolkonskij.

»Daher bat ich Sie auch, mich zu jener Abteilung zu entsenden«, sagte er.

Kutusow antwortete nicht. Er schien vergessen zu haben, daß man etwas zu ihm gesagt hatte, und saß in Gedanken versunken da. Nach etwa fünf Minuten wandte sich Kutusow, der gleichmäßig auf den weichen Polstern der Kalesche hin und her schaukelte, wieder an Fürst Andrej, Auf seinem Gesicht war nicht die Spur einer Erregung mehr zu sehen. Mit feinem Spott fragte er den Fürsten Andrej nach den Einzelheiten seiner Begegnung mit dem Kaiser, nach dem Widerhall, den die Schlacht bei Krems am Hofe gefunden habe, und nach einigen Damen, die ihnen beiden bekannt waren.

14

Kutusow hatte durch einen seiner Kundschafter am 1. November eine Nachricht erhalten, nach der sich die von ihm befehligte Armee in einer fast hoffnungslosen Lage befand.

Dieser Kundschafter berichtete, daß die Franzosen die Wiener Brücke überschritten hätten und nun mit riesigen Streitkräften gegen die Verbindungslinie vorrückten, wo sich Kutusow mit den aus Rußland kommenden Truppen vereinigen wollte. Entschloß sich dieser, in Krems zu bleiben, so schnitt Napoleons hundertfünfzigtausend Mann starke Armee ihn von allen Verbindungen ab, umzingelte seine erschöpften vierzigtausend Mann, und er befand sich dann in derselben Lage wie Mack bei Ulm. Entschied sich Kutusow aber dafür, den Weg zu verlassen, der zur Vereinigung mit den aus Rußland kommenden Truppen führte, so mußte er auf schlechten Wegen in die unbekannten Gegenden der böhmischen Berge marschieren, mußte sich gegen einen an Streitkräften weit überlegenen Feind verteidigen und jede Hoffnung auf eine Vereinigung mit Buxhöwden aufgeben. Wählte er aber den dritten Ausweg: auf der Straße von Krems nach Olmütz den Rückzug anzutreten, um sich mit den aus Rußland kommenden Truppen zu vereinigen, dann lief er Gefahr, daß die Franzosen nach Überschreitung der Wiener Brücke ihm auf diesem Wege zuvorkamen und ihn zwangen, eine Schlacht auf dem Marsche anzunehmen, also mit der ganzen Bagage und dem ganzen Train, und noch dazu mit einem Feind, der ihm dreifach überlegen war und ihn von zwei Seiten umzingelte.

Kutusow entschied sich für diesen letzten Ausweg.

Wie der Kundschafter berichtete, rückten die Franzosen, die die Brücke bei Wien überschritten hatten, in Gewaltmärschen gegen Znaim vor, das etwas über hundert Werst vor Kutusow auf der Rückzugslinie lag. Erreichte er Znaim vor den Franzosen, so waren die Aussichten, die Armee zu retten, größer. Mußte er aber geschehen lassen, daß die Franzosen ihm in Znaim zuvorkamen, so war es sicher, daß er das ganze Heer entweder einer Schmach, ähnlich der Ulmer Katastrophe, entgegenführte, oder es dem völligen Untergang preisgeben mußte. Doch den Franzosen mit der ganzen Armee zuvorzukommen, war unmöglich: der Weg, den die Franzosen von Wien bis Znaim zurückzulegen hatten, war kürzer als der des russischen Heeres von Krems bis Znaim.

In jener Nacht, als Kutusow diese Nachricht erhielt, schickte er Bagrations viertausend Mann starke Vorhut rechts durch die Berge, von der Krems-Znaimer nach der Wien-Znaimer Straße, Bagration sollte diesen Marsch, ohne auch nur einmal zu rasten, zurücklegen, dann mit der Front nach Wien und dem Rücken nach Znaim zu haltmachen, und, wenn es ihm gelungen wäre, den Franzosen zuvorzukommen, diese solange wie möglich aufhalten. Kutusow selbst rückte inzwischen mit der ganzen Bagage nach Znaim vor.

Nachdem Bagration mit seinen erschöpften und zerlumpten Soldaten, ohne Weg und Steg, durch die Berge in stürmischer Nacht fünfundvierzig Werst zurückgelegt hatte, erreichte er bei Hollabrunn die Wien-Znaimer Straße einige Stunden früher als die Franzosen, die von Wien aus auf Hollabrunn vorrückten. Kutusow hatte, um Znaim zu erreichen, mit seiner gesamten Bagage noch einen ganzen Tag zu marschieren, und daher sollte Bagration, um die Armee zu retten, mit viertausend hungrigen und erschöpften Soldaten einen vollen Tag die ganze feindliche Armee, mit der er in Hollabrunn zusammentreffen mußte, aufhalten, was augenscheinlich ein Ding der Unmöglichkeit war. Doch ein seltsames Geschick machte das Unmögliche möglich. Der Erfolg jener List, die ohne Kampf die Wiener Brücke in die Hände der Franzosen gegeben hatte, reizte Murat, eine ähnliche List auch mit Kutusow zu versuchen. Als er mit Bagrations schwacher Abteilung auf der Znaimer Straße zusammenstieß, nahm er an, dies sei Kutusows ganze Armee. Um diese nun ganz sicher zermalmen zu können, wollte er erst noch auf die Truppen warten, die auf dem Weg von Wien zurückgeblieben waren, und schlug zu diesem Zweck einen dreitägigen Waffenstillstand vor, unter der Bedingung, daß beide Armeen ihre Stellungen nicht verändern und sich auch nicht vom Platz rühren sollten. Murat versicherte, es würden bereits Friedensverhandlungen geführt, und daher schlage er, um unnützes Blutvergießen zu vermeiden, diesen Waffenstillstand vor. Der österreichische General Graf Nostitz, der auf Vorposten stand, glaubte den Worten des Muratschen Parlamentärs und zog sich zurück, wodurch er Bagrations Abteilung ohne Schutz ließ. Ein zweiter Parlamentär Murats ritt an die russischen Vorpostenketten heran, um die Nachricht von den Friedensverhandlungen zu überbringen und den russischen Truppen einen dreitägigen Waffenstillstand anzubieten. Bagration erwiderte, er selber könne den Waffenstillstand weder annehmen noch abschlagen, und schickte seinen Adjutanten mit einem Bericht über das ihm gemachte Anerbieten zu Kutusow.

Für Kutusow war dieser Waffenstillstand das einzige Mittel, um Zeit zu gewinnen. Die erschöpfte Abteilung Bagrations konnte nun ausruhen, und der Train sowie die Bagage, deren Bewegungen den Franzosen verborgen blieben, wenigstens noch einen Tagemarsch bis Znaim vorwärtskommen. Dieser Vorschlag eines Waffenstillstands eröffnete ihm die einzige und zugleich unerwartete Möglichkeit, die Armee zu retten.

Nachdem Kutusow diese Nachricht erhalten hatte, schickte er sofort den in seinem Dienst stehenden Generaladjutanten Wintzingerode in das feindliche Lager. Wintzingerode sollte nicht nur den Waffenstillstand annehmen, sondern auch Vorschläge über die Bedingungen einer Kapitulation machen. Währenddessen schickte Kutusow seine Adjutanten zurück, um das Vorrücken des Trains und der ganzen Armee auf der Krems-Znaimer Straße möglichst zu beschleunigen. Nur Bagrations erschöpfte, hungrige Abteilung sollte die Bewegung der übrigen Armee gleichsam verdecken und regungslos vor dem achtmal stärkeren Feind stehen bleiben.

Kutusows Erwartungen sollten sich erfüllen, sowohl darin, daß die zu nichts verpflichtenden Vorschläge einer Kapitulation einem großen Teile des Trains Zeit gaben, vorbeizukommen, als auch darin, daß sich Murats Irrtum sehr bald als solcher herausstellen mußte. Als Bonaparte, der sich fünfundzwanzig Werst von Hollabrunn, in Schönbrunn, befand, den Bericht Murats mit dem Projekt des Waffenstillstands und der Kapitulation erhielt, erkannte er sofort die Täuschung und schrieb an Murat folgenden Brief:

»An den Prinzen Murat.

Schönbrunn, den 25. Brumaire 1805,

8 Uhr morgens

Ich kann kaum Worte finden, um Ihnen meine Unzufriedenheit auszudrücken. Sie sind nur Befehlshaber meiner Avantgarde und haben nicht das Recht, ohne mein Geheiß einen Waffenstillstand abzuschließen. Ihre Schuld ist es, wenn ich jetzt um die Früchte eines ganzen Feldzuges komme. Brechen Sie den Waffenstillstand sofort, und marschieren Sie gegen den Feind los. Erklären Sie ihm, daß der General, der dieses Abkommen unterzeichnet hat, gar nicht das Recht dazu gehabt habe, weil das ein Recht ist, das nur mir und dem Kaiser von Rußland zusteht.

Sollte übrigens der Kaiser von Rußland die besagte Konvention ratifizieren, so ratifiziere ich sie ebenfalls. Aber das ist nur eine List. Marschieren Sie vor und vernichten Sie die russische Armee … Sie sind in der Lage, ihr alle Bagage und Artillerie wegzunehmen.

Der Adjutant des Kaisers von Rußland ist ein … Die Offiziere sind nichts, wenn sie keine Vollmachten haben, dieser aber hatte keine. Die Österreicher haben sich mit dem Übergang über die Wiener Brücke übertölpeln lassen, und Sie lassen sich von einem Adjutanten des Kaisers zum Narren halten.

Napoleon.

Ein Adjutant Bonapartes jagte mit diesem ungnädigen Brief im schnellsten Galopp zu Murat. Bonaparte selber, der zu seinen eigenen Generälen kein Vertrauen hatte, marschierte mit seiner ganzen Garde nach dem Kampfplatz hin, da er fürchtete, daß ihm das sichere Opfer entgehen könne. Die viertausend Mann starke Abteilung Bagrations aber zündete indessen fröhlich ihre Lagerfeuer an, trocknete und wärmte sich und kochte zum ersten Male nach drei Tagen wieder ab. Keiner wußte, was ihnen bevorstand, oder machte sich irgendwelche Gedanken darüber.

15

Gegen vier Uhr nachmittags kam Fürst Andrej, der bei Kutusow auf seiner Bitte bestanden hatte, in Grund an und meldete sich bei Bagration. Der Adjutant Bonapartes war noch nicht bei Murat angekommen, und die Schlacht hatte noch nicht begonnen. In Bagrations Abteilung wußte man nichts von der allgemeinen Sachlage, man sprach vom Frieden, glaubte aber nicht an die Möglichkeit eines solchen. Von einer Schlacht wurde ebenfalls geredet, niemand aber ahnte, daß sie so nahe bevorstand.

Bagration wußte, daß Bolkonskij der Lieblingsadjutant Kutusows war, dem dieser sein volles Vertrauen schenkte, und empfing ihn daher mit besonderer Auszeichnung, doch mit jener gewissen Herablassung, wie sie Vorgesetzte gegen ihre Untergebenen zu zeigen pflegen. Er eröffnete ihm, daß wahrscheinlich heute oder morgen eine Schlacht stattfinden werde, und ließ ihm vollständig freie Wahl, ob er während der Schlacht bei ihm bleiben oder in der Nachhut den ordnungsgemäßen Rückzug beaufsichtigen wolle, was auch äußerst wichtig sei.

»Übrigens wird die Schlacht heute wahrscheinlich noch nicht stattfinden«, sagte Bagration, gewissermaßen um Fürst Andrej zu beruhigen.

Wenn er einer von den gewöhnlichen Gecken aus dem Stabe ist, die man hierher schickt, damit sie sich einen Orden verdienen können, dann kann er diese Auszeichnung auch bei der Nachhut bekommen. Will er aber bei mir bleiben – meinetwegen. Ist er ein tapferer Offizier, dann wird er schon etwas taugen, dachte Bagration.

Fürst Andrej erwiderte nichts darauf und bat den Fürsten nur um die Erlaubnis, die Stellungen abreiten zu dürfen, um dadurch die Verteilung der Truppen kennenzulernen, damit er im Fall eines Auftrags wisse, wohin er reiten müsse. Der diensttuende Offizier der Abteilung, ein hübscher, etwas geckenhaft gekleideter Mensch, der einen Diamantring am Zeigefinger trug und schlecht, aber mit sichtlichem Behagen Französisch sprach, bat darum, den Fürsten Andrej begleiten zu dürfen.

Überall begegneten ihnen vom Regen durchnäßte, verstimmt aussehende Offiziere, die alle etwas zu suchen schienen, und Soldaten, die aus den Dörfern Türen, Bänke und Zäune herbeischleppten.

»Das ist den Leuten hier nicht abzugewöhnen, Fürst«, sagte der Stabsoffizier und zeigte auf die Soldaten. »Die Offiziere lassen aber auch die Zügel zu locker. Und sehen Sie nur«, er zeigte auf ein aufgeschlagenes Marketenderzelt, »hier läuft alles zusammen und sitzt dann fest. Heute morgen erst habe ich sie alle herausgejagt, und sehen Sie nur, jetzt ist schon wieder alles voll. Ich muß noch einmal hinreiten, Fürst, und sie aufscheuchen. Einen Augenblick, bitte.«

»Gut, reiten wir hin. Ich werde mir dabei gleich etwas Käse und eine Semmel kaufen«, sagte Fürst Andrej, der noch nicht dazu gekommen war, etwas zu essen.

»Aber warum haben Sie mir kein Wort davon gesagt, Fürst? Ich hätte Ihnen doch meinen Eßvorrat angeboten.«

Sie stiegen von ihren Pferden und traten in das Marketenderzelt ein. Einige Offiziere mit geröteten und abgespannten Gesichtern saßen am Tisch und aßen und tranken.

»Aber, meine Herren, was soll das bedeuten!« rief der Stabsoffizier in dem vorwurfsvollen Ton eines Menschen, der ein und dasselbe bereits wiederholt gesagt hat. »Sie dürfen sich doch nicht so weit von Ihren Posten entfernen. Der Fürst hat befohlen, daß sich niemand hier aufhalten soll. Und Sie, Herr Hauptmann«, wandte er sich an einen kleinen, mageren Artillerieoffizier, der, als die beiden eintraten, in schmutzigen Sachen, ohne Stiefel – er hatte sie dem Marketender zum Trocknen gegeben – nur in Strümpfen aufgestanden war und ein wenig gezwungen lächelte. »Und Sie, Herr Hauptmann Tuschin, schämen Sie sich denn nicht?« fuhr der Stabsoffizier fort. »Sie als Artillerist müßten doch meiner Ansicht nach den anderen ein Beispiel geben. Dabei laufen Sie hier ohne Stiefel herum. Wenn Alarm geschlagen wird, werden Sie in Strümpfen eine schöne Figur abgeben.« Der Stabsoffizier lächelte. »Also gehen Sie auf Ihre Posten, meine Herren, alle, alle!« fügte er im Ton eines Vorgesetzten hinzu.

Fürst Andrej mußte unwillkürlich lächeln, während er den Hauptmann Tuschin ansah, der schweigend und lächelnd von einem bloßen Fuß auf den anderen trat und mit seinen großen, klugen und guten Augen fragend bald den Fürsten Andrej, bald den Stabsoffizier ansah.

»Die Soldaten sagen: ›Ohne Stiefel läuft sich’s bequemer‹«, meinte Hauptmann Tuschin und lächelte dabei schüchtern; anscheinend wollte er sich durch einen Scherz aus der Verlegenheit ziehen. Doch kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so fühlte er schon, daß sein Scherz nicht als solcher aufgenommen wurde und auch nicht recht glücklich herausgekommen war, und wurde von neuem verlegen.

»Bitte, begeben Sie sich auf Ihre Posten, meine Herren!« wiederholte der Stabsoffizier und bemühte sich, ernst zu bleiben.

Fürst Andrej betrachtete noch einmal die Gestalt des Artillerieoffiziers, der etwas Besonderes, ganz Unmilitärisches, ein wenig Komisches, aber doch außerordentlich Anziehendes an sich hatte. Darauf bestiegen der Stabsoffizier und Fürst Andrej wieder ihre Pferde und ritten weiter.

Als sie das Dorf hinter sich hatten, trafen und überholten sie unaufhörlich Soldaten und Offiziere der verschiedensten Truppengattungen. Zur Linken sah man die im Bau begriffenen Befestigungen, die von dem frischen, eben erst ausgegrabenen Lehm einen rötlichen Schimmer hatten. Mehrere Bataillone Soldaten wimmelten – trotz des kalten Windes nur in Hemdsärmeln – wie weiße Ameisen auf diesen Schanzen herum, hinter deren Wall hervor von unsichtbaren Händen Schaufeln roter Lehmerde ausgeworfen wurden. Die beiden Offiziere ritten an die Befestigungen heran, besichtigten sie und ritten dann weiter. Dicht hinter den Schanzen stießen sie auf ungefähr zehn Soldaten, die auf den Befestigungen hin und her liefen und sich dabei dauernd ablösten. Die beiden Offiziere mußten sich die Nasen zuhalten und ihre Pferde in Trab bringen, um aus dieser verpesteten Luft herauszukommen.

»Voilà l’agrément des camps, monsieur le prince«, sagte der diensttuende Stabsoffizier.

Sie ritten nun nach der gegenüberliegenden Anhöhe. Von hier aus konnte man die Franzosen schon sehen. Fürst Andrej brachte sein Pferd zum Stehen und sah sich die Gegend an.

»Sehen Sie, da steht unsere Batterie«, sagte der Stabsoffizier und zeigte auf den höchsten Punkt der Anhöhe, »das ist die Batterie jenes komischen Kauzes, der vorhin ohne Stiefel dasaß. Von dort aus kann man alles übersehen; kommen Sie, wir wollen hinreiten, Fürst.«

»Ich danke Ihnen sehr, ich werde jetzt allein weiterreiten«, sagte Fürst Andrej, der den Stabsoffizier gern loswerden wollte. »Bitte, bemühen Sie sich nicht weiter.«

Der Stabsoffizier entfernte sich, und Fürst Andrej ritt nun allein seines Weges.

Je weiter er vorwärts und dem Feinde näher kam, desto ordentlicher und fröhlicher wurde das Aussehen der Truppen. Die größte Unordnung und Verzagtheit hatte in jener Trainkolonne vor Znaim, zehn Werst vom Feinde entfernt, geherrscht, die Fürst Andrej am Morgen überholt hatte. Auch in Grund war eine gewisse Unruhe und Angst bemerkbar gewesen. Doch je näher Fürst Andrej an die französische Vorpostenkette heranritt, um so zuversichtlicher wurde das Aussehen der Truppen. In Reihen aufgestellt, standen die Soldaten in ihren Mänteln da. Feldwebel und Hauptleute zählten ihre Mannschaften ab, indem sie immer dem letzten Mann in jedem Glied mit dem Finger auf die Brust tippten und ihm befahlen, die Hand hochzuheben. Andere Soldaten schwärmten über die ganze Gegend aus, schleppten Holz und Reisig herbei und bauten kleine Hütten, wobei sie lachten und sich unterhielten. Andere saßen bekleidet oder unbekleidet um die Feuer herum, um sich Hemden und Fußlappen zu trocknen oder Stiefel und Mäntel auszubessern. Wieder andere drängten sich um die Kessel und um die Köche. Bei der einen Kompanie war das Essen schon fertig, und die Soldaten blickten mit gierigen Gesichtern die rauchenden Kessel an und warteten, bis der Offizier, der auf einem Balken vor seinem Zelte saß, das Essen gekostet hatte, das ihm der Proviantmeister soeben in einem Holznapf reichte.

In einer anderen Kompanie, die sich in noch glücklicherer Lage befand, da nicht alle Kompanien Branntwein hatten, standen die Soldaten dicht gedrängt um einen pockennarbigen, breitschultrigen Feldwebel herum, der aus einem schräg gehaltenen Fäßchen der Reihe nach Branntwein in die ihm hingereichten Feldflaschenbecher goß. Die Soldaten führten die Becher mit andächtigen Mienen an ihre Lippen, kippten sie um, behielten den Branntwein noch eine Weile im Munde, wischten sich dann den Mund mit den Mantelärmeln ab und gingen mit befriedigten Gesichtern wieder vom Feldwebel fort. Alle sahen so ruhig aus als spiele sich dies alles nicht angesichts des Feindes und kurz vor einem Gefecht ab, wo die Hälfte der Abteilung auf dem Platz bleiben mußte, sondern irgendwo in der Heimat, in Erwartung eines ruhigen Quartiers.

Nachdem Fürst Andrej an einem Jägerregiment vorbeigeritten war, gelangte er zu den Reihen der Kiewer Grenadiere, deren schmucke Mannschaften sich denselben friedlichen Beschäftigungen hingaben. Hier kam er nicht weit von der Baracke eines Regimentskommandeurs, die sich durch ihre Größe von den anderen abhob, zu der Front eines Grenadierbataillons, vor der ein Mann mit entblößtem Rücken auf der Erde lag. Zwei Soldaten hielten ihn, und zwei andere schwangen gleichmäßig biegsame Ruten und schlugen damit auf seinen entblößten Rücken los. Der Gezüchtigte schrie, als ob er am Spieße steckte. Ein dicker Major ging vor der Front auf und ab und sagte, ohne auf das Geschrei zu achten, immer wieder: »Es ist eine Schande für einen Soldaten, zu stehlen. Ein Soldat muß ehrlich, brav und tapfer sein. Bestiehlt er seine Kameraden, so hat er keine Ehre im Leib und ist ein Lump. Immer feste, immer feste!«

Wieder hörte man die Schläge der biegsamen Ruten und das verzweifelte, aber übertriebene Geschrei des Übeltäters.

»Immer feste, immer feste!« wiederholte der Major.

Ein junger Offizier trat mit erstaunter, mitleidiger Miene von dem Bestraften weg und sah sich fragend nach dem vorbeireitenden Adjutanten um.

Als Fürst Andrej bis an die vorderste Linie gekommen war, ritt er an der Front entlang. Auf der rechten und linken Flanke standen unsere und des Feindes Vorpostenkette weit voneinander entfernt; in der Mitte aber, dort, wo am Morgen die Parlamentäre herangeritten waren, kamen sich die beiden Vorpostenketten so nahe, daß sie gegenseitig ihre Gesichter erkennen und miteinander sprechen konnten. Außer den Soldaten, die an dieser Stelle die Vorpostenkette bildeten, standen auf beiden Seiten noch viele Neugierige herum, die lachend die ihnen seltsam und fremdartig vorkommenden Feinde betrachteten.

Trotz des Verbots, an die Vorpostenkette heranzugehen, konnten sich die Offiziere schon vom frühen Morgen an kaum der Neugierigen erwehren. Die Soldaten dagegen, die auf Vorposten standen, sahen wie Leute, die etwas Seltenes zur Schau stellen, schon gar nicht mehr nach den Franzosen hin, sondern beobachteten statt dessen die Herbeikommenden und warteten gelangweilt auf Ablösung. Auch Fürst Andrej hielt sein Pferd ein, um sich die Franzosen anzusehen.

»Guck mal, guck«, sagte ein Soldat zu seinem Kameraden und zeigte auf einen russischen Musketier, der mit einem Offizier an die Postenkette herangetreten war und sich schnell und eifrig mit einem französischen Grenadier unterhielt.

»Hör nur, wie schnell der schnattert, da kommt sogar der Franzos nicht einmal mit! Na, leg los, Sidorow, red du doch auch mal mit ihm.«

»Wart, laß mich mal hören. Donnerwetter, geht das aber fix«, sagte Sidorow, der sich für einen Meister im Französischsprechen hielt.

Der Soldat, auf den die beiden Lacher zeigten, war Dolochow. Fürst Andrej erkannte ihn und hörte seine Unterhaltung mit an.

Dolochow war mit seinem Kompanieführer zusammen von der linken Flanke, wo sein Regiment stand, zur Vorpostenkette herübergekommen.

»Weiter, weiter«, spornte ihn der Kompanieführer an. Er hatte sich vorgebeugt und war bemüht, kein einziges der für ihn unverständlichen Worte zu verlieren. »Schneller, schneller! Was meint er?«

Dolochow gab dem Kompanieführer keine Antwort; er war mit dem französischen Grenadier in heißen Disput geraten. Wie es ja selbstverständlich war, sprachen sie vom Feldzug. Der Franzose, der die Österreicher mit den Russen verwechselte, wollte Dolochow beweisen, daß sich die Russen ergeben hätten und von Ulm geflohen seien; Dolochow dagegen erklärte, die Russen hätten sich nicht ergeben, sondern vielmehr die Franzosen geschlagen.

»Wir haben Befehl, euch fortzujagen, und wir werden euch auch fortjagen.«

»Nehmt euch nur in acht, daß man euch mit allen euren Kosaken nicht gefangennimmt«, sagte der französische Grenadier. Die französischen Zuschauer und Zuhörer lachten.

»Wir werden euch tanzen lehren, wie schon Suworow euch seinerzeit das Tanzen beigebracht hat«, rief Dolochow.

»Qu’est ce qu’il chante?« fragte einer der Franzosen.

»De l’histoire ancienne«, erwiderte der andere, der erriet, daß Dolochow die früheren Kriege meinte. »L’empereur va lui faire voir a votre Souvara, comme aux autres …«

»Bonaparte …«, wollte Dolochow gerade anfangen, aber der Franzose unterbrach ihn.

»Es gibt keinen Bonaparte; es gibt nur einen Kaiser. Sacré nom …« schrie er ärgerlich.

»Der Teufel hol ihn, euren Kaiser!«

Dolochow schimpfte auf russisch nach grober Soldatenart, warf das Gewehr über die Schulter und ging fort.

»Kommen Sie, Iwan Lukitsch«, sagte er zu seinem Kompanieführer.

»Siehst, der kann Französisch«, sagten die Soldaten in der Vorpostenkette.

»Nun schieß du mal los, Sidorow!«

Sidorow kniff die Augen zusammen, wandte sich an die Franzosen und schnatterte schnell ganz unsinnige Worte herunter. »Kari, mala, tafa, safi, muter, kaska«, plapperte er los und bemühte sich, seiner Stimme einen ausdrucksvollen Ton zu geben.

»Ho, ho, ho! Ha, ha, ha, ha! Huch, huch!« ertönte unter den Soldaten ein schallendes, gesundes und fröhliches Lachen, das sich über die Vorpostenkette hinaus auch auf die Reihen der Franzosen fortpflanzte, ein solches Lachen, daß man hätte meinen sollen, nun könne nichts anderes kommen, als daß die Gewehre entladen, die Ladungen gesprengt und alle nach Hause gehen würden, ein jeder in seine Heimat.

Doch die Gewehre blieben geladen, die Schießscharten in den Häusern und in den Befestigungen blickten noch ebenso drohend nach vorn, und auch die von den Protzen abgehängten Kanonen blieben wie bisher gegeneinander gerichtet.

16

Nachdem Fürst Andrej die ganze Truppenlinie vom rechten bis zum linken Flügel abgeritten hatte, begab er sich zu jener Batterie hinauf, von der aus, wie der Stabsoffizier ihm gesagt hatte, die ganze Gegend zu übersehen war. Hier stieg er vom Pferde und blieb neben dem letzten der vier abgeprotzten Geschütze[67] stehen. Vor den Kanonen ging ein Artillerist als Posten auf und ab. Er wollte vor dem Fürsten Andrej Front machen, setzte aber, als dieser abgewinkt hatte, sein gleichmäßig langweiliges Auf- und Abgehen wieder fort. Hinter den Geschützen standen die Protzen, und noch weiter zurück die angebundenen Pferde. Im Hintergrunde brannten Feuer, an denen die Artilleristen saßen. Links, nicht weit vom letzten Geschütz, stand eine neue, aus Zweigen geflochtene Hütte, aus der man die lebhaften Stimmen der Offiziere hörte.

Wirklich eröffnete sich von der Batterie eine Aussicht über beinahe alle russischen und einen großen Teil der feindlichen Truppen. Der Anhöhe gerade gegenüber, am oberen Rande eines Nachbarhügels, sah man das Dorf Schöngrabern liegen; links und rechts davon waren zwischen dem Rauch der Wachtfeuer an drei Stellen französische Truppenmassen zu sehen, von denen sich ein großer Teil wohl noch im Dorf selber und hinter dem Berg befand. Links vom Dorfe stand noch etwas, das ganz von Rauch eingehüllt war und wie eine Batterie aussah, doch konnte man es mit bloßem Auge nicht gut erkennen.

Unser rechter Flügel lag auf einer ziemlich steilen Anhöhe, die die Stellung der Franzosen beherrschte. Über die Hänge war unsere Infanterie verteilt, und am äußersten Rande standen die Dragoner. Im Zentrum, da, wo sich Tuschins Batterie befand, von wo aus Fürst Andrej die Stellung betrachtete, war der abschüssigste und kürzeste Abstieg zum Bach hinunter, der uns von Schöngrabern trennte. Links reichten unsere Truppen bis an einen Wald, wo die Lagerfeuer unserer holzfällenden Infanterie rauchten. Die Front der Franzosen war breiter angelegt als die unsrige, und es war klar, daß sie uns auf beiden Seiten umgehen konnten. Hinter unserer Stellung befand sich eine steile, tiefe Schlucht, durch die sich die Artillerie und Kavallerie nur schwer hätten zurückziehen können.

Fürst Andrej lehnte sich auf eine Kanone und holte seine Brieftasche hervor, um sich einen Plan von der Verteilung der Truppen zu machen. An zwei Stellen schrieb er mit Bleistift ein paar Bemerkungen dazu, die er Bagration mitzuteilen beabsichtigte. Er wollte erstens vorschlagen, die Artillerie im Zentrum zu konzentrieren, und zweitens, die Kavallerie zurückzuziehen und jenseits der Schlucht zu postieren. Da Fürst Andrej während seines ständigen Aufenthalts beim Oberkommandierenden die Bewegungen der Massen und die allgemeinen Anordnungen immer hatte verfolgen können und sich fortwährend mit historischen Schlachtbeschreibungen beschäftigt hatte, so überdachte er unwillkürlich auch für die bevorstehende Schlacht den zukünftigen Gang der militärischen Operationen, wenn auch nur in allgemeinen Zügen. Dabei konnte er sich, im großen Rahmen betrachtet, nur folgende Möglichkeiten vorstellen: Eröffnet der Feind seinen Angriff gegen unseren linken Flügel, so sagte er sich, dann müssen das Kiewer Grenadierregiment und das Podolsker Jägerregiment ihre Stellung halten, bis die Reserven aus dem Zentrum zu ihnen stoßen. In diesem Fall können die Dragoner dem Feind in die Flanke fallen und ihn in die Flucht schlagen. Wird dagegen das Zentrum angegriffen, so stellen wir auf dieser Anhöhe noch mehr Artillerie auf, ziehen dann unter ihrer Deckung den linken Flügel zusammen und gehen in Echelons[68] bis zur Schlucht zurück. So überlegte er sich alles in Gedanken.

Während er bei der Batterie an dem Geschütz stand, hörte er zwar die ganze Zeit über unaufhörlich die Stimmen der in der Hütte sprechenden Offiziere, verstand aber, wie das oft vorkommt, kein einziges Wort von dem, was sie sprachen. Plötzlich fiel ihm eine dieser Stimmen aus der Hütte durch ihren zu Herzen gehenden Ton so auf, daß er unwillkürlich hinhörte.

»Nein, mein Lieber«, sagte eine angenehme Stimme, die Fürst Andrej bekannt vorkam, »ich behaupte, wenn man wissen könnte, was jenseits des Grabes ist, so würde sich von uns niemand mehr vor dem Tode fürchten. So ist es, mein Lieber.«

Eine andere, jüngere Stimme fiel ihm ins Wort: »Ob man sich nun fürchtet oder nicht, entgehen kann man dem Tod doch nicht.«

»Aber man fürchtet sich doch! Ach, ihr gelehrten Leute!« sagte eine dritte, mannhafte Stimme, die wieder die beiden anderen unterbrach. »Ihr Artilleristen seid nur deshalb so gescheit, weil ihr alles bei euch haben könnt: Schnaps und Eßvorräte und was sonst noch alles.«

Und der Besitzer dieser mannhaften Stimme, anscheinend ein Infanterieoffizier, lachte laut auf.

»Man fürchtet sich doch, gewiß«, fuhr die erste, bekannte Stimme wieder fort, »aber man fürchtet sich vor dem Unbekannten, das ist es. Wenn man auch tausendmal sagt, daß die Seele in den Himmel kommt … wir wissen doch, daß es keinen Himmel gibt, nur eine Atmosphäre …«

Wieder unterbrach die mannhafte Stimme den Artilleristen. »Ach was, Tuschin, geben Sie uns lieber ein Gläschen von Ihrem Kräuterschnaps«, sagte er.

Aha, das ist derselbe Hauptmann, der vorhin ohne Stiefel beim Marketender stand, dachte Fürst Andrej und erkannte mit Vergnügen die angenehme Stimme wieder, die jetzt solch philosophische Reden führte.

»Können wir machen«, sagte Tuschin, »aber immerhin, wenn wir das künftige Leben kennten …«

Er sprach nicht zu Ende. In diesem Augenblick hörte man in der Luft ein Pfeifen: näher und näher, schneller und lauter, lauter und schneller kam eine Kanonenkugel heran, brach dann ihr Sausen ab, wie wenn jemand eine angefangene Rede nicht zu Ende führt, und klatschte plötzlich nicht weit von der Hütte in die Erde, wobei sie mit fürchterlicher Gewalt Erdspritzer hoch in die Luft schleuderte. Es war, als seufze die Erde unter diesem furchtbaren Schlag.

Im selben Augenblick sprang, allen voran, der kleine Tuschin, die Tabakspfeife im Mundwinkel, aus der Hütte. Sein gutmütiges, kluges Gesicht sah blaß aus. Ihm folgte der Besitzer der mannhaften Stimme, ein noch jugendlicher Infanterieoffizier. Auch er eilte zu seiner Kompanie, wobei er sich im Laufen den Rock zuknöpfte.

17

Fürst Andrej hielt zu Pferde bei der Batterie und blickte nach dem Rauch des Geschützes, aus dem die Kugel gekommen war. Seine Augen spähten über den weiten Raum. Er sah, daß die vorher unbeweglichen Massen der Franzosen in Bewegung gekommen waren, und daß links wirklich eine Batterie stand, obgleich sich der Rauch, der sie umgab, noch nicht zerteilt hatte. Zwei französische Reiter, wahrscheinlich Adjutanten, sprengten über die Höhe. Eine kleine feindliche Kolonne bewegte sich, offenbar um die Vorpostenkette zu verstärken, den Berg hinunter und war ganz deutlich zu erkennen.

Noch hatte sich der Rauch des ersten Schusses nicht zerteilt, als eine zweite Rauchwolke erschien und ein zweiter Knall folgte. Die Schlacht hatte begonnen. Fürst Andrej wandte sein Pferd um und sprengte zurück nach Grund, um den Fürsten Bagration aufzusuchen. Er hörte, wie hinter ihm die Kanonade schneller und lauter wurde. Anscheinend hatten die Unsrigen zu antworten angefangen. Von unten her, von jener Stelle, wo die Parlamentäre herangeritten waren, tönte Gewehrfeuer herauf.

Lemarrois war soeben nach schnellstem Ritt mit dem ungnädigen Brief Napoleons bei Murat angelangt, und dieser, der sich nun schämte und seinen Fehler wieder gutmachen wollte, ließ jetzt seine Truppen gegen das Zentrum vorrücken und auch beide Flügel des Feindes umgehen, in der Hoffnung, noch bis zum Abend und vor Eintreffen des Kaisers die vor ihm stehende winzige Abteilung aufreiben zu können.

Der Anfang ist da! Jetzt kommt es! dachte Fürst Andrej und fühlte, wie ihm das Blut schneller zum Herzen strömte. Aber wo und auf welche Art wird jetzt mein Toulon[69] sich zeigen? dachte er.

Als er zwischen jenen Kompanien hindurchritt, die noch vor einer Viertelstunde Grütze gegessen und Schnaps getrunken hatten, sah er überall dieselben schnellen Bewegungen der Soldaten, die sich aufstellten und ihre Gewehre zum Gefecht fertig machten, und auf allen Gesichtern las er dasselbe erregte Gefühl, das auch sein Herz erfüllte: Der Anfang ist da! Jetzt kommt es, fürchterlich und lustig zugleich! stand auf dem Gesicht jedes Mannes und jedes Offiziers geschrieben.

Fürst Andrej war noch nicht wieder bis zu den im Bau befindlichen Schanzen zurückgekommen, als er im Abendlicht des trüben Herbsttages einige Reiter erblickte, die ihm entgegenkamen. Der vorderste von ihnen, in Filzmantel und Lammfellmütze, ritt auf einem Schimmel. Es war Bagration. Fürst Andrej machte halt, um ihn zu erwarten. Bagration hielt sein Pferd ebenfalls an und nickte dem Fürsten Andrej zu. Während dieser ihm mitteilte, was er gesehen hatte, blickte Bagration unverwandt nach vorn.

Die Worte: »Der Anfang ist da! Jetzt kommt es!« standen auch auf dem wetterharten, braunen Gesicht des Fürsten Bagration und in seinen halbgeschlossenen, trüben, verschlafenen Augen geschrieben. Mit unruhiger Neugier betrachtete Fürst Andrej dieses unbewegliche Gesicht, und er hätte gern gewußt, ob dieser Mann in diesem Augenblick wirklich etwas dachte und fühlte, und was für Gefühle und Gedanken das waren. Regt sich dort überhaupt etwas hinter diesem starren Gesicht? fragte sich Fürst Andrej, während er ihn unverwandt anblickte.

Bagration neigte seinen Kopf zum Zeichen, daß er mit dem, was Fürst Andrej ihm gesagt hatte, einverstanden sei, und sagte: »Gut, gut«, aber mit einer Miene, als ob alles, was sich abspielte oder ihm gemeldet wurde, gerade das sei, was er vorausgesehen und erwartet habe. Fürst Andrej, der von dem flotten Ritt ganz außer Atem gekommen war, hatte sehr schnell gesprochen. Bagration dagegen zog mit seiner orientalischen Aussprache seine Worte ganz besonders in die Länge, als ob er dadurch betonen wolle, daß gar kein Grund zur Eile vorhanden sei. Doch setzte er sein Pferd in Trab und ritt in der Richtung auf die Batterie Tuschins weiter. Fürst Andrej sprengte mit dem Gefolge hinter ihm her.

Zu diesem Gefolge des Fürsten Bagration gehörte ein Offizier à la suite, der persönliche Adjutant des Fürsten, Scherkow, eine Ordonnanz, der diensttuende Stabsoffizier auf einem hübschen englisierten Pferde und ein Zivilbeamter, ein Auditeur[70], der aus Neugier um die Erlaubnis gebeten hatte, mit in die Schlacht reiten zu dürfen. Dieser Auditeur, ein dicker Mann mit einem vollen Gesicht, sah mit kindlich frohem Lächeln ringsum, schwankte auf seinem Pferd hin und her und bot in seinem Kamelottmantel auf einem Trainsattel inmitten all dieser Husaren, Kosaken und Adjutanten einen seltsamen Anblick.

»Der möchte gern mal eine Schlacht sehen«, sagte Scherkow zu Bolkonskij und zeigte auf den Auditeur. »Aber dabei ist ihm das Herz schon jetzt in die Hosen gefallen!«

»Aber ich bitte Sie!« erwiderte der Auditeur mit einem strahlendnaiven und gleichzeitig listigen Lächeln, als fühle er sich geschmeichelt, zur Zielscheibe für Scherkows Späße zu dienen, und als gäbe er sich absichtlich Mühe, dümmer zu scheinen, als er in Wirklichkeit war.

»Très drôle, mon monsieur prince«, sagte der diensttuende Stabsoffizier. Ihm fiel ein, daß man sich im Französischen bei der Anrede mit dem Titel »Fürst« einer besonderen Sprachform bedienen muß, konnte sich aber damit nicht zurechtfinden.

Indessen waren sie alle bereits bis zu Tuschins Batterie herangeritten. Da schlug gerade vor ihnen eine Kanonenkugel ein. »Was ist da hingefallen?« fragte naiv lächelnd der Auditeur. »Ein französischer Pfannkuchen«, entgegnete Scherkow. »Also damit wird geschossen?« fragte der Auditeur. »Ein merkwürdiges Vergnügen!«

Er schien sich vor Heiterkeit kaum halten zu können. Aber er hatte seine Worte kaum zu Ende gesprochen, als plötzlich wieder ein fürchterliches Pfeifen ertönte, das mit einem jähen Aufprall auf etwas Flüssiges abbrach, und klatsch – stürzte der Kosak, der weiter rechts hinter dem Auditeur ritt, mit seinem Pferde zu Boden. Scherkow und der Stabsoffizier bückten sich über ihre Sättel und wandten ihre Pferde weg. Der Auditeur hielt neben dem Kosaken an und betrachtete ihn mit gespannter Neugier. Der Mann war tot, das Pferd zuckte noch.

Fürst Bagration drehte sich mit zusammengekniffenen Augen um. Als er die Ursache der Störung sah, wandte er sich gleichgültig wieder ab, als wolle er sagen: Ist es jetzt etwa an der Zeit, sich mit solchen Dummheiten abzugeben? Dann hielt er sein Pferd nach Art eines guten Reiters an, beugte sich etwas herüber und brachte seinen Degen wieder in Ordnung, der sich in den Filzmantel verwickelt hatte. Es war ein altmodischer Degen, der nicht so war, wie man sie damals trug, und Fürst Andrej mußte dabei an die Geschichte denken, wie Suworow in Italien seinen Degen Bagration geschenkt hatte, und diese Erinnerung war ihm jetzt ganz besonders angenehm.

Sie kamen zu derselben Batterie, bei der Bolkonskij vorhin gewesen war, als er das Schlachtfeld betrachtet hatte.

»Wer kommandiert diese Batterie?« fragte Fürst Bagration einen Feuerwerker, der neben einem Munitionskasten stand. Er hatte gefragt: »Wer kommandiert die Batterie?« meinte aber in Wirklichkeit: »Ihr werdet hier doch keine Angst haben?« Und das verstand der Feuerwerker auch ganz richtig.

»Hauptmann Tuschin, Exzellenz!« rief, die Hacken zusammenschlagend, in fröhlichem Ton der rothaarige Feuerwerker, dessen Gesicht ganz mit Sommersprossen bedeckt war.

»Stimmt, stimmt«, sagte Bagration, als fiele es ihm wieder ein, und ritt dann an den Protzen vorbei bis zum letzten Geschütz.

Gerade als Bagration mit seinem Gefolge an die letzte Kanone heranritt, donnerte aus diesem Geschütz ein Schuß, der ihn und sein Gefolge ganz betäubte.

In der Rauchwolke, die das Geschütz einhüllte, sah man Artilleristen, die die Kanone packten und sie mit hastiger Anstrengung wieder auf ihren alten Platz zurückschoben.

Der riesige breitschultrige Soldat Nummer eins mit dem Wischer sprang breitbeinig zum Rad zurück. Nummer zwei schob mit zitternder Hand die Ladung in den Lauf. Ein kleiner Offizier in krummer Haltung, der Hauptmann Tuschin, lief, ohne den General zu bemerken, über die Lafette stolpernd, nach vorn und spähte unter seiner kleinen Hand hervor ins Weite.

»Gib noch zwei Strich zu, dann wird es gerade recht sein«, rief er mit seiner hohen Stimme und versuchte ihr einen kecken Klang zu geben, der aber gar nicht zu seiner Gestalt paßte.

»Zweites Geschütz!« krähte er. »Medwjedjew, Feuer!«

Bagration rief den Offizier heran, und Tuschin ging zu dem General hin und legte mit einer schüchternen, ungeschickten Bewegung drei Finger an den Mützenschirm. Dabei sah er ganz und gar nicht aus wie ein Soldat, der seinen Vorgesetzten grüßt, sondern eher wie ein Geistlicher, der den Segen erteilt. Obwohl Tuschins Geschütze dazu bestimmt waren, die Schlucht zu bestreichen, beschoß er mit Brandkugeln das gegenüberliegende Dorf Schöngrabern, aus welchem große Massen von Franzosen herausmarschierten.

Niemand hatte Tuschin befohlen, wohin und mit welcher Art von Geschossen er schießen sollte. Er hatte sich mit seinem Feldwebel Sachartschenko, den er sehr hoch schätzte, beraten und es dann für richtig befunden, das Dorf Schöngrabern in Brand zu schießen. »Schön!« sagte Bagration auf den Bericht des Hauptmanns und betrachtete dann wieder nachdenklich das ganze Schlachtfeld, das offen vor seinen Blicken dalag.

Auf der rechten Seite waren die Franzosen am nächsten herangekommen. Unterhalb der Höhe, auf der das Kiewer Regiment stand, in der Schlucht des Flüßchens, knatterten unaufhörlich und ohrenbetäubend die Gewehre, und weiter rechts, hinter den Dragonern, zeigte der Offizier à la suite dem Fürsten eine Kolonne Franzosen, die unsern Flügel umging. Zur Linken wurde der Horizont von einem nahen Walde begrenzt. Fürst Bagration gab zwei Bataillonen aus dem Zentrum den Befehl, zur Verstärkung nach der rechten Flanke abzuschwenken, worauf der Offizier à la suite den Fürsten darauf hinzuweisen wagte, daß nach dem Abmarschieren dieser Bataillone die Geschütze ohne Deckung bleiben würden. Bagration drehte sich nach dem Offizier à la suite um und sah ihn mit seinen trüben Augen schweigend an. Fürst Andrej fand die Bemerkung des Offiziers à la suite ganz richtig, so daß man tatsächlich nichts dagegen einwenden könne. Aber in diesem Augenblick kam ein Adjutant von dem in der Schlucht stehenden Oberst angesprengt mit der Nachricht, daß gewaltige Massen von Franzosen ins Tal vorgerückt seien und das Regiment fast aufgerieben sei und sich zu den Kiewer Grenadieren zurückziehe. Fürst Bagration neigte zum Zeichen des Einverständnisses und der Billigung den Kopf. Dann ritt er im Schritt nach rechts und schickte einen Adjutanten zu den Dragonern mit dem Befehl, die Franzosen zu attackieren. Doch dieser Adjutant kam nach einer halben Stunde mit der Meldung zurück, der Dragoneroberst sei schon hinter die Schlucht zurückgegangen, da der Feind ein heftiges Feuer gegen ihn eröffnet habe, durch das er nutzlos seine Leute verloren hätte, und daher habe er schleunigst im Walde Deckung suchen müssen.

»Schön«, sagte Bagration.

Als er gleich darauf von der Batterie fortreiten wollte, hörte man links im Wald ebenfalls Schüsse. Da es für ihn bis zur linken Flanke zu weit war, um selber noch rechtzeitig hinkommen zu können, schickte er Scherkow hin, um dem rangältesten General – demselben, der in Braunau dem Oberkommandierenden sein. Regiment vorgeführt hatte – sagen zu lassen, er solle sich so schnell wie möglich hinter die Schlucht zurückziehen, weil der rechte Flügel wahrscheinlich nicht imstande sein werde, den Feind lange aufzuhalten. Tuschin und das Bataillon, das ihn decken sollte, waren vergessen.

Fürst Andrej hörte aufmerksam auf die Gespräche des Fürsten Bagration mit den Kommandeuren und auf die von ihm erteilten Befehle. Zu seiner Verwunderung mußte er die Beobachtung machen, daß Fürst Bagration überhaupt keine Befehle erteilte, sondern nur den Anschein zu erwecken suchte, als ob alles, was sich notwendig, zufällig oder nach dem Willen der einzelnen Kommandeure vollzog, wenn auch nicht auf seinen Befehl, so doch im Einklang mit seinen Absichten geschehen sei. Doch entging es dem Fürsten Andrej auch wiederum nicht, daß die Anwesenheit des Oberbefehlshabers trotz der Zufälligkeit der Ereignisse und ihrer Unabhängigkeit von seinem Willen dennoch dank dem Takt, den Fürst Bagration dabei bewies, eine außerordentliche Wirkung ausübte. Die Kommandeure, die mit verstörten Gesichtern zu Fürst Bagration herangeritten kamen, beruhigten sich, wenn sie vor ihm standen, die Soldaten und Offiziere, die ihn freudig begrüßten, wurden lebhafter und wetteiferten anscheinend darin, vor ihm ihre Tapferkeit zu zeigen.

18

Nachdem Fürst Bagration den höchsten Punkt unseres rechten Flügels in Augenschein genommen hatte, ritt er wieder bergab, wo unaufhörlich Gewehrfeuer knatterte und vor Pulverdampf nichts zu sehen war. Je tiefer sie in das Tal hinunterkamen, um so weniger war zu sehen, aber um so mehr machte sich die Nähe des wirklichen Schlachtfeldes bemerkbar. Scharen von Verwundeten kamen ihnen entgegen. Einen von ihnen, mit blutigem Kopf und ohne Mütze, hatten zwei andere Soldaten unter die Arme gefaßt und führten ihn so weiter. Er röchelte und spuckte Blut; anscheinend hatte ihn eine Kugel in den Mund oder in die Kehle getroffen. Ein anderer, der ihnen entgegenkam, ging standhaft allein, ohne Gewehr; er stöhnte laut und schwenkte in rasendem Schmerz den Arm, aus dem das Blut wie aus einer Flasche auf seinen Mantel floß. Sein Gesicht zeigte einen mehr erschrockenen als leidenden Ausdruck; er war erst vor wenigen Minuten verwundet worden.

Die Offiziere ritten über den Weg und dann einen steilen Abhang hinunter, auf dem sie an manchen Stellen zu Boden gestreckte Mannschaften liegen sahen. Ihnen entgegen kam ein Trupp Soldaten, unter denen sich abermals Verwundete befanden. Schwer keuchend kletterten die Soldaten den Berg hinauf; ohne sich um den General zu kümmern, unterhielten sie sich laut und schlenkerten dabei mit den Armen. Vorn, im Pulverrauch, sah man schon dichte Reihen grauer Mäntel. Ein Offizier lief, als er Bagration erblickte, schreiend jenen ungeordnet bergauf ziehenden Soldaten nach und forderte sie auf, umzukehren.

Bagration ritt an die Reihen heran, aus denen bald hier, bald dort Schüsse knallten, die jedes Gespräch und sogar die Kommandorufe übertönten. Die Luft war voller Pulverdampf. Die Soldaten hatten schwarze, erregte Gesichter. Die einen stopften mit den Ladestöcken die Kugeln in die Gewehre, andere schütteten Pulver auf ihre Pfannen oder holten Kugeln aus den Kugeltaschen, und wieder andere schossen. Aber wohin sie schossen, konnten sie wegen des Pulverdampfs, den kein Wind forttrieb, nicht sehen. Oft genug hörte man auch jene unerfreulichen, sausenden und pfeifenden Laute der großen Geschosse. Was ist das hier? dachte Fürst Andrej und ritt an die Soldaten heran. Eine Vorpostenkette ist das nicht, denn sie stehen ja truppweise zusammen, eine Attacke kann es auch nicht sein, denn sie bewegen sich ja nicht von der Stelle; aber ein Karree ist es auch nicht, sonst müßten sie doch anders stehen.

Der Regimentskommandeur, ein anscheinend schwächlicher, hagerer alter Herr mit freundlichem Lächeln und Augenlidern, die seine altersmüden Augen zur Hälfte verdeckten und ihm ein sanftes Aussehen gaben, ging auf Fürst Bagration zu und begrüßte ihn, wie ein Hausherr seinen lieben Gast. Er meldete ihm, die Franzosen hätten auf sein Regiment eine Kavallerieattacke gemacht, die zwar zurückgeschlagen sei, aber das Regiment dennoch über die Hälfte der Leute gekostet habe. Wenn er behauptete, die Attacke sei zurückgeschlagen, so ließ er sich diesen militärischen Ausdruck für das, was mit seinem Regiment vorgegangen war, ausschließlich von seiner Phantasie eingeben. In Wirklichkeit wußte er selber nicht, was sich in dieser halben Stunde bei den ihm anvertrauten Truppen abgespielt hatte, und konnte daher gar nicht mit Sicherheit behaupten, ob die Attacke wirklich zurückgeschlagen oder sein Regiment dadurch aufgerieben war. Er wußte nur, daß bei Beginn des Kampfes Kanonenkugeln und Granaten überall in seinem Regiment eingeschlagen und die Leute niedergestreckt hatten; dann war plötzlich von jemand »Kavallerie!« geschrien worden, und unsere Leute hatten zu schießen angefangen. Später hatten sie nicht mehr auf die Kavallerie geschossen, die verschwunden war, sondern auf französische Infanterie, die sich im Tal gezeigt und auf die Unsrigen das Feuer eröffnet hatte.

Fürst Bagration neigte den Kopf, um damit zu bekunden, daß alles genauso sei, wie er gewünscht und vermutet habe. Er wandte sich an seinen Adjutanten und befahl ihm, die zwei Bataillone des sechsten Jägerregiments, an denen sie eben vorbeigekommen waren, vom Berg herunter hierher zu führen. Fürst Andrej fiel auf, daß in diesem Augenblick in Bagrations Gesicht eine Veränderung vorgegangen war. Eine feste und fröhliche Entschlossenheit prägte sich in seinen Zügen aus wie bei einem Menschen, der an einem heißen Tag im Begriff ist, ins Wasser zu springen und gerade den letzten Anlauf dazu nimmt. Der verschlafene, trübe Ausdruck seiner Augen war verschwunden und ebenso seine künstlich nachdenkliche Miene. Die runden, klaren Habichtsaugen blickten lebhaft und etwas verächtlich nach vorn und schienen auf keinem Gegenstand haften zu wollen. Nur seine Bewegungen waren noch genauso langsam und gleichmäßig wie früher.

Der Regimentskommandeur wandte sich an den Fürsten Bagration und bat ihn, zurückzureiten, da es hier zu gefährlich sei. »Ich bitte Sie flehentlich, Durchlaucht, ich bitte Sie dringend!« sagte er und sah, um seine Warnung bestätigen zu lassen, nach dem Offizier à la suite hinüber, der sich von ihm weggewandt hatte. »Da, bitte, sehen Sie!« Und er zeigte auf die Kugeln, die unaufhörlich um sie herum zischten, sausten und pfiffen. Er sagte das in einem so bittenden und vorwurfsvollen Ton, wie etwa ein Zimmermann zu seinem Bauherrn sagen würde, wenn dieser ein Beil in die Hand nehmen wollte: »Unsereiner ist daran gewöhnt, Sie aber bekommen nur Schwielen an die Hände.« Er tat, als ob ihn selber diese Kugeln nicht treffen könnten, und seine halbgeschlossenen Augen verliehen seinen Worten einen noch überzeugenderen Ausdruck. Der Stabsoffizier schloß sich den Mahnungen des Regimentskommandeurs an; aber Fürst Bagration antwortete ihnen nicht, sondern befahl nur, das Feuer einzustellen und sich so zu gruppieren, daß die beiden heranmarschierenden Bataillone Platz fänden.

Während er diese Befehle erteilte, wurden wie von unsichtbarer Hand die Rauchschwaden, die das Tal verhüllten, durch einen aufkommenden Wind nach rechts und links auseinandergezogen, und der gegenüberliegende Berg mit den Franzosen, die den Abhang herunterkamen, lag klar vor ihren Blicken.

Aller Augen waren unwillkürlich auf diese gegen uns vormarschierende französische Kolonne gerichtet, die wegen der Abschüssigkeit des Terrains nur in Windungen vorwärtskommen konnte. Schon sah man die zottigen Pelzmützen der Soldaten, schon konnte man Offiziere von Gemeinen unterscheiden und zusehen, wie ihre Fahne um die Stange flatterte.

»Prächtig marschieren sie!« sagte jemand in Bagrations Gefolge.

Die Spitze der Kolonne hatte das Tal schon erreicht. Der Zusammenstoß mußte auf dem diesseitigen Abhang erfolgen.

Die Reste unseres Regiments, das soeben noch im Feuer gewesen war, stellten sich eiligst auf und traten nach rechts. Hinter ihnen hervor kamen in guter Ordnung die beiden Jägerbataillone anmarschiert. Sie waren noch nicht bis zu Bagration gekommen, aber man hörte schon den schweren, wuchtigen Tritt der im gleichen Schritt marschierenden Masse. Am linken Flügel, dem Fürsten Bagration am nächsten, ging der Kompanieführer, ein stattlicher Mann mit einfältigem, glückseligem Ausdruck auf dem runden Gesicht. Es war derselbe Offizier, der kurz vorher aus Tuschins Hütte herausgelaufen war. Anscheinend dachte er in diesem Augenblick nur daran, recht schneidig an seinem Vorgesetzten vorbeizumarschieren.

Mit jener Selbstzufriedenheit, wie sie viele Offiziere an der Front zeigen, schritt er auf seinen muskulösen Beinen leicht und schwimmend dahin. Ohne jede Anstrengung hielt er sich hochaufgereckt und stach durch die Leichtigkeit, mit der er sich bewegte, von den schwer auftretenden Soldaten ab, die mit ihm gleichen Schritt hielten. Seinen blanken, dünnen, schmalen Degen – es war ein kleiner krummer Säbel, der gar nicht nach einer Waffe aussah – hielt er an den Fuß und schaute bald nach dem hohen Vorgesetzten, bald nach rückwärts zu seiner Kompanie, indem er, ohne dabei aus dem Tritt zu kommen, seine ganze kräftige Gestalt geschmeidig drehte. Seine ganzen Seelenkräfte schienen nur darauf gerichtet zu sein, in möglichst guter Haltung an seinem Vorgesetzten vorbeizukommen, und in dem Bewußtsein, diese Aufgabe gut erfüllt zu haben, war er vollkommen glücklich. »Links … links … links«, schien er sich innerlich bei jedem Schritt zu sagen; und nach diesem Takt bewegte sich auch mit gleichmäßig ernsten Gesichtern die Mauer der mit Tornister und Gewehr bepackten Soldatengestalten, als ob jeder von diesen Hunderten Soldaten bei jedem zweiten Schritt in Gedanken mitspräche: »Links … links … links!« Ein dicker Major machte keuchend und aus dem Tritt kommend einen Umweg um einen am Wege stehenden Busch, und ein Soldat, der zurückgeblieben war, holte, über seine Nachlässigkeit erschrocken, außer Atem seine Kompanie im Trab wieder ein. Da sauste eine Kanonenkugel dicht über Bagration und sein Gefolge hin und schlug im Takte des »Links … links« prasselnd in die Kolonne ein.

»Schließt die Reihen!« ertönte die geckenhafte Stimme des Kompanieführers. Die Soldaten gingen im Bogen um jene Stelle herum, wo die Kanonenkugel eingeschlagen hatte. Ein alter, mit Orden geschmückter Flügelunteroffizier, der einen Augenblick bei den Gefallenen zurückgeblieben war, holte seine Gruppe wieder ein, wechselte dabei mit einem Sprung den Tritt und sah sich, als er wieder in gleichen Schritt gekommen war, bärbeißig um. »Links … links … links!« schien es aus dem drohenden Schweigen und dem eintönigen Klang des gleichzeitigen Auftretens herauszutönen.

»Ihr seid tüchtige Kerls, Leute!« sagte Fürst Bagration.

»Morgen … lenz … lenz … lenz!« klang es aus den Reihen. Ein finsterblickender Soldat, der auf dem linken Flügel marschierte, sah beim Schreien den Fürsten Bagration mit einer Miene an, als wolle er sagen: Das wissen wir selber! Ein anderer blickte nicht zu Bagration hin, als fürchte er, sich zu zerstreuen, schrie aber mit weit aufgerissenem Munde mit und marschierte vorüber.

Es wurde befohlen haltzumachen und die Tornister abzulegen.

Bagration überholte die Reihen, die an ihm vorbeimarschiert waren, und stieg vom Pferd. Er gab einem Kosaken die Zügel, nahm seinen Mantel ab, reichte ihn ebenfalls dem Kosaken, reckte sich und setzte die Mütze zurecht. Die Spitze der französischen Kolonne, voran die Offiziere, erschien auf der Talsohle.

»Gott mit uns!« sagte Bagration mit fester, lauter Stimme. Dann wandte er sich einen Augenblick nach der Front um und schritt, ein wenig mit den Armen schlenkernd, mit dem ungeschickten Gang eines Kavalleristen, dem das Laufen Mühe macht, auf dem unebenen Feld den andern voran. Fürst Andrej fühlte, wie eine unwiderstehliche Gewalt ihn vorwärts zog, und empfand dabei ein hohes Glücksgefühl.[*][71][72]

Die Franzosen waren schon nahe herangekommen. Fürst Andrej, der neben Bagration ging, konnte bereits deutlich die Binden, die roten Achselstücke, ja sogar die Gesichter der Franzosen erkennen. Er sah deutlich, wie ein alter französischer Offizier mit auswärts gesetzten Füßen in Stiefeletten sich mühsam an den Sträuchern hochzog und so den Berg hinaufkletterte. Fürst Bagration gab keinen neuen Befehl und schritt immer noch schweigsam den Reihen voran.

Plötzlich krachte in den Linien der Franzosen ein Schuß, dann ein zweiter, ein dritter … und nun knatterte das Gewehrfeuer aus allen in Unordnung geratenen Reihen, und ein dichter Pulverdampf breitete sich nach allen Seiten aus. Einige von den Unsrigen waren gefallen, unter ihnen auch der Offizier mit dem runden Gesicht, der vorhin so fröhlich und eifrig vorbeimarschiert war. Doch in dem Augenblick, als der erste Schuß ertönte, sah sich Bagration um und schrie: »Hurra!«

Ein langgezogenes »Hur-r-r-ra« verbreitete sich über unsere ganze Linie, und in wirren, aber fröhlich und lebhaft erregten Haufen stürmten die Jäger, einander überholend, an Bagration vorbei den Berg hinunter auf die Franzosen zu, deren geordnete Reihen sich lösten.

19

Der Angriff des sechsten Jägerregiments deckte den Rückzug des rechten Flügels. Im Zentrum hielt die Tätigkeit der vergessenen Batterie Tuschins, die Schöngrabern bereits in Brand geschossen hatte, den Vormarsch des Feindes auf. Die Franzosen mußten den Brand löschen, der durch den Wind noch weiter getragen wurde, und ließen dadurch den Russen Zeit, sich zurückzuziehen. Der Rückzug des Zentrums durch die Schlucht vollzog sich eilig und geräuschvoll; doch wurden die Truppen dabei nicht durch Kommandos in Verwirrung gebracht. Der linke Flügel jedoch – das Asower und Podolsker Infanterieregiment und die Pawlograder Husaren –, der zu gleicher Zeit von überlegenen feindlichen Kräften unter dem Oberbefehl Lannes’ angegriffen und umgangen wurde, geriet vollständig in Verwirrung. Bagration schickte Scherkow zu dem kommandierenden General des linken Flügels mit dem Befehl, sofort den Rückzug anzutreten.

Schneidig setzte Scherkow, ohne die Hand von der Mütze zu nehmen, sein Pferd in Trab und sprengte davon. Doch kaum war er von Bagration fortgeritten, als ihn seine seelischen Kräfte verließen und eine so unwiderstehliche Angst über ihn kam, daß er es nicht über sich brachte, dorthin zu reiten, wo es gefährlich war.

Als er zu den Truppen des linken Flügels gekommen war, ritt er nicht nach vorn, wo das Gewehrfeuer knatterte, sondern suchte den General und die anderen Kommandeure an einer Stelle, wo sie unmöglich sein konnten, und übermittelte Jäher auch gar nicht den Befehl.

Das Kommando über den linken Flügel stand dem Alter nach dem Oberst jenes Regimentes zu, das Kutusow bei Braunau besichtigt hatte, jenes Regiments, in dem Dolochow als Gemeiner diente. Über den äußersten linken Flügel jedoch war das Kommando dem Oberst des Pawlograder Husarenregiments übertragen, in dem Rostow stand. Infolgedessen kam es zwischen diesen beiden Kommandeuren zu Mißhelligkeiten. Beide befanden sich in sehr gereizter Stimmung, und zu einer Zeit, da auf dem rechten Flügel der Kampf schon lange im Gang war und die Franzosen bereits den Vormarsch begannen, waren beide Kommandeure mit Verhandlungen beschäftigt, die nur den Zweck hatten einander zu beleidigen. Ihre Regimenter aber, sowohl die Kavallerie als auch die Infanterie, waren sehr wenig auf den bevorstehenden Kampf vorbereitet. Die Mannschaft vom Gemeinen bis zum höchsten Offizier erwartete keine Schlacht und gab sich ruhig friedlichen Beschäftigungen hin: bei der Kavallerie fütterte man die Pferde, bei der Infanterie suchte man sich Brennholz zusammen.

»Er steht allerdings im Rang über mir«, sagte der deutsche Husarenoberst mit einem vor Aufregung ganz roten Kopf zu dem Adjutanten, den der Infanteriegeneral zu ihm geschickt hatte; »mag er machen, was er will. Deshalb kann ich meine Husaren nicht aufopfern. Trompeter! Zum Rückzug blasen!«

Aber die Zeit drängte. Geschütz- und Gewehrfeuer von der rechten Flanke und vom Zentrum her donnerte und knatterte durcheinander, und Lannes’ französische Schützen in ihren Kapottmänteln hatten schon den Mühlendamm überschritten und stellten sich, nur zwei Gewehrschußweiten von den Unsrigen entfernt, auf der anderen Seite auf. Der Infanterieoberst trat mit seinem zuckenden Gang auf sein Pferd zu, bestieg es, richtete sich gerade und steif auf und sprengte zu dem Pawlowgrader Kommandeur hin. Die beiden Befehlshaber ritten einander mit höflichen Verbeugungen, aber mit versteckter Wut im Herzen, entgegen.

»Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen, Herr Oberst«, fing der General an, »daß ich nicht die Hälfte meiner Leute im Walde umkommen lassen möchte. Ich bitte Sie, bitte Sie dringend«, fügte er hinzu, »Ihre Stellung einzunehmen und sich zur Attacke bereitzumachen.«

»Und ich möchte Sie bitten, sich nicht in Dinge einzumischen, die Sie nicht verstehen«, antwortete hitzig der Oberst, »wenn Sie Kavallerist wären …«

»Ich bin nicht Kavallerist, Herr Oberst, sondern russischer General, und wenn Ihnen das nicht bekannt ist …«

»Das ist mir wohl bekannt, Exzellenz«, schrie plötzlich der Oberst, der dunkelrot geworden war und seinem Pferde die Sporen gab, »vielleicht haben Sie die Güte, sich in die Vorpostenkette zu bemühen, dann werden Sie sehen, daß diese Stellung ganz unmöglich ist. Ich will mein Regiment nicht zu Ihrem Vergnügen aufreiben lassen.«

»Sie vergessen sich, Herr Oberst! Ich habe dabei nicht mein Vergnügen im Auge und lasse mir so etwas nicht sagen!«

Der General nahm die Herausforderung des Obersten zu einer Tapferkeitskonkurrenz an, warf sich in die Brust, runzelte finster die Stirn und ritt mit ihm zusammen nach der Vorpostenkette hin, als ob ihr ganzer Streit dort in der Vorpostenkette im Kugelregen entschieden werden müßte. Als sie dort anlangten, flogen einige Kugeln lustig über sie hinweg. Schweigend hielten sie ihre Pferde an. Zu sehen war in der Vorpostenkette nichts; denn schon von der Stelle aus, wo sie vorher gestanden hatten, war es ganz klar gewesen, daß die Kavallerie in dem buschreichen Gelände und in den Schluchten nichts erreichen konnte, und daß die Franzosen den linken Flügel umgingen.

Der General und der Oberst sahen einander mit strengen und bedeutsamen Mienen an, wie zwei Hähne, die sich zum Kampf bereitmachen, und jeder lauerte vergeblich auf ein Zeichen von Feigheit beim anderen. Beide bestanden die Prüfung. Da sie sich nichts zu sagen hatten und keiner dem anderen zu der üblen Nachrede Anlaß geben wollte, er sei zuerst aus dem Kugelregen fortgeritten, so hätten sie noch lange dort gehalten und gegenseitig ihre Tapferkeit auf die Probe gestellt, wenn nicht in diesem Augenblick, fast unmittelbar hinter ihnen, im Walde Gewehrgeknatter und ein dumpfes Durcheinanderschreien zu hören gewesen wäre. Die Franzosen hatten die Soldaten, die im Wald Holz holten, angegriffen. Nun konnten sich die Husaren nicht mehr mit der Infanterie zusammen zurückziehen: die französische Vorpostenkette hatte sie auf der linken Seite von der Rückzugslinie abgeschnitten und so mußten sie jetzt, wie ungeeignet auch das Terrain sein mochte, doch eine Attacke machen, um sich einen neuen Weg zu bahnen.

Die Schwadron, bei der Rostow stand, saß auf und nahm mit der Front nach dem Gegner Aufstellung. Wie auf der Brücke von Enns befand sich auch hier wiederum niemand zwischen der Schwadron und dem Feind, und nur diese fürchterliche Grenze der Ungewißheit und Angst lag wie jene Scheide, die die Lebenden von den Toten trennt, zwischen ihnen. Alle fühlten diese Grenze, und die Frage, ob sie sie überschreiten würden oder nicht, und wie, ließ jedes Herz höher schlagen.

Der Regimentskommandeur ritt an die Front heran, antwortete ärgerlich auf die Fragen der Offiziere und gab wie ein Mensch, der trotzig auf seinem Standpunkt beharrt, irgendeinen Befehl. Niemand hatte etwas Bestimmtes gesagt, aber bei der Schwadron redeten alle davon, daß eine Attacke erfolgen werde. Das Kommando »Richt’t euch!« ertönte, die Säbel rasselten aus den Scheiden, aber immer noch rührte sich niemand. Die Truppen der linken Flanke, sowohl die Infanterie als auch die Husaren, fühlten, daß ihre Vorgesetzten selbst nicht wußten, was sie anfangen sollten, und diese Unentschlossenheit der Führer griff auch auf die Soldaten über.

Wenn es doch nur endlich, endlich losgehen wollte, dachte Rostow, der fühlte, daß nun die Zeit gekommen war, wo er den Genuß einer Attacke, von dem er schon so viel von seinen Kameraden gehört hatte, kennen lernen sollte.

»Mit Gott, Kinder!« ertönte Denissows Stimme. »Trab! Marsch!«

In der vordersten Reihe fingen die Kruppen der Pferde an zu schaukeln. »Rabe« zog an den Zügeln und setzte sich von selbst in Trab.

Von rechts sah Rostow die ersten Reihen seiner Husaren, und noch weiter in der Ferne erblickte er einen dunkeln Streifen, den er nicht genau erkennen konnte, aber für den Feind hielt. Man hörte Schüsse, aber in weiter Entfernung.

»Galopp!« ertönte das Kommando, und Rostow fühlte, wie sein »Rabe« in Galopp überging und dabei das Hinterteil höher hob.

Er hatte nur auf diese Bewegung seines Pferdes gewartet und wurde immer fröhlicher und fröhlicher. Vorne sah er einen einzelnen Baum. Dieser Baum hatte zuerst auf der Mitte jener Grenzlinie, die ihm so furchtbar erschienen war, gestanden. Jetzt aber hatten sie diese Linie überschritten, und nichts Furchtbares war da, sondern alles war im Gegenteil nur noch fröhlicher und lebendiger geworden.

Oh, wie ich loshauen werde! dachte Rostow, und seine Hand faßte den Säbelgriff fester.

»Hu-r-r-r-r-a!« brausten die Stimmen.

Jetzt soll mir nur einer in die Quere kommen, wer es auch immer sei! sagte sich Rostow, der seinem »Raben« die Sporen gab und ihn, alle andern überholend, in schnellstem Galopp vorwärts schießen ließ.

Vorn war bereits der Feind zu sehen. Plötzlich schlug etwas, gleichsam wie mit einem breiten Reisigbesen, auf die Schwadron ein. Rostow hob den Säbel, um sich zum Dreinschlagen fertigzumachen. Aber in diesem Augenblick wurde der Abstand zwischen ihm und dem vor ihm reitenden Husaren Nikitenko größer, und Rostow fühlte wie im Traum, daß er mit unnatürlicher Schnelligkeit weiter vorwärts getragen wurde und doch zugleich auf derselben Stelle zurückblieb. Von hinten ritt ihn der Husar Bondartschuk an und warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Bondartschuks Pferd scheute und raste dann an ihm vorbei.

Warum komme ich nicht vorwärts? – Ich bin gefallen, getötet! fragte und antwortete sich Rostow im selben Augenblick. Er war bereits allein mitten auf dem Feld. Statt der vorwärtsstürmenden Pferde und Husarenrücken sah er rings um sich nur die starre, mit Stoppeln bedeckte Erde. Unter sich fühlte er warmes Blut. Nein, ich bin verwundet, und nur mein Pferd ist getötet. »Rabe« wollte sich auf die Vorderfüße aufrichten, fiel aber gleich wieder zurück und quetschte dabei seinem Reiter das Bein. Aus dem Kopf des Pferdes floß Blut. Es schlug aus und konnte nicht aufstehen. Rostow wollte sich aufrichten, fiel aber ebenfalls zurück: seine Säbeltasche hatte sich am Sattel festgehakt. Wo die Unsrigen und wo die Franzosen waren, das wußte er nicht. Rings um ihn war keine Seele.

Nachdem er sein Bein losgemacht hatte, erhob er sich. Wo und auf welcher Seite war jene Grenze, die beide Heere so scharf voneinander getrennt hatte? fragte er sich und konnte keine Antwort darauf geben. Ist mir etwas Schlimmes zugestoßen? Kommt so etwas oft vor, und was muß man nun tun? fragte er sich, während er aufstand. In diesem Augenblick fühlte er, daß etwas Überflüssiges an seinem linken, fühllos gewordenen Arm herunterhing. Seine Hand kam ihm ganz fremd vor. Er besah den Arm und suchte vergeblich nach Blut. Ach, da kommen ja Leute, dachte er erfreut, als er ein paar Menschen sah, die auf ihn zuliefen. Sie werden mir gewiß helfen!

Allen voran lief ein Mann in blauem Mantel mit einem seltsamen Tschako, schwarzem, sonnenverbranntem Gesicht und einer gebogenen Nase. Zwei andere oder noch mehr liefen hinter ihm. Der eine von ihnen schrie etwas in einer fremden, nicht russischen Sprache. Zwischen den Leuten, die weiter hinten waren und ebensolche Tschakos trugen, stand ein russischer Husar. Sie hatten ihn an der Hand gepackt und führten sein Pferd.

Wahrscheinlich einer der Unsrigen, den sie gefangengenommen haben … Ja. Wollen sie mich etwa auch gefangen nehmen? Was sind das für Leute? dachte Rostow weiter, der kaum seinen Augen traute. Sind das wirklich Franzosen? Er sah die näherkommenden Feinde an, und obwohl er noch vor einigen Augenblicken nur deshalb losgeritten war, um sie niederzuhauen, kam ihm ihre Nähe jetzt so fürchterlich vor, daß er es kaum glauben wollte. Wer ist das? Warum laufen sie so? Wirklich zu mir? Und warum? Um mich zu töten? Mich, den alle so gern haben? Er dachte daran, wie seine Mutter, seine Familie, seine Freunde ihn alle so liebhatten, und es schien ihm ganz unmöglich, daß diese Leute die Absicht haben sollten, ihn zu töten. – Aber vielleicht werden sie mich doch töten. Über zehn Sekunden stand er da ohne seine Lage zu begreifen und rührte sich nicht vom Fleck. Der vorderste der Franzosen, der mit der gebogenen Nase, war so nahe herangekommen, daß sein Gesichtsausdruck bereits zu erkennen war. Das wilde, fremdartige Gesicht dieses Menschen, der mit gefälltem Bajonett, den Atem anhaltend, leichtfüßig auf ihn zugelaufen kam, erfüllte Rostow mit Entsetzen. Er griff nach seiner Pistole, warf sie aber, statt zu schießen, nach dem Franzosen hin und lief dann, so schnell er nur laufen konnte, auf die Büsche zu. Er empfand dabei nicht jenes Gefühl des Zweifels und inneren Kampfes wie auf der Ennsbrücke, sondern einfach das Gefühl eines Hasen, der vor den Hunden davonläuft. Einzig das reine Angstgefühl um sein junges, glückliches Leben beherrschte ihn. Schnell über die Raine springend, flog er mit jenem Eifer, mit dem er als Kind gerannt war, wenn sie Haschen spielten, über das Feld dahin. Ab und zu wandte er sein blasses, gutes, junges Gesicht nach den Feinden um, und eine kalte Angst rieselte ihm über den Rücken. Nein, lieber nicht umsehen! dachte er, drehte sich aber, als er bis an die Büsche herangekommen war, doch noch einmal um.

Die Franzosen waren zurückgeblieben. Gerade in dem Augenblick, als Rostow sich umblickte, hörte der vorderste zu laufen auf, ging im Schritt weiter und rief, sich umdrehend, seinem Hintermann laut etwas zu. Rostow blieb stehen. Ich habe mich geirrt, dachte er, es ist doch nicht möglich, daß sie mich töten wollen. Inzwischen war sein linker Arm so schwer geworden, als hinge ein Zweipudgewicht daran. Er konnte nicht weiterlaufen. Der Franzose war ebenfalls stehen geblieben und zielte.

Rostow kniff die Augen zusammen und duckte sich. Eine Kugel flog zischend an ihm vorbei, gleich darauf eine zweite. Rostow raffte seine letzten Kräfte zusammen, hielt den linken Arm mit der rechten Hand fest und stürzte in die Büsche hinein. Hier standen russische Schützen.

20

Die im Walde überfallenen Infanterieregimenter ergriffen die Flucht, und die einzelnen Kompanien zogen sich, bunt durcheinandergewürfelt, in wirren Haufen zurück. Einer der Soldaten brachte in seiner Angst jene im Krieg so schrecklichen, hier aber ganz sinnlosen Worte auf: »Wir sind abgeschnitten«, und diese Worte teilten sich, ebenso wie das Angstgefühl, der ganzen Menge mit.

»Wir sind umzingelt, abgeschnitten, verloren!« schrien die Stimmen der Fliehenden durcheinander.

Als der Regimentskommandeur hinter sich das Schießen und Schreien hörte, wußte er sofort, daß seinem Regiment etwas Furchtbares zugestoßen war. Der Gedanke, daß er, der musterhafte Offizier, der viele Jahre gedient und niemals etwas versäumt oder versehen hatte, von seinen Vorgesetzten einer Fahrlässigkeit oder mangelhafter Anordnungen bezichtigt werden könnte, regte ihn so auf, daß er im Augenblick den widerspenstigen Kavallerieoberst, seinen eigenen Generalsrang, und vor allem die Gefahr und den Selbsterhaltungstrieb vergaß, seinem Pferde die Sporen gab und, sich am Sattelbogen festhaltend, unter dem Hagel der Kugeln, die ihn überschütteten, aber glücklicherweise nicht trafen, zu seinem Regiment hinsprengte. Er hatte nur einen Wunsch: zu erfahren, was geschehen war, helfend einzugreifen, den Fehler, wenn ein solcher seinerseits wirklich vorlag, wieder gutzumachen und sich nichts zuschulden kommen zu lassen, nachdem er zweiundzwanzig Jahre lang musterhaft gedient hatte und niemals irgendwie gerügt worden war.

Glücklich kam er an den Franzosen vorbei und erreichte ein hinter dem Wald liegendes Feld, über das die Unsrigen flohen und, ohne auf ein Kommando zu hören, den Berg hinabeilten. Jener Augenblick inneren Schwankens war eingetreten, der das Schicksal der Schlachten entscheidet, und es fragte sich nun, ob diese in Unordnung geratenen Soldatenhaufen auf die Stimme ihres Regimentskommandeurs hören oder sich nur nach ihm umsehen und dann weiterlaufen würden? Doch obgleich der Regimentskommandeur mit seiner von den Soldaten früher so gefürchteten Stimme seine Leute verzweifelt anschrie, obgleich sein vor Wut ganz entstelltes Gesicht blaurot geworden war und er mit dem Degen wie toll in der Luft herumfuchtelte, liefen die Soldaten dennoch weiter, redeten miteinander, schossen in die Luft und hörten nicht auf sein Kommando; das innere Schwanken, das der Schlachten Schicksal entscheidet, war augenscheinlich zugunsten der Furcht ausgeschlagen.

Der General begann infolge seines Schreiens und des ihn umgebenden Pulverdampfes zu husten und hielt verzweifelt sein Pferd an. Alles schien verloren. Doch in diesem Augenblick wichen die Franzosen, die hinter den Unsrigen her waren, ohne jeden erkennbaren Grund zurück, verschwanden aus dem Wald, und an ihrer Stelle erschienen russische Schützen. Es war die Kompanie Timochins, die in guter Ordnung im Wald zurückgeblieben war, sich am Rand in einen Graben gelegt und nun auf die Franzosen einen unerwarteten Angriff gemacht hatte. Timochin stürzte sich mit einem wütenden Geschrei auf die Franzosen und stürmte mit solch rasender, trunkener Entschlossenheit, nur den Degen in der Hand, auf den Feind los, daß die Franzosen gar nicht zur Besinnung kommen konnten, ihre Gewehre fortwarfen und flüchteten. Dolochow, der an Timochins Seite gewesen war, hatte einen Franzosen getötet und als erster einen französischen Offizier am Kragen gepackt, der sich dann gefangen geben mußte. Die flüchtenden Russen machten jetzt kehrt, die Bataillone sammelten sich, und die Franzosen, die die Truppen des linken Flügels beinahe in zwei Teile getrennt hatten, wurden für einen Augenblick zurückgeworfen. Die Reserve hatte nun Zeit heranzukommen.

Der Regimentskommandeur stand gerade mit dem Major Ekonomow an einer Brücke und ließ die zurückmarschierenden Kompanien an sich vorüberziehen, als ein Soldat zu ihm trat, seinen Steigbügel faßte und sich fast an sein Pferd lehnte. Der Soldat trug einen bläulichen Mantel aus feinem Tuch, Tornister und Tschako hatte er verloren; sein Kopf war verbunden, und über die Schulter hing ihm eine Patronentasche, die er dem Feind abgenommen hatte. In der Hand hielt er einen französischen Offiziersdegen. Der Soldat sah blaß aus, seine hellblauen Augen blickten dem Regimentskommandeur dreist ins Gesicht, während sein Mund lächelte. Obwohl der Kommandeur gerade damit beschäftigt war, dem Major Ekonomow einen Befehl zu erteilen, sah er sich doch gezwungen, diesem Soldaten seine Aufmerksamkeit zu schenken.

»Eure Exzellenz, hier sind zwei Trophäen«, sagte Dolochow und zeigte auf den französischen Degen und die Patronentasche, »von einem Offizier, den ich gefangen habe … Ich habe die Kompanie zum Stehen gebracht …« Dolochow konnte vor Ermüdung kaum Atem holen und mußte immer wieder Pausen machen. »Die ganze Kompanie … kann es bezeugen. Ich bitte, sich dessen erinnern zu wollen …, Exzellenz.«

»Gut, gut«, sagte der Regimentskommandeur und wandte sich wieder an Major Ekonomow.

Aber Dolochow ging nicht fort; er knüpfte den Verband auf, nahm ihn ab und zeigte auf das geronnene Blut in seinem Haar.

»Von einem Bajonettstich! Bin aber trotzdem in der Front geblieben. Erinnern Sie sich dessen, bitte, Exzellenz.«

Tuschins Batterie war vergessen worden; erst ganz gegen Ende des Gefechts schickte Fürst Bagration, als er noch immer die Kanonade im Zentrum hörte, den diensttuenden Stabsoffizier und dann den Fürsten Andrej hin, um der Batterie den Befehl zu geben, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen. Die Bedeckungsmannschaft, die neben Tuschins Geschützen gestanden hatte, war mitten im Gefecht auf irgend jemands Befehl hin abmarschiert. Aber die Batterie schoß weiter und blieb nur deshalb von den Franzosen verschont, weil der Feind nicht vermuten konnte, daß vier völlig ungeschützte Kanonen sich die Dreistigkeit herausnehmen könnten, ihn zu beschießen. Im Gegenteil, infolge der energischen Tätigkeit dieser Batterie nahm er an, hier im Zentrum seien die Hauptkräfte der Russen konzentriert. Zweimal versuchte er, diesen Punkt anzugreifen, und beidemal wurde er durch die Kartätschenschüsse der vier einsam auf jener Anhöhe stehenden Geschütze zurückgetrieben.

Fürst Bagration war kaum fortgeritten, als es Tuschin gelungen war, das Dorf Schöngrabern in Brand zu schießen.

»Guck, wie sie da rennen! Es brennt! Sieh mal bloß den Rauch dort! Das war fein geschossen! Tadellos! Sieh nur den Rauch, sieh nur den Rauch!« riefen die Kanoniere in lebhafter Erregung durcheinander.

Alle Geschütze schossen ohne Befehl dorthin, wo es brannte. Als wenn sie sich gegenseitig anfeuern wollten, riefen die Soldaten bei jedem Schuß einander zu: »Das war fein gezielt, so ist’s richtig, so ist’s richtig! Siehst du, das war gut!« Die Feuersbrunst, die vom Wind weitergetragen wurde, breitete sich rasch aus. Französische Kolonnen, die schon über das Dorf hinausmarschiert waren, wichen wieder zurück. Aber gleichsam als Rache für diesen Mißerfolg stellte der Feind rechts vom Dorf zehn Geschütze auf und fing nun an, Tuschin zu beschießen.

In ihrer kindlichen Freude über die Feuersbrunst und in ihrem Übereifer, die Franzosen recht erfolgreich zu beschießen, bemerkten unsere Artilleristen diese Batterie erst dann, als zwei, und gleich darauf noch vier weitere Kugeln zwischen den Geschützen einschlugen, die ein paar Pferde niederstreckten und einem Munitionsfahrer das Bein wegrissen. Wenn auch der lebhafte Eifer, der nun einmal aufgekommen war, dadurch keine Einbuße erlitt, so wurde die Stimmung doch gleich eine andere. Die beiden gefallenen Pferde wurden durch andere von der Reservelafette ersetzt, die Verwundeten fortgeschafft und die vier Geschütze gegen die aus zehn Kanonen bestehende Batterie der Franzosen gerichtet. Der zweite Offizier, Tuschins Kamerad, war gleich am Anfang der Schlacht gefallen, und nach Verlauf einer Stunde waren von den vierzig Mann der Bedienung siebzehn tot oder verwundet. Trotz alledem blieben die Soldaten heiter und munter. Zweimal bemerkten sie, daß unten, nicht weit von ihnen, Franzosen anstürmten, und beschossen sie dann mit Kartätschen.

Der kleine Hauptmann mit den kraftlosen, linkischen Bewegungen ließ sich fortwährend von seinem Burschen »noch ein Pfeifchen dafür anzünden«, wie er sich ausdrückte, und lief dann, in der Eile das Feuer wieder aus der Pfeife verschüttend, abermals nach vorn und schaute unter seiner kleinen Hand hervor nach den Franzosen hin.

»Schießt sie zusammen, Kinder!« rief er, packte selber die Räder der Geschütze mit an und drehte die Schrauben auf.

Mitten im Pulverrauch, ganz betäubt von den unaufhörlichen Schüssen, die ihn jedesmal zusammenzucken ließen, lief Tuschin von einem Geschütz zum anderen, ohne dabei sein kurzes Pfeifchen aus dem Mund zu nehmen. Bald zielte er, bald zählte er die Ladungen; dann wieder gab er Befehl zum Fortschaffen und Umschirren der getöteten und verwundeten Pferde und schrie dabei fortwährend mit seiner schwachen, hohen und gar nicht militärisch klingenden Stimme. Sein Gesicht belebte sich immer mehr und mehr. Nur wenn einer von seiner Mannschaft getötet oder verwundet wurde, runzelte er die Stirn, wandte sich von dem Gefallenen ab und schrie ärgerlich seine Leute an, die wie immer zögerten, einen Verwundeten oder Gefallenen aufzuheben. Die Soldaten, zum größten Teil hübsche, stramme Leute, wie das ja immer bei der Artillerie der Fall ist, die zwei Köpfe größer und noch einmal so breit als ihr Hauptmann waren, sahen wie Kinder, die nicht ein und aus wissen, ihren Kommandeur an, und derselbe Ausdruck, der auf seinem Gesicht erschien, spiegelte sich auch in ihren Mienen wider.

Infolge dieses fürchterlichen Getöses, dieses Lärms und der Notwendigkeit, scharf aufzupassen und tätig zu sein, empfand Tuschin nicht das geringste unangenehme Angstgefühl, und der Gedanke, daß er getötet oder schwer verwundet werden könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Im Gegenteil, ihm wurde immer fröhlicher und fröhlicher zumute. Er hatte das Gefühl, als läge jener Augenblick, wo er den Feind zuerst gesehen und den ersten Schuß auf ihn abgefeuert hatte, schon weit zurück, beinahe als sei es schon gestern gewesen, und dieses Stückchen Feld, auf dem er stand, war ihm ein schon längst bekannter, heimischer Platz geworden. Wenn er auch an alles dachte, alles überlegte und alles tat, was auch der beste Offizier in seiner Lage nicht anders hätte tun können, befand er sich doch in einem Zustand, der dem eines Fieberkranken oder Trunkenen ähnelte. Der betäubende Donner der Geschütze, der von allen Seiten erscholl, das Pfeifen und Einschlagen der feindlichen Geschosse, der Anblick der schwitzenden, eifrig zwischen den Geschützen umherlaufenden Kanoniere mit ihren roten Gesichtern, das Blut der Menschen und Pferde und jene Rauchwölkchen drüben beim Feind, nach deren Erscheinen jedesmal eine Kugel geflogen kam und in Erde, Menschen, Geschütze oder Pferde einschlug – alle diese Eindrücke hatten sich in seinem Kopf zu einer eigenen phantastischen Welt verdichtet, die in diesem Augenblick für ihn einen Genuß bedeutete. Die feindlichen Geschütze waren in seiner Phantasie keine Kanonen, sondern Tabakspfeifen, aus denen ein unsichtbarer Raucher kleine Rauchwölkchen in die Luft blies.

»Sieh einer an, wie der wieder pafft«, flüsterte Tuschin vor sich hin, als gerade vom jenseitigen Berg eine Rauchwolke aufstieg und vom Wind in Streifen fortgetragen wurde, »jetzt haben wir ein Bällchen zu erwarten und müssen auch eines hinüberwerfen.«

»Was befehlen Euer Wohlgeboren?« fragte der Feuerwerker, der dicht neben ihm stand und gehört hatte, daß er etwas vor sich hin murmelte.

»Ach nichts, nimm eine Granate …«, antwortete Tuschin.

»Also jetzt kommt unsere Matwjejewna dran«, sagte er wieder vor sich hin. Matwjejewna hieß in seiner Phantasie die große, altmodische, gußeiserne Kanone, die ganz hinten stand. Die Franzosen an ihren Geschützen erschienen ihm als Ameisen. Der Kanonier Nummer Eins, ein hübscher Mensch und berüchtigter Trunkenbold, hieß in seiner Phantasiewelt »der Onkel«. Tuschin schaute häufiger nach ihm als nach den andern und freute sich über jede seiner Bewegungen. Die Töne des bald ersterbenden, bald wieder stärker werdenden Gewehrfeuers unten am Berge waren für ihn das Atmen eines Menschen, und er horchte, wie diese Töne bald leiser, bald lauter wurden.

»Horch, jetzt hat er wieder stärker zu atmen angefangen«, sagte er vor sich hin. Er selber kam sich wie ein ungeheurer Riese vor, der mit beiden Händen Kanonenkugeln nach den Franzosen hinschleudert.

»Na Matwjejewna, Mütterchen, laß dich nicht unterkriegen!« sagte er, von dem Geschütz zurücktretend, als plötzlich über seinem Kopf eine fremde, unbekannte Stimme erscholl.

»Hauptmann Tuschin, Hauptmann!«

Tuschin sah sich erschrocken um. Es war derselbe Stabsoffizier, der ihn im Dorf Grund aus dem Marketenderzelt herausgejagt hatte. Er schrie ihn ganz außer Atem an: »Was machen Sie denn. Sind Sie verrückt? Zweimal ist Ihnen befohlen worden, den Rückzug anzutreten, und Sie …«

Warum fährt der mich so an? dachte Tuschin und blickte ängstlich zu dem Vorgesetzten auf.

»Ich habe … ich habe nichts …«, stammelte er und legte zwei Finger an den Mützenschirm, »ich …«

Aber der Stabsoffizier konnte nicht alles aussprechen, was er sagen wollte. Eine dicht vorüberfliegende Kanonenkugel veranlaßte ihn, sich zu ducken und auf sein Pferd zusammenzukrümmen. Er schwieg, und als er dann noch etwas sagen wollte, zwang ihn wieder eine Kanonenkugel zum Einhalten. Er drehte sein Pferd um und sprengte davon.

»Zurückgehen! Alle zurückgehen!« schrie er von weitem.

Die Soldaten lachten. Einen Augenblick darauf kam ein Adjutant mit dem gleichen Befehl.

Es war Fürst Andrej. Das erste, was er erblickte, als er auf die Kuppe herausritt, auf der Tuschins Kanonen standen, war ein abgeschirrtes Pferd mit durchschossenem Bein, das neben den angespannten Pferden stand und wieherte. Aus seinem Bein floß das Blut wie aus einer Quelle. Zwischen den Protzen lagen einige Tote. Eine Kanonenkugel nach der anderen sauste, während er heranritt, über ihn hinweg, und er fühlte, wie ein nervöses Zittern über seinen Rücken lief. Aber der bloße Gedanke, daß er Angst habe, ließ seinen Mut wieder aufleben. Ich darf mich nicht fürchten, dachte er und stieg zwischen den Geschützen langsam vom Pferde. Er überbrachte den Befehl, ritt dann aber nicht von der Batterie fort, sondern beschloß dazubleiben und zu helfen, die Stellung zu räumen und die Geschütze fortzuführen. Zusammen mit Tuschin schritt er zwischen den Leichen hin und ließ unter dem furchtbaren Feuer der Franzosen die Geschütze zum Abrücken fertigmachen.

»Eben ist ein anderer Offizier hier gewesen, der ist aber gleich wieder ausgerissen«, sagte der Feuerwerker zu Fürst Andrej, »nicht so wie Euer Wohlgeboren.«

Fürst Andrej sprach nicht mit Tuschin. Beide waren so beschäftigt, daß sie anscheinend einander gar nicht sahen. Erst als die beiden Geschütze, die von den vieren noch heil geblieben waren, an die Protzen angehängt waren – eine Kanone und eine Haubitze wurden zerschossen zurückgelassen – und die Batterie bergab fuhr, ritt Fürst Andrej zu Tuschin heran.

»Also auf Wiedersehen!« sagte er und reichte Tuschin die Hand.

»Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!« entgegnete Tuschin, »Sie liebe Seele! Leben Sie wohl, leben Sie wohl!« Tränen traten ihm plötzlich in die Augen, er wußte selber nicht warum.

21

Der Wind hatte sich gelegt, schwarze Wolken hingen tief auf das Schlachtfeld herab und gingen am Horizont in den Pulverdampf über. Es dunkelte bereits, aber um so deutlicher hob sich an zwei Stellen ein roter Feuerschein ab. Die Kanonade war schwächer geworden, aber die Gewehre knatterten hinten und rechts noch häufiger und näher.

Kaum war Tuschin mit seinen Geschützen, die, wenn sie auch vorsichtig um die am Boden Liegenden herumfuhren, bisweilen dennoch einen Verwundeten streiften, aus der Schußlinie herausgekommen und in die Schlucht hinabgefahren, als ihm einige höhere Offiziere und Adjutanten entgegenkamen. Unter ihnen befanden sich auch der Stabsoffizier und Scherkow, der zweimal zu Tuschins Batterie abgeschickt worden, aber nie bis zu ihr hingekommen war. Alle diese Offiziere, von denen immer einer dem anderen ins Wort fiel, überbrachten Tuschin Befehle, wie und wohin er fahren solle, machten ihm Vorwürfe und erteilten ihm Verweise. Tuschin ordnete gar nichts an und ritt schweigend auf seinem Artilleristengaul hinter der Batterie her. Er traute sich nicht zu sprechen, da er nahe daran war, bei jedem Wort loszuweinen; warum, wußte er selber nicht. Obgleich befohlen worden war, die Verwundeten liegenzulassen, schleppten sich dennoch viele von ihnen hinter den Truppen her und baten, auf den Geschützen mitfahren zu dürfen. Jener schneidige Infanterieoffizier, der vor der Schlacht aus Tuschins Zelt herausgestürzt war, lag jetzt mit einer Kugel im Leib auf der Lafette der Matwjejewna. Unten am Berge kam ein blasser Husarenjunker, der den einen Arm mit dem andern festhielt, zu Tuschin heran und bat ihn um die Erlaubnis, sich auf das Geschütz setzen zu dürfen.

»Herr Hauptmann, ich bitte Sie um Gottes willen, mir ist der Arm ganz abgequetscht«, sagte er schüchtern. »Um Gottes willen, ich kann nicht mehr weitergehen, um Gottes willen!«

Man merkte, daß dieser Junker schon mehrmals darum gebeten hatte, irgendwo mitfahren zu dürfen, aber überall eine abschlägige Antwort erhalten hatte. Er fragte mit unsicherer und kläglicher Stimme.

»Lassen Sie mich doch aufsteigen, um Gottes willen!«

»Laßt ihn aufsitzen, laßt ihn aufsitzen«, sagte Tuschin. »Leg einen Mantel unter, Onkel«, wandte er sich an seinen Lieblingssoldaten. »Aber wo ist denn der verwundete Offizier?«

»Den haben wir abgeladen; er war gestorben«, antwortete jemand.

»Laßt ihn aufsteigen! Setzen Sie sich hin, mein Lieber, setzen Sie sich hin. Breite ihm einen Mantel unter, Antonow.«

Der Junker war Rostow. Er hielt seinen Arm mit dem andern fest, war blaß, und sein Unterkiefer zitterte vor Schüttelfrost. Die Soldaten machten ihm auf der Matwjejewna Platz, auf demselben Geschütz, von dem man den toten Offizier heruntergenommen hatte. An dem untergelegten Mantel war Blut, das Rostows Reithosen und Hände befleckte.

»Was ist mit Ihnen? Sind Sie verwundet, mein Lieber?« fragte Tuschin und ritt an das Geschütz heran, auf dem Rostow saß.

»Nein, ich habe eine Quetschung.«

»Wo kommt denn das Blut her, da auf der Lafette?« fragte Tuschin.

»Das ist von dem Offizier, Euer Wohlgeboren«, antwortete ein Artillerist, als müsse er sich wegen des unsauberen Zustandes, in dem sich sein Geschütz befand, entschuldigen, und rieb das Blut mit dem Mantelärmel ab.

Mit Hilfe der Infanterie brachten die Artilleristen ihre Geschütze mühsam den Berg hinauf und machten, als sie Guntersdorf erreicht hatten, dort halt. Es war schon so dunkel geworden, daß man auf zehn Schritt Entfernung die Uniformen der Soldaten nicht mehr unterscheiden konnte. Das Gewehrfeuer flaute allmählich ab. Plötzlich ertönte aus nächster Nähe, von rechts her, wieder Geschrei und Schießen. Schüsse blitzten in der Dunkelheit auf. Es war der letzte Angriff der Franzosen, auf den die im Dorf liegenden Soldaten antworteten. Alles stürzte aus den Häusern heraus, aber Tuschins Geschütze konnten nicht weiter vorwärtskommen, und die Artilleristen, Tuschin und der Junker sahen sich in Erwartung ihres Schicksals schweigend an. Bald verstummte jedoch das Schießen wieder, und aus einer Seitengasse strömten Soldaten, die lebhaft miteinander sprachen.

»Bist du noch heil, Petrow?« fragte einer.

»Denen haben wir aber tüchtig eingeheizt, jetzt werden sie ihre Nase nicht wieder hier hereinstecken wollen«, sagte ein zweiter.

»Nichts war mehr zu sehen. Wie die auf ihre eigenen Leute losgepfeffert haben! Rein gar nichts war zu sehen. Alles war dunkel. Du, hast du nicht was zu trinken?«

Die Franzosen waren zum letztenmal zurückgeschlagen. Und wieder bewegten sich Tuschins Geschütze in vollkommener Dunkelheit vorwärts, von der lärmenden Infanterie wie von einem Rahmen umgeben.

Es war, als fließe in der Dunkelheit ein unsichtbarer, finsterer Strom immer in der gleichen Richtung dahin, der von flüsternden und lauten Stimmen, klappernden Hufen und rollenden Rädern erbrauste. Aus dem allgemeinen, mit allen diesen Lauten untermischten Tosen hörte man in der dunkeln Nacht am deutlichsten das Stöhnen und Schreien der Verwundeten heraus. Ihr Wehklagen schien die ganze Finsternis, die das Heer umgab, zu erfüllen und sich mit der Dunkelheit der Nacht zu einem grauenvollen Ganzen zu verbinden. Plötzlich entstand in der dahinströmenden Masse eine gewisse Aufregung. Jemand ritt, von einem Gefolge begleitet, auf einem Schimmel vorüber und sagte im Vorbeireiten ein paar Worte.

»Was hat er gesagt? … Wohin gehen wir? … Machen wir halt, ja? … Hat er uns gedankt, ja?« fragten die Soldaten eifrig von allen Seiten. Diese ganze vorwärtsströmende Menschenmasse drängte sich zusammen – anscheinend waren die Vordersten stehen geblieben –, und es verbreitete sich das Gerücht, es sei befohlen worden, haltzumachen. Alle machten halt, wo sie gerade standen, mitten auf der schmutzigen Straße.

Man zündete Feuer an und unterhielt sich lauter. Tuschin traf in seiner Batterie die nötigen Anordnungen, schickte einen seiner Leute aus, um für den Junker einen Verbandsplatz oder einen Arzt zu suchen, und setzte sich dann an ein Feuer, das seine Soldaten am Wege angezündet hatten. Auch Rostow schleppte sich zu dem Feuer hin. Vor Schmerz, Kälte und Nässe zitterte sein ganzer Körper wie im Fieber. Ein unüberwindliches Müdigkeitsgefühl überkam ihn, aber er konnte infolge der peinigenden Schmerzen in seinem kranken Arm, der keine richtige Lage fand, nicht einschlafen. Bald schloß er die Augen, bald blickte er ins Feuer, das ihm glühend rot erschien, bald sah er die zusammengekrümmte, schwächliche Gestalt Tuschins an, der mit gekreuzten Beinen neben ihm saß. Tuschins große, gutmütige, kluge Augen waren voller Teilnahme und Mitleid auf ihn gerichtet. Rostow sah, daß Tuschin zwar von ganzem Herzen den Wunsch hatte, ihm zu helfen, doch daß ihm dies in keiner Weise möglich war.

Von allen Seiten hörte man Schritte und Stimmen vorbeimarschierender und vorbeifahrender Soldaten und der sich ringsum lagernden Infanterie. Das Geräusch der Stimmen, Schritte und der durch den Schmutz stampfenden Pferdehufe, das ferne und nahe Knistern der Feuer, dies alles verschmolz in ein einziges wogendes Getöse. Es war nicht mehr jener, in der Dunkelheit sich vorwärtswälzende, unsichtbare Strom wie vorhin, sondern ein finsteres Meer, das nach dem Sturm zwar noch zitterte, sich aber langsam wieder glättete. Rostow sah und hörte gedankenlos, was um ihn herum vorging. Ein Infanterist trat an das Feuer heran, hockte nieder, streckte die Hände nach der Glut hin und wandte das Gesicht ab.

»Darf ich, Euer Wohlgeboren?« fragte er, indem er sich fragend an Tuschin wandte. »Ich bin von meiner Kompanie abgekommen und weiß nicht, wo sie ist. Eine schlimme Sache.«

Gleich darauf trat ein Infanterieoffizier mit verbundener Backe an das Feuer heran und bat Tuschin, die Geschütze etwas beiseite rücken zu lassen, damit ein Trainwagen vorbeifahren könne. Nach diesem kamen zwei Soldaten zum Feuer gelaufen, die sich wütend beschimpften und prügelten, wobei einer dem andern einen Stiefel wegzunehmen versuchte.

»Na klar, du hast ihn aufgehoben. Du bist schlau!« schrie der eine mit heiserer Stimme.

Dann trat ein magerer, blasser Soldat heran, den Hals mit einem blutigen Fußlappen umwickelt, und verlangte in gereiztem Ton von den Artilleristen Wasser.

»Na, was bildet ihr euch ein! Soll ich etwa verrecken wie ein Hund?« brummte er.

Tuschin befahl, ihm Wasser zu geben. Dann kam ein lustiger Soldat herbeigelaufen und bat um Feuer für die Infanterie.

»Bitte um recht heißes Feuer für die Infanterie! Laßt es euch gut gehen, Landsleute! Wir danken schön für das Feuer und werden es euch mit Zinsen wiedergeben«, sagte er und trug das rotglühende Scheit irgendwohin in die Dunkelheit.

Nach diesem Soldaten kamen vier andere an dem Feuer vorbei; sie trugen etwas Schweres in einem Mantel. Einer von ihnen stolperte.

»Verfluchtes Gesindel! Da haben sie mitten auf dem Weg Holz liegen lassen«, brummte einer von ihnen.

»Wozu ihn noch weitertragen, er ist ja tot …« sagte ein anderer.

»Ich werde euch helfen!«

Sie verschwanden mit ihrer Last in der Finsternis.

»Nun? Haben Sie noch Schmerzen?« fragte Tuschin flüsternd den Junker Rostow.

»Ja.«

»Euer Wohlgeboren zum General! Seine Exzellenz hat hier in diesem Bauernhause Quartier genommen«, sagte, auf Tuschin zutretend, der Feuerwerker.

»Sofort, mein Lieber!«

Tuschin stand auf, knöpfte den Mantel zu, zog ihn gerade und ging vom Feuer weg.

Nicht weit von dem Feuer der Artilleristen saß in einer für ihn zurechtgemachten Bauernstube Fürst Bagration beim Essen und unterhielt sich mit einigen höheren Offizieren, die sich bei ihm versammelt hatten. Da war jener alte General mit den halbgeschlossenen Augen, der gierig einen Hammelknochen benagte, da war jener Kommandeur, der zweiundzwanzig Jahre lang tadellos gedient hatte – er war von einem Glas Schnaps und dem Essen ganz rot geworden –, da war der Stabsoffizier mit dem Siegelring und Scherkow, dessen Augen unruhig von einem zum andern wanderten, und endlich Fürst Andrej, blaß, mit zusammengepreßten Lippen und fieberhaft glänzenden Augen.

In der Stube stand, in eine Ecke gelehnt, eine eroberte französische Fahne. Der Auditeur mit dem naiven Gesicht betastete das Gewebe der Fahne und schüttelte verwundert den Kopf. Vielleicht interessierte ihn die Fahne wirklich, vielleicht tat er es auch nur, weil es ihm schwer fiel, mit hungrigem Magen einem Essen zuzusehen, bei welchem für ihn kein Gedeck aufgelegt war. In der Stube nebenan befand sich ein von den Dragonern gefangengenommener französischer Oberst. Russische Offiziere drängten sich um ihn und betrachteten ihn.

Fürst Bagration dankte den einzelnen Befehlshabern und fragte nach den Einzelheiten der Schlacht und nach den Verlusten. Jener Kommandeur, dessen Regiment bei Braunau besichtigt worden war, meldete dem Fürsten, er habe sich gleich nach Beginn der Schlacht aus dem Walde zurückgezogen, die Holzfäller gesammelt und an sich vorbeigelassen, und dann mit zwei Bataillonen die Franzosen mit dem Bajonett angegriffen und sie in die Flucht geschlagen.

»Als ich dann sah, Durchlaucht, daß das erste Bataillon aufgerieben war, blieb ich auf dem Weg stehen und dachte: Ich will die jetzt vorbeilassen und den Feind dann mit einem heftigen Feuer begrüßen. Und so habe ich es auch gemacht.«

Der Regimentskommandeur wünschte so sehr, dies getan zu haben, und bedauerte es so aufrichtig, dazu nicht imstande gewesen zu sein, daß es ihm wirklich vorkam, als wäre alles genauso vor sich gegangen. Ja, vielleicht war es auch wirklich so gewesen? Konnte man denn etwa in diesem Wirrwarr unterscheiden, was wirklich geschehen und was nicht geschehen war?

»Und dann möchte ich noch bemerken, Durchlaucht«, fuhr er fort, weil er an Kutusows Gespräch mit Dolochow und an sein letztes Zusammentreffen mit dem Degradierten dachte, »daß der zum Gemeinen degradierte Dolochow vor meinen Augen einen französischen Offizier zum Gefangenen gemacht und sich ganz besonders ausgezeichnet hat.«

»Dort habe auch ich die Attacke der Pawlograder mitangesehen, Durchlaucht«, mischte sich, unruhig um sich blickend, Scherkow ein, der den ganzen Tag überhaupt keinen Husaren zu Gesicht bekommen, sondern nur von einem Infanterieoffizier von ihnen gehört hatte. »Zwei Karrees haben sie über den Haufen geritten, Durchlaucht.«

Einige lächelten bei Scherkows Worten, da sie, wie gewöhnlich, irgendeinen Scherz von ihm erwarteten. Als sie aber merkten, daß das, was er sagte, ebenfalls auf den Ruhm unserer Waffen am heutigen Tag hinauswollte, machten sie wieder ernsthafte Gesichter, obgleich die meisten sehr wohl wußten, daß das, was Scherkow sagte, Schwindel und völlig aus der Luft gegriffen war. Fürst Bagration wandte sich an den alten General.

»Ich danke Ihnen allen, meine Herren, sämtliche Truppen haben sich wie Helden geschlagen: die Infanterie wie auch die Kavallerie und Artillerie. Wie kam es aber, daß im Zentrum zwei Geschütze im Stich gelassen werden mußten?« fragte er und suchte jemand mit den Augen. Nach den Geschützen der linken Flanke fragte Bagration nicht; er wußte, daß dort schon ganz zu Anfang des Kampfes sämtliche Kanonen zurückgelassen worden waren. »Ich fragte Sie wohl schon einmal danach«, wandte er sich an den diensttuenden Stabsoffizier.

»Die eine wurde zerschossen«, erwiderte dieser, »und die andere … das kann ich gar nicht begreifen. Ich war selber die ganze Zeit dort, habe Anordnungen getroffen und bin soeben erst zurückgekommen. Es ging dort wirklich recht heiß her«, fügte er bescheiden hinzu.

Irgend jemand bemerkte, daß der Hauptmann Tuschin sich hier in diesem Dorf befinde und man schon nach ihm geschickt habe.

»Sie sind ja wohl auch dort gewesen«, sagte Bagration zum Fürsten Andrej. »Natürlich, wir waren ja eine Zeitlang zusammen dort«, sagte der diensttuende Stabsoffizier und lächelte den Fürsten Andrej liebenswürdig an.

»Ich habe nicht das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen«, erwiderte Fürst Andrej kurz und kalt.

Alle schwiegen. Da zeigte sich Tuschin auf der Schwelle, der schüchtern hinter den Rücken der Generäle hervorkam. Während er sich in der engen Hütte durch die hohen Offiziere durcharbeitete, bemerkte er in seiner Verlegenheit, die er immer in Gegenwart von Vorgesetzten empfand, die Fahnenstange nicht und stolperte darüber. Einige der Herren lachten.

»Wie kam es, daß die Geschütze zurückgelassen wurden?« fragte Bagration und runzelte weniger wegen des Hauptmanns als vielmehr der Lacher wegen, unter denen Scherkow am meisten zu hören war, die Stirn.

Erst jetzt, vor diesem grimmigen Vorgesetzten, wurde sich Tuschin voller Entsetzen seiner Schuld und Schande bewußt, daß er zwei Geschütze verloren hatte, während er selber am Leben geblieben war. Er war so aufgeregt gewesen, daß er bis zu diesem Augenblick gar nicht darüber nachgedacht hatte. Das Lachen der Offiziere brachte ihn noch mehr aus der Fassung. Mit zitterndem Unterkiefer stand er vor Bagration und konnte kaum die Worte hervorbringen: »Ich weiß nicht … Durchlaucht … es war nicht genug Mannschaft da, Durchlaucht.«

»Dann hätten Sie die Bedeckung heranziehen müssen.«

Daß er keine Bedeckung gehabt hatte, sagte Tuschin nicht, obgleich es die reine Wahrheit war. Er hatte Angst, dadurch irgendeinen anderen hohen Offizier bloßzustellen, deshalb schwieg er und sah Bagration nur starr und unverwandt ins Gesicht, wie ein steckenbleibender Schüler dem examinierenden Lehrer ins Auge sieht.

Das Schweigen dauerte ziemlich lang. Fürst Bagration, der sichtlich nicht streng sein wollte, wußte nicht, was er sagen sollte, und die übrigen Anwesenden wagten nicht, sich in das Gespräch einzumischen. Fürst Andrej sah Tuschin mit krauser Stirn an, und seine Finger begannen nervös zu zucken.

»Durchlaucht«, brach endlich Fürst Andrej mit seiner scharfen Stimme das Schweigen, »geruhten, mich nach der Batterie des Hauptmanns Tuschin zu entsenden. Ich war dort und fand zwei Drittel der Leute und Pferde gefallen, zwei Geschütze waren zerschossen und Bedeckung gab es nicht.«

Bagration und Tuschin blickten jetzt beide gleich starr Bolkonskij an, der mit zurückgehaltener Erregung sprach.

»Und wenn Durchlaucht gestatten, daß ich meine Meinung ausspreche«, fuhr Fürst Andrej fort, »so muß ich sagen, daß wir den Erfolg dieses Tages vor allem der Tätigkeit dieser Batterie und der heldenmütigen Ausdauer des Hauptmanns Tuschin und seiner Mannschaft verdanken.« Darauf stand er auf und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, vom Tische fort.

Fürst Bagration sah Tuschin an, und da er offenbar Bolkonskijs kühnes Urteil nicht anzweifeln wollte, sich dabei aber doch außerstande fühlte, ihm völligen Glauben zu schenken, senkte er nur den Kopf und entließ Tuschin. Fürst Andrej folgte ihm.

»Ich danke Ihnen, Sie haben mich rausgehauen, vielen, vielen Dank«, sagte Tuschin zu ihm.

Fürst Andrej sah Tuschin an, sagte nichts und ging an ihm vorbei. Ihm war schwer und traurig zumute. Dies alles war so sonderbar und gar nicht so, wie er gehofft hatte.

Wer ist das? Warum sind die hier? Was wollen die? Wann wird das alles ein Ende nehmen? dachte Rostow, während er auf die Schatten blickte, die vor seinen Augen vorüberhuschten. Der Schmerz in seinem Arm wurde immer quälender. Eine unwiderstehliche Müdigkeit überkam ihn, rote Flecken tanzten ihm vor den Augen, und das Beunruhigende dieser Stimmen und Gestalten vereinigte sich mit einem Gefühl grenzenloser Einsamkeit und rasender Schmerzen. Die waren es, diese Soldaten, Verwundete und Gesunde, die ihn würgten und quälten, die Sehnen ausrissen und das Fleisch seiner zerquetschten Hand und Schulter brieten. Um sie loszuwerden, schloß er die Augen.

Für einen Augenblick verlor er die Besinnung, aber in dieser kurzen Spanne Zeit erblickte er im Traum unzählige Dinge: er sah seine Mutter mit ihren großen, weißen Händen, Sonjas schmale Schultern, Nataschas lachende Augen und Denissow im Schnurrbart mit seiner derben Stimme und Teljanin und die ganze Geschichte, die er mit ihm und Bogdanytsch erlebt hatte. Und diese ganze Geschichte und der Soldat mit der scharfen Stimme waren ein und dasselbe, und sie waren es, die ihn so qualvoll und hartnäckig festhielten und peinigten und seinen Arm immer nach einer Seite zerrten. Er versuchte, sich von ihnen loszumachen, aber sie ließen nicht um ein Haar locker, gaben nicht für einen Augenblick seine Schulter frei. Sie hätte nicht weh getan, wäre ganz gesund gewesen, wenn die beiden nicht immer an ihr gezerrt hätten. Aber es war unmöglich, von ihnen loszukommen.

Er schlug die Augen auf und sah nach oben. Der schwarze Schleier der Nacht senkte sich dicht über den Lichtschein der Kohlen. In diesem Lichtschein tanzten die fallenden Schneeflocken. Tuschin kehrte nicht zurück; der Arzt kam auch nicht. Er war ganz verlassen, nur ein nackter Soldat saß auf der anderen Seite des Feuers und wärmte sich seinen mageren gelben Körper. Niemand fragt nach mir, dachte Rostow. Niemand hat mit mir Mitleid, niemand hilft mir. Und doch hatte auch ich einmal eine Heimat, war stark und froh, und alle hatten mich gern. Er seufzte, und unwillkürlich ging sein Seufzen in Stöhnen über.

»Es tut Ihnen wohl recht weh?« fragte der Soldat, schwenkte sein Hemd über dem Feuer, räusperte sich und fuhr dann, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Heute wird wohl mancher auf den Hund gekommen sein, so ein Elend!«

Rostow hörte nicht, was der Soldat sagte. Er sah den über dem Feuer tanzenden Schneeflöckchen zu und dachte an den russischen Winter, an sein warmes, helles Haus, seinen molligen Pelz, seine flinken Schlitten, seinen gesunden Körper und an all die Liebe und Fürsorge der Seinen. Warum bin ich mitgegangen? dachte er. Am folgenden Tag griffen die Franzosen nicht noch einmal an, und die Überreste von Bagrations Abteilung konnten sich wieder mit Kutusows Armee vereinigen.

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