Siebenter Teil

1

Die biblische Überlieferung sagt, daß das Fehlen aller Arbeit, der Müßiggang, ein Grund zur Seligkeit für den ersten Menschen bis zu seinem Sündenfall gewesen ist. Aber auch nach dem Sündenfall hat sich der Mensch von dieser Liebe zum Nichtstun nicht freimachen können; doch der Fluch lastet schwer auf ihm, nicht nur, weil er sein Brot im Schweiße seines Angesichts erwerben muß, sondern weil auch seine Seele die Eigenschaft besitzt, keinen Frieden finden zu können, wenn er dem Müßiggang frönt. Eine innere Stimme sagt uns, daß wir uns schuldig machen, wenn wir die Hände in den Schoß legen. Wenn der Mensch einen Zustand ausfindig machen würde, in dem er dem Müßiggang huldigen und gleichzeitig das Bewußtsein haben könnte, sich dadurch nützlich zu machen und seine Pflicht zu erfüllen, so hätte er einen Teil seines ehemaligen paradiesischen Glückes wiedergefunden. Aber eines solchen Zustandes pflichtmäßigen und nicht zu tadelnden Müßigganges erfreut sich nur ein einziger Stand – der Militärstand. Und eben in diesem pflichtmäßigen und nicht zu tadelnden Müßiggang bestand und wird auch immer die Hauptanziehungskraft des Militärdienstes bestehen.

Auch Nikolaj Rostow genoß im vollen Maß diese Glückseligkeit, als er nach dem Jahre 1807 in seinem Pawlograder Regiment weiterdiente, wo er es nun bereits bis zum Eskadronchef gebracht hatte, nachdem er Denissows Schwadron übernommen hatte.

Rostow war ein tüchtiger Kerl mit etwas rauhen Manieren geworden, den seine Moskauer Bekannten vielleicht ein wenig mauvais genre gefunden hätten, der aber von allen seinen Kameraden, Untergebenen und Vorgesetzten geliebt und geachtet wurde und selber mit seinem Leben äußerst zufrieden war. In letzter Zeit, seit dem Jahre 1809, hatte er in den Briefen von zu Hause immer öfter Klagen seiner Mutter gefunden, daß sich ihre Vermögensverhältnisse immer schlechter und schlechter gestalteten und daß es für ihn an der Zeit sei, nach Hause zu kommen, um seinen alten Eltern Freude und Stütze zu sein.

Wenn Nikolaj diese Briefe las, empfand er immer große Angst, man könne ihn aus diesem Kreise herausreißen, wo er, vor allen Wirren des Lebens geschützt, so still und friedlich dahinlebte. Er fühlte, daß er früher oder später wieder in diesen Abgrund des Lebens werde untertauchen müssen, wo es zerrüttete und in Ordnung zu bringende Geldangelegenheiten gab und Abrechnungen mit dem Verwalter und Streitereien und Intrigen und bindende Verpflichtungen und Gesellschaften und die Liebe zu einer Sonja und ein Versprechen, das er ihr gegeben hatte. All das war grauenvoll, mühsam und verworren, und so beantwortete er die Schreiben seiner Mutter nur mit kalten Musterbriefen mit der Überschrift »Ma chère maman« und dem Schluß »votre obéissant fils«, schwieg sich aber darüber, wann er zu kommen beabsichtigte, vollkommen aus. Im Jahre 1810 erhielt er einen Brief von seinen Eltern, in dem sie ihm Nataschas Verlobung mit Bolkonskij mitteilten und ihm schrieben, daß die Hochzeit erst in einem Jahr stattfinden könne, da der alte Fürst seine Einwilligung nicht gebe. Dieser Brief betrübte und beleidigte Nikolaj. Erstens tat es ihm leid, Natascha aus dem Elternhaus zu verlieren, die er mehr als alle anderen Familienmitglieder liebte, und zweitens bedauerte er von seinem Standpunkt als Husarenoffizier, nicht dabeigewesen zu sein: er hätte es diesem Bolkonskij schon gezeigt, daß eine Verwandtschaft mit ihm durchaus nicht eine so riesige Ehre sei, und daß er auch ohne die Zustimmung seines verrückten Vaters heiraten könne, wenn er Natascha wahrhaft liebe. Er schwankte einen Augenblick, ob er nicht gleich Urlaub nehmen solle, um Natascha als Braut zu sehen, aber es standen gerade die Manöver bevor, und dann kamen ihm auch Bedenken wegen Sonjas und wegen der unangenehmen Geldgeschichten, und so schob es Nikolaj abermals auf. Doch im Frühling desselben Jahres erhielt er einen Brief von seiner Mutter, den sie heimlich, ohne daß der Graf etwas davon wußte, an ihn geschrieben hatte, und dieser Brief bestimmte ihn nun doch, nach Hause zu fahren. Sie schrieb, wenn Nikolaj nicht augenblicklich nach Hause komme und sich der Sache annehme, müsse das Gut unter den Hammer kommen und müßten sie alle zu Bettlern werden. Der Graf sei so gut und schwach, vertraue diesem Mitenka so sehr, und alle betrögen ihn dermaßen, daß es immer schlimmer und schlimmer werde. »Ich flehe Dich um Gottes willen an, komm augenblicklich, wenn Du nicht mich und Deine ganze Familie unglücklich machen willst«, schrieb die Gräfin.

Dieser Brief machte auf Nikolaj großen Eindruck. Er besaß jenen gesunden Menschenverstand, der ihm immer sagte, was er zu tun hatte.

Jetzt mußte er unbedingt nach Hause fahren, er brauchte deshalb nicht gleich seinen Abschied zu nehmen, konnte vorläufig nur Urlaub einreichen. Weshalb er aber fahren mußte, das wußte er nicht. Er hielt nach dem Essen sein Mittagsschläfchen, ließ sich den grauen Mars satteln, einen sehr wilden Hengst, den er lange nicht geritten hatte, und als er dann auf dem schaumbedeckten Tier zurückkam, erklärte er Lawruschka – Denissows Burschen, der bei Rostow geblieben war – und seinen Kameraden, die am Abend zu ihm kamen, daß er Urlaub einreichen und nach Hause fahren werde. Wie schwer und befremdend ihm auch der Gedanke war, daß er fortfahren sollte, ohne vom Stab – was ihm besonders nachging – erfahren zu haben, ob er nach dem letzten Manöver zum Rittmeister befördert werde und den Annenorden erhalte, wie seltsam es ihm auch schien, daß er abreisen sollte, ohne dem Grafen Goluchowski das Rotschimmeldreigespann verkauft zu haben, dessentwegen der polnische Graf mit ihm in Unterhandlungen stand und dessentwegen Rostow selber gewettet hatte, daß er es für zweitausend Rubel verkaufen werde, wie unfaßbar es ihn auch dünkte, daß er nun nicht an dem Ball teilnehmen sollte, den die Husaren für Panna Przezdeska gaben, weil die Ulanen für ihre Panna Brzozowska ebenfalls einen Ball gegeben hatten – er wußte, daß er aus dieser schönen, klaren Welt fort mußte, irgendwohin, wo es Widersinn und Verwirrung gab. Nach acht Tagen war sein Urlaub genehmigt. Seine Kameraden, nicht nur die Husaren seines Regimentes, sondern die ganze Brigade, gaben Rostow ein Abschiedsessen, bei dem das Gedeck pro Kopf fünfzehn Rubel kostete, zwei Musikkapellen spielten und zwei Sängerchöre sangen. Rostow tanzte mit dem Major Bassow einen Trepak, die betrunkenen Offiziere umarmten ihn, hoben ihn hoch und ließen ihn dabei fallen, die Soldaten seiner Eskadron schwenkten ihn noch einmal durch die Luft und schrien Hurra. Dann legten sie Rostow in einen Schlitten und gaben ihm bis zur ersten Station das Geleit.

Bis zur Hälfte des Weges, von Krementschug bis Kiew, waren, wie das ja immer der Fall zu sein pflegt, alle Gedanken Rostows noch beim Verlassenen, bei seiner Eskadron; als er aber über die Hälfte des Weges hinaus war, fing er schon langsam an, das Rotschimmeldreigespann und den Wachtmeister Doschojwejka zu vergessen und fragte sich voller Ungeduld, was ihn wohl in Otradnoje erwarte. Und je näher er kam, um so mächtiger stürmten die Gedanken an seine Heimat auf ihn ein, als wären diese inneren Gefühle demselben Gesetz der Schwerkraft unterworfen, das von allem Körperlichen gilt und mit dem Quadrat der Entfernung wächst. Auf der letzten Station vor Otradnoje gab er dem Postkutscher drei Rubel Trinkgeld und stürmte, zu Hause angelangt, wie ein Schuljunge atemlos die Freitreppe des Elternhauses empor.

Nach dem ersten Begrüßungstaumel und dem darauf folgenden merkwürdigen Gefühl der Enttäuschung im Vergleich zu dem, was er erwartet hatte – sie alle waren ja noch ebenso wie früher, wozu also diese Überstürzung? –, fing Nikolaj allmählich an, sich in die alte heimatliche Weh wieder einzuleben. Vater und Mutter waren unverändert, nur ein wenig älter geworden. Neu war an ihnen nur eine gewisse Nervosität und ein Mangel an Übereinstimmung, die Nikolaj früher nie an ihnen beobachtet hatte und deren Ursache, wie er bald erfuhr, nur in der schlechten Vermögenslage zu suchen war. Sonja war nun schon zwanzig Jahre alt. Sie war auf dem Höhepunkt ihrer äußeren Entwicklung angelangt und versprach für die Zukunft nicht mehr, als sie bereits erreicht hatte, aber das war auch schon mehr als genug. Von dem Tag an, da Nikolaj gekommen war, atmete sie eitel Glück und Liebe, und die wahre, unerschütterliche Treue dieses Mädchens machte ihn froh und glücklich. Aber mehr als alle anderen setzten ihn Petja und Natascha in Erstaunen. Petja war ein großer, hübscher, lustiger und klug durchtriebener dreizehnjähriger Junge geworden, dem man schon den Stimmwechsel anmerkte. Aber über Natascha wunderte sich Nikolaj am meisten, und er mußte immer lachen, wenn er sie ansah.

»Wie du dich verändert hast!« sagte er.

»Wieso? Bin ich häßlicher geworden?«

»Im Gegenteil. Aber diese Würde! Wie eine Fürstin«, flüsterte er ihr lächelnd zu.

»Ja, ja, ja«, gab Natascha lachend zu.

Sie erzählte ihm ihren Roman mit dem Fürsten Andrej und von seinem Besuch in Otradnoje und zeigte ihm Bolkonskijs letzten Brief.

»Nun, freust du dich eigentlich darüber?« fragte Natascha. »Ich bin so ruhig, so glücklich.«

»Ich freue mich sehr«, erwiderte Nikolaj. »Er ist ein ausgezeichneter Mensch. Du bist wohl sehr in ihn verliebt?«

»Wie soll ich dir das erklären?« erwiderte Natascha. »In Boris war ich verliebt, und in den Gesanglehrer und in Denissow auch, aber jetzt ist das etwas ganz anderes. Ich fühle mich jetzt so ruhig, so sicher. Ich weiß, daß es keinen besseren Menschen gibt als ihn, und deshalb bin ich jetzt so ruhig, deshalb ist mir so wohl zumute. Das ist ganz, ganz anders als früher …«

Nikolaj sprach Natascha seine Unzufriedenheit darüber aus, daß die Hochzeit ein Jahr hinausgeschoben worden sei, aber Natascha redete aufgeregt auf den Bruder ein und bewies ihm, daß dies nicht anders sein könne, daß es unrecht wäre, in eine Familie gegen den Willen des Vaters einzutreten, und daß sie es selber gar nicht anders gewollt habe.

»Das verstehst du nicht, verstehst du ganz und gar nicht«, sagte sie.

Nikolaj schwieg und gab ihr recht.

Aber oft wunderte er sich im stillen, wenn er sie ansah. Sie war ganz und gar nicht wie eine verliebte Braut, die von ihrem Bräutigam getrennt ist. Sie zeigte sich ebenso gleichmäßig ruhig wie früher. Das setzte Nikolaj in Erstaunen und veranlaßte ihn dazu, ihr Verlöbnis mit Bolkonskij mit etwas mißtrauischen Augen anzusehen. Er glaubte nicht recht daran, daß ihr Schicksal bereits entschieden sein sollte, um so mehr, da er sie niemals mit Bolkonskij zusammen gesehen hatte. Er hatte immer den Eindruck, als ob bei dieser beabsichtigten Heirat irgend etwas nicht ganz richtig sei.

Wozu diese Verzögerung? Warum hat man es nicht bekanntgegeben? dachte er. Als er einmal mit der Mutter über seine Schwester sprach, entdeckte er zu seiner Verwunderung und teils auch zu seiner Genugtuung, daß die Mutter im Grunde ihres Herzens manchmal ganz ebenso mißtrauisch dieser Heirat entgegensah.

»Da schreibt er nun«, sagte sie und wies mit jenem geheimen Gefühl der Mißgunst, das eine Mutter stets gegen das künftige Eheglück ihrer Tochter empfindet, auf einen Brief vom Fürsten Andrej, »da schreibt er nun, daß er nicht vor Dezember zurückkommen kann. Was aber mag ihn wohl dort zurückhalten? Sicherlich ist er krank. Seine Gesundheit ist eben doch recht schwach. Aber sage Natascha nichts davon. Wundere dich nicht, daß sie so lustig ist: sie will eben ihre letzte Mädchenzeit noch genießen, aber ich weiß doch, was jedesmal mit ihr geschieht, wenn sie einen Brief von ihm bekommt. Übrigens gebe Gott, daß alles gut geht«, schloß sie jedesmal, »er ist ja doch ein ausgezeichneter Mensch.«

2

Während der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Otradnoje zeigte sich Nikolaj ernst, ja fast gelangweilt. Er litt unter dem bevorstehenden Zwang, sich in diese dummen Wirtschaftsangelegenheiten einmischen zu müssen, um derentwillen ihn die Mutter herbeigerufen hatte. Um sich diese Last so bald wie möglich von den Schultern zu wälzen, ging er drei Tage nach seiner Ankunft ingrimmig, ohne auf die Fragen, wo er hinwolle, eine Antwort zu geben, und mit finster zusammengezogenen Brauen in das Seitengebäude zu Mitenka und forderte von ihm »die Abrechnungen über alles«. Was Nikolaj eigentlich unter diesen »Abrechnungen über alles« verstand, wußte er selber noch weniger als der entsetzte und erstaunte Mitenka. Übrigens nahm die Unterhaltung über Mitenkas Abrechnungen nicht lange Zeit in Anspruch. Der Gemeindevorstand und zwei Landbeamte, die im Vorzimmer des Seitengebäudes warteten, hörten mit Schrecken und zugleich mit Genugtuung, wie anfangs die Stimme des jungen Grafen bebte und dröhnte, dann immer mehr und mehr anschwoll, und wie schließlich ein entsetzliches Schimpfwort nach dem andern herausgepoltert kam.

»Du Räuber! Du undankbare Kreatur! … Wie einen Hund sollte man dich verprügeln … stecke dich nicht hinter Papa! Bestohlen hast du uns! …« und so weiter.

Dann sahen diese Leute nicht minder erschrocken und schadenfroh, wie der junge Graf mit hochrotem Kopf und blutunterlaufenen Augen Mitenka am Kragen gepackt herauszerrte, wobei er ihm mit großer Geschicklichkeit gelegentlich zwischen seinen Worten mit Knie oder Fuß ein paar kräftige Tritte gegen das Hinterteil versetzte und dazu schrie: »R-raus! Daß du deinen Fuß nicht wieder über unsere Schwelle setzt, du Schurke!«

Mitenka flog kopfüber die sechs Stufen des Seitengebäudes hinunter und flüchtete in ein Boskett. Dieses Boskett war als ein rettender Hafen für alle Verbrecher in Otradnoje bekannt. Mitenka selber hatte sich, wenn er betrunken aus der Stadt gekommen war, schon oft hier versteckt, und auch viele Bewohner von Otradnoje hatten, wenn sie sich vor Mitenka verstecken mußten, die rettende Macht dieses Bosketts kennen gelernt.

Mitenkas Frau und seine Schwägerinnen schauten mit erschrockenen Gesichtern aus den Türen auf den Flur hinaus, drinnen im Zimmer sah man einen blanken Samowar sieden und das hohe Bett des Verwalters zur Decke streben, das mit einer aus Würfeln zusammengesetzten Steppdecke bedeckt war.

Der junge Graf, noch ganz außer Atem, schenkte ihnen nicht die geringste Beachtung und ging mit festen Schritten an ihnen vorüber und wieder ins Herrenhaus zurück.

Die Gräfin, die durch die Mädchen sogleich erfahren hatte, was im Seitengebäude vorgegangen war, empfand einerseits in der Annahme, daß es nun mit den Vermögensverhältnissen besser werden müsse, eine gewisse Beruhigung, andererseits sorgte sie sich aber auch wieder, wie ihr Sohn dies überstehen werde. Sie schlich ein paarmal auf den Zehenspitzen an seine Tür und erspähte, daß er eine Pfeife nach der anderen rauchte.

Am nächsten Tag rief der alte Graf seinen Sohn beiseite und sagte mit schüchternem Lächeln zu ihm: »Weißt du, mein Junge, du hast dich da gestern ganz unnötig aufgeregt. Mitenka hat mir alles erzählt.«

Das wußte ich doch, dachte Nikolaj, daß ich hier in dieser närrischen Welt niemals etwas verstehen werde.

»Du hast dich ereifert, weil er diese siebenhundert Rubel nicht gebucht hätte. Aber die stehen ja als Transport auf der anderen Seite, und du hast nur die eine Seite angesehen.«

»Daß er ein Halunke und ein Dieb ist, das weiß ich nun mal sicher, Papa. Und was ich getan habe, das habe ich getan. Wenn Sie es aber nicht wollen, werde ich ihm nie wieder ein Wort sagen.«

»Nein, mein Junge« – der Graf wurde ebenfalls verlegen: er fühlte, daß er ein schlechter Verwalter des Gutes seiner Frau gewesen war und sich vor seinen Kindern schuldig gemacht hatte, wußte aber nicht, wie er es wieder gutmachen sollte –, »nein, ich bitte dich sogar, dich mit diesen Angelegenheiten zu befassen, ich werde alt und ich …«

»Nein Papa, verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe. Ich verstehe von Geschäften viel weniger als Sie.«

Mag sie alle der Teufel holen, diese Bauern, diese Geldgeschichten und diese Transporte auf der anderen Seite! dachte er. Wenn sich’s noch um Kunstkniffe beim Kartenspiel handelte, da habe ich früher mal was davon verstanden, aber von Transporten auf der anderen Seite – davon habe ich keinen Schimmer, sagte er bei sich und mischte sich von nun an nie wieder in geschäftliche Angelegenheiten.

Nur einmal rief die Gräfin ihren Sohn zu sich, teilte ihm mit, sie sei im Besitz eines Wechsels von Anna Michailowna über zweitausend Rubel, und fragte Nikolaj, was sie damit machen solle.

»Das will ich Ihnen sagen«, erwiderte Nikolaj. »Ich liebe zwar Ihre Anna Michailowna nicht und kann auch Boris nicht ausstehen, aber sie sind immerhin mit uns befreundet und arm. Da Sie nun soeben gesagt haben, daß Sie es mir ganz überlassen, wie ich damit verfahren will, so werde ich es so machen …« und er zerriß den Wechsel in kleine Stücke, was die alte Gräfin veranlaßte, über diese edle Tat in Freudentränen auszubrechen.

Nach diesem Vorfall kümmerte sich der junge Rostow nie wieder um geschäftliche Dinge und gab sich mit Leidenschaft dem für ihn noch neuen Zeitvertreib der Hetzjagd hin, die bei dem alten Grafen jetzt in immer größerem Umfang abgehalten wurde.

3

Es ging schon auf den Winter zu; schon legten die Morgenfröste der vom Herbstregen durchweichten Erde eisige Fesseln an, schon sproßte buschig die Wintersaat und hob sich leuchtend grün von der braun gewordenen, vom Vieh zerstampften Winterstoppel, den bleichgelben Sommerfeldern und den rötlichen Buchweizenstreifen ab. Die Gipfel der Bäume und Wälder, die Ende August noch wie grüne Eilande zwischen den damals noch schwarzen Feldern der Wintersaat und den Stoppelfeldern erschienen waren, schwammen jetzt wie goldene, leuchtend rote Inseln zwischen der hellgrün aufkeimenden Saat. Die Hasen hatten schon halb und halb ihren Winterpelz bekommen, die Fuchsbrut fing an auszuschwärmen, und die jungen Wölfe waren bereits größer als die Hunde. Die schönste Zeit für die Jagd nahte heran. Die Jagdmeute des begeisterten jungen Jägers Rostow befand sich nicht nur in der besten Verfassung für eine Jagd, sondern war kaum noch zu halten, so daß man im allgemeinen Rat der Jäger beschloß, den Hunden noch drei Tage Ruhe zu lassen und am 16. September die erste Jagd zu veranstalten. Und zwar wollte man bei dem Eichenwäldchen anfangen, wo eine Wolfsfamilie noch ungestört hauste.

So lagen die Dinge am 14. September. Diesen ganzen Tag über blieben alle, die an der Jagd teilnehmen wollten, zu Hause. Es hatte gefroren und war bitter kalt, aber gegen Abend ließ der Frost nach, und es fing an zu tauen. Und als dann am 15. September der junge Rostow frühmorgens im Schlafrock den Kopf zum Fenster hinaussteckte, sah er einen Morgen, wie er ihn sich zur Jagd gar nicht besser hätte wünschen können: der ganze Himmel schien sich tauend zu lösen und auf die Erde herabzusenken, ohne daß sich ein Lüftchen rührte. Die einzige Bewegung, die sich in der Luft wahrnehmen ließ, war das leise Fallen mikroskopisch kleiner Tau- und Nebeltröpfchen. An den entlaubten Zweigen im Garten hingen winzige durchscheinende Tropfen und fielen auf die erst vor kurzem herabgefallenen Blätter nieder. Die Erde im Gemüsegarten glänzte schwarz und ölig wie Mohnsamenkörner und verschwamm in kurzer Entfernung mit den trüben, nassen Nebelschwaden. Nikolaj trat auf die feuchte Freitreppe hinaus, auf die man von unten her allen Schmutz mit hinaufgeschleppt hatte; es roch nach modrigem Laub und nach Hunden. Die schwarzgefleckte, hinten sehr breit gebaute Hündin Milka mit ihren großen, hervorstehenden schwarzen Augen stand auf, als sie ihren Herrn kommen sah, streckte die Hinterbeine, legte sich wie ein Hase ganz flach auf den Boden, sprang dann unvermutet an ihrem Herrn hoch und leckte ihm die Nase und den Schnurrbart. Ein anderer Hund, ein Windspiel, der seinen Herrn von einem schmalen Pfad im Blumengarten aus erkannt hatte, kam mit krummem Rücken spornstreichs auf die Freitreppe zugelaufen und rieb sich mit erhobener Rute an Nikolajs Bein.

»O hoi!« hörte man in diesem Augenblick den unnachahmbaren Jagdruf, der den tiefsten Baß und höchsten Tenor in sich vereint. Um die Ecke kam der Hundeaufseher und Jägermeister Danila, das Haar auf ukrainische Weise rund geschoren, mit grauem Bart und runzliger Haut, die Hetzpeitsche in der Hand, und mit jenem Ausdruck von Selbstvertrauen und Verachtung für alles übrige in der Welt, wie man es nur bei Jägern findet. Er nahm seine Tscherkessenmütze vor dem Herrn ab und blickte ihn etwas von oben herab an. Diese Geringschätzung hatte für seinen Herrn nichts Beleidigendes: Nikolaj wußte nur zu gut, daß dieser alles verachtende und sich über alles erhaben dünkende Danila ja doch nur sein Diener und Jäger war.

»Danila«, sagte Nikolaj schüchtern, weil er sich beim Anblick des Jagdwetters, der Hunde und des Jägers bereits von jener unbezähmbaren Jagdpassion ergriffen fühlte, die einen, wie einen Verliebten der Anblick seiner angebeteten Braut, alle früheren Pläne und Absichten vergessen macht.

»Was befehlen Euer Erlaucht?« fragte Danila mit der Baßstimme eines Kirchensängers, die vom Hetzrufen etwas heiser geworden war, und seine schwarzen, funkelnden Augen schielten von unten her auf den Herrn, der so plötzlich seine Rede abgebrochen hatte. Hältst es wohl nicht mehr aus, was? schienen diese Augen zu sagen.

»Ein Prachttag heute, nicht wahr? Das wird ein Jagen und ein Hetzen werden, was?« sagte Nikolaj und kraute Milka hinter den Ohren.

Danila gab keine Antwort und zwinkerte nur mit den Augen.

»Ich habe heute vor Tagesgrauen Uwarka hingeschickt, um nachsehen zu lassen«, erwiderte er dann mit seiner Baßstimme, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte, »er sagt, sie sei nach dem Verhau von Otradnoje gewechselt, dort hätte sie geheult.« Er wollte damit sagen, daß die Wölfin, von der sie beide wußten, in die kleine, freigelegene Waldparzelle hinübergewechselt war, die etwa zwei Werst vom Herrenhaus entfernt lag.

»So müssen wir uns wohl aufmachen?« sagte Nikolaj. »Komm dann mit Uwarka zu mir.«

»Wie Sie befehlen.«

»Also warte noch mit dem Füttern.«

»Zu Befehl.«

Nach fünf Minuten standen Danila und Uwarka in Nikolajs großem Zimmer. Obgleich dieser Danila nur klein von Gestalt war, so hatte man doch, wenn man ihn im Zimmer sah, den Eindruck, als sähe man da auf der Diele mitten unter den Möbeln und Einrichtungsgegenständen zum alltäglichen Leben plötzlich ein Pferd oder einen Bären. Danila fühlte das selber, blieb wie gewöhnlich ganz an der Tür stehen, bemühte sich leiser zu sprechen und sich nicht zu rühren, um in den herrschaftlichen Gemächern nicht irgend etwas entzweizuschlagen, und war nur darauf bedacht, alles so schnell wie möglich herauszusagen, um nur bald wieder aus dem Zimmer heraus unter den weiten Himmel und ins Freie zu kommen.

Nachdem Nikolaj alle Fragen gestellt und Danila zugegeben hatte, daß die Hunde alle in bester Verfassung seien – Danila hatte selber die größte Lust, heute zu reiten –, befahl Nikolaj, die Pferde zu satteln. Aber kaum wollte Danila hinausgehen, als Natascha noch unangekleidet und unfrisiert, nur in ein großes Tuch ihrer Kindermuhme gehüllt, mit schnellen Schritten ins Zimmer trat. Petja lief hinter ihr her.

»Reitest du heute?« fragte Natascha. »Das wußte ich doch. Sonja sagte, ihr würdet heute nicht reiten. Aber ich weiß doch, daß heute ein Tag ist, an dem man unbedingt reiten muß.«

»Ja, wir reiten«, gab Nikolaj widerwillig zur Antwort, der heute, wo er eine ernsthafte Jagd zu unternehmen beabsichtigte, Natascha und Petja nicht gern mitnehmen wollte. »Ja, wir reiten auf die Jagd, doch nur auf Wölfe, das wird dir langweilig werden«.

»Aber du weißt doch, daß mir das gerade ein Hauptvergnügen ist«, rief Natascha. »Das ist häßlich von dir, du selber willst reiten und gibst den Befehl zum Satteln, und uns sagst du kein Wort davon!«

»Ein echter Russe kennt kein Hindernis! Wir reiten mit, wir reiten mit!« schrie Petja.

»Aber du sollst ja nicht; Mama hat doch gesagt, daß du nicht mitreiten sollst«, wandte sich Nikolaj an Natascha.

»Nein, ich komme mit, ich komme unbedingt mit«, sagte Natascha entschlossen.

»Danila, laß für uns beide mitsatteln und sage Michaila, daß er meine Koppel vorführt«, wandte sie sich an den Jägermeister.

Danila kam sich im Zimmer schon an und für sich bedrückt und am unrechten Platz vor, nun aber gar noch mit dem gnädigen Fräulein zu tun zu haben – das schien ihm nahezu unmöglich. Er schlug die Augen nieder und machte, daß er hinauskam, wie wenn ihn die ganze Sache nichts anginge, schien sich aber auch dabei noch die größte Mühe zu geben, das gnädige Fräulein nicht etwa unversehens zu verletzen.

4

Der alte Graf, der immer große Jagden veranstaltet, jetzt aber die Leitung der ganzen Sache seinem Sohn überlassen hatte, traf an diesem Tag, dem 15. September, in höchst vergnügter Stimmung seine Vorbereitungen, um ebenfalls diese Jagd mitzureiten.

Eine Stunde später war die ganze Gesellschaft vor der Freitreppe versammelt. Nikolaj ging mit ernster und strenger Miene, die deutlich zu erkennen gab, daß es jetzt nicht an der Zeit sei, sich mit Kindereien abzugeben, an Natascha und Petja vorüber, die ihm irgend etwas erzählen wollten. Er musterte alle Teile der Jagdausrüstung, schickte ein paar Jäger mit Hunden voraus, die das Wäldchen umgehen sollten, schwang sich auf seinen Fuchs Donez, pfiff die Hunde seiner Koppel heran und sprengte über die Tenne in das Feld hinaus, dem Verhau von Otradnoje zu. Das Pferd des alten Grafen, ein hellbrauner Wallach, das Wiflanka hieß, wurde von dem Oberstallmeister bis zu dem für den Grafen bestimmten Stand hinausgeführt, er selber fuhr in einem Wagen nach.

Von sechs Treibern und Hundewärtern wurden vierundfünfzig Hetzhunde ausgeführt. An Jägern ritten außer den Herrschaften noch acht Mann mit, die über vierzig Windhunde bei sich führten, so daß, die herrschaftlichen Koppeln miteingerechnet, eine Meute von etwa hundertundreißig Hunden und zwanzig Reiter zur Jagd auszogen.

Jeder Hund kannte seinen Herrn und seinen Namen. Jeder Jäger kannte sein Handwerk, seinen Stand und seine Aufgabe. Kaum hatten sie die Einfriedigung hinter sich, als sich alle geräuschlos und ohne zu reden gleichmäßig und ruhig über das Feld und den Weg verteilten, der nach dem Wald von Otradnoje führte.

Wie über einen völligen Teppich liefen die Pferde über das Feld, nur ab und zu, wenn sie einen Weg überschreiten mußten, patschten sie durch Pfützen. Immer noch senkte sich der Nebel kaum merkbar und gleichmäßig auf die Erde nieder; die Luft war ruhig, lind und still. Dann und wann hörte man den Pfiff eines Jägers oder das Schnauben eines Pferdes oder das Sausen einer Hetzpeitsche oder das Winseln eines Hundes, der nicht an seinem Platz gelaufen war.

Nachdem man ungefähr eine Werst zurückgelegt hatte, tauchten im Nebel fünf Reiter mit Hunden auf, die gerade auf die Rostowsche Jagdgesellschaft zuritten. Allen voran ritt ein frischer, rotbäckiger alter Herr mit einem gewaltigen grauen Schnauzbart.

»Guten Tag, Onkelchen«, rief Nikolaj, als der Alte bis zu ihm herangeritten war.

»Klare Sache und damit hopp! … Das wußte ich doch«, rief der Onkel – er war ein entfernter Verwandter und nicht sehr wohlhabender Nachbar der Rostows –, »das dachte ich mir doch, daß du es heute nicht zu Hause aushalten würdest. Schön, daß du zur Jagd ausgeritten bist! Klare Sache und damit hopp!« Das war die Lieblingsredensart des alten Herrn. »Nimm nur gleich den Verhau vor; mein Girtschik hat mir gemeldet, daß die Ilagins heute bei Korniki jagen, da könnten sie dir leicht die ganze Beute vor der Nase wegschnappen, klare Sache und damit hopp!«

»Da will ich ja auch hin. Aber wie ist’s? Wollen wir unsere Koppeln nicht zusammentun?« fragte Nikolaj. »Nicht?«

Die Hunde wurden zu einer Meute vereinigt, und der Onkel ritt neben Nikolaj weiter. Natascha, ganz in einen Schal eingehüllt, so daß nur ihr frisches Gesicht und ihre glänzenden Augen zu sehen waren, sprengte auf ihn zu, gefolgt von ihrem unzertrennlichen Begleiter Petja und dem Jäger und Bereiter Michail, der ihr heute als Kinderwärterin beigegeben worden war. Petja lachte über irgend etwas, schlug auf sein Pferd ein und riß an den Zügeln. Natascha saß sicher und gewandt auf ihrem Rappen Arabtschik und leitete ihn ohne jede Anstrengung mit sicherer Hand.

Der Onkel warf Petja und Natascha einen mißbilligenden Blick zu. Er konnte es nicht leiden, wenn man eine so ernste Sache wie die Jagd mit Kindereien verknüpfte.

»Guten Tag, Onkelchen, wir reiten auch mit!« rief Petja ihm zu.

»Guten Tag, guten Tag! Aber drängt doch die Hunde nicht so zusammen!« erwiderte der Onkel streng.

»Nikolaj, was für ein wonniges Hundevieh doch mein Trunila ist; er hat mich gleich wiedererkannt!« rief Natascha und zeigte auf ihren Lieblingsjagdhund.

Erstens ist Trunila kein wonniges Hundevieh, sondern ein Hühnerhund, dachte Nikolaj und warf der Schwester einen strengen Blick zu, bemüht, sie den Abstand fühlen zu lassen, der sie in diesem Augenblick trennen mußte. Natascha verstand dies.

»Glauben Sie nicht, Onkelchen, daß wir jemandem im Weg sein werden«, sagte Natascha. »Wir werden ganz ruhig auf unserem Fleck bleiben und uns nicht mucksen.«

»Schon gut, schon gut, Komteßchen«, entgegnete der Onkel. »Und fallen Sie mir nicht vom Pferd«, fügte er hinzu, »denn da ist nichts dran, woran man sich festhalten könnte – klare Sache und damit hopp!«

Plötzlich trat der Verhau von Otradnoje auf ein paar Meter Entfernung wie eine Insel aus dem Nebelmeer hervor, und die Treiber ritten darauf zu. Rostow beschloß nun mit dem Onkel endgültig, von welcher Seite man die Hunde loshetzen wollte, wies Natascha einen Stand an, den sie nicht verlassen durfte und wo sicher nichts vorbeikommen würde, und ritt dann auf einem Umweg um die Schlucht herum.

»Na, mein Junge, du wirst auf einen tüchtigen Kerl stoßen«, sagte der Onkel. »Laß ihn nur ja nicht durchwischen.«

»$Wies’s kommt, so kommt’s«, erwiderte Rostow. »Karaj, fjuit!« rief er wie als Antwort auf die Worte des Onkels seinem Hunde zu. Dieser Karaj war ein alter, häßlicher, tolpatschiger Hund, berühmt dadurch, daß er es ganz allein mit einem starken Wolf aufnahm.

Alle hatten ihre Plätze eingenommen. Da der alte Graf den glühenden Jagdeifer seines Sohnes kannte, hatte er sich tüchtig dazugehalten, um nicht zu spät zu kommen, und die Treiber waren noch nicht an Ort und Stelle angelangt, als Ilja Andrejewitsch mit vergnügtem, rotem Gesicht und zitternden Backen mit seinem Rappengespann über die Wintersaat auf den ihm angewiesenen Platz zugefahren kam. Nachdem er seinen Pelz in Ordnung gebracht und das Jagdgerät übergeworfen hatte, bestieg er seinen glatten, feisten, guten und friedlichen Wiflanka, der auch schon anfing, grau zu werden, ganz wie er selber. Wagen und Pferde wurden nach Hause geschickt. Obgleich Graf Ilja Andrejewitsch nicht mit Leib und Seele Jäger war, so kannte er doch die Jagdgesetze sehr genau und ritt nun in den Saum des Gebüsches, wo er seinen Stand hatte, hinein, legte die Zügel zurecht, setzte sich im Sattel gerade und sah sich dann lächelnd um, weil er wußte, daß er nun zu allem bereit war.

Neben ihm hielt sein Kammerdiener Semjon Tschekmar, ein alter, guter, aber nun auch etwas schwerfällig gewordener Reiter. Tschekmar hatte drei grimmige Wolfshunde am Koppelriemen, die aber, ebenso wie ihr Herr und dessen Pferd, auch schon etwas feist geworden waren. Zwei andere alte, sehr gelehrige Hunde lagen ohne Koppel daneben. Etwa hundert Schritte weiter im Busch stand des Grafen zweiter Leibjäger Mitka, der als toller Reiter und leidenschaftlicher Jäger bekannt war. Nach alter Gewohnheit trank der Graf vor der Jagd aus einem silbernen Becher einen Jagdschnaps, aß ein paar Bissen und leerte dann noch eine halbe Flasche von seinem Lieblingsbordeaux.

Vom Wein und von der flotten Fahrt hatte Ilja Andrejewitsch ein ganz rotes Gesicht bekommen, seine Augen zeigten einen feuchten Schimmer und ganz besonderen Glanz, und wie er so in seinen Pelz eingehüllt im Sattel saß, sah er aus wie ein Kind, das man zum Spazieren gehen fertiggemacht hat.

Nachdem Tschekmar mit seinen mageren, eingefallenen Wangen alle seine Obliegenheiten erledigt hatte, sah er seinen Herrn an, mit dem er dreißig Jahre wie ein Herz und eine Seele zusammengelebt hatte, und da er dessen gute Laune herausfühlte, wartete er nun darauf, daß er ein angenehmes Gespräch anfangen werde.

Da kam noch eine dritte Gestalt vorsichtig – augenscheinlich hatte man ihr das so eingeprägt – um die Waldecke herumgeritten und hielt hinter dem Grafen an. Es war dies der Narr Nastasja Iwanowna, ein alter Mann in grauem Bart, einem Frauenmantel und einer hohen Zipfelmütze.

»Na, Nastasja Iwanowna«, flüsterte ihm der Graf blinzelnd zu, »stampf nur recht mit deinem Pferd, damit uns der Wolf auf und davon geht, da wird dir’s Danila aber stecken!«

»Hab selber Haare auf den Zähnen …« erwiderte Nastasja Iwanowna.

»Pssst!« machte der Graf und wandte sich an Semjon.

»Hast du Natalja Iljinitschna gesehen?« fragte er ihn. »Wo ist sie?«

»Das gnädige Fräulein stehen mit Peter Iljitsch nach der Steppe von Scharowo zu«, erwiderte Semjon lächelnd. »Ist doch eine Dame und hat so großes Vergnügen an der Jagd!«

»Ja, da staunst du, Semjon, und wie sie reitet! Nicht wahr?« sagte der Graf. »Ganz wie ein Mann!«

»Ja, da muß man sich wirklich wundern! So kühn, so gewandt!«

»Und wo ist Nikolaj? Wohl auf der Anhöhe von Ljadowskij, nicht wahr?« fragte der Graf immer flüsternd weiter, »Gewiß, ebenda. Der weiß schon, wo er sich hinstellen muß. Und reiten kann er, daß Danila und ich manchmal Mund und Nase aufsperren!« sagte Semjon, der genau wußte, womit er seinem Herrn am besten schmeicheln konnte.

»Er reitet gut, was? Und wie er aussieht zu Pferde, nicht?«

»Wie ein Bild zum Malen! Da hat er vor ein paar Tagen einen Fuchs aus der Sawarsinskij-Steppe losgelassen. Und er zu Pferde nach, von ganz hinten her, und kriegt ihn. Das war eine Jagd! Das Pferd ist tausend Rubel wert, der Reiter aber unbezahlbar! Ja, solch einen jungen Herrn kann man suchen.«

»Den kann man suchen«, wiederholte der Graf, offensichtlich tat es ihm leid, daß Semjons Redestrom schon so bald wieder versiegt war. »Den kann man suchen«, sagte er noch einmal, schlug die Schöße seines Pelzes zurück und zog seine Tabaksdose hervor.

»Und als neulich der junge Herr in vollem Staat aus der Messe kam, da meinte der Michail Sidorowitsch …« Semjon sprach nicht zu Ende, er hörte, wie das Bellen und Heulen von nicht mehr als zwei oder drei Hunden deutlich durch die stille Luft drang. Er ließ den Kopf hängen und horchte und machte stumm seinem Herrn ein warnendes Zeichen. »Sie sind ihnen auf der Spur …« flüsterte er, »gerade auf Ljadowskij treiben sie zu.«

Der Graf vergaß vor Aufregung sein lächelndes Gesicht zu glätten, spähte vor sich die Waldblöße entlang und hielt die Tabaksdose immer noch in der Hand, ohne eine Prise genommen zu haben. Gleich nach dem Hundegebell ertönte aus Danilas tiefem Horn das Jagdsignal, eine ganze Meute fiel in das Gebell der ersten drei Hunde mit ein, und man hörte, wie die Hetzhunde jenes besondere, gellende Geheul anstimmten, das stets als Zeichen dafür dient, daß sie die Verfolgung eines Wolfes aufgenommen haben. Die Treiber hetzten jetzt nicht nur, sondern brüllten immer toller »Uljulju!« und aus all dem Geschrei hörte man, bald im tiefsten Baß, bald scharf und gellend, Danilas Stimme. Es schien, als ob diese Stimme den ganzen Wald erfüllte, noch über seine Grenzen hinausdrang und weit bis in die Felder hinein tönte.

Nachdem der Graf und sein Leibjäger ein paar Augenblicke stumm zugehört hatten, kamen sie zu der Überzeugung, daß sich die Hetzhunde in zwei Meuten geteilt haben mußten: die eine, größere, die ganz besonders leidenschaftlich heulte, entfernte sich mehr und mehr, während die andere, kleinere, im Gehölz entlang in der Nähe des Grafen vorbeijagte, und bei dieser Meute hörte man auch das Uljulju Danilas. Dann schienen sich beide Teile wieder vereinigt zu haben, das Geschrei und Gebell floß zusammen, aber alles klang schon ferner.

Semjon seufzte und beugte sich herab, um die Koppel in Ordnung zu bringen, in die sich ein junger Hund verwickelt hatte. Der Graf seufzte ebenfalls, und als er bemerkte, daß er die Tabaksdose immer noch in der Hand hielt, machte er sie auf und nahm eine Prise.

»Zurück!« schrie Semjon einem Hund zu, der über den Waldsaum hinauslaufen wollte. Der Graf fuhr zusammen und ließ die Dose fallen. Nastasja Iwanowna stieg vom Pferd und hob sie ihm auf. Der Graf und Semjon folgten ihm mit den Augen.

Plötzlich kam, wie das ja häufig zu geschehen pflegt, das Getöse der Jagd wieder so nah, als müßten jeden Augenblick die heulenden Mäuler der Hunde und der »Uljulju« brüllende Danila vor ihnen auftauchen.

Der Graf blickte sich um und sah rechts seinen Mitka, der ihn mit weitaufgerissenen Augen ansah, die Mütze zog und vor sich auf die andere Seite hinüberdeutete.

»Achtung!« brüllte er mit einer Stimme, der man es anmerkte, daß dieses Wort ihm schon lange quälend auf der Zunge gelegen hatte. Dann ließ er seine Hunde los und galoppierte in der Richtung auf den Grafen zu.

Der Graf und Semjon sprengten nun ebenfalls über den Saum des Waldes hinweg und sahen links von sich einen Wolf, der mit einem ruhigen, weichen und schwankenden Satz auf eben denselben Waldsaum heraussprang, wo sie selber hielten, nur etwas links von ihnen. Die Hunde heulten grimmig auf, rissen sich von der Koppel los und jagten, zwischen den Beinen der Pferde hindurch, auf den Wolf zu.

Der Wolf hielt im Lauf inne, drehte unbeholfen und steif, wie einer, der Halsschmerzen hat, seinen breitstirnigen Kopf nach den Hunden um, machte noch ein paar ebenso weiche und schwankende Sätze, ließ den Schwanz hin und her baumeln und suchte dann wieder im Walde Deckung. In diesem Augenblick stürzte mit einem Geheul, das an Weinen erinnerte, vom gegenüberliegenden Waldsaum, ohne zu hören und zu sehen, ein Hetzhund nach dem anderen hervor, und die ganze Meute stürmte an der Stelle, wo der Wolf herausgetreten war, auf das Feld hinaus. Hinter den Hunden teilten sich die Haselnußsträucher, und Danilas Brauner, der im Schweiß wie ein Rappe erschien, brach hervor. Auf seinem langen Rücken saß, ganz nach vorn gerutscht und wie ein Klumpen zusammengekrümmt, Danila, sein graues Haar hing ihm wirr über das hochrote, verschwitzte Gesicht.

»Uljuljulju, uljulju!« … brüllte er, und als er den Grafen sah, schossen seine Augen Blitze.

»Teufel!« schrie er und drohte mit der erhobenen Hetzpeitsche zum Grafen hinüber. »So einen Wolf durchzulassen! Schöne Jäger das!« Und als wolle er den verlegenen Grafen keines Wortes weiter würdigen, schlug er mit aller Wut, die dem Grafen galt, auf die bebenden, feuchten Weichen seines Wallachs los und jagte den Hetzhunden nach. Der Graf stand wie ein begossener Pudel da und sah sich um, bemüht, durch ein Lächeln Semjons Mitleid mit seiner Lage hervorzurufen. Aber Semjon war bereits nicht mehr da: er sprengte in einem Bogen um die Büsche, um den Wolf vom Dickicht abzuschneiden. Von zwei anderen Seiten hetzten die Treiber mit den Hunden hinter dem Tier her. Aber der Wolf verschwand im Gestrüpp, und keiner der Jäger erwischte ihn.

5

Inzwischen stand Nikolaj Rostow auf seinem Platz und wartete auf den Wolf. Aus dem Herannahen und Wiederfernerwerden der Jagd, aus dem Gebell der Hunde, die er alle kannte, aus den Stimmen der Treiber, die bald näher, bald ferner, bald lauter und bald leiser ertönten, erfuhr er, was im Verhau vor sich ging. Er wußte, daß dort alte und junge Wölfe sein mußten, wußte, daß sich die Hetzhunde in zwei Meuten geteilt hatten, daß sie irgendwo hetzten, und daß etwas Unerfreuliches geschehen sein mußte. Jeden Augenblick erwartete er den Wolf auf seiner Seite. Er stellte tausenderlei verschiedene Mutmaßungen auf, wie und von welcher Seite der Wolf wohl kommen könne, und auf welche Weise er ihn dann hetzen müsse. Seine Hoffnung wandelte sich in Verzweiflung. Ein paarmal flehte er Gott an, er solle ihm doch einen Wolf schicken, und betete mit einem so heißen, verschämten Gefühl, wie Menschen in Augenblicken starker Erregung wegen einer nichtigen Sache zu beten pflegen. Was kostet es dich, flehte er Gott an, wenn du dies für mich tust? Ich weiß, daß du allmächtig bist und es eine Sünde ist, dich um so etwas zu bitten, aber tu mir doch um des Himmels willen den Gefallen, daß ein alter starker Wolf nach meiner Seite hergetrieben wird, und daß Karaj ihn vor den Augen des Onkels, der dort steht und immer hersieht, an der Kehle packt und zur Strecke bringt. Wohl tausendmal in dieser halben Stunde spähte Rostow mit hartnäckig gespannten, ruhelosen Blicken den Waldsaum entlang, wo zwei vereinzelte Eichen aus dem Espengebüsch herausragten, spähte nach der Schlucht mit ihren ausgespülten Rändern und nach der Mütze des Onkels, die rechts im Gehölz kaum zu sehen war.

Nein, dieses Glück wird mir nicht zuteil, dachte Rostow. Und was hätte es ausgemacht! Es kommt keiner. Überall, im Kartenspiel wie im Krieg, in allem habe ich Pech. Und die Erinnerung an Austerlitz und an Dolochow, eine schnell der anderen weichend, blitzte grell in seinem Gedächtnis auf. Nur ein einziges Mal in meinem Leben möchte ich einen starken Wolf hetzen, weiter habe ich keinen Wunsch! dachte er, strengte Gehör und Gesicht an, spähte nach rechts und dann wieder nach links und erlauschte die geringsten Abstufungen aus dem Geschrei und Gebell der Jagd.

Als er sich wieder nach rechts wandte, sah er, daß über das freie Feld etwas auf ihn zugelaufen kam. Nein, das kann doch nicht sein, dachte Rostow und atmete schwer wie jemand, der der Erfüllung von etwas Langersehntem gegenübersteht. Das größte Glück war für ihn zur Wirklichkeit geworden, und so einfach, ohne jeden Lärm und Prunk und ohne vorherige Ankündigung. Rostow traute seinen Augen kaum, aber sein Zweifel dauerte nur etwas über einen Augenblick. Der Wolf lief geradeaus und sprang schwerfällig über einen Wassergraben, der ihm im Wege war. Es war ein altes, am Rücken schon grau werdendes Tier mit feistem, rötlichem Bauch. Er rannte ohne große Eile vorwärts und war offenbar überzeugt, daß ihn niemand sah. Rostow stockte der Atem, er sah sich nach den Hunden um. Sie hatten den Wolf noch nicht gesehen und standen und lagen neben ihm, ohne etwas zu merken. Der alte Karaj hatte den Kopf nach hinten gedreht, suchte ingrimmig nach einem Floh und fletschte und knackte mit seinen gelben Zähnen an seinen Hinterschenkeln.

»Uljuljulju«, flüsterte Rostow mit gespreizten Lippen. Die Hunde sprangen auf, daß die Metallteile an der Koppel klirrten, und spitzten die Ohren. Karaj flöhte sich noch zu Ende, sprang dann ebenfalls auf, spitzte die Ohren und wedelte leicht mit dem Schwanz, an dem das Haar verfilzt herabhing.

Soll ich sie loslassen oder nicht? fragte sich Nikolaj, als der Wolf, sich vom Wald entfernend, immer näher auf ihn zukam.

Auf einmal ging mit dem Wolfe eine plötzliche Veränderung vor: er fuhr zusammen, wahrscheinlich hatte er das menschliche Auge, das auf ihn gerichtet war und das er noch niemals in seinem Leben geschaut hatte, erspäht: leicht wandte er den Kopf nach dem Jäger um und blieb stehen. Vor oder zurück? Ach was, einerlei, vorwärts, vielleicht … schien er bei sich zu sagen und rannte in weiten, gemessenen, ungezwungenen, aber entschlossenen Sätzen weiter.

»Uljulju!« schrie Nikolaj mit einer Stimme, die gar nicht seine eigne schien; sein braves Pferd jagte wie von selbst Hals über Kopf den Abhang hinab, setzte über ein Wasserloch quer auf den Wolf zu, aber die Hunde holten es ein und stürmten noch schneller als das Pferd dem Wolf entgegen. Nikolaj hörte weder sein eignes Schreien noch fühlte er, wie er dahinjagte, er sah weder die Hunde noch die Stelle, wo er hinritt, er sah nur den Wolf, der seinen Lauf beschleunigte und in derselben Richtung weiter in einen Hohlweg hineinlief. Die erste, die in die Nähe des Wolfes kam, war die schwarzgefleckte, hinten breit gebaute Milka, sie stürmte wie der Wind voran. Immer näher und näher kam sie dem Wolf … und jetzt hatte sie ihn eingeholt. Der Wolf schielte sie nur von der Seite an, doch statt sich auf ihn zu stürzen, wie sie es sonst immer tat, stemmte sich Milka plötzlich mit hocherhobener Rute gegen die Vorderpfoten.

»Uljuljuljulju!« heulte Nikolaj.

Der fuchsrote Ljubim sprang hinter Milka vor, warf sich ungestüm auf den Wolf und packte ihn am Hinterschenkel. Im selben Augenblick aber sprang er erschrocken auf die andere Seite hinüber. Der Wolf hatte sich gesetzt und mit den Zähnen gefletscht, nun aber sprang er wieder auf und rannte weiter, gefolgt von allen Hunden, die in der Entfernung von etwa einer Elle hinter ihm herliefen und ihm nicht nahe zu kommen wagten.

Er entwischt! Nein, das ist doch nicht möglich, dachte Nikolaj und schrie mit heiserer Stimme immer weiter.

»Karaj, Uljulju!« … brüllte er und suchte mit den Augen den alten Hund, seine einzige Hoffnung. Karaj streckte sich mit allen seinen alten Kräften, soviel er nur konnte, verwandte kein Auge von dem Wolf und jagte in schwerfälligem Trab von der Seite her auf ihn zu, um ihm den Weg abzuschneiden. Aber bei der Schnelligkeit der Sätze des Wolfes und den langsamen Sprüngen des Hundes war es klar, daß Karajs Berechnung sich als falsch herausstellen mußte. Schon sah Nikolaj jenen Teil des Waldes unweit vor sich, wo der Wolf sicherlich entkommen würde, wenn er ihn einmal erreicht hatte. Da tauchten vor ihm Hunde und ein Jäger auf, die aus gerade entgegengesetzter Richtung auf ihn zugaloppierten. Noch war die Hoffnung nicht verloren. Ein dunkelgestromter, langgebauter junger Hund aus einer fremden Koppel, den Nikolaj nicht kannte, stürzte mit so reißendem Ungestüm auf den Wolf los, daß er ihn beinahe überrannt hätte. Aber blitzschnell, wie man es ihm kaum zugetraut hätte, fuhr der Wolf auf, stürzte sich auf den Dunkelgestromten, klappte mit den Zähnen – und blutüberströmt und mit zerrissener Flanke stürzte der Hund unter gellendem Winseln mit dem Kopf zu Boden.

»Karajuschka, mein alter!« flehte Nikolaj fast unter Tränen.

Der alte Hund mit den baumelnden Filzklümpchen an den Schenkeln war dank dem durch diesen Zwischenfall entstandenen Aufenthalt, und weil er dem Wolf den Weg abgeschnitten hatte, nun auf etwa fünf Schritte an ihn herangekommen. Der Wolf schielte Karaj an, als fühlte er die Gefahr herannahen, klemmte seinen Schwanz noch fester zwischen die Hinterbeine und jagte in gewaltigen Sätzen weiter. Plötzlich aber – Nikolaj hatte nur gesehen, daß irgend etwas mit Karaj vorging – sah er den Hund auf dem Rücken des Wolfes und im selben Augenblick rollten beide Hals über Kopf in eine Grube, die vor ihnen lag. Der Augenblick, wo Nikolaj die in der Grube mit dem Wolf sich herumbalgenden Hunde erblickte, zwischen denen hindurch man nur das graue Fell des Wolfes, sein ausgestrecktes Hinterbein und seinen erschrockenen, nach Atem ringenden Kopf – Karaj hatte ihn an der Gurgel gepackt – mit den zurückgelegten Ohren sah, – dieser Augenblick, in dem Nikolaj dies alles sah, war der glücklichste seines Lebens. Schon griff er nach dem Sattelbogen, um vom Pferde zu springen und dem Wolf den Fang zu versetzen, als sich plötzlich aus dem Knäuel der Hunde der Kopf des Wolfes nach oben rang und seine Vorderbeine auf dem Rand der Grube erschienen. Der Wolf fletschte mit den Zähnen – Karaj hielt ihn jetzt nicht mehr an der Gurgel gepackt –, sprang auch mit den Hinterbeinen aus der Grube heraus, klemmte den Schwanz ein und setzte, nachdem er alle Hunde wieder von sich abgeschüttelt hatte, seinen Lauf fort. Mit gesträubtem Fell, wahrscheinlich gequetscht oder gebissen, kroch nun auch Karaj mühselig aus dem Loch hervor.

»Großer Gott, warum nur das? …« rief Nikolaj verzweifelt aus.

Aber ein Jäger des Onkels sprengte von der anderen Seite dem Wolf entgegen, und seine Hunde stellten ihn nochmals. Wieder war er umringt.

Nikolaj, sein Leibjäger, der Onkel und dessen Jäger kreisten um den Wolf, schrien Uljulju und hetzten, bereiteten sich jedesmal vor, abzusteigen, wenn sich der Wolf auf das Hinterteil setzte, und jagten jedesmal weiter, wenn er sich wieder losriß und nach dem Dickicht zustrebte, das seine Rettung sein mußte.

Noch zu Anfang dieser Hetzjagd war Danila, der das UljuljuSchreien gehört hatte, an den Saum des Waldes herausgesprengt. Er sah, wie Karaj den Wolf packte, und hielt sein Pferd an, weil er glaubte, daß nun alles zu Ende sei. Als aber die Jäger nicht von ihren Pferden sprangen, der Wolf die Hunde abschüttelte und immer wieder seine Flucht fortsetzte, jagte Danila seinen Braunen nicht auf den Wolf, sondern in gerader Linie auf das Dickicht zu, um, ebenso wie vorhin Karaj, dem Wolf den Weg abzuschneiden. Dank diesem Entschluß kam er gerade in dem Augenblick bei dem Wolf an, als ihn die Hunde des Onkels zum zweitenmal stellten.

Danila sprengte schweigend heran, hielt den blanken Dolch in der linken Hand und schlug mit seiner Hetzpeitsche wie mit einem Dreschflegel auf die stramm gespannten Seiten seines Braunen ein.

Nikolaj hatte von Danila weder etwas gehört noch gesehen, bis dessen Brauner schwer atmend dicht neben ihm vorüberkeuchte. Da hörte er auch schon das Fallen eines Körpers und sah, wie Danila mitten unter den Hunden auf dem Hinterteil des Wolfes lag und sich bemühte, ihn an den Ohren zu packen. Jetzt war es sowohl den Hunden und Jägern als auch dem Wolf selber klar, daß es zu Ende ging. Entsetzt drückte er die Ohren an und versuchte aufzustehen, aber die Hunde ließen nicht locker. Danila hob sich etwas auf und ließ sich dann mit seiner ganzen Schwere, als wolle er sich zur Ruhe legen, wieder auf den Wolf herabfallen und packte ihn an den Ohren. Nikolaj wollte zustoßen, aber Danila rief gepreßt: »Nicht nötig, wir knebeln ihn.« Darauf änderte er seine Stellung und setzte seinen Fuß auf den Hals des Wolfes. Man schob dem Wolf einen Knebel in den Rachen und schnürte diesen wie einen Zaum mit einem Koppelriemen fest, dann band man ihm die Beine zusammen, und Danila wälzte ihn ein paarmal von einer Seite auf die andere.

Mit glücklichen, ermatteten Gesichtern luden sie den lebendigen, starken Wolf auf ein sich bäumendes, schnaubendes Pferd und brachten ihn so, von den zu ihm aufheulenden Hunden begleitet bis an den Platz, wo sich alle versammeln sollten. Alle kamen herbei und wollten den Wolf sehen, der seinen breitstirnigen Kopf mit dem wie ein Zaum in seinem Rachen befestigten Knebel herabhängen ließ und mit seinen großen gläsernen Augen diese Menge von Hunden und Leuten anstarrte, die ihn umringte. Wenn jemand ihn berührte, zuckte er mit den zusammengeschnürten Beinen und sah alle wild an. Auch Graf Ilja Andrejewitsch kam herangeritten und faßte den Wolf an.

»Oh, das ist aber ein Staatskerl!« sagte er. »Nicht wahr?« wandte er sich an Danila, der neben ihm stand.

»Jawohl, Euer Erlaucht«, erwiderte Danila und riß eilig die Mütze vom Kopf.

Da fiel dem Grafen der Wolf, der ihm entwischt war, und sein Zusammenstoß mit Danila ein.

»Da hast du dich nun aufgeregt, Freundchen«, sagte der Graf. Danila erwiderte nichts und lächelte nur verlegen sein kindlich sanftes, freundliches Lächeln.

6

Der alte Graf fuhr nach Hause. Natascha und Petja versprachen, gleich nachzukommen. Die Jagd ging noch weiter, es war noch früh am Tag. Gegen Mittag schickte man die Hunde in eine mit dichtem Jungholz bewachsene Schlucht hinein. Nikolaj hielt auf dem Stoppelfeld, von wo aus er alle seine Jäger überblicken konnte.

Nikolaj gegenüber lag ein Feld mit Wintersaat, und dort hielt einer seiner Jäger ganz allein in einer Vertiefung hinter einem Haselnußstrauch. Kaum hatte man die Hunde losgelassen, so hörte Nikolaj auch schon einen einzelnen Hund, den er kannte, bellen, es war Woltorn. Bald fielen auch andere Hunde ein, dann war plötzlich alles still, dann wieder jagten sie mit lautem Gebell. Gleich darauf ertönte aus dem Walde das Fuchssignal, und die ganze Meute jagte bunt durcheinander den Hügel hinauf in der Richtung auf das Wintersaatfeld zu, von Nikolaj fort.

Er sah die Hundewärter mit ihren roten Mützen am Rande der dicht bewachsenen Schlucht entlang galoppieren, sah sogar die Hunde und wartete nun jeden Augenblick darauf, daß jenseits, auf der Wintersaat, nun auch der Fuchs auftauchen werde.

Der Jäger, der in der Vertiefung gehalten hatte, ließ seine Hunde los, setzte sich in Bewegung, und nun sah Nikolaj auch einen roten, merkwürdig niedrigen Fuchs, der mit gesträubtem Schwanz hastig über die Wintersaat rannte. Die Hunde jagten hinter ihm her. Jetzt waren sie ihm schon ganz nahe, da schlug der Fuchs plötzlich mitten unter ihnen einen Haken, dann wieder einen und wieder einen und fegte mit seinem buschigen Schwänze um sich. Ein weißer Hund, den Nikolaj nicht kannte, schoß auf ihn los, ihm folgte ein schwarzer, und alles floß zu einem Knäuel zusammen. Schließlich blieben die Hunde sternförmig, mit den Hinterteilen nach außen, stehen und schienen sich kaum mehr zu rühren. Da sprengten zwei Jäger zu den Hunden heran, der eine mit roter Mütze, der andere, ein fremder, in langem grünem Rock.

Was soll das? dachte Nikolaj. Wo kommt denn dieser Jäger her? Der gehört doch nicht dem Onkel.

Die Jäger gaben dem Fuchs den Fang, blieben aber noch lange zu Fuß dort stehen, ohne daß einer die Jagdbeute an seiner Schlinge befestigt hätte. Die Pferde mit ihren hohen Sätteln hielten sie an den Zügeln neben sich, die Hunde hatten sich hingelegt. Die Jäger gestikulierten heftig mit den Armen und nahmen etwas mit dem Fuchs vor. Da ertönte von dort ein Hornruf, das Signal, daß ein Streit aufgebrochen war.

»Da streitet sich ein Ilaginscher Jäger mit unserm Iwanow herum«, sagte Nikolajs Leibjäger.

Nikolaj schickte den Jäger aus, um seine Schwester und Petja herbeizurufen, und ritt dann im Schritt nach der Stelle zu, wo die Treiber die Hetzhunde sammelten. Ein paar Jäger waren an den Ort des Streites geritten.

Nikolaj stieg vom Pferd, blieb mit Natascha und Peter, die herbeigeeilt waren, bei den Hunden stehen und wartete auf Nachricht, wie die Sache enden werde. Da kam der Jäger, der sich mit dem Fremden geprügelt hatte, mit dem Fuchs am Sattelriemen hinter dem Waldsaum vorgeritten und sprengte auf den jungen Herrn zu. Schon von weitem riß er die Mütze ab und bemühte sich, ehrerbietig zu sprechen, aber er war bleich und atemlos und machte ein wütendes Gesicht. Das eine Auge war ihm ganz blutig geschlagen, aber er schien das gar nicht einmal bemerkt zu haben.

»Was habt ihr denn da gehabt?« fragte Nikolaj.

»So eine Art! Unsern Hunden will er den Fuchs aus den Zähnen reißen! Und gerade meine Hündin, die mausgraue, hatte ihn doch erwischt. Aber warte, dich werd ich schon Mores lehren! Will er den Fuchs einfach zu packen kriegen! Da hab ich ihn aber gleich mit dem Fuchs ordentlich durchgewalkt! Hier ist er, am Sattel. Den möchtest du wohl nicht zu spüren bekommen, he?« sagte der Jäger und zeigte auf seinen Dolch, anscheinend in dem Glauben, daß er immer noch mit seinem Widersacher spreche.

Nikolaj sagte nichts weiter zu ihm, bat seine Schwester und Petja, auf ihn zu warten, und ritt nach der Stelle hin, wo sich die feindliche, Ilaginsche Jagdgesellschaft versammelt hatte. Der siegreiche Streiter ritt in den Kreis der Jäger hinein und erzählte dort, von mitfühlenden Neugierigen umringt, seine Heldentat noch einmal.

Die Sache war die, daß Ilagin, mit dem Rostow ewig Streitereien und Prozesse hatte, oft auf Revieren jagte, die hergebrachtermaßen der Familie Rostow gehörten, und jetzt wie absichtlich ebenfalls nach dem Verhau, wo die Rostows jagten, hinzureiten befohlen und seinem Jäger erlaubt hatte, ein von fremden Hunden gehetztes Wild ebenfalls zu verfolgen.

Nikolaj hatte Ilagin noch nie gesehen, da er aber wie immer in seinem Urteil und seinen Gefühlen keine Mittelstraße kannte, haßte er ihn nach alledem, was er von dem Ungestüm und der Eigenmächtigkeit dieses Gutsbesitzers gehört hatte, von ganzer Seele und hielt ihn für seinen grimmigsten Feind. So ritt er jetzt zornig erregt auf ihn zu, preßte die Hetzpeitsche fest in die Hand und war entschlossen, mit aller Entschiedenheit und schonungslos gegen seinen Feind vorzugehen.

Kaum war er um die Waldecke herumgeritten, als er einen dicken Herrn mit einer Bibermütze auf einem prächtigen Rappen gewahrte, der, von zwei Leibjägern begleitet, auf ihn zugeritten kam.

Statt eines grimmigen Feindes fand Nikolaj in Ilagin einen stattlichen, artigen Herrn, der schon lange den besonderen Wunsch gehegt hatte, den jungen Grafen kennenzulernen. Als er bis zu Rostow herangeritten war, nahm Ilagin seine Bibermütze ab und sagte, er bedauere den unliebsamen Vorfall ungemein und habe bereits Befehl gegeben, den Jäger zu bestrafen, der sich unterstanden habe, ein von fremden Hunden gehetztes Wild zu verfolgen, bat den Grafen um seine Bekanntschaft und bot ihm sein eigenes Revier zur Jagd an.

Natascha, die gefürchtet hatte, ihr Bruder werde etwas Entsetzliches tun, war in ihrer Aufregung nicht weit hinter ihm hergeritten. Als sie sah, daß sich die beiden Feinde freundschaftlich begrüßten, ritt sie zu ihnen hin. Ilagin zog vor Natascha seine Bibermütze noch tiefer und sagte mit einem liebenswürdigen Lächeln, daß die Komtesse sowohl durch ihre Jagdpassion als auch durch ihre Schönheit, von der er schon viel gehört habe, ganz einer Diana gleiche.

Um die Schuld seines Jägers wiedergutzumachen, bat Ilagin Rostow inständig, doch mit auf sein etwa eine Werst entferntes Revier zu kommen, das er nur für sich allein reserviert habe, und wo, seinen Worten nach, es vor Hasen nur so wimmeln sollte. Nikolaj willigte ein, und die Jagdgesellschaft, die nun noch einmal so groß geworden war, ritt weiter.

Um nach Ilagins Revier zu kommen, mußte man über Felder reiten. Die Jäger verteilten sich; die Herrschaft ritt zusammen. Der Onkel, Rostow und Ilagin schielten verstohlen nach den fremden Hunden, ängstlich bemüht, daß die anderen dies nicht merkten, und suchten aus ihnen voller Ungeduld diejenigen heraus, die wohl als Konkurrenten für ihre eigenen Hunde in Frage kämen.

Eine kleine, reinrassige, rotgescheckte Hündin aus Ilagins Koppel mit feiner Schnauze und vorstehenden schwarzen Augen, die zwar schmal und zierlich gebaut war, dabei aber doch Muskeln hatte wie Stahl, fiel durch ihre Schönheit Rostow ganz besonders auf. Er hatte schon von Ilagins Passion für Hunde gehört und erblickte nun in dieser schönen Hündin eine Konkurrentin für seine Milka.

Mitten in einem ehrbaren Gespräch über die heurige Ernte, das Ilagin angeregt hatte, zeigte Nikolaj auf dessen rotscheckige Hündin.

»Eine schöne Hündin haben Sie da«, sagte er in lässigem Ton. »Ist sie gut?«

»Die? Ja, das ist ein braver Kerl, macht ihre Sache«, erwiderte Ilagin in gleichgültigem Ton von seiner Jorsa, für die er im vorigen Jahr einem Nachbarn drei Familien Leibeigene gegeben hatte. »Also auch bei Ihnen ist der Ausdrusch nicht allzu rühmlich ausgefallen, Graf?« setzte er das angefangene Gespräch fort. Und da er es für artig hielt, dem jungen Grafen das Lob seiner Hündin mit gleicher Münze heimzuzahlen, musterte er die Rostowschen Hunde und wählte sich Milka aus, die ihm durch ihren breiten Bau auffiel.

»Die Schwarzgescheckte da von Ihnen ist auch nicht übel, ganz famos!« sagte er.

»Ja, ganz leidlich, läuft ganz gut«, erwiderte Rostow. Wenn jetzt bloß ein Hase übers Feld liefe, dann wollte ich dir schon zeigen, was das für ein Hund ist! dachte er im stillen, wandte sich heimlich an seinen Leibjäger und flüsterte ihm zu, daß er demjenigen einen Rubel verspreche, der ihm sogleich einen geduckten Hasen aufspüre.

»Ich begreife nicht«, fuhr Ilagin fort, »wie ein Jäger den anderen um seine Beute oder seine Hunde beneiden kann. Um von mir zu reden, Graf, kann ich Ihnen nur sagen: ich freue mich vor allem, wissen Sie, einen Spazierritt zu machen, da reitet man so hin in netter Gesellschaft … Was kann es Schöneres geben?« Und wieder nahm er seine Bibermütze vor Natascha ab. »Aber etwa die Bälge zählen, wie viele ich davon mit heimbringe – das ist mir ganz gleichgültig.«

»Nun, ja, gewiß.«

»Oder mich gar darüber ärgern, wenn ein fremder Hund das Wild einholt und nicht meiner? Mir ist es nur um die Hetzjagd zu tun, nur der Anblick allein ergötzt mich, habe ich nicht recht, Graf? Deshalb halte ich dafür …«

»Faß ihn!« ertönte in diesem Augenblick der langgedehnte Ruf eines Treibers, der sein Pferd anhielt. Er stand auf der Stoppel auf halbem Hügel, hatte die Hetzpeitsche erhoben und wiederholte noch einmal langsam und gedehnt:

»Faß-ß-ß i-ihn!« Dieser Ruf und die erhobene Hetzpeitsche bedeuteten, daß er vor sich einen Hasen geduckt liegen sah.

»Ah, der scheint ja einen Hasen zu haben«, sagte Ilagin lässig. »Wie war’s, wollen wir den hetzen, Graf?«

»Ja, da müssen wir schon hinreiten … aber wie denn, zusammen?« erwiderte Nikolaj und warf einen Blick auf die beiden Konkurrenten seiner Milka, Jorsa und den fuchsroten Rugaj des Onkels, mit denen seine eignen Hunde zu messen er noch niemals Gelegenheit gehabt hatte. Aber wenn sie nun meine Milka ausstechen? dachte er, während er neben dem Onkel und Ilagin auf die Stelle, wo der Hase sein sollte, zuritt.

»Ist es ein großer?« fragte Ilagin, ritt auf den Jäger, der den Hasen entdeckt hatte, zu, sah sich nicht ohne Aufregung nach seiner Jorsa um und pfiff sie heran.

»Tun Sie auch mit, Michail Nikanorytsch?« wandte er sich an den Onkel.

Der Onkel ritt finster nebenher.

»Was soll ich mich da einmengen? Eure Hunde haben jeder ein ganzes Dorf gekostet, sind Tausende von Rubeln wert, klare Sache und damit hopp! Laßt eure beiden um die Wette rennen, ich werde zusehen.«

»Rugaj, he, Rugaj!« rief er aber doch. »Rugajuschka!« und verriet unwillkürlich durch diese Koseform seine Zärtlichkeit und die Hoffnung, die er auf seinen roten Hund setzte. Natascha aber sah und fühlte die Erregung, welche diese zwei alten Herren und auch ihr Bruder zu verbergen suchten, und wurde selber ganz aufgeregt.

Der Treiber stand immer noch mit erhobener Hetzpeitsche auf halbem Hügel. Die Herren ritten im Schritt auf ihn zu. Die Hetzhunde liefen am äußersten Horizont in der Richtung vom Hasen fort, auch die übrigen Jäger entfernten sich. Alles bewegte sich langsam und gemessen.

»Wohin liegt er mit dem Kopf?« fragte Nikolaj, als er bis auf hundert Schritt an den Treiber herangekommen war.

Aber der Treiber hatte noch nicht Zeit gehabt, zu antworten, als der Hase, dem es etwas unbehaglich zumute wurde, seine liegende Stellung änderte und aufsprang. Die Meute der Hetzhunde, noch zusammengekoppelt, stürmte mit lautem Gekläff den Berg hinunter, dem Hasen nach, von allen Seiten liefen die Windhunde, die nicht angekoppelt waren, herbei und jagten mit den Hetzhunden zusammen hinter dem Hasen her. Und alle die Jäger, die bisher so gelassen dahingeritten waren, flogen nun in gestrecktem Galopp quer über das Feld, während die Treiber bald einen Hund, der in der falschen Richtung lief, durch den Ruf »halt!« auf die richtige Fährte brachten, bald einen anderen mit: »Faß ihn! Faß ihn!« zu doppeltem Eifer aufstachelten. Der gemessene Ilagin, Nikolaj, Natascha und der Onkel flogen nur so über das Feld, ohne selber zu wissen, wie und wohin, nur die Hunde und den Hasen im Auge und bloß von der einen Angst beseelt, den Verlauf der Hetzjagd, wenn auch nur für einen Augenblick, aus den Augen zu verlieren. Der Hase erwies sich als ein kräftiges, flinkes Tier. Nachdem er aufgesprungen war, hatte er nicht sogleich das Hasenpanier ergriffen, sondern die Ohren gespitzt und auf das Geschrei und den Lärm gelauscht, der plötzlich von allen Seiten auf ihn eindrang. Dann hatte er etwa ein Dutzend nicht allzu schneller Sätze gemacht, hatte die Hunde an sich herankommen lassen und erst dann, nachdem er endlich die Gefahr erkannt hatte, war er sich über eine Richtung schlüssig geworden, hatte die Ohren zurückgelegt und war auf und davon gerannt, was seine Beine nur laufen konnten. Er hatte auf der Stoppel gelegen, aber vor ihm lag ein Feld mit Wintersaat, wo die Erde etwas moorig war. Die zwei Hunde des Treibers, der dem Hasen auf die Spur gekommen war, hatten, da sie am nächsten waren, den Hasen auch zuerst gesehen und verfolgt, aber sie hatten ihn noch lange nicht erreicht, als Ilagins rotgescheckte Jorsa von hinten wie ein Pfeil an ihnen vorbeischoß, sich dem Hasen bis auf Hundelänge näherte und in der furchtbaren Geschwindigkeit nach dem Schwanz des Hasen schnappte, wobei sie sich, wahrscheinlich in dem Glauben, ihn gehascht zu haben, köpflings überschlug. Der Hase zog den Rücken ein und jagte nur um so toller weiter. Da stürmte die schwarzgescheckte Milka mit ihrem breiten Hinterteil an Jorsa vorüber und kam dem Hasen in raschen Sätzen näher.

»Miluschka, Matuschka!« hörte man Nikolajs triumphierenden Aufschrei. Schon schien sie den Hasen fassen und packen zu können, aber als sie ihn erreicht hatte, schoß sie an ihm vorbei.

Der Hase hatte einen Haken geschlagen und sich geduckt. Wieder heftete sich ihm die schöne Jorsa an die Fersen. Sie schien fast über seinem Schwanz zu schweben, aber wie um nicht noch einmal fehlzuschnappen, schien sie die Absicht zu haben, ihn am Hinterlauf zu packen.

»Jorsanka, meine goldene!« hörte man Ilagins fast weinende Stimme, die nicht seine eigne schien. Jorsa hörte nicht auf sein Flehen. In dem Augenblick, in dem sie aller Erwartung nach den Hasen packen mußte, machte dieser einen Quersprung und galoppierte in der Grenzfurche zwischen dem Wintersaatfeld und der Stoppel dahin. Wieder waren sich Jorsa und Milka gleich und jagten wie ein Doppelgespann hinter dem Hasen her, aber in der Furche konnte der Hase leichter laufen, und die Hunde kamen ihm nicht so rasch näher.

»Rugaj! Rugajuschka! Klare Sache und damit hopp!« ertönte in diesem Augenblick eine neue Stimme, und Rugaj, der rote, krumme Hund des Onkels, streckte den Kopf vor, bog den Rücken krumm, holte die beiden ersten Hunde ein, kam ihnen zuvor, schoß mit furchtbarer Kräfteanspannung bis dicht an den Hasen vor, jagte ihn aus der Furche in die Wintersaat hinein, nahm in dem schmutzigen Wintersaatfeld, wo er bis an die Knie einsank, einen noch erbitterteren Anlauf, und schließlich war nur noch zu sehen, wie er sich, den Rücken ganz mit Kot beschmiert, mitsamt dem Hasen wie ein Knäuel auf dem Boden herumwälzte. Sternförmig umringten ihn die übrigen Hunde. Einen Augenblick später standen auch alle Jäger um den Kreis der Hunde herum. Der glückliche Onkel stieg als einziger ab und schnitt dem Hasen einen Lauf ab, schüttelte ihn, damit das Blut ausfließen sollte, sah sich dann mit suchenden Augen aufgeregt um, wußte nicht, was er mit seinen Händen und Füßen anfangen sollte, und redete, ohne selber zu wissen, was und mit wem.

»Das war aber ein Kapitalstreich … so ein Hund … schlägt alle aus dem Feld, die für tausend Rubel wie die für einen Rubel … Klare Sache, und damit hopp«, sagte er ganz atemlos und sah sich grimmig um, als ob er jemandem den Kopf waschen wolle, alle seine Feinde wären, ihn beleidigt hätten und es ihm erst jetzt gelungen wäre, sich zu rechtfertigen. »Da habt ihr nun tausend Rubel für eure Hunde bezahlt! Klare Sache, und damit hopp!«

»Rugaj, da nimm!« sagte er und warf dem Hund den abgeschnittenen Lauf mit der daranklebenden Erde zu. »Er hat es verdient. Klare Sache, und damit hopp!«

»Sie hat ihre ganze Kraft verpufft, dreimal allein hat sie Anlauf genommen«, sagte Nikolaj, der ebenfalls auf niemanden hörte und sich nicht darum kümmerte, ob ihm einer zuhörte oder nicht.

»Was ist das für ein Kunststück, wenn er den Hasen quer hetzt!« meinte ein Ilaginscher Jäger.

»Ja, wenn er schon halb zu Tode gehetzt ist, dann kann ihn jeder Hofhund mit einem kleinen Anlauf einholen«, sagte gleichzeitig Ilagin, der, ganz rot im Gesicht, vom schnellen Ritt und vor Aufregung nur schwer Luft bekam. Gleichzeitig stieß Natascha, ohne noch zu Atem gekommen zu sein, vor lauter Glück und Begeisterung einen so durchdringenden Juchzer aus, daß es allen in den Ohren gellte. Sie drückte durch diesen Juchzer alles das aus, was die anderen Jäger durch ihr gleichzeitiges Gerede zum Ausdruck brachten. Dies war so merkwürdig, daß sie sich selber dessen hätte schämen und alle anderen sich hätten wundern müssen, wenn es zu einer andern Zeit gewesen wäre. Der Onkel befestigte den Hasen am Sattel, warf ihn dann gewandt über das Hinterteil seines Pferdes, als wolle er durch dieses Hinüberwerfen allen seinen Sieg noch einmal unter die Nase reiben, setzte sich dann mit einer Miene, die besagte, daß er nun mit keinem mehr zu sprechen wünsche, auf seinen Hellbraunen und ritt weiter. Alle übrigen gingen mißmutig und beleidigt auseinander und konnten erst lange nachher ihren früheren, erheuchelten Gleichmut wiederfinden. Lange noch schielten sie verstohlen nach dem roten Rugaj hin, der, den krummen Rücken mit Schmutz besudelt, und mit den Metallteilen seiner Koppel klirrend, mit der ruhigen Miene eines Siegers dicht hinter den Beinen von des Onkels Pferd herlief.

Was wollt ihr denn? Ich bin ein Hund wie alle anderen auch, solange es nichts zu hetzen gibt. Dann aber rette sich, wer kann! schien seine Miene zu sagen, wenigstens kam es Nikolaj so vor.

Als dann lange nachher der Onkel auf Nikolaj zugeritten kam und ein Gespräch mit ihm anfing, fühlte sich Nikolaj geschmeichelt, daß der Onkel nach alledem, was sich ereignet hatte, ihn noch einer Unterhaltung würdigte.

7

Als sich Ilagin am Abend von Nikolaj verabschiedet hatte, stellte sich heraus, daß sie sich so weit von Otradnoje entfernt hatten, daß Nikolaj den Vorschlag des Onkels, die müden Jäger auf seinem Gut Michailowka übernachten zu lassen, annahm.

»Und wenn auch ihr mitkämt«, sagte der Onkel, »dann wäre das noch viel besser, klare Sache, und damit hopp! Ihr seht doch, wie feucht es ist«, fuhr er fort. »Bei mir könntet ihr euch ausruhen, und unsere kleine Komtesse könnte dann im Wagen nach Hause fahren.«

Der Vorschlag des Onkels wurde angenommen und einer der Jäger nach Otradnoje geschickt, um einen Wagen zu holen. Nikolaj, Natascha und Petja ritten mit zum Onkel.

Etwa fünf Mann, Erwachsene und Kinder, Leute vom Hofgesinde, kamen auf die Freitreppe herausgelaufen, um den Herrn zu empfangen. Von der Hintertreppe her drängten noch Dutzende von alten und jungen Weibern und Kindern herbei, um die einreitenden Jäger zu sehen. Beim Anblick Nataschas, einer jungen Dame zu Pferd, hatte die Neugier des Hofgesindes den Siedepunkt erreicht, so daß viele, ohne sich vor ihr irgendwelchen Zwang anzulegen, einfach auf sie zuliefen, ihr ins Gesicht glotzten und vor ihr laute Bemerkungen machten, als wäre sie ein zur Schau gestelltes Wundertier und kein Mensch, der hören und verstehen kann, was man von ihm redet.

»Arinka, guck mal, ganz seitwärts sitzt sie drauf! Die tut sich ja gar nicht festhalten! … Sieh mal, wie das Kleid schlenkert! … Guck bloß, das kleine Jagdhorn!«

»All ihr Heiligen, sogar ein Messer hat sie!«

»Wie eine Tatarin.«

»Wie machst du denn das, daß du da nicht herunterfällst?« fragte die Dreisteste, unmittelbar an Natascha gewandt.

Vor der Freitreppe seines kleinen Holzhäuschens, das von einem Garten umgeben war, stieg der Onkel vom Pferd. Als er das herumstehende Hausgesinde sah, schrie er ihm in befehlendem Ton zu, alle müßigen Gaffer sollten sich packen und lieber alle nötigen Vorbereitungen zum Empfang der Jagdgäste treffen.

Alles lief auseinander. Der Onkel hob Natascha vom Pferde und geleitete sie am Arm die wackeligen Holzstufen der Freitreppe hinauf. Die Innenwände des Hauses waren nicht mit Kalk beworfen, sondern von rohen Balken gezimmert. Drinnen war es nicht allzu reinlich, doch stach es nicht etwa gleich in die Augen, daß fleckenlose Sauberkeit nicht das Lebensziel der darin hausenden Menschen war, und das Ganze machte keinen vernachlässigten Eindruck. Auf dem Flur roch es nach frischen Äpfeln; Wolfs- und Fuchsfelle hingen an den Wänden.

Durch das Vorzimmer führte der Onkel seine Gäste in einen kleinen Saal mit einer Tafel zum Zusammenschlagen und roten Stühlen, dann in den Salon, wo ein runder Tisch aus Birkenholz und ein Diwan standen, und endlich in sein Arbeitszimmer mit einem zerrissenen Sofa, einem abgelaufenen Teppich und Bildern an den Wänden von Suworow, vom Vater und von der Mutter des Hausherrn und von ihm selber in Uniform. In diesem Arbeitszimmer roch es stark nach Tabak und nach Hunden. Hier forderte der Onkel seine Gäste auf, Platz zu nehmen und ganz zu tun, als ob sie zu Hause wären. Er selber ging hinaus. Rugaj, dem noch niemand den Rücken abgebürstet hatte, kam ins Zimmer gelaufen, legte sich auf das Sofa und nahm hier mit Zunge und Zähnen seine Reinigung vor. Vom Arbeitszimmer aus ging es in einen Korridor, wo man einen Wandschirm mit zerrissener Bespannung stehen sah. Hinter diesem Schirm hervor ertönte das Flüstern und Lachen weiblicher Stimmen. Natascha, Nikolaj und Petja teilten sich in den Platz auf dem Sofa und setzten sich. Petja stützte den Kopf auf die Hand und war sogleich eingeschlafen; Natascha und Nikolaj saßen schweigend da. Ihre Gesichter brannten, sie waren sehr hungrig und sehr vergnügt. Sie sahen einander an. Nachdem die Jagd vorüber war und sie wieder im Zimmer saßen, hielt es Nikolaj nicht mehr für nötig, seine männliche Überlegenheit der Schwester gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Natascha blinzelte dem Bruder zu, beide konnten nicht lange an sich halten und brachen in lautes Gelächter aus, ohne sich die Zeit zu nehmen, einen Grund für ihr Lachen zu suchen.

Nach einer Weile kam der Onkel im Kosakenrock, blauen Hosen und leichten Stiefeln wieder. Natascha hatte das Gefühl, daß diese selbe Kleidung, in der sie den Onkel in Otradnoje so oft mit verwunderten und spöttischen Augen angesehen hatte, doch eine wahre, echte Tracht war, keineswegs schlechter als Überrock und Frack. Auch der Onkel war in lustiger Stimmung, er fühlte sich durch das Lachen von Bruder und Schwester nicht nur nicht beleidigt – es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß sie über ihn und seine Lebensweise hätten lachen können –, sondern er stimmte selbst in ihr grundloses Lachen mit ein.

»Da seht einmal unsere kleine Komtesse an, so etwas hat man doch noch gar nicht gesehen, klare Sache, und damit hopp!« sagte er. »Den ganzen Tag zu Pferde gesessen wie ein Mann, und nun tut sie, als wenn gar nichts gewesen wäre!« Und er reichte Nikolaj eine lange Pfeife und nahm selber eine kurzgeschnittene mit gewohntem Griff zwischen drei Finger.

Gleich nach dem Onkel tat sich die Tür noch einmal auf, und mit einem großen vollen Präsentierbrett in den Händen trat eine dicke, rote, hübsche Frauensperson von etwa vierzig Jahren mit einem Doppelkinn und vollen roten Lippen zur Tür herein, die dem Klang ihrer Schritte nach offenbar barfuß ging. Mit hausfraulicher Würde und gastfreundlichem Entgegenkommen in den Augen und in jeder ihrer Bewegungen musterte sie die Gäste und verbeugte sich vor ihnen ehrerbietig und mit freundlichem Lächeln. Trotz ihrer außergewöhnlichen Beleibtheit, die sie zwang, Brust und Leib nach vorn und den Kopf nach hinten zu halten, hatte diese Frau – es war die Wirtschafterin des Onkels – doch einen ungemein leichten Gang. Sie trat an den Tisch, stellte das Brett ab, nahm mit ihren vollen, weißen Händen gewandt die Flaschen, den Imbiß und alles, was sie sonst noch zur Bewirtung herbeigebracht hatte, und verteilte alles rund auf den Tisch. Als sie damit fertig war, trat sie beiseite und blieb lächelnd an der Tür stehen.

Ich bin doch auch noch da! Verstehst du jetzt deinen Onkel? schien ihre ganze Erscheinung Rostow zu fragen. Wie sollte er nicht? Nicht nur Nikolaj, sondern auch Natascha verstand den Onkel und die Bedeutung seiner zusammengezogenen Brauen und des glücklichen, selbstzufriedenen Lächelns, das kaum merklich seine Lippen gekräuselt hatte, als Anisja Fjodorowna eingetreten war.

Auf dem Präsentierbrett standen Kräuterliköre, Schnaps, Pilze, Pfannkuchen aus grauem Mehl mit Buttermilch, Honigscheiben, schäumender Met, Äpfel, frische und getrocknete Nüsse und Nüsse in Honig. Dann brachte Anisja Fjodorowna noch Eingemachtes in Honig und in Zucker, einen Schinken und ein Huhn, das sie eben erst gebraten hatte.

Dies alles waren Erzeugnisse von Anisja Fjodorownas Wirtschafts, Auswahl- und Kochkunst. Alles sah gut aus, roch und schmeckte nach Anisja Fjodorowna. Alles strahlte ihre saftige Fülle, ihre Sauberkeit, ihre weiße Haut und ihr freundliches Lächeln wider.

»Aber so essen Sie doch nur, Fräulein Komteßchen«, sagte sie immer wieder und wieder und reichte Natascha bald dieses, bald jenes.

Natascha aß von allem, und ihr schien, als habe sie solche Pfannkuchen in Buttermilch mit so delikatem Eingemachten und Nüssen in Honig und ein solches gebratenes Huhn noch nie und nirgends gesehen und gegessen. Anisja Fjodorowna ging hinaus.

Rostow und der Onkel tranken nach dem Abendessen einen Kirschlikör und unterhielten sich über die heutige und die nächste Jagd, über Rugaj und die Ilaginschen Hunde. Natascha saß mit strahlenden Augen aufrecht auf dem Sofa und hörte ihnen zu. Ein paarmal machte sie den Versuch, Petja aufzuwecken, damit auch er etwas esse, aber er murmelte nur etwas Unverständliches vor sich hin, anscheinend ohne zu sich zu kommen. Natascha war so lustig zumute, sie fühlte sich in dieser für sie neuen Umgebung so wohl, daß sie nur immer Angst hatte, daß der Wagen schon zu bald kommen und sie holen werde. Nachdem einmal zufällig eine Pause in der Unterhaltung eingetreten war, wie das bei Leuten, die ihre Bekannten zum erstenmal im eigenen Haus empfangen, manchmal vorkommt, sagte der Onkel, gewissermaßen als Antwort auf die Gedanken, die seinen Gästen durch den Kopf gingen: »So lebe ich nun mein Leben hin … Sterbe ich einmal, dann bleibt mir ja doch nichts von Geld und Gut, klare Sache, und damit hopp! Wozu also sündiges Geld zusammenscharren?«

Des Onkels Gesicht war sehr ausdrucksvoll und sogar schön, als er das sagte. Unwillkürlich mußte Nikolaj dabei an all das Gute denken, das er vom Vater und von den Nachbarn über den Onkel gehört hatte. Im ganzen Umkreis des Gouvernements stand dieser im Ruf des edelsten, uneigennützigsten Sonderlings. Man rief ihn herbei, um Familienstreitigkeiten zu schlichten, machte ihn zum Testamentsvollstrecker, vertraute ihm Geheimnisse an, wählte ihn als Richter und übertrug ihm andre Ehrenämter, aber ein festes Amt in der Gesellschaft anzunehmen, weigerte er sich hartnäckig: er streifte im Herbst und im Frühling auf seinem hellbraunen Wallach auf den Feldern umher, saß im Winter zu Hause und lag im Sommer in seinem verwachsenen Garten.

»Warum treten Sie nicht in den Staatsdienst ein, Onkel?«

»Ich habe einmal gedient, habe es aber dann aufgegeben. Ich tauge nicht dazu, klare Sache, und damit hopp! Habe mich in all den Kram niemals hineinfinden können. Das ist eure Sache, bei mir langt’s dazu nicht mit dem Verstand. Siehst du, mit der Jagd, da ist es etwas anderes, klare Sache, und damit hopp! Aber macht doch die Tür auf!« rief er. »Weshalb habt ihr sie zugemacht?«

Die Tür am Ende des Korridors, den der Onkel »Kolidor« nannte, führte in die »Jägerstube«, wie man den Gesinderaum für die Jäger nannte.

Nackte Füße patschten über die Dielen, und eine unsichtbare Hand öffnete die Tür zur Jägerstube. Vom Korridor her hörte man deutlich die Klänge einer Balalaika, auf der augenscheinlich ein Meister in dieser Kunst spielte. Natascha hatte schon lange nach diesen Klängen hingelauscht und trat jetzt auf den Korridor hinaus, um sie deutlicher hören zu können.

»Das ist mein Kutscher Mitka … Ich habe ihm eine gute Balalaika gekauft, ich höre es gern«, sagte der Onkel.

Der Onkel hatte eingeführt, daß Mitka immer in der Jägerstube auf der Balalaika spielen mußte, wenn er von der Jagd nach Hause kam. Er hörte diese Musik sehr gern.

»Wie hübsch! Wirklich ganz nett!« sagte Nikolaj unwillkürlich etwas lässig, als schäme er sich einzugestehen, daß ihm diese Klänge gefielen.

»Ganz nett?« erwiderte Natascha vorwurfsvoll, die das Lässige aus dem Ton ihres Bruders herausgehört hatte. »Das ist gar nicht ›ganz nett‹, sondern einfach wunderbar!«

Und ebenso wie ihr die Pilze, der Honig und die Schnäpse des Onkels als das Leckerste auf der ganzen Welt vorgekommen waren, so erschien ihr auch dieses Lied in diesem Augenblick als Gipfel aller musikalischen Genüsse.

»Noch mehr, bitte, noch mehr!« rief Natascha in der Tür, als die Balalaika schwieg. Mitka stimmte die Saiten und spielte forsch und dröhnend »Die Frau vom Hause« mit klangvollen Akkorden und Übergängen. Der Onkel saß da und hörte zu; er hatte den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und lächelte kaum merkbar. Die Melodie der »Frau vom Hause« wiederholte sich wohl an die hundertmal. Mitunter mußte die Balalaika dazwischen gestimmt werden, dann aber ertönten wieder dieselben Klänge, und das wurde den Zuhörern nicht etwa langweilig, sondern sie wünschten nur immer und immer wieder diese Klänge zu hören. Anisja Fjodorowna kam herein und lehnte sich mit ihrem wohlbeleibten Körper an den Türpfeiler.

»Sie sind so freundlich und hören zu?« sagte sie zu Natascha mit einem Lächeln, das außerordentlich an das Lächeln des Onkels erinnerte. »Ja, wir haben an ihm einen feinen Musikanten«, fügte sie hinzu.

»An dieser Stelle stimmt etwas nicht!« rief plötzlich der Onkel mit einer energischen Handbewegung. »Das muß auseinandergezogen werden, klare Sache, und damit hopp!«

»Können Sie denn auch spielen?« fragte Natascha.

Der Onkel lächelte und gab keine Antwort.

»Sieh doch mal nach, Anisjuschka, ob auf der Gitarre noch alle Saiten ganz sind. Habe sie lange nicht in der Hand gehabt, habe es ganz aufgegeben, klare Sache, und damit hopp!«

Anisja Fjodorowna lief mit ihrem leichten Gang bereitwillig fort, um den Befehl ihres Herrn auszuführen, und holte die Gitarre herbei.

Der Onkel blies, ohne jemanden anzusehen, den Staub von der Gitarre, beklopfte mit seinen knochigen Fingern deren Decke, stimmte die Saiten und setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Mit etwas theatralischer Pose hielt er den linken Ellenbogen vom Körper ab, faßte die Gitarre oben am Halse, blinzelte Anisja Fjodorowna zu, griff einen klangvollen, reinen Akkord und spielte dann langsam und gemessen, aber sicher in ganz ruhigem Tempo nicht die »Frau vom Hause«, sondern das bekannte Lied: »Über die Straße, nach dem Quell, sprang ein Mädel nach Wasser schnell.«

Und in demselben Takt, mit derselben gemessenen Heiterkeit, die das ganze Wesen Anisja Fjodorownas ausstrahlte, klang die Melodie des Liedes in Nikolajs und Nataschas Herzen wider. Anisja Fjodorowna wurde rot, barg das Gesicht in ihrem Tuch und lief lachend aus dem Zimmer. Der Onkel spielte mit reinen, sorgfältigen und energisch festen Griffen das Lied weiter und blickte nun mit ganz veränderten, begeisterten Augen nach der Stelle hin, wo Anisja Fjodorowna gestanden hatte. Kaum merklich lachte er auf der einen Seite seines Gesichts unter dem grauen Schnurrbart, lachte besonders dann, wenn die Melodie in Schwung kam, die Takte schneller wurden und nach Stellen des Überganges etwas Neues auftauchte.

»Himmlisch, himmlisch, Onkel! Weiter, weiter!« rief Natascha, als er eben geendet hatte. Sie sprang von ihrem Platz auf, umarmte den Onkel und küßte ihn. »Nikolenka, Nikolenka!« rief sie ihrem Bruder zu, als frage sie ihn, was er dazu sage.

Nikolaj hatte das Lied auch sehr gefallen. Der Onkel mußte es noch einmal spielen. Das lächelnde Gesicht Anisja Fjodorownas zeigte sich wieder in der Tür, und über ihre Schulter lugten noch andere Gesichter herein …

Und er ruft am kalten Quell:

»Halt, mein Mädel, nicht so schnell!«

spielte der Onkel, wählte wieder einen geschickten Übergang, brach dann ab und machte mit den Schultern im selben Takt noch ein paar tanzende Bewegungen.

»Ja, komm, Onkelchen, Herzensonkelchen«, flehte Natascha mit einer Stimme, als hinge davon ihr ganzes Leben ab.

Der Onkel stand auf, und es schien, als steckten zwei Menschen in ihm: der eine lächelte ernsthaft über den lustigen Bruder, der lustige Bruder aber machte ganz unbewußt und akkurat ein paar einleitende Bewegungen zum Tanz.

»Na, mein Nichtchen!« rief der Onkel und schwenkte die Hand, mit der er soeben den Akkord abgerissen hatte, auf Natascha zu.

Natascha warf das Tuch ab, in das sie sich eingehüllt hatte, lief auf den Onkel zu, stemmte die Arme in die Seiten, wiegte die Schultern hin und her und blieb dann stehen.

Wie, wo und wann hatte diese kleine Komtesse, die von einer französischen Emigrantin erzogen worden war, aus der russischen Luft, die sie einatmete, jenen Geist in sich aufgesogen? Woher nahm sie diese Art zu tanzen, die von dem pas de châle schon lange hätte verdrängt sein müssen? Denn dieser Geist und diese Art zu tanzen waren so unnachahmbar, so unerlernbar russisch und gerade eben so, wie sie der Onkel von ihr erwartet hatte. Kaum stand sie da mit ihrem feierlich stolzen und zugleich verschmitzt heiteren Lächeln, da war es auch schon mit der ersten Angst vorbei, die Nikolaj und alle Anwesenden empfunden hatten, mit der Angst, daß sie es nicht richtig machen könnte, und alle sahen sie voll Bewunderung an.

Aber sie machte es richtig und ganz aufs Haar so, wie es sein mußte, so daß Anisja Fjodorowna, die ihr sogleich das zu diesem Tanze unumgänglich notwendige Tuch gereicht hatte, mitten im Lachen die Tränen kamen, wenn sie diese schlanke, graziöse Komtesse ansah, die in einer ihr so fremden Welt in Samt und Seide erzogen worden war und doch dasselbe zu fühlen verstand wie sie, Anisja, selber, wie Anisjas Vater und Tante und Mutter und überhaupt jeder russische Mensch.

»Na, Komteßchen, klare Sache, und damit hopp!« sagte der Onkel lustig lachend, als der Tanz zu Ende war. »Sieh mir einer mein kleines Nichtchen an! Da muß man wohl nun bald einen tüchtigen Mann für dich suchen, klare Sache, und damit hopp!«

»Ist schon gefunden«, sagte Nikolaj lächelnd.

»Oh?« machte der Onkel verwundert und sah Natascha fragend an. Diese nickte bestätigend mit glücklichem Lächeln.

»Und was für einer noch dazu!« sagte sie. Aber kaum hatte sie das ausgesprochen, als sich in ihr schon ein neuer Gedanke und ein anderes Gefühl geltend machten: Was hat Nikolajs Lächeln zu bedeuten, als er sagte: Ist schon gefunden? Freut er sich darüber oder nicht? Es schien, als ob er dächte, Bolkonskij würde es nicht billigen und nicht verstehen, daß wir hier so vergnügt sind. Aber nein, er würde für alles Verständnis haben. Wo mag er jetzt sein? dachte Natascha, und ihr Gesicht wurde plötzlich ernst. Aber das dauerte nur einen Augenblick. Nicht daran denken, man darf nicht daran denken! sagte sie sich und lächelte, setzte sich wieder neben den Onkel und bat ihn, noch etwas zu spielen.

Der Onkel spielte noch ein Lied und einen Walzer, dann hörte er auf, räusperte sich und fing an, sein Lieblingsjagdlied anzustimmen:

Wenn über Nacht ein frischer Schnee

Deckt Wies’ und Wald und Sumpf und See …

Der Onkel sang so, wie das Volk singt, das heißt mit der festen naiven Überzeugung, daß bei einem Lied die Worte die Hauptsache sind und die Töne nur von selber dazukommen, daß es Töne ohne Worte überhaupt nicht gibt und sie nur zum Hineinlegen von Worten da sind. Deshalb klang auch dieses unbewußte Singen des Onkels wie der Gesang eines Vogels außerordentlich schön, und Natascha war von dem Lied ganz begeistert. Sie faßte den Entschluß, nun nicht länger Harfe spielen zu lernen, sondern nur noch Gitarre. Sie ließ sich vom Onkel das Instrument geben und suchte sich sogleich die Akkorde zu einem Lied zusammen.

Gegen zehn Uhr kamen ein Landauer, ein Gig[106] und drei auf die Suche ausgeschickte Reiter, um Natascha und Petja abzuholen. Der Bote erzählte, Graf und Gräfin hätten gar nicht gewußt, wo sie geblieben seien, und hätten sich sehr geängstigt.

Petja wurde aufgehoben und wie ein Toter in den Landauer gelegt. Natascha und Nikolaj setzten sich in den Gig. Der Onkel packte Natascha warm ein und verabschiedete sich von ihr mit einer ganz neuen Zärtlichkeit. Er ging noch zu Fuß bis zur Brücke mit, über die man nicht fahren durfte, so daß man eine Furt benutzen mußte, und gab den Befehl, daß Reiter mit Laternen vorausritten.

»Leb wohl, mein liebes Nichtchen«, rief ihnen eine Stimme noch in die dunkle Nacht nach, aber es war nicht die Stimme, die Natascha früher gekannt hatte, sondern jene, die gesungen hatte: »Wenn über Nacht ein frischer Schnee …«

Im Dorf, durch das sie fahren mußten, brannten noch rote Lichter, und es roch angenehm nach Rauch.

»Was für ein Prachtmensch doch der Onkel ist!« sagte Natascha, als sie auf die große Landstraße hinausfuhren.

»Ja«, erwiderte Nikolaj. »Aber frierst du auch nicht?«

»Nein, ich bin ja so warm eingepackt. Mir ist so wohl«, sagte Natascha fast etwas erstaunt.

Lange schwiegen sie. Die Nacht war dunkel und feucht. Die Pferde konnte man nicht sehen, man hörte bloß, wie sie durch den unsichtbaren Schmutz patschten.

Was ging wohl in dieser kindlich empfänglichen Seele vor, die so gierig nach all den vielgestaltigen Eindrücken des Lebens haschte und sie in sich aufsog? Wie mochte Natascha mit alledem in ihrem Kopf zurechtkommen? Jedenfalls war sie sehr glücklich. Kurz bevor sie zu Hause anlangten, fing sie auf einmal die Melodie des Liedes: »Wenn über Nacht ein frischer Schnee …« zu singen an, die Melodie, die sie den ganzen Weg über gesucht und nun endlich doch herausgebracht hatte.

»Hast du sie nun?« fragte Nikolaj.

»Woran denkst du jetzt, Nikolenka?« fragte Natascha zurück.

Dies fragten sie einander gern.

»Ich?« erwiderte Nikolaj und dachte nach. »Siehst du, ich dachte, daß dieser rote Hund, der Rugaj, doch große Ähnlichkeit mit dem Onkel hat. Wenn der ein Mensch wäre, behielte er den Onkel auch immer bei sich, nicht allein wegen der Hetzjagd, sondern wegen seines ganzen harmonischen Wesens. Er ist doch wie aus einem Stück gegossen, der Onkel. Nicht wahr? Nun, und du?«

»Ich? Warte mal, warte mal. Ja, ich dachte zuerst, daß wir jetzt so dahinfahren und denken, wir kommen nach Hause, und dabei landen wir in dieser Finsternis Gott weiß wo und kommen plötzlich an und sehen, daß wir nicht in Otradnoje sind, sondern in einem Zauberreich. Und dann dachte ich noch … Nein, weiter nichts.«

»Ich weiß, sicherlich dachtest du noch an ihn«, sagte Nikolaj und lächelte, wie Natascha aus dem Klang seiner Stimme hörte.

»Nein«, erwiderte Natascha, obwohl sie tatsächlich gleichzeitig auch an Andrej gedacht hatte und daran, wie ihm der Onkel gefallen würde. »Aber ich habe mir immer wieder ins Gedächtnis zurückgerufen, den ganzen Weg lang, wie nett das war, als Anisja hereinkam, wie nett …« sagte Natascha, und Nikolaj hörte ihr klangvolles, grundloses, glückliches Lachen. »Und weißt du«, fuhr sie plötzlich fort, »ich weiß, daß ich nie wieder in meinem Leben so glücklich und ruhig sein werde wie jetzt.«

»Das ist nun Blech und Quatsch!« sagte Nikolaj und dachte bei sich: Was für ein Prachtmädel meine Natascha doch ist! Solch einen Freund wie sie habe ich keinen zweiten und werde ihn auch nie haben. Wozu braucht sie zu heiraten? Mit ihr möchte ich immerfort zur Jagd fahren.

Was für ein Prachtmensch dieser Nikolaj doch ist! dachte Natascha.

»Siehst du, im Salon ist noch Licht!« sagte sie und zeigte nach den Fenstern des Hauses, die durch die feuchte, samtene Finsternis der Nacht rötlich schimmerten.

8

Graf Ilja Andrejewitsch hatte sein Amt als Adelsmarschall niedergelegt, da mit dieser Würde auch Ausgaben verbunden waren. Trotzdem war es mit seinen Finanzen noch nicht besser geworden. Natascha und Nikolaj sahen oft, wie die Eltern geheime, erregte Auseinandersetzungen hatten, und vernahmen Gerüchte über den Verkauf des zweiten Rostowschen Stammhauses sowie einer anderen, bei Moskau gelegenen Besitzung. Wenn er nicht Adelsmarschall war, brauchte er kein so großes Haus zu führen, und so floß denn das Leben in Otradnoje stiller dahin als in den früheren Jahren. Aber das geräumige Haus mitsamt dem Flügel war trotzdem immer noch voller Menschen, und auch jetzt noch hatte man täglich über zwanzig Personen zu Tisch. Und das waren nicht etwa Gäste, sondern Leute, die von jeher bei ihnen gelebt hatten und fast zur Familie gehörten, oder solche, von denen es unumgänglich notwendig schien, daß sie im Haus des Grafen wohnten. Da war der Musikmeister Dümmler mit Frau, der Tanzlehrer Vogel mit Familie, ein altes Fräulein Bjelowa, die schon ewig im Haus lebte, und noch viele andere, wie Petjas Hauslehrer, eine ehemalige Gouvernante der jungen Damen, kurz, lauter Leute, die es besser und vorteilhafter fanden, beim Grafen zu leben als bei sich zu Hause. Und wenn auch nicht mehr so große Empfänge wie früher stattfanden, so wich doch die jetzige Lebensweise kaum von der früheren ab, denn weder der Graf noch die Gräfin konnten sich ein anderes Leben auch nur vorstellen. Für die Jagd wurden noch dieselben Jäger und Hunde gehalten, deren Zahl durch Nikolaj noch vergrößert worden war, dieselben fünfzig Pferde und fünfzehn Kutscher bevölkerten noch die Ställe, zu den Namenstagen wurden noch ebenso teure Geschenke gemacht und ebenso feierliche Festessen gegeben, an denen immer der ganze Kreis teilnehmen mußte. Graf Ilja Andrejewitsch spielte noch ebenso seinen Whist und sein Boston, wobei er, da er stets alle in seine Karten sehen ließ, immer Hunderte von Rubeln an seine Nachbarn verlor, die schon das Recht, mit Graf Ilja Andrejewitsch Karten zu spielen, für eine äußerst vorteilhafte Lebensrente anzusehen begannen.

Der Graf stak in seinen geschäftlichen Angelegenheiten wie in einem riesigen Vogelnetz, bemüht, nicht daran zu glauben, daß er hineingeraten war, obgleich er sich bei jedem Schritt immer mehr darin verstrickte, aber nicht die Kraft in sich fühlte, das Netz, das ihn umgarnte, zu zerreißen oder vorsichtig und geduldig die Knoten zu lösen. Die Gräfin in ihrem liebenden Herzen fühlte, daß ihre Kinder dem Ruin entgegengingen, daß aber den Grafen keine Schuld treffe, da er ja gar nicht anders sein könne, als er eben war. Sie wußte, daß ihm die Erkenntnis, sein eignes Vermögen und das seiner Kinder durchgebracht zu haben, schwer auf der Seele lastete, obgleich er es sich nicht merken ließ, und suchte deshalb nach einem Mittel, dem Unglück abzuhelfen. Von ihrem weiblichen Gesichtspunkt aus konnte es nur dies eine Mittel geben – Nikolajs Heirat mit einer reichen Braut. Sie fühlte, daß dies die letzte Hoffnung war, und daß, wenn Nikolaj die Partie, die sie für ihn gefunden hatte, ausschlüge, man jeder Möglichkeit, wieder auf einen grünen Zweig zu kommen, für ewig Lebewohl sagen mußte. Und diese Partie war Julia Karagina, die Tochter vorzüglicher, tugendreicher Eltern, die von Kind auf mit den Rostows bekannt und jetzt durch den Tod ihres letzten Bruders schwerreich geworden war.

Die Gräfin schrieb an Frau Karagina nach Moskau, schlug ihr die Heirat ihrer beiden Kinder vor und erhielt eine entgegenkommende Antwort. Frau Karagina schrieb, sie sei mit diesem Vorschlag sehr einverstanden, es solle aber doch alles davon abhängen, ob ihre Tochter auch Neigung für Nikolaj empfinde. Gleichzeitig lud sie Nikolaj zu sich nach Moskau ein.

Darauf sagte die Gräfin mehrmals mit Tränen in den Augen zu ihrem Sohn, daß nun, wo ihre beiden Töchter versorgt seien, ihr einziger Wunsch nur noch der sei, auch ihn verheiratet zu sehen. Wenn das geschehe, könne sie sich beruhigt in den Sarg legen, meinte sie. Dann erwähnte sie beiläufig, daß sie zum Beispiel ein treffliches Mädchen wisse, und suchte zu erfahren, wie er über das Heiraten im allgemeinen dachte.

Bei anderer Gelegenheit wieder lobte sie Julie und riet Nikolaj, die Feiertage nach Moskau zu fahren, um sich zu amüsieren. Nikolaj erriet, wo seine Mutter mit solchen Reden hinauswollte, und bat sie, als sie wieder einmal davon sprachen, doch gegen ihn ganz aufrichtig zu sein. Da sagte sie ihm offen heraus, daß sie all ihre Hoffnung auf Besserung ihrer Vermögensverhältnisse jetzt nur noch auf seine Heirat mit Julia Karagina gesetzt habe.

»Wenn ich aber nun ein Mädchen ohne Vermögen liebte, würden Sie dann von mir verlangen, maman, daß ich des Geldes wegen meine Liebe, meine Ehre zum Opfer bringe?« fragte Nikolaj die Mutter, ohne sich der Grausamkeit, die in dieser Frage lag, bewußt zu sein, und nur aus dem Wunsch heraus, seiner vornehmen Gesinnung Ausdruck zu verleihen.

»Nein, du hast mich nicht verstanden«, erwiderte die Mutter, die nicht recht wußte, wie sie sich rechtfertigen sollte. »Nein, du hast mich nicht verstanden, Nikolenka. Ich will doch nur dein Glück«, fügte sie hinzu, fühlte aber, daß sie nicht die Wahrheit sagte und sich immer mehr verstrickte. Sie fing an zu weinen.

»Aber Mamachen, weinen Sie doch nicht, sagen Sie mir bloß, ob Sie dies wollen, und seien Sie versichert, daß ich mein Leben und alles für Sie hinzugeben bereit bin, nur damit Sie beruhigt sind«, sagte Nikolaj. »Alles opfere ich für Sie, sogar meine Liebe.«

Aber so wollte die Gräfin die Angelegenheit nicht hingestellt sehen, sie wünschte kein Opfer von ihrem Sohn, wollte sich vielmehr selbst ihm zum Opfer bringen.

»Nein, du hast mich nicht verstanden, wir wollen nicht mehr darüber sprechen«, sagte sie und wischte sich die Tränen ab.

Ja, vielleicht liebe ich wirklich ein armes Mädchen, sagte Nikolaj zu sich selber, soll ich da wahrhaftig meine Liebe und Ehre nur um des Geldes willen opfern? Ich wundere mich, daß Mama so etwas zu mir sagen kann. Sollte ich deshalb, weil Sonja arm ist, sie nicht lieben, ihre treue, hingebende Liebe nicht erwidern dürfen? dachte er weiter. Und doch würde ich sicherlich mit ihr glücklicher werden als mit solch einer Puppe, solch einer Julie. Zum Wohl meiner Familie meine Gefühle zum Opfer zu bringen, dazu werde ich immer imstande sein, sagte er zu sich selber, aber meinen Gefühlen befehlen, das kann ich nicht. Wenn ich Sonja wirklich liebe, so wird dieses Gefühl in mir stärker und höher sein als alles übrige.

Nikolaj fuhr nicht nach Moskau, die Gräfin fing nicht noch einmal an, mit ihm über diese Heirat zu reden, und beobachtete voll Kummer und manchmal auch voll Ingrimm die Anzeichen einer immer größer werdenden Annäherung zwischen ihrem Sohn und der mitgiftlosen Sonja. Sie machte sich selber darüber Vorwürfe, konnte aber doch nicht umhin, Sonja unfreundlich zu behandeln und Händel mit ihr zu suchen; oft unterbrach sie sie ohne jeden Grund und sagte »Sie« und »meine Liebe« zu ihr. Am meisten aber ärgerte die gute Gräfin an Sonja, daß diese arme, schwarzäugige Nichte so gut und sanft und ihren Wohltätern so dankbar ergeben war und Nikolaj so treu und unwandelbar und aufopfernd liebte, daß man ihr über nichts einen Vorwurf machen konnte.

Auf diese Weise verbrachte Nikolaj seinen Urlaub im Elternhaus. Von Nataschas Bräutigam, dem Fürsten Andrej, kam ein vierter Brief aus Rom, in dem er schrieb, daß er schon lang auf dem Heimweg nach Rußland wäre, wenn nicht unerwartet in dem heißen Klima seine Wunde wieder aufgebrochen wäre, was ihn zwinge, seine Abreise bis Anfang nächsten Jahres aufzuschieben. Natascha war in ihren Bräutigam noch ebenso verliebt und ebenso ruhig in dieser Liebe und zeigte sich auch für die Freuden des Lebens noch ebenso empfänglich. Doch gegen Ende des vierten Trennungsmonats kamen manchmal Augenblicke der Schwermut über sie, gegen die sie nicht anzukämpfen vermochte. Sie hatte Mitleid mit sich selber, es tat ihr leid, daß sie nun all diese schöne Zeit, in der sie sich so befähigt fühlte, zu lieben und geliebt zu werden, ganz umsonst, keinem zulieb noch zuleide, verstreichen lassen mußte.

So war die Stimmung im Haus Rostow nicht allzu lustig.

9

Weihnachten kam heran[107], und außer dem prunkvollen Gottesdienst, außer der feierlichen und langweiligen Gratulationscour der Nachbarn und des Hofgesindes, außer den neuen Kleidern, die alle trugen, gab es nichts Besonderes, was dieses Fest ausgezeichnet hätte. Dennoch fühlte man an diesen windstillen, grellsonnigen Tagen von zwanzig Grad Kälte und in der Sternenpracht der Winternächte das Bedürfnis, diesen Festtagen ein ganz besonderes Gepräge zu verleihen.

Am dritten Weihnachtsfeiertag hatten sich alle Hausgenossen nach dem Mittagessen auf ihre Zimmer begeben. Das war die langweiligste Zeit am Tag. Nikolaj, der am Morgen zu Nachbarn auf Besuch geritten war, lag im Diwanzimmer und schlief. Der alte Graf hielt in seinem Zimmer Mittagsruhe. Sonja saß am runden Tisch im Salon und malte ein Stickmuster ab. Die Gräfin legte sich die Karten. Der Narr Nastasja Iwanowna saß mit zwei alten Frauen mit sauertöpfischer Miene am Fenster. Natascha trat ins Zimmer, ging auf Sonja zu, sah, was sie machte, trat dann an die Mutter heran und blieb schweigend stehen.

»Was läufst du so ruhe- und obdachlos herum?« fragte die Mutter. »Was fehlt dir?«

»Er fehlt mir … gleich, in diesem Augenblick noch muß ich ihn hier haben«, erwiderte Natascha ganz ernst und mit glänzenden Augen.

Die Gräfin hob den Kopf und sah ihre Tochter aufmerksam an.

»Sehen Sie mich nicht so an, Mama, sehen Sie mich nicht so an, sonst fange ich gleich an zu heulen.«

»Setz dich, komm, setz dich hierher zu mir«, sagte die Gräfin.

»Mama, er fehlt mir. Warum muß ich so vergehen und verwehen?«

Die Stimme stockte ihr, Tränen stürzten ihr aus den Augen, und um sie zu verbergen, wandte sie sich schnell um und rannte aus dem Zimmer.

Sie lief in das Diwanzimmer, blieb dort stehen, dachte nach und ging dann ins Mädchenzimmer. Dort schimpfte eine alte Zofe ein junges Ding aus, das soeben vom Hof hereingelaufen kam und vor Kälte ganz außer Atem war.

»Dieses ewige Fortlaufen!« sagte die Alte. »Alles zu seiner Zeit.«

»Laß sie doch, Kondratjewna«, sagte Natascha. »Geh, Mawruscha, geh nur.«

Nachdem sie so Mawruscha zu einem Urlaub verhelfen hatte, ging sie durch den Saal in das Vorzimmer. Hier spielte ein alter Lakai mit zwei jüngeren Dienern Karten. Als Natascha eintrat, brachen sie ihr Spiel ab und standen auf. Was könnte ich nur mit denen anfangen? dachte Natascha.

»Ja, Nikita, geh doch mal bitte …« – wohin könnte ich ihn nur schicken? – »ja, geh doch mal auf den Hof und hole mir einen Hahn[108]; ja, und du, Mischa, bring mir doch ein bißchen Hafer.«

»Etwas Hafer befehlen Sie?« fragte Mischa bereitwillig und vergnügt.

»Ja, so geh doch, mach doch schnell«, bestätigte der alte Diener.

»Und du, Fjodor, könntest mir ein Stück Kreide besorgen.«

Als sie am Büfett vorbeikam, ordnete sie an, daß der Samowar hereingebracht werde, obgleich es noch gar nicht an der Zeit war.

Der Büfettdiener Foka war der grimmigste Mensch im ganzen Haus. Natascha liebte es, ihre Macht an ihm zu erproben. Er traute ihr nicht und ging erst fragen, ob das auch seine Richtigkeit habe.

»So ein Fräulein!« sagte Foka und machte ein verstellt böses Gesicht hinter Natascha her.

Niemand im ganzen Haus jagte die Leute so herum und machte ihnen soviel Arbeit wie Natascha. Sie konnte keinen dienstbaren Geist sehen, ohne ihn irgendwohin zu schicken. Es war, als wolle sie sie prüfen, ob nicht einer ungeduldig werden und gegen sie den Mund aufreißen werde, aber niemandes Befehle führten die Leute lieber aus als die Nataschas.

Was soll ich nun bloß anfangen? Wohin soll ich jetzt wohl gehen? dachte Natascha und schlenderte langsam über den Korridor.

»Nastasja Iwanowna, was für Kinder werde ich bekommen?« fragte sie den Narren, der ihr in seiner Kasawaika[109] entgegenkam.

»Du wirst Flöhe, Libellen und Grillen zur Welt bringen«, erwiderte der Narr.

Großer Gott, großer Gott, immer wieder dasselbe. Ach, wo könnte ich nun hingehen? Was soll ich nur mit mir andrehen? Und hastig lief sie, mit den Füßen aufstampfend, die Treppe hinauf zu Vogel, der dort oben mit seiner Frau wohnte.

Bei Vogel saßen die beiden Gouvernanten, auf dem Tisch standen Teller mit Rosinen, Walnüssen und Mandeln. Die Gouvernanten unterhielten sich darüber, wo man billiger lebe, in Moskau oder in Odessa. Natascha setzte sich zu ihnen, hörte ihren Worten mit ernstem, nachdenklichem Gesicht zu und stand dann wieder auf.

»Die Insel Madagaskar«, murmelte sie vor sich hin. »Ma-da-gaskar«, wiederholte sie noch einmal, indem sie jede Silbe deutlich aussprach, und lief dann, ohne auf die Frage der Madame Schoß, was sie denn damit sagen wolle, eine Antwort zu geben, aus dem Zimmer.

Ihr Bruder Petja war auch oben, er stellte zusammen mit seinem Kinderwärter ein Feuerwerk her, das er am Abend abbrennen wollte.

»Petja, Petja!« rief sie ihm zu. »Komm, trag mich!«

Petja lief herbei und hielt ihr seinen Rücken hin. Sie sprang auf, umhalste ihn mit beiden Armen, und er rannte springend mit ihr davon.

»Nein, gut nun … Die Insel Madagaskar«, wiederholte sie, sprang ab und lief hinunter.

Als hätte sie nun ihr ganzes Reich durchwandert, ihre Macht erprobt und sich überzeugt, daß alle ihr gehorchten, daß es aber trotzdem recht langweilig war, ging Natascha in den Saal, nahm die Gitarre zur Hand, setzte sich damit in eine dunkle Ecke hinter ein Schränkchen und fing an, ein paar Griffe auf den Baßsaiten zu machen, um eine Melodie herauszufinden, die ihr aus einer Oper, die sie in Petersburg mit dem Fürsten Andrej zusammen gehört hatte, noch in der Erinnerung geblieben war. Für den unbeteiligten Zuhörer kam dabei etwas heraus, das gar keinen Sinn und Verstand hatte, in ihrer eigenen Phantasie aber erwuchs aus diesen Tönen eine ganze Kette von Erinnerungen. Sie saß hinter dem Schränkchen, die Augen auf den Lichtstreif gerichtet, der aus der zum Büfett offenstehenden Tür fiel, lauschte auf ihre Töne und dachte an damals. Sie versenkte sich ganz in ihre Erinnerungen.

Sonja ging mit einem Gläschen in der Hand durch den Saal und auf das Büfett zu. Natascha sah nach ihr hin, blickte auf die Ritze an der Büfettür, und es kam ihr vor, als ob auch dies eine Erinnerung sei, daß durch die Ritze der Büfettür das Licht hereingefallen und Sonja mit einem Glas durch den Saal gegangen sei. Ja, ganz aufs Haar war das damals ebenso wie jetzt, dachte Natascha.

»Sonja, was ist das?« rief Natascha und machte ein paar Griffe auf der dicksten Saite.

»Ach, du bist hier?« sagte Sonja zusammenfahrend, ging zu ihr hin und hörte zu. »Was das ist? Ich weiß es nicht. Vielleicht das Brausen des Sturmes?« sagte sie zaghaft, weil sie fürchtete, daneben zuschießen.

Ganz so ist sie auch damals zusammengefahren, ganz so kam sie auf mich zu und lächelte schüchtern, damals, als das zum erstenmal so war, dachte Natascha, und ganz ebenso … dachte ich damals, daß in ihr irgend etwas unvollkommen ist.

»Nein, das ist der Chor aus dem ›Wasserträger‹[110], hörst du das nicht?« Und Natascha sang den Chor zu Ende, damit Sonja die Melodie klar werde.

»Wohin gehst du?« fragte Natascha.

»Ich will mir in dem Glas anderes Wasser holen. Ich bin gleich mit dem Stickmuster fertig.«

»Immer weißt du dich zu beschäftigen, ich kann das nicht«, sagte Natascha. »Wo ist Nikolaj?«

»Ich glaube, er schläft.«

»Geh, Sonja, und wecke ihn«, sagte Natascha. »Sag ihm, ich ließe ihn zum Singen rufen.«

Sie blieb sitzen und dachte nach, was das wohl zu bedeuten habe, daß dies alles schon einmal gewesen war, konnte aber diese Frage nicht lösen. Doch sie machte sich darüber keine Gedanken weiter und versetzte sich im Geist wieder in jene Zeit, als sie mit ihm zusammengewesen war und er sie mit verliebten Augen angesehen hatte.

Ach, wenn er doch nur bald, nur bald käme! Ich habe solche Angst, daß es nie geschehen wird. Und die Hauptsache: ich werde alt, das ist es. Dann wird das, was jetzt in mir glüht, nicht mehr in mir sein. Aber vielleicht kommt er heute noch, vielleicht jetzt gleich? Vielleicht ist er schon da und sitzt dort, im Salon? Vielleicht ist er auch gestern schon gekommen, und ich habe es nur vergessen. Sie sprang auf, warf die Gitarre hin und lief in den Salon.

Alle Hausgenossen, die Lehrer, Gouvernanten und Gäste saßen bereits am Teetisch. Diener standen um den Tisch herum, aber Fürst Andrej war nicht da, und alles war wie immer.

»Da ist sie ja«, sagte Ilja Andrejewitsch, als er Natascha kommen sah. »Komm her, setz dich zu mir.«

Aber Natascha blieb neben der Mutter stehen und sah sich rings um, als suche sie etwas.

»Mama«, flüsterte sie. »Geben Sie mir ihn wieder, Mama, aber bald, bald!« Und wieder konnte sie nur mit Mühe ein Schluchzen unterdrücken.

Sie setzte sich an den Tisch und hörte der Unterhaltung der Älteren und Nikolajs zu, der ebenfalls zum Tee gekommen war.

Großer Gott, großer Gott, immer dieselben Gesichter, immer dieselben Gespräche! Ebenso wie alle Tage hält Papa seine Tasse und bläst ebenso wie immer seinen Tee kalt! dachte Natascha und fühlte mit Schrecken den Widerwillen, der sich gegen alle ihre Hausgenossen in ihrer Seele erhob, nur darum, weil sie immer dieselben waren.

Nach dem Tee gingen Nikolaj, Sonja und Natascha in ihr Lieblingseckchen ins Diwanzimmer, wo sie immer am vertrautesten miteinander plauderten.

10

»Geht dir das auch manchmal so?« fragte Natascha ihren Bruder, als sie im Diwanzimmer Platz genommen hatten, »geht dir das auch manchmal so, daß du den Eindruck hast, als werde nichts mehr geschehen, einfach nichts, und als sei alles Schöne auf immer vorbei, und daß dir dann alles nicht nur langweilig, sondern auch trostlos vorkommt?«

»Und ob!« erwiderte Nikolaj. »Einmal, als bei mir alles im besten Lot und um mich herum recht vergnügt war, schoß mir plötzlich durch den Kopf, daß einem dies alles doch schon recht überdrüssig sei und es das beste wäre, wenn alle stürben. Und einmal beim Regiment ging ich nicht mit auf die Promenade, wo die Musik spielte … da war mir plötzlich so langweilig und trostlos zumute …«

»Ach, das kenne ich, das kenne ich«, fiel Natascha ein. »Als ich noch ganz klein war, habe ich das schon empfunden. Weißt du noch, wie ich damals wegen der Pflaumen bestraft wurde? Und ihr tanztet alle, ich aber saß im Klassenzimmer und schluchzte. Das werde ich nie vergessen. Mir war so schwer ums Herz und alle jammerten mich, ich selbst tat mir am allermeisten leid und alle, alle Menschen taten mir leid. Und die Hauptsache war, ich konnte gar nichts dafür«, fuhr Natascha fort. »Weißt du das noch?«

»Ja gewiß«, entgegnete Nikolaj. »Und ich entsinne mich, daß ich dann zu dir hinging, ich wollte dich trösten, und weißt du, ich schämte mich auch ein bißchen. Schrecklich komisch waren wir damals. Ich hatte einen Kaspar zum Spielen, den wollte ich dir schenken. Erinnerst du dich noch daran?«

»Und weißt du noch«, fuhr Natascha mit nachdenklichem Lächeln fort, »ganz, ganz früher, als wir noch ganz klein waren, rief uns der Onkel einmal ins Zimmer – das war noch im alten Haus – und dort war es ganz finster. Wir gingen hinein, und plötzlich stand vor uns …«

»Ein Mohr«, fiel Nikolaj mit glücklichem Lächeln ein. »Wie sollte ich das vergessen haben? Ich weiß heutigentags noch nicht, wer eigentlich dieser Mohr gewesen ist, ob wir ihn nur im Traum gesehen haben oder ob man es bloß erzählt hat.«

»Ganz grau war er, weißt du noch, er hatte weiße Zähne. So stand er da und sah uns an …«

»Können Sie sich auch noch darauf besinnen, Sonja?« fragte Nikolaj.

»Ja, ja, an so etwas kann ich mich auch noch dunkel erinnern«, erwiderte Sonja schüchtern.

»Ich habe Papa und Mama so oft nach diesem Mohren gefragt«, sagte Natascha, »und sie sagen immer, daß niemals ein Mohr dagewesen sei. Aber du erinnerst dich doch auch noch daran.«

»Und wie deutlich! Mir ist, als sähe ich seine Zähne heute noch.«

»Wie sonderbar das ist! Ganz, als hätten wir es geträumt. So etwas habe ich gern.«

»Und weißt du noch, wie wir einmal im Saal Ostereier drehten und tanzen ließen und plötzlich – standen zwei alte Weiber da und fingen an, sich auf dem Teppich herumzudrehen? Waren die nun wirklich da oder nicht? Erinnerst du dich noch daran, wie hübsch das war?«

»Ja. Und weißt du noch, wie Papa in seinem blauen Pelz auf der Freitreppe immer aus der Flinte schoß?«

So blätterten sie lächelnd und mit Genuß in dem Buch ihrer Erinnerungen, die nicht greisenhaft schwermütig, sondern jugendlich poetisch waren, und tauschten jene Eindrücke aus der allerfernsten Vergangenheit aus, wo sich Erträumtes mit wirklich Geschehenem vermischt, lachten leise und freuten sich darüber.

Sonja blieb wie immer hinter ihnen zurück, obgleich ihre Erinnerungen gemeinsam waren. Sie wußte vieles von dem, woran sie sich erinnerten, nicht mehr, und das, worauf sie sich noch besann, weckte in ihr nicht jenes poetische Gefühl, das die beiden anderen empfanden. Sie genoß nur ihre Freude mit und bemühte sich, es ihnen nachzumachen.

Erst dann beteiligte sie sich lebhafter, als man sich an ihre erste Ankunft im Hause Rostow erinnerte. Sie erzählte, wie sie sich zuerst vor Nikolaj gefürchtet habe, weil er an seinem Jäckchen Schnüre gehabt und die Kindermuhme zu ihr gesagt habe, auch sie werde in Schnüre eingenäht werden.

»Und ich weiß noch, mir hatten sie gesagt, du seist unter einem Kohlkopf geboren«, sagte Natascha. »Und ich entsinne mich, daß ich damals nicht wagte, daran zu zweifeln, aber doch wußte, daß es nicht wahr war, und deshalb war mir unbehaglich zumute.«

Während dieser Unterhaltung hatte durch die hintere Tür des Diwanzimmers ein Stubenmädchen seinen Kopf hereingesteckt.

»Gnädiges Fräulein, der Hahn ist gebracht worden«, meldete sie flüsternd.

»Ich brauche ihn nicht mehr, Polja; laß ihn wieder wegbringen«, erwiderte Natascha.

Mitten in diesen Gesprächen, die im Diwanzimmer lustig dahinplätscherten, kam Dümmler ins Zimmer und trat auf die Harfe zu, die in der Ecke stand. Er nahm das Tuch ab, und die Harfe gab einen Mißton von sich.

»Eduard Karlytsch, spielen Sie mir doch bitte mein Lieblingsnotturno von Field[111]«, hörte man die Stimme der alten Gräfin aus dem Salon.

Dümmler griff einen Akkord und sagte, zu Natascha, Nikolaj und Sonja gewandt: »Die Jugend sitzt da so friedlich beieinander.«

»Ja, wir philosophieren«, erwiderte Natascha und sah einen Augenblick hin, fuhr aber dann gleich wieder in ihrer Unterhaltung fort. Sie sprachen jetzt von Träumen.

Dümmler fing an zu spielen. Natascha schlich unhörbar auf den Zehen an den Tisch heran, nahm das Licht, trug es hinaus, kehrte leise auf ihren Platz zurück und setzte sich wieder hin. Nun war es im ganzen Zimmer und besonders auf dem Sofa, wo sie saßen, ganz dunkel, und nur das silberne Licht des Vollmondes ergoß sich durch das große Fenster auf die Dielen.

»Weißt du, was ich glaube?« sagte Natascha flüsternd, indem sie näher an Nikolaj und Sonja heranrückte, als Dümmler schon mit seinem Spiel zu Ende war und immer noch dasaß und leise und sichtlich unentschieden, ob er aufhören oder noch etwas anderes spielen solle, über die Saiten strich. »Ich glaube, wenn man sich so erinnert und erinnert und immer wieder erinnert, so kommt man schließlich in der Erinnerung so weit, daß einem auch das wieder einfällt, was geschehen ist, ehe man auf der Welt war …«

»Das ist die Seelenwanderung«, sagte Sonja, die in der Schule immer gut aufgepaßt und sich das alles gemerkt hatte. »Die Ägypter glaubten, daß unsere Seelen früher in Tieren gehaust hätten und auch wieder in Tiere zurückwandern würden.«

»Nein, das glaube ich nicht, daß wir in Tieren gelebt haben«, sagte Natascha, immer noch flüsternd, obgleich die Musik zu Ende war, »aber ich bin fest überzeugt, daß wir dort irgendwo Engel gewesen und herniedergestiegen sind und uns deshalb an alles erinnern …«

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?« fragte Dümmler, der leise herangetreten war, und nahm bei ihnen Platz.

»Wenn wir Engel gewesen wären, weshalb wären wir da so tief gefallen?« fragte Nikolaj. »Nein, das kann nicht sein.«

»Warum denn tief? Wer sagt dir denn, daß wir tief gefallen sind? … Daß ich früher gewesen bin, weiß ich daher«, fuhr Natascha mit Überzeugung fort, »weil die Seele ja doch unsterblich ist … folglich, wenn ich immer leben werde, muß ich auch schon immer, schon eine ganze Ewigkeit gelebt haben.«

»Gewiß, aber es fällt uns schwer, uns die Ewigkeit vorzustellen«, mischte sich Dümmler ein, der mit sanftem, etwas geringschätzigem Lächeln an die jungen Leute herangetreten war, jetzt aber ebenso leise und ernst sprach wie sie.

»Warum soll denn das schwer sein, sich die Ewigkeit vorzustellen?« fragte Natascha. »Der heutige Tag wird zu Ende gehen und der morgige kommen und immer so weiter, und gestern ist gewesen und vorgestern …«

»Natascha, jetzt kommst du an die Reihe. Singe mir doch etwas vor«, hörte man die Stimme der Gräfin. »Was hockt ihr denn da zusammen? Gerade wie Verschwörer.«

»Mama, ich habe gar keine Lust dazu«, sagte Natascha, stand aber trotzdem auf.

Alle, selbst der alte Dümmler, hatten keine Lust, das Gespräch abzubrechen und aus ihrem Sofawinkel hervorzukommen, aber Natascha stand auf, und Nikolaj setzte sich ans Klavier. Wie immer wählte Natascha den für die Resonanz vorteilhaftesten Platz, stellte sich mitten in den Saal und stimmte das Lieblingslied ihrer Mutter an.

Sie hatte gesagt, sie habe keine Lust zum Singen, aber seit langer Zeit und auch noch lang nachher hatte sie nicht so gesungen, wie sie an diesem Abend sang. Graf Ilja Andrejewitsch, der in seinem Arbeitszimmer mit Mitenka verhandelte, lauschte auf ihren Gesang und versprach sich wie ein Schuljunge, der das Ende der Stunde nicht abwarten kann, um zum Spielen zu eilen, bei jeder Anweisung, die er dem Verwalter gab, und schwieg schließlich ganz. Mitenka horchte ebenfalls auf und blieb stumm und lächelnd vor dem Grafen stehen. Nikolaj verwandte kein Auge von der Schwester und hielt mit ihr zusammen den Atem an. Sonja hörte zu und dachte, was für ein gewaltiger Unterschied doch zwischen ihr und ihrer Freundin sei, und daß es ihr einfach unmöglich wäre, nur annähernd so bezaubernd zu wirken wie ihre Cousine.

Die alte Gräfin saß mit wehmütig glücklichem Lächeln und Tränen in den Augen da und wiegte ab und zu den Kopf. Sie dachte an Natascha und an ihre eigene Jugend und daran, daß bei der bevorstehenden Heirat Nataschas mit dem Fürsten Andrej doch etwas Unnatürliches und Banges sei.

Dümmler hatte sich wieder neben die Gräfin gesetzt, bedeckte die Augen mit der Hand und war ganz Ohr.

»Nein, Gräfin«, sagte er endlich, »das ist ein universales Talent. Ihr kann man nichts mehr beibringen. Dieser Schmelz, diese Zartheit, diese Kraft …«

»Ach, ich bin so um sie besorgt, so um sie besorgt«, sagte die Gräfin, ohne daran zu denken, mit wem sie sprach. Ihr mütterlicher Instinkt sagte ihr, daß in Natascha irgendein Zuviel vorhanden war und sie deshalb nicht glücklich werden würde.

Natascha hatte noch nicht zu Ende gesungen, als der vierzehnjährige Petja begeistert ins Zimmer gestürmt kam mit der Nachricht, es seien Maskierte gekommen[112].

Natascha brach plötzlich ab.

»Dummer Junge«, rief sie dem Bruder zu, lief zu einem Stuhl, ließ sich darauf fallen und fing so zu schluchzen an, daß sie lange nicht wieder aufhören konnte.

»Es ist nichts, Mamachen, wirklich nichts, nur so, Petja hat mich so erschreckt«, sagte sie und bemühte sich zu lächeln, aber die Tränen flossen immer weiter, und das Schluchzen schnürte ihr die Kehle zu.

Die als Bären, Türken, dicke Wirte und Damen verkleideten Gutsleute, die teils komisch, teils zum Fürchten aussahen und einen Strom von Kälte und Heiterkeit mit hereinbrachten, drückten sich anfänglich schüchtern im Vorzimmer herum, drängten aber dann doch in den Saal hinein, wobei sich immer einer hinter dem andern versteckte, und begannen hier, anfänglich etwas verlegen, dann aber immer lustiger und ungezwungener, ihre Lieder, Tänze, Reigen und Weihnachtsspiele. Nachdem die Gräfin die einzelnen Leute erkannt und über ihren Mummenschanz gelacht hatte, begab sie sich wieder hinüber in den Salon. Graf Ilja Andrejewitsch blieb mit strahlendem Gesicht im Saal sitzen und rief den Spielenden aufmunternde Worte zu. Die jungen Leute waren plötzlich verschwunden.

Nach einer halben Stunde erschienen im Saal zwischen den sich dort tummelnden Masken noch ein paar neue: eine alte Dame im Reifrock – das war Nikolaj, eine Türkin – das war Petja, ein Bajazzo – das war Dümmler, ein Husar – Natascha, und ein Tscherkesse – Sonja, die sich mit einem Stöpsel einen schwarzen Schnurrbart und Augenbrauen gemalt hatte.

Nachdem die Zuschauer die Masken bereitwillig angestaunt, sie eine Zeitlang nicht erkannt und dann genügend gelobt hatten, fanden die jungen Leute ihre Kostüme selber so schön, daß sie das Bedürfnis empfanden, sich darin auch noch vor anderen zu zeigen.

Nikolaj, der bei der vorzüglichen Schlittenbahn die größte Lust hatte, alle in seiner Troika auszufahren, schlug vor, ein Dutzend der verkleideten Gutsleute mitzunehmen und zum Onkel zu fahren.

»Nein, was wollt ihr denn dem alten Manne solche Unruhe bereiten!« sagte die Gräfin. »Und dann könnt ihr euch ja bei ihm kaum herumdrehen. Wenn ihr nun einmal fahren wollt, so fahrt doch zu den Meljukows.«

Frau Meljukowa war eine Witwe, die Kinder in verschiedenem Alter und ebenfalls Erzieher und Gouvernanten im Hause hatte und etwa vier Werst von den Rostows entfernt wohnte.

»Siehst du, das ist mal ein gescheiter Gedanke von dir, ma chère«, lobte sie der alte Graf, der riesig aufgekratzt war. »Gleich werde ich mich auch anputzen und mit euch fahren. Ich werde schon Paschette zum Lachen bringen.«

Aber die Gräfin wollte Ilja Andrejewitsch nicht fortlassen: er hatte seit langem über Reißen in den Beinen geklagt. So wurde denn beschlossen, daß der alte Graf zu Hause bleiben, dafür aber Luisa Iwanowna – Madame Schoß – mitfahren sollte, damit die jungen Mädchen mit zu den Meljukows fahren konnten. Sonja, die sonst immer schüchtern und verlegen war, bat Luisa Iwanowna, diesmal stürmischer als alle anderen, es ihnen doch nicht abzuschlagen.

Sonjas Kostüm war das schönste. Das schwarze Bärtchen und die dunklen Augenbrauen standen ihr ausnehmend gut. Alle sagten ihr, daß sie sehr hübsch aussehe, und sie befand sich in einer so lustigen, unternehmenden Stimmung, wie man sie sonst gar nicht an ihr kannte. Eine innere Stimme sagte ihr, daß sich ihr Schicksal heute oder niemals entscheiden werde, und sie fühlte sich, so als Mann verkleidet, als ein ganz anderer Mensch. Luisa Iwanowna willigte ein, und nach einer halben Stunde fuhren vier Troikas mit Glöckchen und Schellen vor der Freitreppe vor, daß die Kufen auf dem hartgefrorenen Schnee quietschten und kreischten.

Natascha hatte als erste einen lustigen, weihnachtlichen Ton angeschlagen, und diese Heiterkeit hatte einen nach dem andern angesteckt, war immer lauter und größer geworden und hatte ihren Gipfel erreicht, als alle in die kalte Winternacht hinaustraten, durcheinanderschwatzten und -riefen und sich unter Gelächter und Geschrei in die Schlitten verteilten.

Die ersten beiden Troikas waren mit Jagdpferden bespannt, die dritte gehörte dem alten Grafen und hatte einen Orlow-Traber als Deichselpferd, die vierte war Nikolajs Eigentum und mit einem kleinen, struppigen Rappen als Mittelpferd bespannt. Nikolaj, einen Husarenmantel mit Gürtel über seinem Altjungfernkostüm, stand mitten im Schlitten und hielt mit festem Griff die Zügel in der Hand.

Es war so hell, daß man die im Mondschein glitzernden Messingbeschläge am Geschirr und die Augen der Pferde sehen konnte, die sich ganz erschrocken nach den Fahrgästen umsahen, die dort unter dem dunklen Dach der Freitreppe so lärmten und schrien.

In Nikolajs Schlitten saßen Natascha, Sonja, Madame Schoß und zwei Mädchen vom Gute, im Schlitten des alten Grafen Dümmler mit seiner Frau und Petja, in den beiden anderen Schlitten die maskierten Gutsleute.

»Marsch, voran, Sachar!« rief Nikolaj dem Kutscher seines Vaters zu, um ihn unterwegs überholen zu können.

Die Troika des alten Grafen, in der Dümmler und noch andere Masken saßen, setzte sich unter dem Gekreisch der Kufen, die am Schnee festgefroren zu sein schienen, und dumpfem Schellengebimmel in Bewegung. Die Seitenpferde drängten sich dicht an die Deichsel heran und sanken beim Umwenden tief in den Schnee ein, der fest und glitzernd wie Zucker war.

Nikolaj fuhr hinter der ersten Troika her, dann kamen mit Lärm und Gekreisch die beiden anderen Schlitten. Zuerst ging es in mäßigem Trabe den schmalen Weg entlang. Solang sie am Park vorbeifuhren, warfen die kahlen Bäume ihre Schatten quer über den Weg und verdunkelten das grelle Licht des Mondes. Kaum hatten sie aber die Einfriedung hinter sich, so dehnte sich in bläulichem Schimmer, wie von unzähligen Diamanten glitzernd, die starre, unendliche Schneefläche, ganz vom Mondlicht überflutet, nach allen Seiten vor ihnen aus. Ein paarmal rumpelte der erste Schlitten über ein ausgefahrenes Loch, genau an derselben Stelle rumpelte auch der nächste und dann die beiden anderen, und so fuhren die Schlitten einer nach dem andern in langem Zug dahin und störten damit die zauberhafte Stille ringsum.

»Eine Hasenspur, eine ganze Masse Spuren!« tönte Nataschas Stimme durch die von der Kälte wie zusammengeschmiedete Luft.

»Wie deutlich man alles sieht, Nicolas!« sagte Sonjas Stimme.

Nikolaj sah Sonja an und beugte sich herab, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können. Ein ganz neues, liebes Gesicht mit schwarzem Bärtchen, das im Mondlicht bald nah und bald fern schien, blickte ihm aus dem Zobelpelz entgegen.

Das war doch früher Sonja? dachte Nikolaj. Er sah sie genauer an und lächelte.

»Was haben Sie, Nicolas?«

»Nichts«, sagte er und wandte sich wieder zu den Pferden.

Als sie auf die große Landstraße hinauskamen, die von Schlittenkufen ganz glatt gefahren war und wie gebahnt erschien und wo im Mondschein die Spuren vom Einhacken der Hufeisendorne zu sehen waren, zogen die Pferde von selber die Zügel straff und fingen an, schneller auszugreifen. Das linke Seitenpferd senkte den Kopf, machte ein paar Sprünge und riß an seinen Strängen. Das Mittelpferd sprang bald auf die eine, bald auf die andere Seite und legte die Ohren zurück, als wolle es fragen: Geht’s jetzt los, oder ist es noch zu früh? Vorn, bereits in ziemlicher Entfernung, sah man deutlich auf dem weißen Schnee Sachars schwarze Troika, deren Glöckchen, immer ferner werdend, dumpf tönten. Man hörte aus dem Schlitten die Stimmen der Vermummten, wie sie schrien und lachten.

»Na los, ihr Vagabunden!« rief Nikolaj, riß mit der einen Hand an den Zügeln und schwang mit der andern die Peitsche.

Und nur aus dem scheinbar stärker werdenden Gegenwind und dem Spannen und Zupfen und Nach-der-Mitte-Drängen der Seitenpferde war zu merken, wie flink die Troika dahinsauste.

Nikolaj sah sich um. Mit Geschrei und Gekreisch, unter Peitschenknallen und Antreiben des Mittelpferdes suchten die beiden anderen Schlitten nachzukommen. Mit stoischer Ruhe wiegte sich Nikolajs Deichselpferd unter dem Krummholz hin und her und dachte gar nicht daran, sich irremachen zu lassen, ließ aber durchblicken, daß es noch viel, viel schneller laufen könnte, wenn es wirklich darauf ankäme.

Nikolaj hatte die erste Troika eingeholt. Sie fuhren einen Hügel hinunter und kamen nun auf einen breit ausgefahrenen Wiesenweg, der am Fluß entlang führte.

Wo fahren wir nur? dachte Nikolaj. Das müßte doch die Schiefwiese sein. Aber nein, das ist eine ganz andere Gegend, die ich noch niemals gesehen habe. Das ist nicht die Schiefwiese und der Djomkinahügel, sondern Gott weiß was! Das ist etwas ganz Neues und Zauberhaftes. Nun, meinetwegen, nur zu! Und er rief seinen Pferden zu und schickte sich an, den ersten Schlitten zu überholen.

Sachar hielt die Pferde etwas an und wandte sein schon bis an die Brauen bereiftes Gesicht um.

Nikolaj ließ seine Pferde laufen, was sie nur rennen konnten, Sachar streckte die Arme vor, schnalzte mit der Zunge und ließ seinen Pferden ebenfalls die Zügel schießen.

»Nun aber die Ohren steif, gnädiger Herr«, sagte er.

Immer flinker und flinker sausten die beiden Schlitten nebeneinander her, und immer schneller stampften die Beine der dahingaloppierenden Pferde. Nikolaj kam etwas vor. Sachar hielt immer noch die Arme nach vorn gestreckt und hob die eine Hand mit den Zügeln jetzt hoch.

»Mir machst du nichts vor, gnädiger Herr«, rief er Nikolaj zu.

Nikolaj ließ alle seine Pferde im Galopp dahinsausen und überholte Sachar. Die Pferde überschütteten die Gesichter der im Schlitten Sitzenden mit feinem trockenem Schnee, wilder klingelten die Glöckchen und Schellen, und die schnell dahinjagenden Beine der Pferde und die Schatten flossen zu einem wirren Chaos zusammen. Von allen Seiten hörte man das Knirschen der Kufen auf dem Schnee und das Kreischen weiblicher Stimmen.

Nikolaj hielt die Pferde wieder etwas an und sah sich um. Ringsum dehnte sich dieselbe vom Mondlicht gesättigte, zauberhafte Schneefläche aus, die wie mit Sternen übersät glitzerte.

Sachar ruft mir zu, ich solle links fahren, warum denn aber links? dachte Nikolaj. Fahren wir denn wirklich zu Meljukows, und ist dies etwa schon Meljukowka? Wir fahren doch Gott weiß wo, und erleben Gott weiß was, aber das, was wir erleben, ist seltsam und wunderschön. Und er sah sich im Schlitten um.

»Sieh nur, einen ganz weißen Bart und ganz weiße Wimpern hat er!« sagte eine der dort sitzenden seltsamen, hübschen und fremden Gestalten mit einem feinen Bärtchen und dunklen Augenbrauen.

Das war doch, scheint’s, Natascha? dachte Nikolaj. Und das ist doch Madame Schoß, oder vielleicht auch nicht? Doch was der Tscherkesse mit dem Schnurrbart dort ist, das weiß ich nicht, aber ich liebe diese Gestalt.

»Friert ihr auch nicht?« fragte er.

Sie antworteten nicht und lachten bloß. Dümmler rief ihnen aus dem hinteren Schlitten irgend etwas zu, wahrscheinlich etwas Komisches, aber man konnte nicht verstehen, was er sagte.

»Ja, ja«, riefen ein paar Stimmen lachend zurück.

Auf einmal war man in einem Zauberwald, wo schwarze Schatten und das Geglitzer von Diamanten ineinanderflossen, wo breite Marmorstufen und silberne Dächer von Märchenschlössern im Mondschein flimmerten und das gellende Kreischen wilder Tiere durch die Stille hallte.

Wenn das wirklich Meljukowka ist, so wäre das um so seltsamer, da wir ja Gott weiß wo gefahren und nun also doch noch nach Meljukowka gekommen sind, dachte Nikolaj.

Und es war wirklich Meljukowka, und Diener und Mägde kamen mit Lichtern und fröhlichen Gesichtern auf die Freitreppe hinausgelaufen.

»Wer ist das?« hörte man sie untereinander fragen.

»Das sind Maskierte vom Grafen, ich sehe es an den Pferden«, erwiderten ein paar Stimmen gleichzeitig.

11

Pelageja Danilowna Meljukowa, eine dicke, energische Dame, saß mit einer Brille und aufgeknöpfter Kapotte im Kreis ihrer Töchter im Salon, bemüht, ihren Kindern die Langweile zu vertreiben. Sie gossen schweigend Wachs und suchten aus dem Schatten der daraus entstandenen Figuren die Zukunft zu erraten, als unten die Schritte und Stimmen der Ankommenden laut wurden.

Die Husaren, Damen, Hexen, Harlekine und Bären wischten sich im Vorzimmer die bereiften Gesichter ab, räusperten sich und gingen dann in den Saal hinein, wo man eiligst die Kerzen ansteckte. Dümmler als Bajazzo und Nikolaj als alte Jungfer eröffneten den Reigen. Von den jubelnden Kindern umringt, begrüßten die Kostümierten mit verdecktem Gesicht und verstellter Stimme die Hausfrau und verteilten sich dann im Zimmer.

»Ach, du großer Gott, keine Möglichkeit, jemanden zu erkennen! Aber das ist doch Natascha! Guckt nur, wem sieht sie doch bloß ähnlich? Sie erinnert tatsächlich an irgend jemanden. Und Eduard Karlytsch, wie schön! Den hätte ich nicht erkannt. Und wie er tanzt! Alle Heiligen, jetzt kommt gar noch ein Tscherkesse! Wirklich, das steht Sonja glänzend! Aber wer ist denn das noch? Gottlob, daß ihr gekommen seid! Nehmt doch die Tische weg, Nikita, Wanja! Wir saßen eben so stumpfsinnig da! Hahaha! Seht nur den Husaren, den Husaren! Ganz wie ein junger Mann! Und die Beine! Ich kann gar nichts sehen …«, so tönte es durcheinander.

Natascha, der erklärte Liebling der Meljukowschen Töchter, verschwand mit ihnen in den hinteren Gemächern, wohin sie sich einen Stöpsel und verschiedentliche Schlafröcke und Männerkleidungsstücke kommen ließ, die nackte Mädchenarme von den Dienern durch die kaum geöffnete Tür entgegennahmen. Zehn Minuten später gesellte sich die ganze Meljukowsche Jugend ebenfalls kostümiert den Masken bei.

Pelageja Danilowna ordnete an, daß für die Gäste genügend Platz geschaffen und für die Bewirtung der Herrschaften und der Gutsleute gesorgt werde, dann ging sie, ohne die Brille abzunehmen, mit verhaltenem Lächeln durch die Reihen der Verkleideten, sah jedem ganz nah ins Gesicht und konnte doch niemanden erkennen. Sie erkannte weder die Rostows noch Dümmlers, ja nicht einmal ihre eigenen Töchter und die Schlafröcke und Uniformen, die sie anhatten.

»Aber wer ist denn das eigentlich?« sagte sie zu ihrer Gouvernante und sah dabei ihrer eignen Tochter gerade ins Gesicht, die einen kasanschen Tataren vorstellte. »Doch wohl irgendeiner von den Rostows. Und Sie, mein Herr Husar, bei welchem Regiment stehen Sie denn?« fragte sie Natascha.

»Dem Türken dort mußt du Plätzchen anbieten«, sagte sie zu dem servierenden Büfettdiener, »das darf er essen, das verbieten ihm seine Gesetze nicht.«

Während Pelageja Danilowna den tollen, ulkigen Pas zusah, die die Tanzenden lustig ungezwungen und in dem beruhigenden Bewußtsein ausführten, daß sie verkleidet seien und kein Mensch sie erkennen könne, mußte sie sich ab und zu vor Lachen das Taschentuch vor den Mund halten, und ihr ganzer gewichtiger Körper wurde von einem gutmütigen, unaufhaltsamen Lachen erschüttert, wie eben alte Damen zu lachen pflegen.

»Seht nur dort meine Sascha, meine Sascha!« rief sie.

Nach den russischen Tänzen und Reigen führte Pelageja Danilowna alle Gutsleute und Herrschaften zu einem großen Kreis zusammen, ein Ring, eine Schnur und ein Rubel wurden herbeigeholt und gemeinsame Spiele unternommen.

Eine Stunde später waren alle Kostüme zerdrückt und in Unordnung geraten. Die mit Kork gemalten Schnurrbärte und Augenbrauen waren in den feucht glühenden, lustigen Gesichtern breitgeschmiert. Pelageja Danilowna fing nun an, die Verkleideten zu erkennen, ließ sich entzückt darüber aus, wie reizend ihre Kostüme gewählt waren und wie vortrefflich sie besonders den jungen Damen stünden, und dankte allen, daß sie ihr dieses Vergnügen gemacht hätten. Die Gäste wurden zum Abendessen in den Salon gebeten, während die Gutsleute im Saal bewirtet wurden.

»Nein, in der Badestube das Orakel zu befragen, ist doch zu schauerlich!« sagte bei Tisch ein altes Fräulein, das bei den Meljukows lebte.

»Warum denn?« fragte die älteste Tochter der Familie Meljukow.

»Ach, ihr geht ja doch nicht hin, da gehört Mut dazu …«

»Dann werde ich hingehen«, sagte Sonja.

»Erzählen Sie doch einmal, was dem jungen Mädchen damals passiert ist«, sagte Fräulein Meljukowa Nummer zwei.

»Ja, das war damals so«, erzählte das alte Fräulein, »das junge Mädchen nahm einen Hahn und zwei Gedecke mit, ganz wie die Vorschrift lautet, und setzte sich hin. Und wie sie so dasitzt und lauscht … da kommt plötzlich etwas angefahren, mit Glöckchen und Schellen – ein Schlitten. Sie horcht auf, schon nähern sich Schritte. Es tritt jemand herein, ganz wie ein Mensch, ganz wie ein Offizier, kommt näher und setzt sich neben sie an den gedeckten Tisch.«

»Aaah!« rief Natascha und riß vor Entsetzen die Augen ganz weit auf.

»Nun, und was machte er … redete er?«

»Ja, ganz wie ein Mensch und ganz so, wie es sich gehört. Er fängt an, sie zu überreden. Sie aber hätte ihn mit ihrer Unterhaltung bis zum Hahnenschrei festhalten müssen. Aber sie wird schüchtern, und wie sie so schüchtern wird, verbirgt sie ihr Gesicht in beiden Händen. Da greift er auch schon nach ihr … Ein Glück, daß in diesem Augenblick ein paar Mädchen herbeigelaufen kamen …«

»Warum machen Sie ihnen solche Angst!« sagte Pelageja Danilowna.

»Aber Mama, Sie haben doch selber das Orakel befragt …«, rief die eine Tochter zurück.

»Und wie ist das mit dem Horchen auf dem Speicher?« fragte Sonja.

»Ganz einfach: man geht so wie jetzt auf den Speicher und horcht. Pocht und hämmert es, so ist das ein schlechtes Zeichen, rieselt es aber, wie wenn Korn umgeschüttet würde, so bedeutet das etwas Gutes und trifft auch ein.«

»Mama, bitte, erzählen Sie doch einmal, wie es Ihnen auf dem Speicher ergangen ist!«

Pelageja Danilowna lächelte.

»Ja, wie war das doch, ich habe es schon wieder vergessen …«, entgegnete sie. »Will denn niemand von euch hingehen?«

»Doch, ich gehe, Pelageja Danilowna. Erlauben Sie es mir, ich möchte gern gehen«, sagte Sonja.

»Nun, warum denn nicht, wenn du keine Angst hast?«

»Luisa Iwanowna, darf ich?« fragte Sonja.

Ob sie nun mit dem Ring, mit der Schnur oder mit dem Rubel gespielt oder sich nur unterhalten hatten wie eben jetzt, Nikolaj war nicht von Sonjas Seite gewichen und sah sie heute mit ganz anderen Augen an. Ihm schien, als lerne er sie heute dank diesem mit Kork angemalten Bärtchen erst ordentlich kennen. Und wirklich war Sonja an diesem Abend so heiter, lebendig und hübsch, wie auch Natascha sie noch niemals gesehen hatte.

Also so ist sie? Was bin ich doch für ein Schafskopf, daß ich das nicht eher gesehen habe! dachte er, wenn er in ihre leuchtenden Augen und auf ihr glückliches, entzücktes Lächeln sah, bei dem sich unter dem schwarzen Bärtchen in ihren Backen Grübchen bildeten, die er bisher noch niemals wahrgenommen hatte.

»Ich fürchte mich vor nichts«, sagte Sonja. »Kann ich jetzt gleich gehen?«

Sie stand auf. Man sagte Sonja, wo der Speicher sei, und daß sie ganz stillstehen und horchen müsse, und zog ihr einen Pelz an. Sie zog ihn bis über den Kopf und blickte dabei Nikolaj an.

Was für ein Prachtmädel ist das! dachte dieser. Wo habe ich nur die ganze Zeit über meine Augen gehabt?

Sonja rannte auf den Korridor hinaus, um auf den Speicher zu gehen. Nikolaj behauptete, es sei ihm im Zimmer zu heiß, und lief eilig auf die Freitreppe hinunter. Tatsächlich war drinnen die Luft von den sich zusammendrängenden Menschen drückend und schwül.

Draußen herrschte immer noch dieselbe starre Kälte, und derselbe klare Mond schien, nur noch strahlender. Das Licht war so hell, und auf dem Schnee funkelten so unzählige Sterne, daß man gar keine Lust hatte, nach dem Himmel zu schauen, und die wirklichen Sterne gar nicht zur Geltung kamen. Der Himmel schien düster und langweilig, aber auf der Erde glitzerte es lustig.

Ein Dummkopf bin ich, ein Dummkopf! Auf was habe ich die ganze Zeit über gewartet? dachte Nikolaj, lief die Freitreppe hinunter und auf dem Steg, der nach der Hintertreppe führte, um die Hausecke herum. Er wußte, daß Sonja hier herauskommen mußte. Auf halbem Weg zum Speicher lagen ein paar Klafter Holz aufgeschichtet, die ganz mit Schnee bedeckt waren und einen langen Schatten warfen. Über sie hinweg und rechts und links von ihnen fielen die Schatten der alten, kahlen Linden wirr verflochten auf den Schnee und über den Weg. Der kleine Pfad führte nach dem Speicher. Die Holzwände und das Dach des Speichers waren ganz mit Schnee und Eis bedeckt und glitzerten im Mondschein, als wären sie aus Edelstein ausgehauen. Im Garten barst ächzend ein Baum, dann war wieder alles ganz still. Die Brust schien keine Luft, sondern ewig junge Kraft und Freude zu atmen.

Auf der Treppe vom Mädchenzimmer hörte man Schritte die Stufen herunterkommen, die unten auf der letzten, wo der Schnee hereingetragen war, laut knirschten, und die Stimme des alten Fräuleins sagte: »Geradeaus, immer geradeaus, diesen kleinen Weg entlang, gnädiges Fräulein. Aber ja nicht umsehen!«

»Ich habe gar keine Angst«, rief Sonjas Stimme zurück, und ihre kleinen Füße in den feinen Schuhchen knirschten und schnurpsten über den Schnee, den Weg in der Richtung auf Nikolaj entlang.

Warm in ihren Pelz eingehüllt lief Sonja dahin. Sie erblickte Nikolaj erst, als sie schon bis auf zwei Schritte herangekommen war, und sah ihn ebenfalls nicht so, wie sie ihn früher gekannt, wo sie sich immer ein wenig vor ihm gefürchtet hatte. Er trug jetzt Frauenkleider, das Haar hing ihm wirr um die Stirn, und auf seinem Gesicht lag ein glückliches Lächeln, das Sonja noch gar nicht an ihm kannte. Schnell lief sie auf ihn zu.

Ganz anders ist sie heute, gar nicht so wie immer, dachte Nikolaj und sah ihr ins Gesicht, das ganz vom Mondschein bestrahlt war. Er schob seine Hände unter den Pelz, der ihren Kopf bedeckte, umfaßte ihn, drückte ihn an sich und küßte sie unter das Bärtchen auf die Lippen, die nach verbranntem Kork rochen. Sonja machte ihre kleinen Hände aus dem Pelz frei, faßte seine beiden Backen und küßte ihn mitten auf den Mund.

»Sonja!« … »Nicolas!« … sagten sie nur. Dann liefen sie nach dem Speicher und kehrten endlich, jeder auf seinem Weg, wieder zu den andern zurück.

12

Als dann alle von Pelageja Danilowna nach Hause fuhren, richtete es Natascha, die immer alles sah und merkte, so ein, daß Luisa Iwanowna und sie mit Dümmlers zusammen in einem Schlitten saßen und Sonja mit Nikolaj und den Gutsmädchen allein fuhr.

Nikolaj ließ die Pferde nun nicht mehr jagen, sondern fuhr auf dem Rückweg gleichmäßig dahin, betrachtete in dem seltsamen Glanz des Mondes immer nur Sonja und suchte bei dem trügerischen Licht unter dem Schnurrbärtchen und den Augenbrauen die frühere und die jetzige Sonja herauszufinden, von der sich nie wieder zu trennen er nun entschlossen war. Er sah sie an, und als er sowohl die eine als auch die andere wiedererkannte, sich an alles erinnerte und sogar den Geruch des Korkes wieder zu spüren meinte, der sich mit der Erinnerung an ihre Küsse vermischte, sog er mit voller Brust die kalte Luft in sich ein, warf einen Blick auf den strahlenden Himmel und die Landschaft, die sie hinter sich ließen, und fühlte sich wieder wie in einem Zauberreich.

»Sonja, ist dir wohl zumute?« fragte er ab und zu.

»Ja«, erwiderte Sonja, »und dir?«

Auf halbem Weg gab Nikolaj seine Pferde für einen Augenblick dem Kutscher zum Halten, lief nach Nataschas Schlitten hinüber und stellte sich auf den Tritt.

»Natascha«, sagte er flüsternd auf französisch zu ihr, »weißt du, ich habe Sonjas wegen einen Entschluß gefaßt.«

»Du hast dich ihr erklärt?« fragte Natascha, plötzlich ganz strahlend vor Freude.

»Ach, wie sonderbar du mit dem Bart und den Augenbrauen aussiehst, Natascha! Freust du dich?«

»Furchtbar freue ich mich, ganz furchtbar! Ich war schon ganz böse auf dich. Ich habe es dir nicht gesagt, aber du hast nicht schön an ihr gehandelt. Sie hat so ein goldenes Herz, Nicolas. Wie freue ich mich! Ich war manchmal eklig, aber ich schämte mich, so allein glücklich zu sein, ohne Sonja«, fuhr Natascha fort. »Jetzt aber bin ich ganz glücklich. Doch nun lauf schnell wieder hin zu ihr.«

»Nein, warte … ach, wie komisch du nur aussiehst!« sagte Nikolaj und schaute sie unverwandt an. Auch an der Schwester fand er etwas Neues, Außergewöhnliches, bezaubernd Liebes, was er früher noch nie an ihr gesehen hatte.

»Natascha, ist das nicht zauberhaft? Nicht?«

»Ja«, erwiderte sie. »Und das hast du fein gemacht.«

Wenn ich Natascha schon früher so gesehen hätte wie jetzt, dachte Nikolaj, so hätte ich sie schon lange gefragt, was ich tun solle, und alles getan, was sie mich geheißen hätte, und alles wäre gut gewesen.

»Also du freust dich, und ich habe es gut gemacht?«

»Ach, und wie gut! Erst kürzlich habe ich mit Mama darüber gestritten. Mama behauptete, Sonja wolle dich kapern. Wie kann man nur so etwas sagen! Beinahe hätte ich mich mit Mama deswegen entzweit. Ich werde nie einem erlauben, etwas Schlechtes von ihr zu sagen oder zu denken, denn sie ist ja die Güte selber.«

»Es ist also gut so?« sagte Nikolaj, betrachtete noch einmal den Gesichtsausdruck seiner Schwester, um festzustellen, ob er sich auch nicht getäuscht habe, sprang dann mit knirschenden Stiefeln vom Tritt und lief wieder auf seinen Schlitten zu. Dort saß immer noch derselbe glücklich lächelnde Tscherkesse mit dem Schnurrbärtchen und den leuchtenden Augen, die unter der Zobelkapotte hervorblitzten, und dieser Tscherkesse war Sonja, und diese Sonja wurde nun bestimmt seine glückliche und liebende Frau.

Zu Hause angelangt, erzählten die jungen Mädchen der Mutter, wie sie ihre Zeit bei den Meljukows verbracht hatten, und zogen sich dann auf ihr Zimmer zurück. Nachdem sie sich ausgezogen hatten, blieben sie noch lange mit ihren mit Kork gemalten Schnurrbärten beieinander sitzen und plauderten von ihrem Glück. Sie malten sich aus, wie sie als verheiratete Frauen leben würden, wie ihre beiden Männer Freunde werden müßten, und wie glücklich sie sein würden. Auf Nataschas Nachttisch standen noch die beiden Spiegel, die Dunjascha schon am Abend bereitgestellt hatte.

»Aber wann, wann wird das alles einmal sein? Ich fürchte, niemals … Es wäre auch zu schön!« sagte Natascha, stand auf und trat an die Spiegel heran.

»Setz dich hin, Natascha, vielleicht siehst du ihn«, sagte Sonja.

Natascha zündete die Kerzen an und setzte sich.

»Ich sehe jemand mit einem Schnurrbart«, sagte sie, ihr eignes Gesicht betrachtend.

»Darüber darf man nicht lachen, gnädiges Fräulein«, mischte sich Dunjascha ein.

Mit Hilfe Sonjas und der Zofe fand Natascha endlich die richtige Lage für den Spiegel; ihr Gesicht nahm einen ernsthaften Ausdruck an, und sie wurde ganz still. Lange saß sie so da, blickte auf die Reihe der in den Spiegeln immer ferner werdenden Kerzen, rief sich alles das, was sie davon hatte erzählen hören, wieder ins Gedächtnis zurück und erwartete nun, in dem letzten, trüb verschwommenen Quadrat entweder einen Sarg oder ihn, den Fürsten Andrej, zu sehen. Aber obgleich sie bereit war, selbst den kleinsten Fleck für ein menschliches Bildnis oder für einen Sarg zu halten, sah sie doch nichts. Schließlich fing sie an zu blinzeln und ging von den Spiegeln fort.

»Warum sehen andere nur immer etwas, und ich nie?« sagte sie. »Nun setz du dich einmal hin, Sonja, heute mußt du es unbedingt tun«, fügte sie hinzu. »Nur mir zuliebe … Mir ist heute so bang zumute!«

Sonja setzte sich an den Spiegel, brachte ihn in die richtige Lage und sah hinein.

»Sofia Alexandrowna wird sicherlich etwas sehen«, sagte Dunjascha flüsternd. »Sie lachen ja immer über alles.«

Sonja hörte diese Worte und vernahm auch, wie Natascha flüsternd erwiderte: »Auch ich bin überzeugt, daß sie etwas sehen wird, sie hat voriges Jahr auch etwas gesehen.«

Etwa drei Minuten lang waren alle still. »Unbedingt!« flüsterte dann Natascha, hatte aber ihren Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Sonja den Spiegel, den sie in der Hand hielt, von sich stieß und die Augen mit der Hand bedeckte.

»Ach, Natascha!« sagte sie.

»Hast du etwas gesehen? Ja? Was denn?« schrie Natascha auf, indem sie schnell den Spiegel hielt.

Sonja hatte nichts gesehen und gerade mit den Augen blinzeln und aufstehen wollen, als sie Nataschas Stimme vernommen hatte, die »unbedingt« sagte. Sie wollte weder Dunjascha noch Natascha täuschen, und das lange Sitzen war ihr unbequem geworden. Sie wußte selbst nicht, wie und aus welchem Grund sie aufgeschrien hatte, als sie die Hand vor die Augen gelegt hatte.

»Hast du ihn gesehen?« fragte Natascha und faßte ihre Hand.

»Ja, warte mal … ich … habe ihn gesehen«, sagte Sonja, ohne es zu wollen, obgleich sie nicht einmal wußte, wen Natascha mit »ihn« meinte, Nikolaj oder Andrej.

Warum soll ich nicht sagen, daß ich ihn gesehen habe? Andere sehen doch auch etwas. Und wer kann mich dessen überführen, ob ich etwas gesehen habe oder nicht? schoß es Sonja durch den Kopf.

»Ja, ich habe ihn gesehen«, sagte sie.

»Aber wie? Wie denn? Stand er oder lag er?«

»Nein, ich sah … Erst war lange nichts, dann sah ich plötzlich, daß er dalag.«

»Andrej lag da? So ist er krank?« fragte Natascha und sah die Freundin mit vor Schreck erstarrten Augen an.

»Nein, im Gegenteil, im Gegenteil! Er machte ein ganz vergnügtes Gesicht und wandte sich nach mir um«, und in dem Augenblick, als Sonja dies sagte, glaubte sie selber daran, daß sie es gesehen hatte.

»Nun und dann, Sonja?

»Dann konnte ich nichts Genaues mehr unterscheiden, ich sah nur etwas Blaues und Rotes …«

»Sonja! Wann wird er zurückkehren? Wann werde ich ihn wiedersehen? Großer Gott, wie bang ist mir um ihn und um mich selber, und wie furchtbar ist mir dies alles …«, sagte Natascha, gab auf Sonjas tröstende Worte keine Antwort, legte sich ins Bett und blieb noch lange, nachdem man das Licht ausgelöscht hatte, ohne sich zu rühren, so liegen und starrte mit offenen Augen durch das gefrorene Fenster in das kalte Mondlicht hinaus.

13

Bald nach Weihnachten setzte Nikolaj die Mutter von seiner Liebe zu Sonja und seinem festen Entschluß, sie zu heiraten, in Kenntnis. Die Gräfin, die schon lange bemerkt hatte, was zwischen Sonja und Nikolaj vorging, und auf eine solche Erklärung schon gefaßt war, hörte schweigend seine Worte an und sagte dann zu ihrem Sohn, daß er heiraten könne, wen er wolle, daß aber zu einer solchen Ehe weder sie noch der Vater ihren Segen geben würden. Zum erstenmal fühlte Nikolaj, daß die Mutter unzufrieden mit ihm war und daß sie, trotz all der Liebe, die sie für ihn empfand, in diesem Punkt nicht nachgeben werde. Kalt und ohne ihren Sohn eines Blickes zu würdigen, ließ sie ihren Mann rufen und wollte ihm, als er kam, in Nikolajs Gegenwart kurz und kühl mitteilen, wie die Sache stand, brachte es aber nicht fertig, brach in Tränen des Unwillens aus und verließ das Zimmer. Der alte Graf fing etwas unsicher an, Nikolaj zu beraten, und bat ihn, doch diese Absicht aufzugeben. Nikolaj gab zur Antwort, er könne sein Wort nicht brechen, und der Graf brach seufzend und sichtlich verwirrt seine Rede ab und ging zur Gräfin. Bei all den Auseinandersetzungen mit seinem Sohn konnte der Graf das Bewußtsein nicht loswerden, daß er wegen seiner mangelhaften Vermögensverwaltung selber schuldig vor ihm stand, und konnte ihm deshalb auch nicht zürnen, daß er sich weigerte, eine reiche Frau zu heiraten, daß er die mitgiftlose Sonja erwählt hatte. Er wurde sich bei dieser Gelegenheit nur um so deutlicher bewußt, daß man, wenn er nicht alles so heruntergewirtschaftet hätte, Nikolaj gar keine bessere Frau als Sonja hätte wünschen können, und daß an der Zerrüttung der Vermögensverhältnisse ja er allein schuld war mit seinem Mitenka und seinen Lebensgewohnheiten, von denen er nun einmal nicht lassen konnte.

Vater und Mutter sprachen nun mit dem Sohn nicht weiter über diese Angelegenheit, aber ein paar Tage darauf ließ die Gräfin Sonja zu sich rufen und warf mit einer Grausamkeit, die nicht nur für Sonja, sondern auch für sie selber unerwartet kam, ihrer Nichte vor, daß sie ihren Sohn verführt und all die Wohltaten, mit denen sie überschüttet worden sei, mit Undank vergolten habe. Sonja hörte die grausamen Worte der Gräfin schweigend und mit gesenkten Augen an und begriff nicht, was man von ihr verlangte. Sie war bereit, für ihre Wohltäter alles zu opfern. Der Entschluß zu einer Selbstaufopferung war ihr Lieblingsgedanke, aber in diesem Fall konnte sie nicht begreifen, wem und was sie denn eigentlich opfern solle. Sie konnte gar nicht anders, als die Gräfin und die ganze Familie Rostow lieben, konnte gar nicht anders, als Nikolaj lieben und überzeugt sein, daß sie ihn durch ihre Liebe glücklich machen werde. So stand sie stumm und traurig da und gab keine Antwort.

Nikolaj dünkte es unerträglich, diese Lage der Dinge noch länger mit anzusehen, und er ging wieder zu seiner Mutter, um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Zuerst bat er sie, ihm und Sonja zu verzeihen und ihre Einwilligung zu ihrer Ehe zu geben, sprach aber dabei gleichzeitig auch die Drohung aus, sich augenblicklich im geheimen mit Sonja trauen zu lassen, wenn man nicht aufhören werde, Sonja zuzusetzen.

Die Gräfin erwiderte ihm mit einer Kälte, die Nikolaj noch nie an ihr wahrgenommen hatte, er sei ja mündig, und Fürst Andrej heirate ja auch ohne die Einwilligung seines Vaters, also könne er es ja ebenso machen; niemals jedoch in ihrem Leben werde sie diese Intrigantin als Tochter anerkennen.

Über den Ausdruck »Intrigantin« entrüstet, sagte Nikolaj der Mutter mit erhobener Stimme, er habe es bisher nicht für möglich gehalten, daß sie ihn zwingen wolle, seine Liebe für Geld zu verkaufen, wenn das aber doch der Fall sei, so sei dies nun sein letztes Wort …

Aber er kam nicht dazu, dieses entscheidende Wort auszusprechen, das die Mutter, nach seinem Gesichtsausdruck urteilend, mit Schrecken erwartete und das sich vielleicht als grausame Erinnerung auf ewig trennend zwischen sie geschoben hätte. Er kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen, denn Natascha trat mit bleichem und ernstem Gesicht durch die Tür, an der sie gelauscht hatte, ins Zimmer.

»Nikolenka, was du jetzt sagen willst, ist dummes Zeug; hör auf, ich bitte dich! Ich will dir etwas sagen, sei bitte einmal still!« sagte sie fast schreiend, um seine Stimme zu übertönen.

»Mama, liebste, beste Mama, das ist doch nicht etwa, weil … meine liebe, arme Herzensmama«, wandte sie sich an die Mutter, die das Äußerste, einen endgültigen Bruch, herannahen fühlte und ihren Sohn mit entsetzten Augen ansah, aber aus Starrköpfigkeit und Kampfeifer nicht nachgeben konnte noch wollte.

»Nikolenka, ich erkläre es dir dann, geh jetzt hinaus, ich bitte dich! Und du, Herzensmamachen, hören Sie mich an«, sagte sie zur Mutter.

Ihre Worte waren sinnlos, aber sie erreichte, was sie angestrebt hatte. Die Gräfin schluchzte bitter auf und verbarg ihr Gesicht an der Brust der Tochter, Nikolaj aber stand auf, griff sich an den Kopf und lief aus dem Zimmer.

Natascha nahm das Versöhnungswerk in die Hand und brachte es so weit, daß Nikolaj von der Mutter die Versicherung erhielt, Sonja solle unbehelligt bleiben, er selber aber versprach, nichts ohne Wissen seiner Eltern zu unternehmen.

Mit der festen Absicht, seine Angelegenheiten beim Regiment zu ordnen, dann nochmals Urlaub zu nehmen und wiederzukommen, um Sonja zu heiraten, begab sich Nikolaj, wegen der Zwistigkeiten mit seinen Angehörigen traurig und ernst gestimmt, aber seiner Ansicht nach leidenschaftlich verliebt, Anfang Januar wieder zu seinem Regiment.

Nach Nikolajs Abreise wurde es im Haus Rostow noch trübsinniger als je. Die Gräfin war infolge der seelischen Aufregungen krank geworden. Sonja war unglücklich über die Trennung von Nikolaj und noch mehr über den feindlichen Ton, von dem sich die Gräfin im Verkehr mit ihr niemals freimachen konnte. Der Graf war mehr denn je von dem üblen Stand seiner Finanzlage in Anspruch genommen, der jetzt entscheidende Maßnahmen forderte. Es blieb ihm nun nichts anderes übrig, als die beiden Häuser in und bei Moskau zu verkaufen, und zu diesem Zweck mußte er unbedingt nach Moskau fahren. Aber die Gesundheit der Gräfin zwang ihn, die Abreise von Tag zu Tag aufzuschieben.

Natascha, die zuerst die Trennung von ihrem Bräutigam leicht und fast heiter ertragen hatte, wurde nun mit jedem Tag erregter und ungeduldiger. Der Gedanke, daß sie so umsonst, keinem zuliebe noch zuleide, ihre beste Zeit verlieren mußte, in der sie ihm doch soviel Liebe hätte schenken können, quälte sie ohne Unterlaß. Über seine Briefe ärgerte sie sich größtenteils. Der Gedanke hatte für sie etwas Kränkendes, daß, während sie hier nur allein in der Erinnerung an ihn lebte, er dort ein Leben führte wie immer, neue Orte und neue Menschen kennenlernte und sich dafür auch noch zu erwärmen schien. Je angeregter seine Briefe waren, um so mehr fühlte sie sich verstimmt. Ihre eignen Briefe an ihn spendeten ihr nicht nur keinen Trost, sondern erschienen ihr wie eine langweilige, zur Heuchelei zwingende Pflicht. Sie verstand sich nicht aufs Briefeschreiben, denn sie konnte sich nicht vorstellen, wie es möglich sei, in einem Brief der Wirklichkeit entsprechend auch nur den tausendsten Teil dessen wiederzugeben, was sie sonst durch ihre Stimme, durch ihr Lächeln und durch ihre Blicke auszudrücken gewohnt war.

Sie schrieb ihm klassisch einförmige, trockene Briefe, denen sie selber keinerlei Bedeutung beilegte und bei denen ihr die Gräfin im Entwurf die Rechtschreibfehler rot anstrich.

Der Gesundheitszustand der Gräfin schien sich gar nicht bessern zu wollen, und doch war es nun nicht länger möglich, die Reise nach Moskau aufzuschieben. Die Ausstattung mußte besorgt werden und das Haus verkauft werden. Zudem erwartete man, daß Fürst Andrej zuerst in Moskau eintreffen werde, wo Fürst Nikolaj Andrejewitsch diesen Winter verbracht hatte, ja Natascha war sogar überzeugt, daß er bereits dort angekommen war.

So blieb die Gräfin auf dem Lande zurück, der Graf aber reiste mit Sonja und Natascha Ende Januar nach Moskau.

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