Fünfzehnter Teil

1

Wenn ein Mensch ein Tier sterben sieht, packt ihn Grauen: das, was er selbst ist, ein Wesen wie er, wird vor seinen Augen vernichtet und hört auf zu sein. Wenn aber das sterbende Wesen ein Mensch ist, ein geliebter Mensch, so fühlt man außer dem Grauen vor der Vernichtung des Lebens einen Riß, eine Wunde im Herzen, die ebenso wie eine physische Verletzung manchmal tödlich sein kann, manchmal auch wieder heilt, jedenfalls aber wehtut und jede Berührung mit der Außenwelt scheut, die sie wieder aufreißen könnte.

Dies fühlten nach dem Tode des Fürsten Andrej Natascha und Prinzessin Marja in gleicher Weise. Innerlich gebeugt und geblendet von der drohenden Wolke des Todes, die über ihnen schwebte, wagten sie nicht, dem Leben ins Antlitz zu schauen. Behutsam schützten sie ihre offenen Wunden vor verletzenden, schmerzlichen Berührungen. Alles: ein auf der Straße schnell vorüberfahrender Wagen, der Ruf zum Mittagessen, die Frage der Zofe, was für ein Kleid sie hinlegen solle, und, was noch schlimmer war, jedes Wort unaufrichtiger, matter Teilnahme – dies alles reizte schmerzlich ihre Wunde, erschien ihnen wie eine Kränkung, störte die nötige Stille, in der beide dem in ihrer Seele noch nicht verklungenen, furchtbaren und ernsten Chor zu lauschen versuchten, und hinderten sie, in jene geheimnisvollen, unendlichen Fernen zu schauen, die sich ihnen für einen Augenblick auf getan hatten.

Nur wenn sie beide allein waren, schmerzte und verletzte sie nichts. Sie sprachen nur wenig miteinander, und wenn sie sich unterhielten, redeten sie nur von nebensächlichen Dingen. Beide vermieden in gleicher Weise, etwas zu erwähnen, das irgendwie mit der Zukunft in Zusammenhang stand.

Anzuerkennen, daß für sie eine Zukunft überhaupt noch möglich war, schien ihnen eine Verletzung seines Gedächtnisses.

Aber noch behutsamer vermieden sie in ihren Gesprächen alles, was auf den Verstorbenen selber Bezug haben konnte. Sie hatten die Empfindung, als ob das, was sie durchlebt und durchfühlt hatten, in Worten nicht ausgedrückt werden könne. Es kam ihnen vor, als ob jedes Erinnern durch Worte an die Einzelheiten seines Lebens die Größe und Heiligkeit des Mysteriums, das sich vor ihren Augen vollzogen hatte, verletzen müsse.

Und gerade dadurch, daß sie beständig ihre Worte zurückhalten mußten und ununterbrochen bemüht waren, alles zu umgehen, was das Gespräch auf ihn hätte lenken können, gerade dadurch, daß sie in der Unterhaltung an verschiedenen Stellen immer an der Grenze dessen haltmachen mußten, was nicht ausgesprochen werden durfte, trat das, was sie fühlten, noch reiner und klarer vor ihre eigne Seele.

Doch reine, ungemischte Trauer ist ebenso unmöglich wie reine, ungemischte Freude. Prinzessin Marja wurde infolge ihrer Stellung als alleinige, unabhängige Herrin ihres Schicksals, als Vormund und Erzieherin ihres Neffen, zuerst vom Leben zurückgerufen aus jener Welt der Trauer, in der sie die ersten beiden Wochen zugebracht hatte. Sie erhielt von Verwandten Briefe, die beantwortet werden mußten; das Zimmer, wo Nikoluschka untergebracht worden war, war feucht, und er fing an zu husten; Alpatytsch kam nach Jaroslawl mit geschäftlichen Abrechnungen, schlug vor und riet, nach Moskau in das Haus an der Wosdwishenka überzusiedeln, das unversehrt geblieben war und nur geringer Wiederherstellungsarbeiten bedurfte. Das Leben machte nicht halt, und leben mußte man. Wie schwer es Prinzessin Marja auch fiel, sich aus der Welt der einsamen Betrachtungen, in der sie bisher gelebt hatte, herauszureißen, wie leid es ihr auch tat und wie sie sich fast schämte, Natascha allein zu lassen – die Sorgen des Lebens forderten ihre Teilnahme, und unwillkürlich gab sie sich ihnen hin. Sie rechnete mit Alpatytsch ab, beriet mit Dessalles über ihren Neffen und traf Anordnungen und Vorbereitungen für ihre Übersiedlung nach Moskau.

Natascha blieb allein und mied von dem Augenblick an, als sich Prinzessin Marja mit den Vorbereitungen zu ihrer Übersiedlung nach Moskau zu beschäftigen anfing, auch diese.

Prinzessin Marja machte der Gräfin den Vorschlag, Natascha mit nach Moskau fahren zu lassen, und Vater und Mutter stimmten diesem Anerbieten freudig zu, da sie bemerkt hatten wie die körperlichen Kräfte ihrer Tochter von Tag zu Tag abnahmen, so daß sie einen Ortswechsel und die Hilfe Moskauer Ärzte für nötig hielten.

»Ich reise nirgends hin«, gab Natascha zur Antwort, als man ihr diesen Vorschlag unterbreitete. »Laßt mich nur, bitte«, sagte sie und lief aus dem Zimmer, indem sie nur mit Mühe die Tränen nicht sowohl des Kummers als des Ärgers und der Erbitterung zurückhielt.

Nachdem sich Natascha von Prinzessin Marja verlassen gesehen hatte und allein in ihrem Kummer zurückgeblieben war, saß sie die meiste Zeit für sich allein in ihrem Zimmer, in einer Sofaecke zusammengekauert, zerriß oder zerknüllte etwas mit ihren feinen, nervösen Fingern und hielt den starren, unbeweglichen Blick auf irgend etwas geheftet, worauf ihr Auge gerade gefallen war. Diese Einsamkeit quälte und ermattete sie, war ihr aber doch unentbehrlich. Sobald jemand zu ihr ins Zimmer trat, stand sie jäh auf, änderte die Richtung und den Ausdruck ihres Blickes, nahm ein Buch oder eine Näherei zur Hand und wartete sichtlich mit Ungeduld darauf, daß derjenige, der sie gestört hatte, wieder gehen sollte.

Immer hatte sie das Gefühl, als müsse sie das, worauf ihr geistiges Auge mit furchtbarer, ihre Kräfte übersteigender Anstrengung fragend gerichtet war, nun gleich, gleich verstehen und durchdringen.

Ende Dezember saß Natascha einmal im schwarzen Wollkleid, den Zopf nachlässig zu einem Knoten hochgesteckt, mager und blaß in der Sofaecke zusammengekauert, spielte nervös mit den Enden ihres Gürtels und starrte nach einem Winkel der Tür.

Sie schaute dahin, wohin er gegangen war, nach dem Leben im Jenseits. Und dieses jenseitige Leben, an das sie sonst nie gedacht hatte, das ihr früher so fern, so unwahrscheinlich erschienen war, kam ihr jetzt näher, vertrauter, verständlicher vor als das diesseitige Leben, wo alles nur Öde und Zerstörung oder Kummer und Kränkung war.

Sie schaute dahin, wo, wie sie wußte, er war, aber sie konnte ihn nicht anders sehen als so, wie er hier gewesen war. Sie sah ihn wieder ebenso, wie sie ihn in Mytischtschi, in Troiza und in Jaroslawl gesehen hatte.

Sie sah sein Gesicht, hörte seine Stimme, wiederholte seine Worte und das, was sie selber zu ihm gesagt hatte, und dachte sich manchmal für sich und für ihn neue Worte aus, die sie sich gegenseitig hätten sagen können.

Da liegt er in seinem seidenen Pelz auf dem Lehnstuhl, den Kopf auf die magere weiße Hand gestützt. Seine Brust ist furchtbar eingesunken, seine Schultern sind hochgezogen. Die Lippen sind eng zusammengepreßt, seine Augen leuchten, und auf der bleichen Stirn bildet sich eine Falte und verschwindet wieder. Das eine Bein zittert kaum merklich. Natascha weiß, daß er mit einem quälenden Schmerz kämpft. Was ist dieser Schmerz? Wozu ist dieser Schmerz da? Was fühlt er? Wie tut es ihm weh? denkt Natascha. Er fühlt ihre Aufmerksamkeit, hebt die Augen auf und fängt, ohne zu lächeln, zu reden an.

»Eines ist furchtbar«, sagt er, »sich auf Lebenszeit mit einem leidenden Menschen zu verbinden. Das ist eine ewige Qual.« Und er sieht sie mit prüfenden Blicken an. Natascha antwortet wie immer, ohne sich Zeit zu lassen, ihre Antwort zu überdenken, und sagt: »Das kann doch nicht immer so bleiben, das wird es nicht. Sie werden gesund werden, ganz gesund werden.«

Jetzt sah sie das alles wieder vor sich und durchlebte noch einmal von Anfang an alles, was sie damals dabei empfunden hatte. Sie erinnerte sich an den langen, schwermütigen, ernsten Blick, den er bei diesen Worten auf sie gerichtet hatte, und begriff die Bedeutung des Vorwurfs und der Verzweiflung in diesem langen Blick.

Ich gab zu, sagte sich Natascha jetzt, daß es schrecklich wäre, wenn er immer leidend bliebe. Aber ich sagte ihm das damals nur von dem Gedanken aus, daß es für ihn schrecklich wäre, er aber hat es anders aufgefaßt. Er dachte, für mich wäre es schrecklich. Damals wollte er noch leben und fürchtete sich vor dem Tod. Und ich gab ihm eine so plumpe, so dumme Antwort. Das lag meinen Gedanken ganz fern. Ich meinte es ganz anders. Hätte ich so gesprochen, wie ich wirklich dachte, so hätte ich gesagt: Und wenn er auch sterbenskrank bliebe, ein ganzes Leben lang vor meinen Augen dahinsiechte, so wäre ich dennoch glücklicher im Vergleich mit dem, was ich jetzt bin. Jetzt … ist nichts, niemand mehr. Hat er das gewußt? Nein. Er wußte es nicht und wird es nun nie mehr erfahren. Und jetzt kann ich das nie, nie wieder gutmachen. Und noch einmal sagte er zu ihr dieselben Worte, jetzt aber gab ihm Natascha im Geist eine andere Antwort. Sie unterbrach ihn und sagte: Schrecklich für Sie, aber nicht für mich. Sie wissen, daß es ohne Sie für mich kein Leben gibt, und mit Ihnen zu leiden ist mir das höchste Glück. Und er ergriff ihre Hand und drückte sie so wie damals an jenem schrecklichen Abend, vier Tage vor seinem Tod. Und im Geist sagte sie ihm jetzt noch andere zärtliche, liebevolle Worte, die sie ihm alle damals hätte sagen können. Ich liebe dich! … Liebe … dich, dich … sagte sie, drückte krampfhaft die Hände zusammen und preßte die Zähne mit grausamer Anstrengung aufeinander.

Ein süßes Schmerzgefühl kam wieder über sie, und schon traten ihr die Tränen in die Augen, aber plötzlich fragte sie sich: Wem sage ich das? Wo ist er, und was ist er jetzt? Und ein trockener, rauher Zweifel hüllte wieder alles ein, und abermals blickte sie mit krampfhaft zusammengezogenen Brauen dorthin, wo er war. Und wieder schien es ihr, als werde sie gleich, gleich das Geheimnis durchdringen … Doch gerade in dem Augenblick, als das Unbegreifliche sich ihr zu enthüllen schien, berührte das laute Klirren der Türklinke schmerzlich ihr Ohr. Eilig und unvorsichtig trat die Zofe Dunjascha ins Zimmer mit einem so erschrockenen Gesichtsausdruck, wie man ihn sonst nicht an ihr kannte.

»Bitte zum Papa, schnell«, sagte Dunjascha mit seltsam aufgeregter Miene. »Ein Unglück … über Peter Iljitsch … ein Brief …« stieß sie schluchzend hervor.

2

Neben dem allgemeinen Gefühl der Entfremdung von allen Menschen empfand Natascha in dieser Zeit noch ein besonderes Gefühl der Entfremdung gegen die Personen ihrer eignen Familie. Alle ihre Angehörigen, Vater, Mutter, Sonja, waren ihr so nah, so gewohnt und alltäglich, daß all ihre Worte und Gefühle ihr wie eine Entweihung jener Welt vorkamen, in der sie in der letzten Zeit gelebt hatte. Sie stand ihnen nicht nur gleichgültig gegenüber, sondern betrachtete sie beinahe feindselig. Sie hörte wohl Dunjaschas Worte über Peter Iljitsch und ein Unglück, verstand aber nichts davon.

Was für ein Unglück sollte bei ihnen geschehen, was könnte das für ein Unglück sein? Bei ihnen geht ja doch alles seinen alten gewohnten, ruhigen Gang, sagte sich Natascha in Gedanken.

Als sie in den Saal trat, kam der Vater eilig aus dem Zimmer der Gräfin. Sein Gesicht war voller Falten und ganz naß von Tränen. Man sah, er war aus dem Zimmer geeilt, um dem Schluchzen, das ihm die Kehle zuschnürte, freien Lauf zu lassen. Als er Natascha erblickte, winkte er verzweifelt mit den Armen und brach in ein gequält krampfhaftes Schluchzen aus, das sein rundes, weiches Gesicht entstellte.

»Pe … Petja … geh, geh … sie … sie … ruft …« und er schluchzte auf wie ein Kind, lief mit kleinen Schritten auf seinen schwach gewordenen Beinen eilig auf einen Stuhl zu, fiel fast auf ihn nieder und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

Wie ein elektrischer Strom fuhr es plötzlich durch Nataschas ganzes Wesen. Etwas wie ein furchtbarer, betäubender Schlag traf ihr Herz. Sie fühlte einen entsetzlichen Schmerz, als sei etwas in ihr gerissen, als müsse sie sterben. Aber gleich nach diesem Schmerz fühlte sie sich frei von der Abkehr vom Leben, die wie ein Verbot auf ihr gelastet hatte. Als sie den Vater sah und durch die Tür einen furchtbaren, gellenden Schrei ihrer Mutter hörte, vergaß sie augenblicklich sich selbst und ihr eignes Leid.

Sie lief auf den Vater zu, aber er winkte ihr kraftlos ab und zeigte nach dem Zimmer der Mutter. Prinzessin Marja trat bleich und mit zitterndem Kinn aus der Tür, nahm Nataschas Hand und sagte etwas zu ihr. Natascha sah sie nicht und hörte nicht, was sie sprach. Mit schnellen Schritten ging sie ins Nebenzimmer, blieb einen Augenblick stehen, als kämpfe sie mit sich selber, und lief dann auf die Mutter zu.

Die Gräfin lag in seltsam unbequemer Stellung auf einem Sessel und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Sonja und eine Zofe hielten sie an den Armen fest.

»Ruft Natascha, Natascha!« … schrie die Gräfin. »Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr … Er lügt … Ruft Natascha!« schrie sie und stieß die um sie Herumstehenden von sich. »Geht alle fort, es ist nicht wahr! Tot! … Ha-ha-ha!… Es ist nicht wahr!«

Natascha stemmte ein Knie auf den Sessel, beugte sich über die Mutter, umfaßte sie, richtete sie mit überraschender Kraft auf, drehte ihr Gesicht zu sich hin und preßte sich an sie.

»Mamachen! … Liebste! … Hier bin ich, mein Herz. Mamachen …« flüsterte sie ihr immer wieder zu, ohne auch nur einen Augenblick innezuhalten.

Sie ließ die Mutter nicht los und kämpfte zärtlich mit ihr. Dann verlangte sie ein Kissen und Wasser, knöpfte an dem Kleid der Mutter und riß es auf.

»Mein gutes, mein liebes … mein bestes Mamachen …« hörte sie nicht auf zu flüstern, küßte ihr immer wieder den Kopf, die Hände, das Gesicht, und fühlte, wie ihre Tränen in Strömen unaufhaltsam flossen und ihr Nase und Wangen kitzelten.

Die Gräfin drückte der Tochter die Hand, schloß die Augen und war einen Augenblick still. Plötzlich sprang sie mit ungewohnter Schnelligkeit auf, sah sich irr um, und als sie Natascha erblickte, drückte sie deren Kopf mit allen Kräften zusammen. Dann wandte sie Nataschas Gesicht, das sich vor Schmerz ganz verzogen hatte, zu sich hin und blickte lange hinein.

»Natascha, du hast mich lieb«, sagte sie in leisem, vertraulichem Flüstern. »Natascha, wirst du mich auch nicht betrügen? Wirst du mir die volle Wahrheit sagen?«

Natascha sah sie an, die Augen voll Tränen, und aus ihrem Gesicht sprach nur die Bitte um Verzeihung und Liebe.

»Mein liebes, mein gutes Mamachen«, wiederholte sie und spannte alle Kräfte ihrer Liebe an, wie um das Übermaß an Schmerz, das ihre Mutter niederdrückte, auf sich zu nehmen.

Und wieder rettete sich die Mutter nach ohnmächtigem Kampf mit der Wirklichkeit in die Welt des Wahnsinns, da sich alles in ihr gegen den Gedanken sträubte, daß sie leben könne, während ihr blühender, lebensfroher Sohn tot war.

Natascha wußte später nicht, wie dieser Tag und diese Nacht und auch der folgende Tag und die folgende Nacht vergangen waren. Sie tat kein Auge zu und wich nicht von der Mutter Seite. Ihre hartnäckige, geduldige Liebe hielt die Gräfin wie von allen Seiten umsponnen, und wenn sie ihr auch keine Aufklärung und keinen Trost bringen konnte, so rief sie sie doch ins Leben zurück.

In der dritten Nacht wurde die Gräfin auf kurze Zeit etwas ruhiger, und Natascha schloß die Augen und legte den Kopf auf die Lehne des Sessels. Da knarrte das Bett, und Natascha schlug die Augen wieder auf. Die Gräfin hatte sich aufgesetzt und sprach leise vor sich hin.

»Wie freue ich mich, daß du gekommen bist. Du wirst müde sein, willst du Tee haben?« Natascha trat auf sie zu. »Hübscher bist du geworden und männlicher«, fuhr die Mutter fort und nahm die Tochter bei der Hand.

»Mamachen, was sagen Sie da! …«

»Natascha, er ist nicht mehr … ist nicht mehr.«

Und sie umarmte die Tochter und fing zum erstenmal an zu weinen.

3

Prinzessin Marja schob ihre Abreise auf. Sonja und der Graf versuchten Natascha abzulösen, brachten es aber nicht fertig. Sie sahen, daß nur die Tochter ihre Mutter von der wahnsinnigen Verzweiflung abhalten konnte. Drei Wochen lang wich Natascha nicht von der Seite der Mutter, schlief auf einem Lehnstuhl in deren Zimmer, gab ihr zu essen und zu trinken und redete ihr ununterbrochen zu, weil nur der zärtliche, schmeichelnde Klang ihrer Stimme die Gräfin beruhigen konnte.

Die Herzenswunde der Mutter konnte nicht heilen. Petjas Tod hatte die Hälfte ihres Lebens weggerissen. Vier Wochen nach dieser Nachricht, die sie als frische, rüstige Fünfzigerin getroffen hatte, trat sie als müde Greisin, die am Leben keinen Anteil mehr nimmt, aus ihrem Zimmer. Aber dieselbe Wunde, die der Gräfin fast das Leben raubte, rief Natascha zum Leben zurück.

Eine Herzenswunde, die von einem Riß im Geistigen herrührt, heilt, so seltsam dies scheinen mag, auf ganz dieselbe Weise wie eine körperliche: nachdem sie in der Tiefe vernarbt ist und die Ränder sich scheinbar geschlossen haben, heilt sie – die seelische Wunde wie auch die körperliche – allein durch die von innen hervorquellende Lebenskraft.

So heilte auch Nataschas wunde Seele. Sie hatte geglaubt, ihr Leben sei zu Ende. Aber plötzlich zeigte ihr die Liebe zur Mutter, daß der Kern des Lebens, die Liebe, doch noch in ihr war. Die Liebe erwachte, und so erwachte auch das Leben.

Die letzten Tage des Fürsten Andrej hatten ein enges Band zwischen Natascha und Prinzessin Marja geknüpft. Das neue Unglück brachte sie einander noch näher. Prinzessin Marja schob ihre Abreise auf und pflegte Natascha in den letzten drei Wochen wie ein krankes Kind. Die Tage, die Natascha im Zimmer ihrer Mutter zugebracht hatte, waren über ihre körperlichen Kräfte gegangen.

Eines Tages bemerkte Prinzessin Marja gegen Mittag, wie Natascha unter Fieberschauern zitterte. Sie führte sie in ihr Zimmer und bat sie, sich auf ihr Bett zu legen. Natascha legte sich auch hin, doch als Prinzessin Marja die Vorhänge heruntergelassen hatte und hinausgehen wollte, rief Natascha sie zu sich heran.

»Ich möchte nicht schlafen, Marie, setz dich zu mir.«

»Du bist müde, versuche nur einzuschlafen.«

»Nein, nein. Warum hast du mich hierher geführt? Sie wird rufen.«

»Es geht ihr viel besser. Sie hat heute so gut gesprochen«, entgegnete Prinzessin Marja.

Natascha lag auf dem Bett und blickte im Halbdunkel Prinzessin Marja ins Gesicht.

Ist sie ihm ähnlich? dachte sie. Ja, und auch wieder nicht. Aber sie ist anders, fremd, ganz neu und unbekannt. Und sie liebt mich. Was muß in ihrer Seele sein? Nur Gutes. Aber wie? Was mag sie denken? Was hält sie wohl von mir? Ja, sie ist ein prächtiger Mensch!

»Mascha«, sagte sie schüchtern und zog Prinzessin Marjas Hand zu sich heran, »Mascha, denke nicht, daß ich schlecht bin. Nicht wahr? Mascha, du Liebe, Gute. Wie gern ich dich habe. Wir wollen gute, gute Freunde sein.«

Und Natascha umarmte Prinzessin Marja und küßte ihr die Hände und das Gesicht. Prinzessin Marja schämte und freute sich gleichzeitig über diesen Gefühlsausbruch.

Von diesem Tag an herrschte zwischen Prinzessin Marja und Natascha jene leidenschaftliche, zärtliche Freundschaft, wie sie nur zwischen Frauen vorzukommen pflegt. Sie küßten sich unaufhörlich, sagten einander die zärtlichsten Worte und verbrachten die meiste Zeit zusammen. Sobald die eine hinausging, wurde die andere unruhig und beeilte sich, wieder mit ihr zusammenzukommen. Miteinander fühlten sie sich in größerer Übereinstimmung als jede einzelne mit sich selbst. Es bildete sich zwischen ihnen ein Gefühl heraus, das stärker war als Freundschaft, es war das Gefühl, ausschließlich in Gegenwart des anderen leben zu können.

Manchmal schwiegen sie stundenlang, manchmal fingen sie, wenn sie schon im Bett lagen, zu reden an und unterhielten sich dann bis zum Morgen. Meist sprachen sie von der fernsten Vergangenheit. Prinzessin Marja erzählte von ihrer Kindheit, von ihrer Mutter, ihrem Vater, von ihren Träumereien, und Natascha, die sich früher mit ruhigem Nichtverstehen von einem solchen Leben in Demut und Ergebenheit und von der Poesie christlicher Selbstaufopferung abgewandt hatte, lernte nun, da sie sich durch Liebe mit Prinzessin Marja verbunden fühlte, auch ihre Vergangenheit lieben und jene Seite ihres Lebens begreifen, für die sie bisher kein Verständnis gehabt hatte. Sie gedachte nicht, ihr eignes Leben so in Demut und Selbstaufopferung zu führen, weil sie gewohnt war, andere Freuden zu suchen, aber sie lernte in der anderen diese ihr früher unverständliche Tugend lieben und schätzen. Und auch für Prinzessin Marja eröffnete sich, wenn sie Nataschas Erzählungen von ihrer Kindheit und ersten Jugend lauschte, eine bisher unverstandene Seite des Lebens: der Glaube an das Leben, an die Freuden des Lebens.

Immer noch sprachen sie niemals von ihm, um, wie es ihnen schien, jene hohen Gefühle, die in ihnen waren, nicht durch Worte zu verletzen, aber dieses Schweigen hatte zur Folge, daß sie ihn nach und nach vergaßen, ohne es sich selber einzugestehen.

Natascha war blaß und mager geworden und fühlte sich körperlich so schwach, daß alle fortwährend von ihrer Gesundheit sprachen, und dies war ihr angenehm. Doch manchmal überkam sie unerwartet nicht nur die Angst vor dem Tod, sondern auch Angst vor Krankheit, Schwäche und vor dem Verlust ihrer Schönheit, und unwillkürlich musterte sie mitunter aufmerksam ihren nackten Arm und erschrak über seine Magerkeit oder betrachtete morgens im Spiegel ihr langes Gesicht, das ihr bejammernswert schien. Sie meinte zwar, das müsse wohl so sein, aber es war ihr doch schrecklich und traurig.

Einmal lief sie schnell nach oben und kam dabei völlig außer Atem. Sogleich dachte sie sich wider Willen etwas aus, was sie noch unten zu tun habe, und lief dann noch einmal nach oben, um ihre Kraft zu prüfen und sich selber zu beobachten.

Ein andermal, als sie nach Dunjascha rief, fing ihre Stimme dabei an zu zittern. Da rief sie noch einmal nach ihr, obgleich sie ihre Schritte bereits hörte, rief mit demselben Brustton, mit dem sie früher gesungen hatte, und lauschte dem Klang.

Sie wußte es nicht und hätte es nicht geglaubt, aber durch die Schlammschicht, die über ihrer Seele lagerte und ihr undurchdringlich schien, sproßten doch schon von unten her feine, zarte, junge Grasspitzen, die Wurzel fassen und mit ihren lebensfrohen Trieben bald den Kummer, der sie niederdrückte, überwuchern mußten, so daß er bald nicht mehr zu sehen und zu merken sein würde. Die Wunde verheilte von innen heraus.

Ende Januar fuhr Prinzessin Marja nach Moskau, und der Graf bestand darauf, daß Natascha mit ihr reisen sollte, um die dortigen Ärzte zu befragen.

4

Nach dem Zusammenstoß bei Wjasma, wo Kutusow seine Truppen von dem Streben, anzugreifen, abzuschneiden und so weiter, nicht hatte zurückhalten können, ging die weitere Flucht der Franzosen und die Verfolgung der Russen ohne fernere Schlachten vonstatten. Sie flohen so schnell, daß die hinterhereilende russische Armee nicht nachkommen konnte, daß die Pferde der Kavallerie und Artillerie zusammenbrachen und daß alle Nachrichten über ihre Bewegungen immer unzutreffend waren.

Die Mannschaften der russischen Armee waren durch die ununterbrochenen Märsche, meist vierzig Werst in vierundzwanzig Stunden, so erschöpft, daß sie nicht schneller vorwärts kommen konnten.

Um den Grad der Erschöpfung im russischen Heer zu verstehen, braucht man sich nur die Bedeutung der Tatsache klar vor Augen zu führen, daß die russische Armee, die hunderttausend Mann stark aus Tarutino ausgezogen war und während ihres ganzen Marsches kaum mehr als fünftausend Gefallene und Verwundete und keine hundert Gefangenen eingebüßt hatte, mit nur fünfzigtausend Mann in Krasnoje ankam.

Die Jagd der Russen hinter den Franzosen her übte auf die russische Armee dieselbe zersetzende Wirkung aus, wie die Flucht auf die Franzosen selber. Der Unterschied bestand nur darin, daß die russische Armee freiwillig vorging, ohne daß wie bei den Franzosen das Verderben drohend über ihnen schwebte, und daß die zurückbleibenden Kranken bei den Franzosen in die Hände des Feindes fielen, während die Nachzügler der Russen auf heimischem Boden blieben. Der Hauptgrund für das Zusammenschmelzen von Napoleons Armee war die Schnelligkeit ihres Marsches, wofür die entsprechende Verringerung der russischen Truppen den sichersten Beweis liefert.

Wie bei Tarutino und bei Wjasma war Kutusows ganze Tätigkeit nur darauf gerichtet, soweit es in seiner Macht stand, diesen für die Franzosen so verderblichen Marsch nicht etwa aufzuhalten – wie die Herren in Petersburg und die russischen Generäle bei der Armee es wollten –, sondern ihn zu fördern und seinen eignen Truppen das Vorgehen zu erleichtern.

Aber außer der durch die Schnelligkeit des Marsches hervorgerufenen Erschöpfung und den gewaltigen Verlusten, die sich mit der Zeit bei den Truppen herausstellten, veranlaßte noch ein anderer Grund Kutusow, die Armee langsamer vorrücken zu lassen und abzuwarten. Das Ziel der Russen war, die Franzosen zu verfolgen. Welchen Weg der Feind nahm, wußte niemand, und deshalb mußten unsere Truppen, je näher sie den Franzosen auf den Fersen waren, um so größere Strecken zurücklegen. Nur wenn man in einiger Entfernung folgte, konnte man auf dem kürzesten Weg die Bogen abschneiden, die der Feind machte. All die künstlichen Manöver, die von den Generälen vorgeschlagen wurden, bestanden in Truppenverschiebungen und Vergrößerungen der Märsche, während das einzig Vernünftige doch nur darin bestand, diese Märsche abzukürzen. Und auf dieses eine Ziel war Kutusows Tätigkeit denn auch während des ganzen Feldzugs von Moskau bis Wilna gerichtet, nicht zufällig und zeitweise, sondern so beharrlich, daß er es auch nicht ein einziges Mal aus den Augen verlor.

Nicht durch Verstand oder Wissenschaft, sondern durch sein ganzes russisches Wesen wußte und fühlte Kutusow, was jeder russische Soldat fühlte: daß die Franzosen besiegt waren, daß die Feinde flohen und daß man sie hinausgeleiten mußte. Gleichzeitig aber fühlte er auch, übereinstimmend mit den Soldaten, die ganze Schwere dieses nach Schnelligkeit und Jahreszeit unerhörten Marsches.

Den Generälen aber, insonderheit den nichtrussischen, die sich auszeichnen, jemanden in Erstaunen setzen und Gott weiß wozu irgendeinen Herzog oder König gefangen nehmen wollten – diesen Generälen schien es jetzt, wo doch jeder Kampf nicht nur scheußlich, sondern sogar sinnlos war, so recht an der Zeit, eine Schlacht zu liefern und irgend jemanden zu besiegen. Kutusow zuckte nur die Achseln, wenn sie ihm, einer nach dem anderen, ihre Aktionspläne unterbreiteten, die sie mit dieser halbverhungerten Armee in schlechten Stiefeln und ohne Pelze unternehmen wollten, die schon ohne Schlacht in einem Monat bereits auf die Hälfte zusammengeschmolzen war und mit der man selbst wenn sich die Flucht unter den günstigsten Bedingungen vollzog, bis zur Grenze noch eine größere Entfernung zurückzulegen hatte als die bisher durchmessene.

Dieses Streben, sich auszuzeichnen und zu manövrieren, zurückzuwerfen und abzuschneiden, trat ganz besonders dann hervor, wenn die russischen Truppen auf die französische Armee stießen.

Das geschah bei Krasnoje, wo man eine der drei französischen Kolonnen anzutreffen glaubte und auf Napoleon selbst mit vielen tausend Mann stieß. Trotz aller Gegenmittel, die Kutusow anwendete, um einen verderblichen Zusammenstoß zu vermeiden und seine Truppen davor zu bewahren, dauerte das Niederwerfen der aufgelösten Franzosenhaufen durch die erschöpften russischen Mannschaften dennoch drei Tage.

Toll hatte die Disposition dazu entworfen: »Die erste Kolonne marschiert« und so weiter, und wie immer kam alles anders, als es in der Disposition stand. Prinz Eugen von Württemberg schoß vom Berg aus auf die vorüberfliehenden Scharen der Franzosen und verlangte Verstärkung, die jedoch nicht eintraf. Die Franzosen umgingen die Russen in der Nacht, zerstreuten sich, versteckten sich in den Wäldern und schlugen sich, jeder so gut er konnte, nach vorwärts durch.

Miloradowitsch, der gesagt hatte, er wolle von den Haushaltsangelegenheiten seiner Abteilung nichts wissen, der nie zu finden war, wenn man ihn brauchte, der Ritter ohne Furcht und Tadel, wie er sich selber nannte, der gern mit den Franzosen unterhandelte, schickte ihnen Parlamentäre, forderte, daß sie sich ergäben, verlor Zeit und tat nicht das, was ihm befohlen war.

»Ich schenke euch diese Kolonne, Kinder«, sagte er, zu seinen Truppen hinreitend, und zeigte den Kavalleristen die Franzosen.

Und die Kavalleristen trieben ihre Pferde, die sich kaum mehr vorwärts bewegen konnten, mit Sporen und Säbeln an und ritten unter größter Anstrengung im Trab auf die geschenkte Kolonne zu, das heißt auf einen Haufen erfrorener, steif gewordener, verhungerter Franzosen, und die geschenkte Kolonne streckte die Waffen und ergab sich, was sie schon längst beabsichtigte.

Sie erbeuteten bei Krasnoje sechsundzwanzigtausend Gefangene, Hunderte von Geschützen und einen Stock, den man Marschallstab nannte, stritten sich, wer sich dabei am meisten ausgezeichnet habe, und waren stolz darauf. Sie bedauerten nur, nicht Napoleon selbst oder einen anderen Helden oder Marschall gefangen zu haben, und machten sich gegenseitig, vor allem aber auch Kutusow, darüber Vorwürfe.

Die Menschen, die sich von ihren Leidenschaften hinreißen ließen, waren nur die blinden Vollstrecker eines traurigen Gesetzes der Notwendigkeit. Aber sie hielten sich selber für Helden und bildeten sich ein, daß das, was sie taten, etwas Würdiges und Edles sei. Sie beschuldigten Kutusow und behaupteten, er habe sie von Anfang des Feldzugs an daran gehindert, Napoleon zu besiegen, sei nur auf Befriedigung seiner eignen Leidenschaften bedacht gewesen, habe nicht aus Polotnjanyje-Sawody[229] ausrücken wollen, weil er dort seine Ruhe gehabt habe, habe bei Krasnoje den Marsch aufgehalten, weil er bei der Nachricht von Napoleons Anwesenheit völlig den Kopf verloren habe, und es sei zu mutmaßen, daß er mit Napoleon im Einverständnis stehe, von ihm erkauft worden sei[*][230], und so weiter, und so weiter.

Und nicht nur die Zeitgenossen haben, von ihren Leidenschaften hingerissen, dies behauptet, auch die Nachwelt und die Geschichte haben Napoleon den Beinamen »der Große« zuerkannt, während Kutusow im Ausland als schlauer, ausschweifender, schwacher Greis und Höfling, bei den Russen als unentschlossen und unselbständig hingestellt wird, der nur durch seinen russischen Namen von Nutzen gewesen sei.

5

In den Jahren 1812 und 1813 wurde Kutusow ganz offen grober Fehler beschuldigt. Der Kaiser war unzufrieden mit ihm. In einer geschichtlichen Darstellung, die kürzlich auf allerhöchsten Befehl geschrieben worden ist, wird gesagt, Kutusow sei ein schlauer Höfling und Lügner gewesen, der Napoleons Namen gefürchtet habe und durch seine Fehler bei Krasnoje und an der Beresina die russischen Truppen des Ruhmes beraubt habe, einen völligen Sieg über die Franzosen zu erringen[*][231].

Dies ist das Schicksal nicht der großen Männer, nicht eines grandhomme, wie ihn der russische Geist nicht anerkennt, sondern das Schicksal jener seltenen, immer vereinzelt dastehenden Menschen, die den Willen der Vorsehung begreifen und ihm ihren eignen, persönlichen Willen unterordnen. Haß und Verachtung der Menge bestrafen diese Menschen für das Anerkennen höherer Gesetze.

Für die russischen Geschichtsschreiber – es ist seltsam und furchtbar, das sagen zu müssen – ist Napoleon, dieses nichtigste Werkzeug der Geschichte, der nie und nirgends, nicht einmal in der Verbannung, menschliche Würde gezeigt hat, stets ein Gegenstand des Entzückens und der Begeisterung: er ist grand. Kutusow hingegen, ein Mann, der vom Anfang seiner Tätigkeit bis zu deren Ende im Jahre 1812, von Borodino bis nach Wilna nicht ein einziges Mal, nicht durch eine einzige Handlung, nicht durch ein einziges Wort sich selber untreu wird, der ein in der Geschichte ungewöhnliches Beispiel der Selbstaufopferung und des Erkennens der Bedeutung künftiger Ereignisse aus der Gegenwart darstellt, Kutusow wird von ihnen als unschlüssiger, jämmerlicher Mensch hingestellt, und wenn sie von ihm und dem Jahr 1812 sprechen, so ist es immer, als schämten sie sich ein wenig.

Und dabei kann man sich schwer eine Gestalt in der Geschichte vorstellen, deren Tätigkeit so fest und beharrlich auf ein und dasselbe Ziel gerichtet gewesen wäre. Und auch ein Ziel kann man sich schwer vorstellen, das würdiger und dem Willen unseres ganzen Volkes entsprechender gewesen wäre. Und noch schwerer kann man ein anderes Beispiel in der Geschichte finden, wo ein Ziel, das sich eine geschichtliche Persönlichkeit gesetzt hat, so vollkommen erreicht worden wäre wie jenes, worauf Kutusows Tätigkeit im Jahre 1812 gerichtet war.

Kutusow sprach nie von vierzig Jahrhunderten, die von den Pyramiden auf ihn herabsähen, nie von den Opfern, die er dem Vaterland bringe, nie von dem, was er zu vollbringen gedenke oder schon vollbracht habe, er sprach überhaupt nie von sich selbst, spielte keinerlei Rolle, sondern zeigte sich immer als der einfachste, gewöhnlichste Mensch und sagte stets die schlichtesten, alltäglichsten Dinge. Er schrieb Briefe an seine Töchter und an Madame de Stael, las Romane, liebte die Gesellschaft schöner Frauen, machte seine Späße mit den Generälen, Offizieren und Soldaten und widersprach nie jemandem, der ihm etwas beweisen wollte. Als Graf Rastoptschin an der Jausabrücke auf Kutusow zusprengte und ihm persönlich vorwarf, er sei schuld an Moskaus Untergang, und sagte: »Sie haben doch versprochen, Moskau nicht ohne Schlacht preiszugeben?« erwiderte Kutusow: »Ich werde Moskau auch nicht ohne Schlacht hingeben«, obwohl Moskau bereits preisgegeben war. Als Araktschejew, vom Kaiser gesandt, zu ihm kam und sagte, Jermolow müsse zum Befehlshaber der Artillerie ernannt werden, antwortete Kutusow: »Ja, das habe ich soeben auch schon gesagt«, obgleich er vor einem Augenblick noch ganz anders gesprochen hatte. Was kümmerte es ihn, der damals inmitten der verständnislosen Menge, die ihn umgab, allein den gewaltigen Sinn der Ereignisse begriff, was kümmerte es ihn, ob Graf Rastoptschin ihm oder einem anderen das Unglück der Hauptstadt zuschrieb? Und noch weniger interessierte es ihn, wer zum Befehlshaber der Artillerie ernannt wurde.

Und dieser alte Mann, der durch Lebenserfahrung zu der Überzeugung gekommen war, daß nicht Gedanken und die zu ihrem Ausdruck dienenden Worte die treibenden Kräfte der Menschheit sind, sprach nicht nur in diesen Fällen, sondern immer wieder völlig wertlose Worte, die ersten besten, die ihm in den Sinn kamen.

Aber dieser selbe Mann, der so wenig auf seine Worte achtete, sagte während seiner ganzen Tätigkeit nicht ein einziges Wort, das mit dem einen Ziel, auf das er während des ganzen Krieges zuschritt, nicht im Einklang gestanden hätte. Sichtlich gegen seinen Willen und in der schweren Überzeugung, daß er nicht verstanden werde, sprach er bei den verschiedensten Gelegenheiten mehrmals seine Gedanken aus. Mit der Schlacht bei Borodino angefangen, wo die Unstimmigkeiten mit seiner Umgebung einsetzten, war er der erste, der sagte, daß die Schlacht bei Borodino ein Sieg gewesen sei, und dies wiederholte er sowohl mündlich als auch in Meldungen und Berichten bis an sein Ende. Er war der einzige, der sagte: Der Verlust Moskaus ist nicht der Verlust Rußlands. Auf Lauristons Friedensangebot erwiderte er: einen Frieden könne es nicht geben, denn dies sei der Wille des Volkes. Er war der einzige, der während des Rückzugs der Franzosen erkannte: Alle unsere Manöver sind unnötig, weil sich alles von selber viel besser macht, als wir es nur wünschen können. Wir müssen dem Feind eine goldene Brücke bauen. Weder die Schlacht bei Tarutino noch die bei Wjasma noch die bei Krasnoje war nötig, denn wir müssen doch noch Leute haben, wenn wir an die Grenze kommen, und nicht für zehn Franzosen gebe ich einen Russen.

Und er allein, dieser Höfling, wie er uns immer geschildert wird, der Araktschejew belügt, nur um dem Kaiser zu gefallen, er allein sagt in Wilna, obgleich er sich damit die Ungnade des Kaisers zuzieht, daß ein weiterer Krieg über die Grenze hinaus schädlich und zwecklos wäre.

Aber nicht nur seine Worte beweisen, daß er damals die Bedeutung der Ereignisse verstand. Alle seine Taten sind ohne die geringste Abweichung auf das eine, dreifache Ziel gerichtet: erstens, alle seine Kräfte für einen Zusammenstoß mit den Franzosen anzuspannen, zweitens, sie zu besiegen, drittens, sie aus Rußland zu vertreiben und dabei soviel wie möglich die Not des Volkes und der Truppen zu lindern.

Er, dieser Zauderer Kutusow, dessen Devise Zeit und Geduld ist, er, ein Feind entschiedenen Handelns, er liefert die Schlacht bei Borodino und bereitet sie mit geradezu beispielloser Feierlichkeit vor. Er, jener Kutusow, der bei der Schlacht von Austerlitz noch vor ihrem Beginn gesagt hat, daß sie verloren sei, behauptet bei Borodino ganz allein im Gegensatz zu allen und hält daran bis zu seinem Tode fest, daß diese Schlacht ein Sieg sei, obgleich alle Generäle versichern, sie sei verloren, und es in der ganzen Weltgeschichte noch kein Beispiel gegeben hat, daß sich Truppen nach einer gewonnenen Schlacht hätten zurückziehen müssen. Er allein besteht während des ganzen Rückzugs darauf, keine Schlacht zu liefern, die jetzt zwecklos sei, keinen neuen Krieg anzufangen und nicht über die Grenzen Rußlands hinauszugehen.

Jetzt die Bedeutung der Ereignisse zu verstehen, ist nicht schwer, da sie ja alle mit ihren Folgeerscheinungen klar vor uns liegen. Man darf nur der Tätigkeit der Massen nicht Ziele beilegen, die es nur in den Köpfen von etwa einem Dutzend Menschen gegeben hat.

Doch wie konnte damals dieser alte Mann allein gegen die Meinung aller so sicher den nationalen Sinn der Ereignisse verstehen, daß er diesem Sinn nicht ein einziges Mal während seiner Tätigkeit untreu wurde?

Die Quelle dieser ungewöhnlichen Kraft der Einsicht in die Bedeutung der sich vollziehenden Ereignisse lag in seinem nationalen Gefühl, das er in aller Kraft und Reinheit in sich trug.

Nur die Erkenntnis dieses Gefühls in ihm veranlaßte das Volk, auf so seltsame Weise den in Ungnade gefallenen Greis gegen den Willen des Zaren zum Vertreter des Volkskrieges zu wählen. Und nur dieses Gefühl hob ihn auf jene erhabene menschliche Höhe, von der aus er alle seine Kräfte als Oberkommandierender nicht darauf verwandte, Menschen zu töten und zu vernichten, sondern darauf, sie zu retten und zu schonen.

Diese einfache, bescheidene und daher wahrhaft große Persönlichkeit konnte nicht in jene verlogene Form eines europäischen Helden gebracht werden, der angeblich Menschen lenkt, in jene Form, wie die Geschichtsschreibung sie sich ausgedacht hat.

Für einen Lakaien kann es keinen wirklich großen Menschen geben, weil ein Lakai seine eigne Auffassung von Größe hat.

6

Der 5. November war der erste Tag der sogenannten Schlacht bei Krasnoje. Als nach vielen Wortgefechten und Fehlern der Generäle, die nicht am bestimmten Fleck angelangt waren, und nach langem Hin- und Herreiten der Adjutanten mit Gegenbefehlen gegen Abend klar wurde, daß der Feind überall floh und eine Schlacht nicht möglich war und gar nicht möglich sein konnte, ritt Kutusow aus Krasnoje nach Dobroje, wohin für den heutigen Tag das Hauptquartier verlegt worden war.

Es war ein klarer, kalter Tag. Kutusow mit einer gewaltigen Suite von Generälen, die mit ihm unzufrieden waren und hinter seinem Rücken tuschelten, ritt auf seinem feisten Schimmel nach Dobroje zu. Auf dem ganzen Weg drängten sich Scharen eben erst gefangener Franzosen – es waren an diesem Tag siebentausend Gefangene gemacht worden – und wärmten sich an den Wachtfeuern. Unweit von Dobroje stand ein gewaltiger Haufen solcher Gefangener, die in zerrissener Kleidung und mit verbundenen Gliedern sich in das erste beste eingemummt hatten, in lautem Gespräch auf dem Weg neben einer langen Reihe abgeprotzter französischer Geschütze. Beim Herannahen des Oberkommandierenden verstummte das Gespräch, und alle Augen richteten sich auf Kutusow, der mit seiner weißen Mütze mit rotem Rand und dem wattierten Mantel, der über seinen krummen Schultern einen Buckel bildete, langsam den Weg entlang ritt. Einer der Generäle meldete Kutusow, wo die Gefangenen und die Geschütze eingebracht worden waren.

Kutusow schien mit irgend etwas beschäftigt und hörte nicht auf die Worte des Generals. Er kniff unzufrieden das Auge zusammen und sah sich aufmerksam und scharf jene Gestalten unter den Gefangenen an, die einen besonders kläglichen Eindruck machten. Der größte Teil der Franzosen war durch erfrorene Nasen und Wangen entstellt, und fast alle hatten rote, verquollene, eiternde Augen.

Ein Trupp stand nahe am Weg, und zwei von ihnen – das Gesicht des einen war mit Beulen bedeckt – zerrissen mit den Händen ein Stück rohes Fleisch. Es lag etwas Furchtbares und Tierisches in dem flüchtigen Blick, den diese beiden Soldaten auf die Vorüberreitenden warfen, und in dem feindseligen Ausdruck, mit dem der eine mit den Beulen Kutusow ansah, sich gleich wieder abwandte und in seiner Tätigkeit fortfuhr.

Der Oberkommandierende sah diese beiden Soldaten lange aufmerksam an, machte ein noch finstereres Gesicht, kniff das Auge zusammen und wiegte nachdenklich den Kopf. An einer anderen Stelle bemerkte er einen russischen Soldaten, der lachend einen Franzosen auf die Schulter schlug und freundlich etwas zu ihm sagte. Und wieder wiegte Kutusow mit demselben Ausdruck das Haupt.

»Was sagst du?« fragte er den General, der in seiner Meldung fortfuhr und die Aufmerksamkeit des Oberkommandierenden auf die erbeuteten französischen Fahnen lenkte, die vor der Front des Preobraschenskij-Regimentes standen.

»Ah, die Fahnen«, begriff Kutusow, der sich sichtlich nur mit Mühe von dem Gegenstand losreißen konnte, der seine Gedanken beschäftigte. Zerstreut blickte er sich um. Tausende von Augen sahen ihn von allen Seiten an und warteten auf ein Wort von ihm.

Vor dem Preobraschenskij-Regiment machte er halt, seufzte schwer und schloß das Auge. Einer aus der Suite winkte mit der Hand, damit die Soldaten, die die Fahnen hielten, herantraten und diese mit den Schäften um den Oberkommandierenden aufpflanzten. Kutusow schwieg ein paar Sekunden lang. Dann hob er, sich sichtlich ungern dem Zwang seiner Stellung unterordnend, den Kopf und begann zu reden. Scharen von Offizieren umringten ihn. Aufmerksam ließ er seinen Blick über den Kreis der Offiziere schweifen und erkannte einige von ihnen.

»Ich danke euch allen«, fing er zu den Soldaten und dann wieder zu den Offizieren gewandt an, und seine langsam gesprochenen Worte waren in der Stille, die rings um ihn herrschte, deutlich vernehmbar. »Ich danke euch allen für eure schweren, treuen Dienste. Der Sieg ist vollkommen, und Rußland wird ihn euch nicht vergessen. Euch gebührt der Ruhm auf ewig.«

Er schwieg und sah sich um.

»Beuge, beuge ihm den Kopf«, sagte er dann zu einem Soldaten, der einen erbeuteten französischen Adler hielt und ihn unabsichtlich vor der Fahne der Preobraschenzen gesenkt hatte. »Tiefer, immer tiefer, so ist’s recht. Hurra, Kinder!« rief er dann mit einer schnellen Bewegung des Kinns den Soldaten zu.

»Hurra! Hurra!« tönte es aus tausend Kehlen.

Während die Soldaten schrien, sank Kutusow wieder auf seinem Sattel zusammen, neigte den Kopf, und aus seinem Auge leuchtete ein sanfter, aber scheinbar etwas spöttischer Glanz.

»Und nun hört, Kameraden …« fuhr er fort, als alle Stimmen schwiegen. Seine Stimme und sein Gesicht nahmen plötzlich einen anderen Ausdruck an: nicht mehr der Oberkommandierende sprach, sondern ein schlichter alter Mann, der seinen Kameraden jetzt etwas offenbar sehr Wichtiges mitteilen wollte.

Durch den Kreis der Offiziere und die Reihen der Soldaten lief eine Bewegung: jeder wollte ganz genau hören, was er jetzt sagen werde.

»Also hört, Kameraden. Ich weiß, daß ihr es schwer habt. Aber was sollen wir machen? Habt nur Geduld, es wird nicht mehr lange dauern. Wir wollen die Gäste hinausgeleiten, und dann werden wir Ruhe haben. Der Zar wird eure Dienste nicht vergessen. Ihr habt es schwer, aber doch seid ihr noch in eurer Heimat; sie aber – seht nur hin, wie weit es mit ihnen gekommen ist«, sagte er und wies auf die Gefangenen, »Schlimmer als die elendesten Bettler sehen sie aus. Solange sie stark waren, haben wir sie nicht geschont, jetzt aber können wir Mitleid mit ihnen haben. Auch sie sind Menschen. Ist es nicht so, Kinder?«

Er sah sich um und las aus all den starr, ehrerbietig und bewundernd auf ihn gerichteten Augen nur Zustimmung zu seinen Worten. Da wurde sein Gesicht immer heller und heller, und ein greisenhaftes, mildes Lächeln spielte um die sternförmig gerunzelten Winkel seines Mundes und seiner Augen. Er schwieg und senkte wie im Zweifel den Kopf.

»Aber auch das darf man nicht vergessen: wer hat sie zu uns hergerufen? Nun kriegen sie ihr Teil, diese …« – und er gebrauchte ein recht saftiges Schimpfwort und warf den Kopf zurück.

Dann schwenkte er die Peitsche und ritt zum erstenmal im ganzen Feldzug im Galopp von den lustig lachenden und hurra brüllenden Soldaten weg, die nun aus den Reihen traten.

Die Worte, die Kutusow gesprochen hatte, waren kaum von den Truppen verstanden worden. Keiner hätte den Inhalt dieser anfänglich feierlichen und gegen Ende schlicht väterlichen Rede des Feldmarschalls wiedergeben können. Doch der herzliche Sinn seiner Worte war nicht nur verstanden worden, sondern dasselbe Gefühl erhabener Feierlichkeit im Verein mit Erbarmen für die Feinde und mit dem Bewußtsein eignen Rechtes, das gerade durch dieses sein altmodisches, gutmütiges Schimpfwort zum Ausdruck gekommen war – dieses selbe Gefühl schlummerte in der Seele jedes Soldaten und kam nun durch dieses frohe, lang nicht verstummende Hurrageschrei zum Ausdruck. Als sich kurz darauf einer der Generäle an Kutusow wandte mit der Frage, ob er nicht den Wagen wünsche, brach Kutusow, als er gerade antworten wollte, unerwartet in Schluchzen aus: er befand sich sichtlich in starker Erregung.

7

Als am 8. November, dem letzten Tag der Schlacht bei Krasnoje, die Truppen an den Ort ihres Nachtlagers kamen, begann es bereits dunkel zu werden. Den ganzen Tag hatte ein stiller, kalter Frost geherrscht mit leichtem, spärlichem Schneefall, aber gegen Abend schien es sich aufklären zu wollen. Durch das Schneegestöber hindurch wurde der dunkelblaue Sternenhimmel sichtbar, und die Kälte nahm zu.

Ein Musketierregiment, das dreitausend Mann stark aus Tarutino ausgezogen war, rückte jetzt mit neunhundert Mann als eines der ersten in den für das Nachtquartier bestimmten Ort, ein Dorf an der großen Heerstraße, ein. Die Quartiermacher, die dem Regiment entgegenkamen, berichteten, alle Hütten seien besetzt von kranken und toten Franzosen, von Kavalleristen und Stabsoffizieren. Nur ein einziges Haus für den Regimentskommandeur sei frei.

Der Kommandeur ritt auf diese Hütte zu. Das Regiment zog durch das Dorf und stellte beim letzten Haus die Gewehre am Weg zusammen.

Wie ein riesiges Tier mit unendlich vielen Gliedern machte sich das Regiment daran, sein Nachtlager und Abendbrot herzurichten. Ein Teil der Soldaten hatte sich, bis an die Knie im Schnee watend, in das rechts vom Dorf liegende Birkenwäldchen zerstreut, und sogleich hörte man vom Wald her die dumpfen Schläge der Äxte und Seitengewehre, das Krachen der abbrechenden Äste und lustige Stimmen. Ein anderer Teil drängte sich um das Zentrum der Regimentswagen und Pferde, die einen dichten Knäuel bildeten, holte Kessel und Zwieback herbei und fütterte die Pferde. Ein dritter Teil hatte sich im Dorf zerstreut, richtete Quartiere für die Stabsoffiziere her, trug die Leichen der Franzosen, die in den Hütten lagen, hinaus und schleppte Bretter, trockenes Holz und Stroh von den Dächern für Wachtfeuer und Zäune zur Einfriedung weg.

Etwa fünfzehn Mann rüttelten am Ende des Dorfes, wo keine Hütten mehr standen, mit lustigem Geschrei an der hohen Wand einer Scheune, von der sie bereits das Dach abgenommen hatten.

»Na los, alle zusammen dagegenstemmen!« riefen die Stimmen, und das riesige, schneebedeckte Flechtwerk der Wand schwankte mit frostigem Knistern im Dunkel der Nacht. Immer öfter krachten die unteren Balken, und endlich stürzte das ganze Flechtwerk samt den Soldaten, die sich dagegengestemmt hatten, zu Boden. Ein lautes, derbes Freudengeschrei und Gelächter ertönte.

»Zu zweien anfassen! Einen Hebebaum her! So müßt ihr’s machen. Wohin kriechst denn du?«

»Los, alle zusammen … Aber wartet doch, Kinder! … Wir wollen eins singen.«

Alle schwiegen, und ein gedämpfter, sammetweicher, angenehmer Tenor stimmte ein Lied an. Am Ende der dritten Strophe, als der letzte Ton im Verklingen war, schrien zwanzig Stimmen gleichzeitig auf: »Nuuu! Es geht! Alle zusammen! Faßt zu, Kinder!…« Doch trotz der gemeinsamen Anstrengung rührte sich die Wand nur wenig vom Fleck, und durch das nun eintretende Stillschweigen hörte man schweres Keuchen.

»He, ihr von der sechsten Kompanie! Ihr Sapperlotskerle! Kommt mal her und faßt an! … Wir helfen euch auch mal wieder.«

Etwa zwanzig Mann von der sechsten Kompanie, die auch nach dem Dorf gegangen waren, gesellten sich zu den Trägern, und die etwa zehn Meter lange und zwei Meter breite Wand bog sich und bewegte sich auf der Dorfstraße vorwärts, wobei sie schwer und einschneidend auf den Schultern der keuchenden Soldaten lastete.

»So lauf doch … Fall bloß nicht in den Dreck … Was bleibst du denn stehen … daß dich …«

Lustige, unflätige Schimpfworte flogen ununterbrochen hin und her.

»Was fällt euch denn ein?« erscholl plötzlich die Stimme eines Soldaten, der ein Vorgesetzter zu sein schien und den Trägern entgegenkam.

»Die Herren sind hier, der General selber ist drinnen im Haus, und ihr verfluchten Kerle schreit und schimpft hier herum. Ich werde euch lehren!« schrie der Feldwebel, holte mit der Hand aus und knuffte den ersten Soldaten, der ihm in den Weg kam, in den Rücken. »Könnt ihr das etwa nicht ruhig abmachen?«

Die Leute schwiegen. Der Soldat, den der Feldwebel geknufft hatte, wischte sich keuchend das Gesicht ab, das bei dem Puff gegen die Wand einen blutigen Riß bekommen hatte.

»Dieser Schweinehund, gleich haut er so zu! Einem die ganze Fresse blutig schlagen!« brummte der Soldat scheu und leise, als der Feldwebel fortgegangen war.

»Da bist du wohl kein Freund von?« meinte eine Stimme spottend, und mit gedämpften Stimmen gingen die Soldaten weiter.

Als sie aber das Dorf hinter sich hatten, begannen sie wieder ebenso laut zu schreien und pfefferten ihre Reden mit denselben unnötigen Schimpfworten.

In der Hütte, an der sie vorbeigegangen waren, hatten sich die höheren Offiziere versammelt, und beim Tee entspann sich eine lebhafte Unterhaltung über den vergangenen Tag und die für den nächsten Morgen geplanten Manöver. Es war ein Flankenmarsch von links in Aussicht genommen, wobei der Vizekönig abgeschnitten und gefangen werden sollte.

Als die Soldaten die Wand angeschleppt brachten, brannten schon auf verschiedenen Seiten die Küchenfeuer. Das Holz knisterte, der Schnee schmolz, und die schwarzen Schatten der Musketiere huschten hierhin und dorthin über den ganzen vom Lager eingenommenen Raum, wo der Schnee bereits niedergetreten war.

Überall arbeiteten Beile und Seitengewehre. Alles geschah ohne Befehl. Holz wurde herbeigeschleppt für die Nacht, man baute Reisighütten für die Offiziere, die Kessel brodelten, Gewehre und Munition wurden nachgesehen.

Die von der achten Kompanie herbeigeschleppte Wand wurde auf der Nordseite im Halbkreis aufgestellt, mit Pfählen gestützt und davor ein Feuer angezündet. Der Zapfenstreich wurde gespielt, die Soldaten gezählt, dann aßen sie ihr Abendbrot und machten es sich für die Nacht an den Feuern bequem. Die einen brachten ihre Schuhe in Ordnung, die anderen rauchten ihre Pfeife und andere wieder entkleideten sich und räucherten ihre Läuse aus.

8

Man hätte meinen sollen, daß unter jenen beinahe undenkbar schweren Daseinsbedingungen, in denen sich die russischen Soldaten damals befanden: ohne festes Schuhzeug, ohne Pelze, ohne Dach über dem Kopf, im Schnee bei achtzehn Grad Kälte, sogar ohne vollen Proviant, der dem Heer nicht immer so schnell folgen konnte – man hätte meinen sollen, daß die Soldaten das traurigste, kläglichste Schauspiel dargeboten hätten.

Aber im Gegenteil, niemals, auch nicht unter den besten äußeren Bedingungen, hatte das Heer ein lustigeres, lebhafteres Bild geboten. Und das kam daher, weil die Armee jeden Tag das, was schwach und elend wurde, ausschied. Alles, was sich körperlich und geistig nicht stark genug gezeigt hatte, war schon lange zurückgeblieben, und was jetzt noch übrig war, waren die körperlich und geistig Tüchtigen, die Blüte der Armee.

Bei der achten Kompanie, die sich die Wand herbeigeschleppt hatte, waren besonders viele Soldaten versammelt. Auch zwei Feldwebel hatten sich zu ihnen gesellt. Ihr Wachtfeuer flammte heller als das der anderen, denn für das Recht, hinter ihrer Wand zu sitzen, verlangten sie, daß man ihnen Brennholz lieferte.

»He, Makjejew, was machst du denn? Bist wohl verlorengegangen, oder haben dich die Wölfe gefressen? Bring doch Holz her«, schrie ein Soldat mit rotem Gesicht und rotem Haar, der wegen des Rauches die Augen zusammenkniff und blinzelte, aber trotzdem nicht vom Feuer wegging. »So lauf du doch mal hin, du Krähe, und hole Holz«, wandte er sich an einen anderen.

Der Rote war kein Unteroffizier und auch kein Gefreiter, aber ein robuster Soldat, und befahl deshalb denen, die schwächer waren als er. Der magere kleine Musketier mit der spitzen Nase, den sie Krähe nannten, stand gehorsam auf und wollte eben gehen und den Befehl ausführen, aber in diesem Augenblick trat die schlanke, hübsche Gestalt eines jungen Soldaten, der eine Last Holz herbeischleppte, in den Lichtkreis des Feuers.

»Her damit! Das ist fein!«

Das Holz wurde gebrochen, obenauf gelegt, dann bliesen sie mit dem Mund ins Feuer und fachten es mit den Mantelschößen an. Die Flamme zischte und knisterte. Die Soldaten rückten näher und steckten ihre Pfeifen in Brand. Der hübsche junge Soldat, der das Holz herbeigeschleppt hatte, stemmte die Hände in die Seiten und fing an, mit seinen erfrorenen Beinen schnell und gewandt am Ort herumzustampfen.

Ach, Mütterchen, im Tau ich frier,

Aber schön ist’s doch als Musketier …

sang er und schien gleichsam bei jeder Silbe des Liedes zu schlucken.

»He, du! Deine Sohlen fliegen auf und davon!« rief der Rote, der bemerkt hatte, daß sich bei dem Tänzer die eine Sohle löste. »Tanzen ist Gift für die Stiefel.«

Der Tänzer hielt inne, riß die flatternde Sohle ab und warf sie ins Feuer.

»Stimmt, Bruder«, sagte er, setzte sich hin, zog aus seinem Tornister einen Fetzen blaues Franzosentuch und fing an, die Füße damit einzuwickeln. »Sie sind mir von der Glut abgegangen«, fügte er hinzu und steckte seine Beine nach dem Feuer hin.

»Wir werden bald neue kriegen. Sie sagen, wenn wir sie alle ganz und gar geschlagen haben, bekommt jeder zwei Paar.«

»Siehst du, der Petrow, dieser Hundesohn, ist nun auch zurückgeblieben«, erzählte der eine Feldwebel dem andern.

»Das habe ich schon lange gemerkt«, erwiderte der andere.

»Was willst du, so ein elendes Kerlchen …«

»Und bei der dritten Kompanie, heißt es, haben gestern neun Mann beim Zählen gefehlt.«

»Na, das mußt du doch auch sagen, wenn du die Füße erfroren hast, kannst du da etwa noch mit?«

»Ach was, faule Ausreden!« spottete der Feldwebel.

»Das könnte dir wohl auch so passen«, sagte ein alter Soldat vorwurfsvoll zu dem, der von erfrorenen Füßen gesprochen hatte.

»Was bildest du dir denn ein?« fing plötzlich der kleine Soldat mit der spitzen Nase, den sie die Krähe nannten, mit kläglicher, zitternder Stimme an und richtete sich hinter dem Wachtfeuer auf. »Ja, wer dick und rund ist, der wird bloß mager, wer aber schon mager ist, der geht drauf. Da sieh mich an. Ich kann nicht mehr«, sagte er plötzlich in entschiedenem Ton zum Feldwebel. »Laß mich ins Lazarett schaffen, ich habe das Reißen im ganzen Körper, ich bleibe ja doch nur zurück …!«

»Na, wird schon wieder besser werden, wird schon wieder besser werden«, sagte der Feldwebel ruhig.

Der kleine Soldat schwieg, und das Gespräch ging weiter.

»Heute hat man doch genug Franzosen gefangengenommen, aber ordentliches Schuhwerk, das muß man sagen, hatte kein einziger an. Das waren nur dem Namen nach Stiefel«, schnitt ein anderer Soldat ein neues Thema an.

»Die haben ihnen die Kosaken alle vom Leib gezogen. Für unsern Oberst haben sie vorhin eine Hütte geräumt und die Franzosenleichen alle hinausgetragen. Es war ein Jammer, Kinder, das mit anzusehen«, sagte der Tänzer. »Sie haben sie glatt ausgeplündert, und der eine, der lebte noch, glaubt mir, und murmelte etwas in seiner Sprache.«

»Aber ein sauberes Volk ist es«, meinte der erste. »Weiß wie die Birken, und tapfer sind sie auch, das mußt du doch sagen, und anständige Leute.«

»Ja, was denkst du wohl? Bei denen werden sie auch aus allen Ständen zum Militär eingezogen.«

»Aber von unserer Sprache verstehen sie rein gar nichts«, sagte der Tänzer wieder und lächelte verwundert. »Ich frage da einen: Was für ein Landsmann bist du? und er murmelt etwas in seiner Sprache. Ein wunderliches Volk!«

»Und das ist doch sonderbar, Kameraden«, fuhr der, der sich über die weiße Haut gewundert hatte, fort, »da haben die Bauern bei Moshaisk erzählt, als sie anfingen, die Toten einzuscharren, dort, wo die Schlacht gewesen ist, weißt du, was die gesagt haben? Denke dir, vier Wochen lang mochten die Leichen wohl schon dort gelegen haben. Und was haben die Bauern gesagt? Die Toten von denen, haben sie gesagt, liegen da wie ein Stück weißes Papier, so sauber, und stinken nicht ein bißchen.«

»Aber wie kommt das? Wohl von der Kälte?« fragte einer.

»Bist du aber gescheit! Von der Kälte! Es war doch heiß damals! Wenn’s von der Kälte käme, würden unsere Leute doch auch nicht verwest sein. Wenn sie aber zu einem von uns gekommen sind, haben sie gesagt, so ist er ganz verfault und voller Würmer gewesen. Tücher haben wir um sie geschlagen und das Gesicht abgedreht, und sie dann weggezogen: kaum, daß wir es fertig gebracht haben. Denen ihre Leichen aber, haben sie gesagt, waren so weiß wie Papier und haben nicht ein bißchen gestunken.«

Alle schwiegen.

»Das muß vom Essen kommen«, sagte der Feldwebel. »Die fressen wie die feinen Herren.«

Keiner erwiderte etwas.

»Und dann haben die Bauern bei Moshaisk, wo die Schlacht gewesen ist, noch erzählt, aus zehn Dörfern habe man sie zusammengetrieben und zwanzig Tage lang hätten sie fahren müssen und sie doch nicht alle fortgebracht, die Leichen. Und dann diese Wölfe, haben sie gesagt …«

»Ja, das war eben eine richtige Schlacht«, meinte der alte Soldat. »Das ist etwas, das im Gedächtnis bleibt. Aber alles, was dann kam … war nur eine Schinderei fürs Volk.«

»Denke dir, Onkelchen, vorgestern sind wir hinter ihnen hergelaufen. Und was meinst du, gar nicht erst heran haben sie uns gelassen. Gleich haben sie die Gewehre von sich geworfen. Und dann auf die Knie. ›Pardon, Pardon‹, haben sie immer geschrien. Das ist nur so ein Beispiel. Platow, so sagen sie, soll sogar den Poleon selber schon zweimal gefangen haben. Aber er weiß nur das Zauberwort nicht. Er fängt ihn, fängt ihn und hat ihn in der Hand – der aber fliegt plötzlich als Vogel davon, auf und davon. Und nicht imstande ist er, ihn totzuschlagen.«

»Im Fabulieren bist du groß, Kiselew, ich seh dich nur immer an.«

»Wieso denn im Fabulieren? Das ist doch die reine Wahrheit.«

»Ich hielte das so: wenn ich den gefangen hätte, würde ich ihn zuerst lebendig begraben. Und dann an den Galgen mit ihm. Was hat der für Menschen zugrunde gerichtet!«

»Wir werden ihm schon den Garaus machen, er wird nicht davonkommen«, brummte der alte Soldat gähnend.

Die Unterhaltung verstummte. Die Soldaten fingen an, sich hinzulegen.

»Sieh nur die Sterne, so eine Masse! Die Weiber haben die Leinwand ausgehängt, wie man so sagt«, meinte einer, die Milchstraße bewundernd.

»Das deutet auf ein fruchtbares Jahr, Kinder.«

»Wir müssen noch mehr Holz holen.«

»Der Rücken sengt an, und der Bauch friert ein. Merkwürdig.«

»Mein Gott!«

»Was knuffst du denn so? Ist das Feuer vielleicht nur für dich da? Seht nur, wie breit der sich hingeschmissen hat!«

Durch die Stille, die nun eintrat, hörte man das Schnarchen einiger, die schon eingeschlafen waren. Die anderen drehten, wendeten und wärmten sich und sprachen nur wenig miteinander. Von einem anderen, etwa hundert Schritte entfernten Wachtfeuer drang gemeinsames, lustiges Lachen herüber.

»Was für einen Krach die von der fünften Kompanie machen«, sagte einer. »Und was für eine Unmenge Leute dort sind!«

Einer stand auf und ging zur fünften Kompanie hin.

»Da geht’s aber fidel her«, sagte er, als er zurückkam. »Da haben sich zwei Franzosen mit herangemacht. Der eine ist ganz erfroren und der andere ein verwegener Bursche, ein Sappermentskerl. Der spielt und singt wie der Teufel.«

»Oh, das muß ich mir mal ansehen …«

Und ein paar Soldaten liefen zur fünften Kompanie hinüber.

9

Die fünfte Kompanie lag dicht am Waldrand. Ihr gewaltiges Lagerfeuer leuchtete mitten im Schnee und warf sein Licht auf die vom Reif niedergebeugten Äste und Bäume.

Da plötzlich um Mitternacht vernahmen die Soldaten der fünften Kompanie vom Wald her Schritte und das Knacken der Zweige.

»Kinder, ein Bär!« rief ein Soldat.

Alle hoben den Kopf und lauschten. Grell vom Schein des Feuers beleuchtet, traten aus dem Wald zwei wunderlich bekleidete menschliche Gestalten, die einander festhielten.

Es waren zwei Franzosen, die sich im Wald verborgen gehalten hatten. Mit heiserer Stimme sagten sie etwas in ihrer Sprache, was die Soldaten nicht verstanden, und traten auf das Feuer zu. Der eine, der größer war und eine Offiziersmütze trug, schien völlig erschöpft zu sein. Nachdem er ans Feuer getreten war, wollte er sich hinsetzen, fiel aber zu Boden. Der andere, ein kleiner, stämmiger Soldat mit einem Tuch um den Kopf, war kräftiger. Er hob seinen Kameraden auf und sagte etwas, indem er auf seinen Mund zeigte. Die Musketiere umringten die Franzosen, schoben dem Kranken einen Mantel unter und brachten beiden Grütze und Schnaps.

Der erschöpfte französische Offizier war Remballe und der Soldat mit dem Tuch um den Kopf sein Bursche Morel.

Nachdem Morel den Schnaps getrunken und den Kessel mit Grütze ausgegessen hatte, wurde er plötzlich krampfhaft lustig und fing an, ununterbrochen auf die Soldaten einzureden, die ihn jedoch nicht verstanden. Remballe wies das Essen zurück, lag schweigend auf seinen Ellbogen gestützt am Feuer und sah die russischen Soldaten mit verständnislosen, roten Augen an. Dann und wann stieß er ein langgezogenes Stöhnen aus und war dann wieder still. Morel zeigte auf Remballes Achseln, um den Russen klarzumachen, daß dieser Offizier sei und Wärme brauche.

Ein russischer Offizier, der an das Feuer herangetreten war, schickte zu dem Obersten und ließ fragen, ob er einen französischen Offizier in seine Hütte aufnehmen wolle, damit sich dieser erwärmen könne. Der Soldat kehrte zurück und meldete, der Oberst habe befohlen, den Offizier zu ihm zu bringen, und man bedeutete Remballe, daß er hingehen solle. Er stand auf und wollte gehen, schwankte aber und wäre umgesunken, wenn ihn nicht ein Soldat, der neben ihm stand, gehalten hätte.

»Na? Du wirst’s wohl nicht mehr lange machen?« meinte einer mit spöttischem Augenzwinkern zu Remballe.

»Ach, du Dummkopf! Was redest du da für ungereimtes Zeug! Wie ein Bauer, wirklich, der richtige Bauer«, hörte man von verschiedenen Seiten Vorwürfe gegen den Soldaten, der sich den Spott herausgenommen hatte.

Sie umringten Remballe, zwei von ihnen legten die Arme zusammen, ließen ihn aufsitzen und trugen ihn so zur Hütte. Remballe legte den Soldaten die Arme um den Hals und sagte kläglich, während sie ihn hintrugen: »Oh mes braves, oh mes bons, mes bons amis! Voilà des hommes! oh mes braves, mes bons amis!« und lehnte wie ein Kind seinen Kopf an die Schulter des einen Soldaten.

Inzwischen saß Morel, von den Soldaten umringt, am besten Platz am Feuer.

Morel, der kleine, stämmige Franzose mit den entzündeten, tränenden Augen, hatte einen alten Weiberpelz an und über seine Uniformmütze ein Tuch gebunden wie ein Frauenzimmer. Offenbar hatte er zu viel getrunken, umhalste den Soldaten, der neben ihm saß, und sang mit heiserer, abgerissener Stimme ein französisches Lied. Die Soldaten hielten sich die Seiten vor Lachen, wenn sie ihn ansahen.

»Hör mal, das mußt du mich lehren, nicht wahr? Ich lerne schnell. Nun, wie fängt’s an?« sagte der singlustige Spaßvogel, den Morel umarmt hielt.

Vive Henri quatre,

Vive ce roi vaillant,

Ce diable à quatre …

sang Morel und zwinkerte mit einem Auge.

»Wiwarikà! Wif seruwary! Sidjablakà …« wiederholte der Soldat gestikulierend und hatte wirklich die Melodie erfaßt.

»Wirklich, der kann’s! Ha-ha-ha-ha-ha!« Von allen Seiten ertönte rauhes, lustiges Gelächter.

Morel zog ein schiefes Gesicht, lachte aber ebenfalls.

»Jetzt weiter, weiter!«

Qui eut le triple talent:

De boire, de battre

Et d’être un vert galant …

»Das war aber fein. Nun du, Saletajew!«

»Kü…« wiederholte Saletajew mühsam. »Kü-ü-ü …« brachte er gedehnt heraus und zog emsig die Lippen breit, »letriptala de bu de ba detrawagala«, sang er nach.

»Famos! Der reine Franzose! Ha-ha-ha! Na und du, willst du noch essen?«

»Gib ihm nur noch Grütze. Bei dem Hunger ist der noch lange nicht satt.«

Wieder gaben sie Morel Grütze, und dieser machte sich lachend über den dritten Kessel her. Auf den Gesichtern der jungen Soldaten, die Morel zusahen, lag ein vergnügtes Lächeln. Die älteren, die es für unpassend hielten, sich mit solchen Narrenspossen abzugeben, lagen auf der anderen Seite des Feuers, schielten aber doch ab und zu, auf ihre Ellbogen gestützt, zu Morel hinüber.

»Sie sind doch auch Menschen«, sagte der eine von ihnen und hüllte sich in seinen Mantel. »Auch der Wermut wächst aus einer Wurzel heraus.«

»O Gott, o Gott! Was für eine Unmenge Sterne! Wir kriegen Kälte …«

Dann wurde alles still.

Am schwarzen Himmel trieben die Sterne ihr Spiel, als wüßten sie, daß sie jetzt niemand beobachtete. Bald aufblitzend, bald verlöschend, bald zitternd flüsterten sie einander geschäftig etwas Frohes, aber Geheimnisvolles zu.

10

Das französische Heer schmolz in mathematisch regelmäßiger Progression dahin. Und jener Übergang über die Beresina, über den so viel geschrieben worden ist, war bei der Vernichtung der französischen Truppen nur eine der Zwischenstufen, durchaus nicht der entscheidende Augenblick des Feldzugs. Wenn über die Beresina so viel geschrieben wurde und noch geschrieben wird, so kommt das bei den Franzosen nur daher, weil sich hier auf der einstürzenden Brücke der Beresina alle Not der französischen Truppen, die sie sonst gleichmäßig verteilt erduldet hatten, plötzlich auf einen einzigen Augenblick und zu einem tragischen Schauspiel zusammendrängte, das allen im Gedächtnis blieb. Bei den Russen aber wird nur deshalb so viel über die Beresina gesprochen und geschrieben, weil fern vom Kriegsschauplatz, in Petersburg, von Pfuel ein Plan ausgeheckt worden war, Napoleon an der Beresina eine strategische Falle zu stellen. Alle waren davon überzeugt, daß sich in Wirklichkeit alles so abgespielt habe, wie es im Plan vorgesehen war, und deshalb behauptete man steif und fest, daß nur der Übergang über die Beresina die Franzosen zugrunde gerichtet habe. In Wirklichkeit aber waren die Folgen des Übergangs über die Beresina für die Franzosen, was die Verluste an Geschützen und Gefangenen anbetrifft, weit weniger verderblich als die der Schlacht bei Krasnoje, wie die Zahlen beweisen.

Die einzige Bedeutung des Übergangs über die Beresina besteht darin, daß er offenkundig und sicher bewies, wie falsch alle Abschneidungspläne waren, und wie richtig und einzig möglich das von Kutusow und sämtlichen Truppen – von der Masse – geforderte Vorgehen blieb: nämlich den Feind nur zu verfolgen. Die Masse der Franzosen floh mit ständig wachsender Schnelligkeit und hatte alle Energie nur auf dieses Ziel gerichtet. Sie lief davon wie ein verwundetes Tier und konnte auf ihrem Weg gar nicht mehr haltmachen. Das bewiesen nicht nur alle Anordnungen zum Übergang, sondern auch der Marsch über die Brücken selbst. Die Soldaten ohne Waffen, die Einwohner Moskaus, Frauen und Kinder, die sich im Zug der Franzosen befunden hatten, sie alle ergaben sich nicht etwa, als die Brücken eingestürzt waren, sondern stürmten unter dem Einfluß der Macht des Beharrungsvermögens vorwärts in die Kähne und in den eiskalten Fluß.

Dieses Drängen war nicht unvernünftig. Die Lage war für die Verfolger wie für die Fliehenden gleich schlecht. Blieb man bei den Seinen, so konnte man in der Not auf die Unterstützung eines Kameraden rechnen, auf einen bestimmten Platz, den man zwischen den Gefährten einnahm. Ergab man sich aber den Russen, so blieb man in derselben Notlage und geriet beim Verteilen der Lebensnotwendigkeiten dadurch nur noch eine Stufe tiefer. Die Franzosen brauchten gar keine sichere Kunde zu haben, daß die Hälfte der Gefangenen, mit denen man nichts anzufangen wußte, trotz aller Bestrebungen der Russen, sie zu retten, vor Hunger und Kälte umkamen, sie fühlten, daß dies gar nicht anders sein konnte. Selbst die mitleidigsten russischen Offiziere, Franzosenfreunde und Franzosen in russischen Diensten konnten nichts für die Gefangenen tun. Sie gingen zugrunde an der Not, in der sich die russischen Truppen selber befanden. Man konnte den hungernden eignen Soldaten, die man so nötig brauchte, doch nicht Brot und Kleidung wegnehmen und sie den Franzosen geben, die zwar keinen Schaden mehr anrichteten und nicht gehaßt, nicht schuldig, aber einfach überflüssig waren. Einige taten dies sogar, doch das waren nur Ausnahmen.

Hinter ihnen drohte der sichere Untergang, vor ihnen lag die Hoffnung. Die Schiffe waren verbrannt, es gab keine andere Rettung als die gemeinsame Flucht, und auf diese waren nun alle Kräfte der Franzosen gerichtet.

Je weiter die Feinde flohen, je kümmerlicher ihre Reste wurden, und vor allem nach dem Übergang über die Beresina, auf den man, dem Petersburger Plan zufolge, ganz besondere Hoffnungen gesetzt hatte, um so heftiger wurden die Leidenschaften der russischen Heerführer entfacht, so daß sie einander und vor allem Kutusow beschuldigten. Man nahm an, daß der Fehlschlag des Petersburger Planes an der Beresina auf ihn zurückzuführen sei, und Unzufriedenheit, Geringschätzung und Spott ihm gegenüber traten immer mehr zutage. Natürlich kam dies alles nur in so ehrerbietiger Form zum Ausdruck, daß es Kutusow unmöglich war, auch nur danach zu fragen, wessen man ihn beschuldigte und weshalb. Man verhandelte gar nicht mehr ernsthaft mit ihm, sondern legte nur seine Meldungen ab und fragte nach seiner Entscheidung mit einer Miene, als erfülle man eine bedauerliche Zeremonie, hinter seinem Rücken jedoch zwinkerte man sich zu und suchte ihn auf Schritt und Tritt zu betrügen.

Für alle diese Leute war es – gerade weil sie ihn nicht verstehen konnten – eine anerkannte Tatsache, daß mit dem Alten nicht zu reden sei, daß er nie einen ihrer tiefsinnigen Pläne verstehen und immer nur mit seinen Phrasen – sie hielten es nur für Phrasen – von der goldenen Brücke und daß man die Grenze nicht mit einem Haufen Vagabunden überschreiten dürfe, antworten werde. Dies hatten sie schon soundso oft von ihm gehört. Und alles, was er ihnen sagte: zum Beispiel, daß man auf Proviant warten müsse, daß die Mannschaften keine Schuhe hätten und so weiter – dies alles war so einfach und natürlich, während alles, was sie vorschlugen, so kunstvoll und weise war, daß es für sie keinem Zweifel unterlag, daß er alt und dumm, sie aber die genialen Heerführer waren, in deren Hand nur die Macht nicht lag.

Diese Stimmung und der Klatsch im Stabe erreichten ihren höchsten Grad, als die Armee Wittgensteins, dieses glänzenden Admirals und Helden von Petersburg, zum Heer gestoßen war. Kutusow bemerkte dies und zuckte nur seufzend die Schultern. Nur einmal, nach dem Übergang über die Beresina, geriet er in Zorn und schrieb an Bennigsen, der dem Kaiser einen Sonderbericht geschickt hatte, folgenden Brief: »Ihrer Krankheitsanfälle halber wollen Eure Exzellenz nach Eingang dieses Schreibens sich nach Kaluga begeben und dort die weiteren Befehle und Verfügungen Seiner Kaiserlichen Majestät abwarten.«

Aber sogleich nach Bennigsens Verschickung kam der Großfürst Konstantin Pawlowitsch[232] zur Armee, der anfänglich am Feldzug teilgenommen hatte und dann von Kutusow entfernt worden war. Bei seiner Ankunft teilte er Kutusow mit, daß der Kaiser mit den geringen Erfolgen unserer Truppen und ihrem langsamen Vorwärtskommen unzufrieden sei und in diesen Tagen selber bei der Armee einzutreffen beabsichtige.

Der alte Oberkommandierende, der in Hofdingen ebenso erfahren war wie im Krieg, jener Kutusow, der im August desselben Jahres gegen den Willen des Kaisers an die Spitze des gesamten Heeres gestellt worden war, der den Großfürsten und Thronfolger aus der Armee entfernt und auf Grund seiner Macht die Preisgabe Moskaus gegen den Willen des Kaisers angeordnet hatte – dieser Kutusow begriff jetzt sogleich, daß seine Zeit vorbei, seine Rolle ausgespielt war, und daß er die vermeintliche Macht bereits nicht mehr in Händen hatte. Und nicht nur aus seinen Beziehungen zum Hof wurde ihm dies klar. Er sah einerseits, daß die Kriegsoperationen, bei denen er eine Rolle gespielt hatte, zu Ende waren, und fühlte, daß er seinen Ruf erfüllt hatte. Andrerseits machte sich aber auch zur gleichen Zeit in seinem alten Körper eine physische Müdigkeit bemerkbar, so daß eine längere Erholung für ihn zur Notwendigkeit wurde.

11

Am 29. November zog Kutusow in Wilna ein, in seinem lieben Wilna, wie er sagte. Zweimal während seiner Dienstjahre war er in dieser Stadt Gouverneur gewesen. In dem reichen, unversehrten Wilna fand er außer allen Bequemlichkeiten des Lebens, deren er nun schon so lange beraubt war, noch viele alte Freunde und Erinnerungen vor. Und gleich wandte er sich von allen Kriegs und Staatssorgen ab und versenkte sich in ein gleichmäßiges, gewohntes Leben, soweit ihn die Leidenschaften, die rings um ihn im Sieden waren, in Ruhe ließen, als ginge ihn all das, was sich in der Weltgeschichte soeben vollzogen hatte und noch vollzog, nicht das geringste an.

Tschitschagow, einer der leidenschaftlichen Anhänger aller Abschneidungs- und Zurückwerfungspläne, Tschitschagow, der anfänglich eine Diversion nach Griechenland und dann nach Warschau unternehmen, aber niemals dahin gehen wollte, wohin es ihm befohlen war, Tschitschagow, bekannt durch seine kühnen Reden dem Kaiser gegenüber, Tschitschagow, der sich für Kutusows Gönner hielt, weil er, als er 1811 nach der Türkei gesandt worden war, um dort ohne Wissen Kutusows Frieden zu schließen, und sich davon überzeugte, daß der Friede bereits geschlossen war, dem Kaiser eingestand, das Verdienst des Friedensschlusses gebühre Kutusow – dieser selbe Tchitschagow war der erste, der Kutusow vor dem Schloß in Wilna, wo dieser absteigen sollte, entgegenkam. Tschitschagow in Marineinterimsuniform mit kurzem Degen, die Mütze unter dem Arm, überreichte Kutusow den Frontrapport und die Stadtschlüssel. Jene ehrerbietige Geringschätzung der jüngeren Offiziere gegen den angeblich kindisch gewordenen Alten kam im höchsten Grad in dem ganzen Benehmen Tschitschagows zum Ausdruck, der von den Beschuldigungen, die man gegen Kutusow erhob, bereits gehört hatte.

In der Unterhaltung mit Tschitschagow erwähnte Kutusow unter anderem, die Tschitschagow bei Borisow abgenommenen Wagen mit Geschirr seien unversehrt und würden ihm wieder ausgeliefert werden.

»C’est pour me dire que je n’ai pas sur quoi manger … Je puis au contraire vous fournir de tout dans le cas même où vous voudriez donner des dîners«, erwiderte auffahrend Tschitschagow, der mit jedem Wort seine Tüchtigkeit zu beweisen suchte und deshalb bei Kutusow dasselbe Bestreben voraussetzte.

Kutusow lächelte sein feines, scharfes Lächeln und antwortete achselzuckend: »Ce n’est que pour vous dire ce que je vous dis.«

Gegen den Willen des Kaisers ließ Kutusow in Wilna einen großen Teil der Truppen haltmachen. Er selber führte nach den Aussagen seiner nächsten Umgebung während seines Aufenthaltes in Wilna ein rechtes Lotterleben, das seine körperlichen Kräfte außerordentlich schwächte. Nur ungern beschäftigte er sich mit Heeresangelegenheiten, überließ alles seinen Generälen und gab sich, während er auf den Kaiser wartete, den Zerstreuungen des Lebens hin.

Der Kaiser reiste mit seiner Suite, dem Grafen Tolstoi, dem Fürsten Wolkonskij, Araktschejew und anderen, am 7. Dezember von Petersburg ab, kam am 11. in Wilna an und fuhr in seinem Reiseschlitten gleich nach dem Schloß. Trotz der starken Kälte standen vor dem Schloß gegen hundert Generäle und Stabsoffiziere in voller Paradeuniform und eine Ehrenwache des Semjonower Regimentes.

Ein Kurier kam mit schweißbedecktem Dreigespann vor dem Kaiser am Schloß an und rief: »Er kommt!« Konownizyn stürzte über den Flur, um Kutusow, der im kleinen Portierzimmer wartete, die Ankunft des Kaisers zu melden.

Einen Augenblick später trat die große, dicke Gestalt des alten Mannes in voller Paradeuniform mit allen Orden, die seine ganze Brust bedeckten, den Leib von einer Schärpe umspannt, schwankenden Schrittes auf die Freitreppe hinaus. Er trug die breite Seite des Hutes nach vorn, hatte die Handschuhe in der Hand, schritt mühsam die Stufen seitlich hinab, trat hinunter und nahm den Rapport für den Kaiser entgegen, den man für ihn zum Überreichen bereitgehalten hatte.

Ein Rennen, ein Flüstern, noch eine mit rasender Geschwindigkeit vorüberfliegende Troika – und alle Augen richteten sich auf den heranbrausenden Schlitten, in dem die Gestalten des Kaisers und Wolkonskijs zu unterscheiden waren.

Dies alles wirkte einer fünfzigjährigen Gewohnheit gemäß auf den alten General physisch erregend. Hastig und besorgt betastete er sich, rückte den Hut zurecht, und auf einmal, gerade als der Kaiser, aus dem Schlitten steigend, ihn anblickte, richtete er sich straff und gerade auf, überreichte den Rapport und fing mit seiner gemessenen, einschmeichelnden Stimme zu reden an.

Der Kaiser musterte Kutusow mit einem schnellen Blick vom Kopf bis zu den Füßen, ein Schatten flog für einen Augenblick über sein Gesicht, aber sogleich beherrschte er sich, trat auf den alten General zu, streckte ihm beide Hände entgegen und umarmte ihn. Wieder machte diese Umarmung auf Kutusow den gewohnten Eindruck, und wohl auch deshalb, weil er sich seine eignen Gedanken dabei machte, übte sie auf ihn die alte Wirkung aus: er fing an zu schluchzen.

Der Kaiser dankte den Offizieren und der Semjonower Ehrenwache, drückte dem Alten noch einmal die Hand und ging mit ihm ins Schloß.

Nachdem der Kaiser mit dem Feldmarschall allein geblieben war, sprach er ihm seine Unzufriedenheit über die langsame Verfolgung und die Fehler bei Krasnoje und an der Beresina aus und teilte ihm seine Ansichten über den nun kommenden Feldzug jenseits der Grenze mit. Kutusow hatte weder etwas zu bemerken noch einzuwenden. Derselbe gehorsame, verständnislose Ausdruck, mit dem er vor sieben Jahren des Kaisers Befehle bei Austerlitz angehört hatte, lag auch jetzt wieder auf seinem Gesicht.

Als Kutusow mit seinem schwerfälligen, schwankenden Gang gesenkten Hauptes aus dem Kabinett trat und durch den Saal ging, hielt ihn eine Stimme an.

»Euer Durchlaucht«, sagte jemand.

Kutusow hob den Kopf und blickte lange dem Grafen Tolstoi ins Auge, der mit einem kleinen Gegenstand auf einer silbernen Platte vor ihm stand. Kutusow schien nicht zu begreifen, was er von ihm wollte.

Plötzlich schien er sich klar zu werden, ein kaum merkliches Lächeln huschte über sein aufgeschwemmtes Gesicht, tief und ehrerbietig verbeugte er sich und nahm den Gegenstand, der auf der Platte lag. Es war das Georgskreuz erster Klasse.

12

Am folgenden Tag fand beim Feldmarschall ein Festessen mit Ball statt, das der Kaiser mit seiner Anwesenheit beehrte. Kutusow hatte das Georgskreuz erster Klasse erhalten, der Kaiser erwies ihm die höchsten Ehren, und doch wußten alle, daß man an höchster Stelle mit ihm unzufrieden war. Aber der Anstand wurde gewahrt, und der Kaiser war der erste, der darin mit gutem Beispiel voranging, wenn auch alle wußten, daß sich der alte Mann manches hatte zuschulden kommen lassen und zu nichts mehr taugte. Als Kutusow beim Eintritt des Kaisers in den Ballsaal nach einem alten Brauch aus der Zeit Katharinas die erbeuteten Fahnen zu Füßen Alexanders ausbreiten ließ, zog der Kaiser, unangenehm berührt, die Stirn kraus und murmelte etwas vor sich hin, woraus einige die Worte: »Alter Komödiant!« herausgehört zu haben behaupteten.

Die Unzufriedenheit Alexanders mit Kutusow wurde in Wilna immer größer, vor allem, weil Kutusow die Bedeutung des bevorstehenden Feldzugs sichtlich nicht begreifen konnte.

Als der Kaiser am nächsten Morgen zu den sich bei ihm versammelnden Offizieren sagte: »Sie haben nicht nur Rußland, Sie haben ganz Europa gerettet«, wurde schon damals allen klar, daß der Krieg noch nicht sein Ende erreicht hatte.

Nur Kutusow wollte dies nicht verstehen und sprach offen seine Ansicht dahin aus, ein neuer Krieg könne Rußlands Lage nicht verbessern und seinen Ruhm nicht vergrößern, sondern vielmehr alles nur verschlechtern und Rußland nur von jener hohen Stufe des Ruhmes herabstürzen, auf der seiner Meinung nach das Vaterland augenblicklich stand. Er bemühte sich, dem Kaiser zu beweisen, wie unmöglich es sei, jetzt neue Truppen zusammenzuziehen, sprach von der Notlage der Bevölkerung, von der Möglichkeit eines Mißerfolges und so weiter, und so weiter.

Mit solchen Ansichten bildete der Feldmarschall naturgemäß nur einen lästigen Hemmschuh für den bevorstehenden Krieg.

Um jeden Zusammenstoß mit dem alten Mann zu vermeiden, fand sich wie von selber ein Ausweg, der darin bestand, wie bei Austerlitz und im Anfang des Feldzugs bei Barclay, dem Oberkommandierenden, ohne ihn zu kränken oder darüber aufzuklären, jenen Boden der Macht, auf dem er stand, unter den Füßen wegzuziehen und diese Macht dem Kaiser selber zu übertragen.

Zu diesem Zweck wurde der Stab nach und nach umgestaltet, die wesentliche Bedeutung von Kutusows Umgebung zunichte gemacht und dem Kaiser übertragen. Toll, Konownizyn und Jermolow wurden an andere Stellen berufen. Alle sprachen es offen aus, daß der Feldmarschall sehr schwach und seine Gesundheit zerrüttet sei.

Er mußte schwach und krank sein, damit man seine Stellung dem geben konnte, der ihn ersetzen sollte. Und er war auch wirklich krank und schwach.

So natürlich, einfach und stufenweise Kutusow aus der Türkei in den Petersburger Staatshof gekommen war, um dort die Landwehr zu sammeln, und von dort aus zur Armee, gerade als man ihn notwendig brauchte, genauso natürlich, einfach und stufenweise trat nun, da seine Rolle ausgespielt war, an seinen Platz ein neuer Mann, wie man ihn sich jetzt wünschte.

Der Krieg von 1812 sollte außer seiner nationalen Bedeutung, die jedem russischen Herzen teuer ist, noch eine andere, eine europäische Bedeutung bekommen.

Dem Zug der Völker von Westen nach Osten sollte ein Zug der Völker von Osten nach Westen folgen, und für diesen Krieg brauchte man einen neuen Mann, der andere Eigenschaften und Ansichten hatte als Kutusow und von anderen Antrieben geleitet wurde.

Alexander I. war für den Zug der Völker von Osten nach Westen und zur Wiederherstellung der Grenzen innerhalb Europas ebenso notwendig, wie Kutusow für die Rettung und den Ruhm Rußlands notwendig gewesen war.

Kutusow hatte kein Verständnis dafür, von welcher Bedeutung Europa, das Gleichgewicht oder Napoleon waren. Er konnte dafür kein Verständnis haben. Der Vertreter des russischen Volkes, der Russe, hatte, nachdem der Feind vernichtet, Rußland befreit und auf die höchste Stufe des Ruhmes erhoben war, als Russe nichts mehr zu tun. Dem Vertreter des Volkskrieges blieb nun nichts mehr übrig als zu sterben. Und er starb.

13

Wie dies gewöhnlich der Fall ist, fühlte auch Pierre die ganze Schwere der körperlichen Entbehrungen und Anstrengungen, die er während seiner Gefangenschaft ertragen hatte, erst dann, als diese Anstrengungen und Entbehrungen zu Ende waren. Nachdem er aus der Gefangenschaft befreit war, reiste er nach Orel. Drei Tage nach seiner Ankunft, gerade als er nach Kiew weiterfahren wollte, wurde er hier krank und mußte nun drei Monate lang in Orel liegenbleiben. Die Doktoren meinten, er habe Gallenfieber. Obwohl ihn Ärzte behandelten, ihn zur Ader ließen und ihm Medizin zu schlucken gaben, wurde er doch wieder gesund.

Alles, was Pierre von der Befreiung bis zu seiner Krankheit zugestoßen war, hatte in ihm fast keinen Eindruck hinterlassen. Er erinnerte sich nur an das graue, düstere, bald regnerische, bald schneefeuchte Wetter, an innere physische Leiden, Schmerzen in den Füßen und Seiten, an den allgemeinen Eindruck, den die unglücklichen, leidenden Menschen auf ihn gemacht hatten, an das neugierige Ausfragen der Offiziere und Generäle, worüber er sich geärgert hatte, an seine Bemühungen, einen Wagen und Pferde aufzutreiben, und vor allem an seine Unfähigkeit während dieser Zeit, sich über irgendeinen Gedanken oder ein Gefühl klar zu werden. Am Tag seiner Befreiung hatte er den Leichnam Petja Rostows gesehen. Zur selben Zeit hatte er auch erfahren, daß Fürst Andrej nach der Schlacht bei Borodino noch über einen Monat gelebt hatte und erst kürzlich in Jaroslawl im Hause der Rostows gestorben war. Damals hatte Denissow, der ihm diese Neuigkeiten mitteilte, unter anderem auch den Tod Helenes erwähnt in der Annahme, daß Pierre es schon lang wisse. Dies alles war Pierre damals nur sonderbar vorgekommen, und er hatte dabei das Gefühl gehabt, als könne er die Bedeutung aller dieser Nachrichten gar nicht fassen. Er hatte sich nur beeilt, so schnell wie möglich aus dieser Gegend fortzukommen, wo die Menschen einander totschlugen, in irgendeinen stillen Zufluchtsort, um dort zur Besinnung zu kommen, auszuruhen und all das Seltsame und Neue, das er während dieser Zeit erfahren hatte, zu überdenken. Als er jedoch in Orel angekommen war, war er krank geworden. Als er nach seiner Krankheit zum erstenmal zu sich kam, erblickte er seine beiden Diener Terentij und Waska, die aus Moskau gekommen waren, und die älteste Prinzessin. Diese lebte auf einem Gut Pierres, in Jelez, hatte von seiner Befreiung und Krankheit gehört und war nun gekommen, um ihn zu pflegen.

Während seiner Genesung wurde Pierre nur allmählich die ihm zur Gewohnheit gewordenen Eindrücke der letzten Monate los und gewöhnte sich wieder daran, daß ihn niemand früh aufjagte, niemand sein warmes Bett nahm und er mit Sicherheit auf Mittagbrot, Tee und Abendessen rechnen durfte. Im Traum aber sah er sich noch lange immer wieder unter jenen Lebensbedingungen der Gefangenschaft. Und ebenso allmählich begriff Pierre nun auch jene Neuigkeiten, die er bei seiner Befreiung erfahren hatte: den Tod des Fürsten Andrej, den Tod seiner Frau und die Vernichtung der Franzosen.

Das Glücksgefühl der Freiheit, jener uneingeschränkten, unentreißbaren, dem Menschen eignen Freiheit, das ihm am ersten Rastort nach dem Ausmarsch von Moskau zum erstenmal zum Bewußtsein gekommen war, erfüllte während seiner Genesung Pierres ganze Seele. Er wunderte sich, daß zu jener inneren Freiheit, die von allen äußeren Umständen unbhängig war, nun wie zum Überfluß, zum Luxus noch eine äußere Freiheit hinzutrat.

Er war allein in der fremden Stadt, ohne Bekannte. Niemand verlangte etwas von ihm, niemand schickte ihn irgendwohin. Er hatte alles, was er brauchte. Der Gedanke an seine Frau, der ihn früher ewig gequält hatte, war nicht mehr da, da sie ja selber nicht mehr war.

Ach, wie schön! Wie herrlich! sagte er sich, wenn man ihm den sauber gedeckten Tisch mit der lecker duftenden Fleischbrühe heranrückte, oder wenn er sich für die Nacht auf das reine, weiche Bett legte, oder wenn er daran dachte, daß seine Frau und die Franzosen nun nicht mehr da waren. Ach, wie schön! Wie herrlich!

Und nach alter Gewohnheit legte er sich die Frage vor: Ja, und was nun? Was werde ich anfangen? Aber sogleich gab er sich selbst die Antwort: Nichts. Ich werde leben. Ach, wie herrlich!

Und gerade das, womit er sich früher abgequält und was er beständig gesucht hatte, ein Lebensziel, war für ihn jetzt nicht mehr vorhanden. Und dieses gesuchte Lebensziel war nicht etwa zufällig und nur in diesem Augenblick nicht mehr für ihn vorhanden, sondern er fühlte, daß es ein solches überhaupt nicht gab und gar nicht geben konnte. Und gerade dieses Fehlen eines Lebenszieles verlieh ihm jenes uneingeschränkte, frohe Bewußtsein der Freiheit, das im Augenblick sein Glück ausmachte.

Er konnte kein Lebensziel haben, weil er jetzt den Glauben besaß – nicht den Glauben an irgendwelche Grundsätze, Worte oder Gedanken, sondern den Glauben an den lebendigen, stets fühlbaren Gott. Früher hatte er Ihn in den Lebenszielen gesucht, die er sich selber gesteckt hatte. Dieses Suchen nach Zielen war nur ein Suchen nach Gott gewesen. Und nun hatte er in der Gefangenschaft plötzlich nicht durch Worte oder Vernunftschlüsse, sondern unmittelbar aus dem Gefühl heraus erkannt, was ihm die Kinderfrau schon vor langen Jahren gesagt hatte: daß Gott hier und dort und überall sei. Er hatte in der Gefangenschaft erkannt, daß Gott in Karatajew größer, unendlicher und unergründlicher war als in dem von den Freimaurern anerkannten Baumeister des Weltalls. Er hatte das Gefühl eines Menschen, der das Gesuchte vor seinen Füßen findet, nachdem er lange die Augen angestrengt und in die Ferne gespäht hat. Sein ganzes Leben lang hatte er hierhin und dorthin geschaut, immer über die Köpfe seiner Umgebung hinweg, hätte aber seine Augen nicht anzustrengen und immer nur vor sich hinzuschauen brauchen.

Er hatte früher nicht vermocht, das Große, Unendliche, Unergründliche in irgend etwas zu sehen, sondern nur gefühlt, daß es irgendwo sein müsse, und es darum gesucht. In allem, was nahe lag und verständlich war, hatte er nur das Beschränkte, Kleinliche, Weltliche und Sinnlose gesehen. Er hatte sich mit einem geistigen Fernrohr bewaffnet und ins Weite geschaut, dorthin, wo das Kleinliche, Alltägliche in nebelhafter Ferne ihm groß und unendlich erschienen war, und zwar nur, weil er es nicht deutlich sehen konnte. So war ihm bald das europäische Leben, bald die Politik, Freimaurerei, Philosophie, Philanthropie als das Gesuchte erschienen. Aber schon damals, in jenen Augenblicken, die er früher Schwäche nannte, hatte sein Geist jene Ferne durchdrungen, und er hatte auch dort dieselbe Kleinlichkeit, Alltäglichkeit und Sinnlosigkeit wahrgenommen. Jetzt aber hatte er gelernt, das Große, Ewige und Unendliche in allem, was ihn umgab, zu sehen, und um es besser sehen und sich an seinem Anblick ergötzen zu können, warf er nun, wie es nur natürlich war, das Fernrohr weg, durch das er bisher über die Köpfe seiner Mitmenschen hinweggeschaut hatte, und betrachtete froh das ewig wechselnde, ewig große, unergründliche und unendliche Leben um sich herum. Und je näher er hinschaute, desto ruhiger und glücklicher wurde er. Die furchtbare Frage: Warum? die früher alles, was von seinem Geist aufgebaut worden war, wieder niedergerissen hatte, war jetzt für ihn nicht mehr vorhanden. Auf diese Frage Warum? lag jetzt in seinem Innern immer die einfache Antwort bereit: weil es einen Gott gibt, jenen Gott, ohne dessen Willen kein Haar von des Menschen Haupt fällt.

14

Pierre hatte sich in seiner äußeren Art fast gar nicht verändert. Auf den ersten Blick war er noch ganz derselbe wie früher. Er war ebenso zerstreut wie immer und schien nicht mit dem beschäftigt, was er vor Augen hatte, sondern mit seinen eignen, besonderen Gedanken. Der Unterschied zwischen seinem früheren und seinem jetzigen Zustand lag nur darin, daß, wenn er früher etwas vergessen hatte, was vor ihm war oder was man zu ihm gesagt hatte, er mit schmerzlich gerunzelter Stirn gleichsam etwas in weiter Ferne zu erspähen versucht, aber doch nicht zu finden vermocht hatte. Jetzt vergaß er auch manchmal das, was man zu ihm sagte und was vor ihm lag, aber mit einem kaum merklichen Lächeln heftete er dann seinen Blick gerade auf jenen Gegenstand, der vor ihm war, und lauschte dem, was man zu ihm sagte, obgleich es den Anschein hatte, als sehe und höre er etwas ganz anderes. Früher hatte er den Eindruck eines zwar guten, aber unglücklichen Menschen gemacht, und deshalb hatten sich die Leute unwillkürlich von ihm ferngehalten. Jetzt spielte ein Lächeln der Lebensfreude beständig um seine Lippen, und aus seinen Augen strahlte die Teilnahme für andere und die Frage: Seid ihr ebenso zufrieden, wie ich es bin? Und darum fühlten sich alle in seiner Gegenwart wohl.

Früher hatte er viel geredet, war beim Sprechen hitzig geworden und hatte wenig zugehört. Jetzt ließ er sich beim Reden selten hinreißen und verstand so gut zuzuhören, daß die Leute ihm mit Vorliebe ihre verborgensten Herzensgeheimnisse erzählten.

Auch die Prinzessin, die sich nie viel aus Pierre gemacht und, seit sie sich nach dem Tode des alten Grafen ihm verpflichtet wußte, eine besonders feindliche Gesinnung gegen ihn genährt hatte, fühlte zu ihrem Ärger und ihrer Verwunderung nach kurzem Aufenthalt in Orel, wohin sie gekommen war, um Pierre zu beweisen, daß sie es trotz seiner Undankbarkeit für ihre Pflicht halte, ihn zu pflegen – auch die Prinzessin fühlte bald, daß sie ihn gern hatte. Pierre bemühte sich in keiner Weise um ihr Wohlwollen, aber er betrachtete sie mit Neugier. Früher hatte die Prinzessin das Gefühl gehabt, daß er sie mit gleichgültigen und spöttischen Blicken ansehe, und hatte sich wie von anderen Menschen auch von ihm zurückgezogen und ihm nur die streitbare Seite ihres Charakters gezeigt. Jetzt aber spürte sie im Gegenteil, daß er gleichsam bis zu den innersten Tiefen ihres Lebens schürfte, und so zeigte sie ihm anfänglich mit Mißtrauen, dann aber voll Dankbarkeit alle verborgenen, guten Seiten ihres Wesens.

Der listigste Mensch hätte sich nicht kunstgerechter in das Vertrauen der Prinzessin einstehlen können, indem er die Erinnerung an ihre beste Jugendzeit in ihr wachrief und seine Teilnahme dafür bekundete. Und doch war Pierres ganze List nur, daß er seine eigne Genugtuung darin suchte, in der verbitterten, vertrockneten und auf ihre Art stolzen Prinzessin menschliche Gefühle zu wecken.

Ja, er ist ein sehr, sehr guter Mensch, wenn er sich nicht unter dem Einfluß schlechter Elemente befindet, sondern solcher Menschen, wie ich bin, sagte sich die Prinzessin.

Die Veränderung, die mit Pierre vorgegangen war, bemerkten auch sein Diener Terentij und Waska auf ihre Art. Sie fanden, daß er viel einfacher und natürlicher geworden war. Oft, wenn Terentij den Herrn ausgekleidet und ihm gute Nacht gesagt hatte, blieb er mit den Stiefeln und Kleidern in der Hand stehen und wartete, ob der Herr nicht ein Gespräch mit ihm anknüpfen werde. Und meist hielt Pierre Terentij dann zurück, wenn er merkte, daß dieser sich gern mit ihm unterhalten wollte.

»Na, aber erzähle doch mal … wie habt ihr euch denn damals Essen verschafft?« fragte er.

Und Terentij fing an zu erzählen von der Zerstörung Moskaus und vom seligen Grafen und stand lange da mit dem Rock über dem Arm und erzählte und hörte auf das, was Pierre erwiderte, und ging dann mit dem angenehmen Bewußtsein ins Vorzimmer hinaus, daß sein Herr ihm nahestand und freundliche Gefühle für ihn hegte.

Der Arzt, der Pierre behandelte und jeden Tag besuchte, saß, obgleich er es wie alle Ärzte für seine Pflicht hielt, sich den Anschein zu geben, als sei ihm jede Minute um der leidenden Menschheit willen kostbar, oft stundenlang bei Pierre und erzählte ihm seine Lieblingsgeschichten und seine Beobachtungen über das Benehmen der Kranken im allgemeinen und der Damen im besonderen.

»Ja, mit solch einem Menschen unterhält man sich gern; das ist doch etwas anderes als mit Leuten aus der Provinz«, meinte er.

In Orel lebten einige gefangene französische Offiziere, und der Arzt brachte einmal einen von ihnen, einen jungen Italiener, mit.

Dieser Offizier fing nun an, Pierre öfter zu besuchen, und die Prinzessin lachte über die zärtlichen Gefühle, die der Italiener für Pierre zeigte.

Der Italiener war offenbar nur dann glücklich, wenn er Pierre besuchen und sich mit ihm unterhalten durfte. Er erzählte ihm von seiner Vergangenheit, von seinem häuslichen Leben, von seiner Liebe, und schüttete ihm sein Herz aus, das voll Entrüstung gegen die Franzosen und vor allem gegen Napoleon war.

»Wenn alle Russen auch nur ein klein wenig so sind wie Sie«, sagte er zu Pierre, »c’est un sacrilège que de faire la guerre à un peuple comme le vôtre. Sie, der Sie so viel von den Franzosen erduldet haben, empfinden nicht einmal Haß gegen sie.«

Auch diese leidenschaftliche Liebe des Italieners hatte sich Pierre nur dadurch erworben, daß er in ihm die besten Seiten seiner Seele wachgerufen und seine Freude an ihnen gehabt hatte.

In den letzten Tagen seines Aufenthaltes in Orel besuchte Pierre sein alter Bekannter, der Freimaurer Graf Willarski, der ihn im Jahre 1807 in die Loge eingeführt hatte. Willarski war mit einer reichen Russin verheiratet, die im Gouvernement Orel große Güter besaß, und bekleidete jetzt in der Stadt vorübergehend einen Posten im Verpflegungsamt.

Als Willarski erfahren hatte, daß Besuchow in Orel war, kam er, obgleich sie früher nie näher miteinander bekannt gewesen waren, zu Pierre mit jenen vertrauten Freundschaftsbezeigungen, wie sie Menschen gewöhnlich zum Ausdruck bringen, die einander in der öden Fremde begegnen. Willarski langweilte sich in Orel und war glücklich, einen Menschen seiner Kreise zu treffen, der, wie er annahm, dieselben Interessen hatte wie er.

Aber zu seiner Verwunderung bemerkte Willarski bald, daß sich Pierre vom wirklichen Leben sehr entfernt hatte und, wie er Pierre beurteilte, in Apathie und Egoismus verfallen war.

»Vous vous encroûtez, mon cher«, sagte er zu ihm.

Dennoch war Willarski jetzt lieber mit Pierre zusammen als früher und besuchte ihn jeden Tag. Für Pierre dagegen war, wenn er Willarski ansah und ihm zuhörte, der Gedanke sonderbar und unwahrscheinlich, daß er selber noch vor kurzer Zeit ebenso gewesen sein sollte.

Willarski war verheiratet, Familienvater und mit den Gutsgeschäften seiner Frau, mit seinem Dienst und seiner Familie beschäftigt. Aber er hielt alle diese Beschäftigungen nur für einen Hemmschuh des wahren Lebens und achtete sie gering, weil sie nur sein und seiner Familie persönliches Wohl zum Zweck hatten. Sein ganzes Interesse wurde von militärischen, administrativen, politischen und freimaurerischen Bestrebungen verschlungen. Pierre gab sich keine Mühe, Willarski andere Anschauungen beizubringen, er verurteilte ihn nicht, ergötzte sich aber mit dem ihm jetzt ständig eigenen stillen und fröhlichen Spott an dieser seltsamen, ihm nur zu wohl bekannten Erscheinung.

In seinen Beziehungen zu Willarski, zur Prinzessin, zum Arzt und zu allen Leuten, mit denen er jetzt zusammenkam, trat bei Pierre ein neuer Zug zutage, der ihm die Zuneigung aller Menschen erwarb: er anerkannte die Möglichkeit, daß jeder Mensch in seiner Weise denken, fühlen und die Dinge ansehen konnte, und gab die Unmöglichkeit zu, einem Andersgesinnten durch Worte eine andere Überzeugung beizubringen. Diese Anerkennung einer Individualität in jedem Menschen, die Pierre früher aufgeregt und gereizt hatte, bildete jetzt die Grundlage für die Teilnahme, die er den Menschen entgegenbrachte. Der Unterschied in den Ansichten der Menschen, die manchmal in vollkommenem Widerspruch zu ihrem Leben standen, bereitete Pierre jetzt Freude und rief in ihm ein sanft-spöttisches Lächeln hervor.

In praktischen Dingen fühlte Pierre jetzt unerwarteterweise, daß er nun den Schwerpunkt besaß, der ihm früher gefehlt hatte. Früher hatten ihn alle Finanzfragen, besonders die Bitten um Geld, denen er als schwerreicher Mann sehr oft ausgesetzt war, immer in eine aufgeregte Ratlosigkeit versetzt, aus der er kaum einen Ausweg gefunden hatte. Soll ich es ihm geben oder nicht? hatte er sich immer gefragt. Ich habe das Geld, und er braucht es. Aber ein anderer braucht es noch mehr. Wer braucht es nun am nötigsten? Vielleicht sind beide Betrüger? Aus all diesen Bedenken hatte er früher nie einen Ausweg finden können und allen gegeben, solange er noch etwas zu geben hatte. Und in demselben Zweifel hatte er sich früher bei jeder Frage, die sein Vermögen betraf, befunden, wenn ihm einer gesagt hatte, er müsse so, und ein anderer, er müsse anders vorgehen.

Jetzt merkte er zu seiner Verwunderung, daß es in allen diesen Fragen für ihn weder Zweifel noch Bedenken gab. Jetzt stand in seinem Innern ein Richter auf, der nach irgendwelchen, Pierre selber unbekannten Gesetzen entschied, was er zu tun hatte und was nicht.

Er stand Geldsachen noch ebenso gleichgültig gegenüber wie früher, aber er wußte nun mit Sicherheit, was er zu tun und zu lassen hatte. Zum erstenmal waltete dieser neue Richter seines Amtes bei der Bitte eines gefangenen französischen Obersten, der zu Pierre kam, ihm viel von seinen Heldentaten erzählte und letzten Endes fast forderte, ihm viertausend Franken zu geben, damit er sie seiner Frau und seinen Kindern schicken könne. Pierre schlug ihm sein Verlangen ohne die geringste Mühe und Anstrengung ab und wunderte sich nachher darüber, wie einfach und leicht das gewesen war, was er früher für unlösbar schwer gehalten hatte. Zur gleichen Zeit aber, da er dem Obersten seine Forderung abschlug, faßte er bei sich den Entschluß, unbedingt eine List anzuwenden, um vor seiner Abreise aus Orel den italienischen Offizier dazu zu bringen, Geld von ihm anzunehmen, dessen er sichtlich bedurfte. Ein neuer Beweis für Pierres gefestigten Überblick über praktische Dinge waren seine Entscheidungen in der Frage der Schulden seiner Frau und der Wiederherstellung und Nichtwiederherstellung seiner Häuser und Landhäuser in Moskau.

In Orel suchte ihn sein Oberverwalter auf, und Pierre veranschlagte mit ihm seine allgemeinen Einkünfte. Durch den Brand Moskaus hatte er nach den Berechnungen des Oberverwalters gegen zwei Millionen verloren.

Zum Trost für diesen Verlust rechnete der Oberverwalter Pierre vor, daß sich seine Einkünfte trotz dieser Einbuße nicht verringern, sondern vielmehr vergrößern würden, wenn er sich weigere, die Schulden, die die Gräfin hinterlassen hatte, zu bezahlen, wozu er durchaus berechtigt sei, und wenn er von der Wiederherstellung seiner Häuser in und bei Moskau absehe, die jährlich achtzigtausend Rubel an Unterhaltung kosteten und nichts einbrachten.

»Ja, ja, das stimmt schon«, sagte Pierre und lachte belustigt. »Ich brauche ja das alles auch gar nicht. So bin ich also durch die Zerstörung nur noch reicher geworden.«

Doch im Januar kam Saweljitsch aus Moskau, berichtete über den Zustand des Hauses und über einen Voranschlag, den ihm ein Baumeister für die Wiederherstellung der Häuser in und bei Moskau gemacht hatte, und sprach von alledem wie von einer abgemachten Sache. Zur gleichen Zeit erhielt Pierre Briefe vom Fürsten Wassilij und anderen Bekannten aus Petersburg. In allen Briefen war von den Schulden seiner Frau die Rede. Und Pierre sah ein, daß der Plan des Oberverwalters, der ihm anfänglich gefallen hatte, doch nicht richtig war, und daß er zur Regelung der Angelegenheiten seiner Frau doch nach Petersburg reisen und doch in Moskau bauen müsse. Warum er das mußte, wußte er nicht, aber er wußte genau, daß es nötig war. Infolge dieses Entschlusses verringerten sich seine Einkünfte um drei Viertel. Aber er mußte es tun, das fühlte er.

Willarski reiste ebenfalls nach Moskau, und sie verabredeten, zusammen zu fahren.

Schon in Orel, während der ganzen Zeit seiner Genesung, hatte Pierre ein Gefühl des Glücks, der Freiheit und der Lebensfreude empfunden, als er sich aber im Verlauf seiner Reise nun in der freien Welt fühlte und Hunderte von neuen Gesichtern sah, da wurde dieses Gefühl immer stärker. Während der ganzen Zeit seiner Reise fühlte er sich glücklich wie ein Schuljunge, der Ferien hat. Alle Leute: der Postkutscher, der Stationsaufseher, die Bauern auf der Landstraße und in den Dörfern hatten für ihn eine neue Bedeutung. Die Gegenwart und die Bemerkungen Willarskis, der ständig darüber jammerte, daß Rußland so arm und ungebildet sei und so weit hinter Westeuropa zurückstehe, trugen nur dazu bei, Pierres Glücksgefühl zu erhöhen. Da, wo Willarski starre Leblosigkeit sah, erblickte er eine außerordentlich mächtige Lebenskraft, jene Kraft, die in diesem weiten Lande auch unterm Schnee das Leben dieses gesunden, eigenartigen und einzigen Volkes erhielt. Er widersprach Willarski nicht, sondern hörte ihm mit glücklichem Lächeln zu, als wäre er mit ihm einverstanden, da ja diese vermeintliche Zustimmung das einfachste Mittel war, Auseinandersetzungen zu vermeiden, bei denen doch nichts herauskommen konnte.

15

So schwer es zu erklären ist, warum und wohin die Ameisen aus einem zerstörten Haufen hasten, die einen mit Sandkörnchen, Eiern und Toten beladen vom Haufen fort, die anderen wieder zum Haufen zurück, warum sie sich stoßen, überholen, bekämpfen – ebenso schwer ist es auch, die Gründe anzugeben, warum sich die Russen nach dem Abzug der Franzosen an jenem Platz zusammendrängten, der früher den Namen Moskau trug. Doch ebenso wie man beim Anblick der um den zerstörten Haufen herumrennenden Ameisen aus der Streitbarkeit, Energie und unendlichen Menge der wimmelnden Insekten trotz der völligen Vernichtung des Haufens erkennen kann, daß alles zerstört ist außer einem immateriellen, unzerstörbaren Etwas, das die ganze Kraft des Haufens ausmacht – so erkannte man selbst in jenem Moskau vom Monat Oktober, obgleich es dort weder eine Obrigkeit noch Kirchen noch Heiligtümer noch Reichtum noch Häuser gab, dennoch dasselbe Moskau wieder, das es im August gewesen war. Alles war zerstört bis auf jene immaterielle, alles vermögende, unzerstörbare Kraft.

Die Gründe, warum die Leute von allen Seiten nach Moskau strömten, nachdem man die Stadt von Feinden gesäubert hatte, waren verschiedener, persönlicher und in der ersten Zeit meistens wilder und tierischer Art. Nur ein Grund war allen gemeinsam: sie strebten dorthin, an jenen Ort, der früher Moskau geheißen hatte, um dort zu wirken und zu schaffen.

Nach acht Tagen hatte die Stadt bereits wieder fünfzehntausend Einwohner, nach vierzehn Tagen fünfundzwanzigtausend und so weiter. In stetem Wachsen erreichte diese Ziffer im Herbst 1813 eine Höhe, die über die Einwohnerzahl des Jahres 1812 hinausging.

Die ersten Russen, die wieder in Moskau einzogen, waren die Kosaken des Korps Wintzingerode, Bauern aus den benachbarten Dörfern und Flüchtlinge, die sich in der Umgebung versteckt gehalten hatten. Als die in das zerstörte Moskau einziehenden Russen die Stadt ausgeraubt fanden, fingen sie ebenfalls an zu plündern. Sie setzten das fort, was die Franzosen angefangen hatten. Bauern kamen mit Zügen von Fuhrwerken herbei, um alles auf die Dörfer hinauszuschleppen, was in den zerstörten Moskauer Häusern und auf den Straßen herumlag. Die Kosaken trugen, soviel sie nur konnten, in ihre Standquartiere fort, und die Hausbesitzer rafften alles zusammen, was sie in anderen Häusern fanden, und brachten es zu sich unter dem Vorwand, daß es ihr Eigentum sei.

Und auf die ersten Plünderer folgten andere und wieder andere, aber das Plündern wurde mit jedem Tag, je größer die Zahl der Plünderer wurde, immer mühevoller und schwieriger und nahm immer bestimmtere Formen an.

Die Franzosen hatten Moskau zwar leer, aber mit allen Formen einer nach organischen Gesetzen lebenden Stadt vorgefunden, mit ihren verschiedenen Einrichtungen des Handels, des Handwerks, des Luxuslebens, der Staatsverwaltung und der Religion. Diese Formen waren zwar abgestorben, aber doch noch vorhanden. Es gab Budenreihen, Läden, Magazine, Niederlagen, Basare, fast alle mit Waren gefüllt; es gab Fabriken, Werkstätten für Handwerker, Paläste und reiche Häuser, die mit allen Luxusgegenständen versehen waren; es gab Krankenhäuser, Gefängnisse, Amtsgebäude, Kirchen und Dome. Doch je länger die Franzosen in Moskau blieben, um so mehr gingen all diese Formen des städtischen Lebens zugrunde, und letzten Endes verschmolz alles zu einem ungeteilten, leblosen Plünderungsfeld.

Je länger die Räubereien der Franzosen anhielten, um so mehr zerstörten sie sowohl den Reichtum Moskaus als auch die Kräfte der Plünderer. Die Räubereien der Russen dagegen, mit denen ihre Wiedereinnähme der Stadt begann, stellten den Reichtum Moskaus und das geregelte Leben in der Stadt um so schneller wieder her, je länger sie andauerten und je mehr Leute sich daran beteiligten.

Außer den Plünderern strömten die verschiedenartigsten Leute: Hausbesitzer, Geistliche, hohe und niedere Beamte, Handelsleute, Handwerker, Bauern, die einen aus Neugier, die anderen wegen der Dienstpflicht und wieder andere aus Berechnung, von allen Seiten nach Moskau zurück, wie das Blut nach dem Herzen.

Nach acht Tagen wurden bereits die Bauern, die mit leeren Fuhrwerken in die Stadt gekommen waren, um Sachen fortzuschleppen, von der Obrigkeit angehalten und gezwungen, die Toten aus der Stadt zu fahren. Die anderen Bauern hörten vom Mißerfolg ihrer Kameraden, kamen nun mit Getreide, Hafer und Heu und unterboten einander, so daß die Preise niedriger waren als früher. Arbeitergenossenschaften von Zimmerleuten trafen in der Hoffnung auf großen Verdienst täglich in der Stadt ein, und überall wurden denn nun auch neue Häuser errichtet und alte, abgebrannte wieder gesäubert und aufgebaut. Die Kaufleute in den Buden eröffneten wieder den Handel. Speisehäuser und Herbergen wurden in halbverbrannten Häusern eröffnet. Die Geistlichkeit hielt in vielen unversehrt gebliebenen Kirchen wieder Gottesdienste ab. Opferbereite Menschen trugen für die geraubten Kirchengegenstände andere herbei. Die Beamten in ihren kleinen Stuben breiteten über ihre Tische Tuch und ordneten ihre Akten in den Schränken. Die oberste Behörde und die Polizei ließen das von den Franzosen hinterlassene Gut verteilen. Die Besitzer jener Häuser, in denen viele aus anderen Gebäuden zusammengetragene Sachen zurückgeblieben waren, beklagten sich über die Ungerechtigkeit, alle diese Gegenstände im Facettenpalast abgeben zu müssen, während andere wieder diese Anordnung guthießen und behaupteten, es sei ungerecht, einen Hauswirt alle Sachen, die bei ihm gefunden würden, zu lassen, da doch die Franzosen die Gegenstände aus verschiedenen Häusern immer an einen Ort zusammengetragen hätten. Man schimpfte auf die Polizei, bestach sie, stellte über verbranntes Staatseigentum Kostenanschläge zum zehnfachen Wert auf und verlangte Unterstützungen. Graf Rastoptschin schrieb seine Proklamationen.

16

Ende Januar kam Pierre nach Moskau und stieg in einem unversehrt gebliebenen Flügel seines Hauses ab. Er besuchte den Grafen Rastoptschin und verschiedene andere Bekannte, die nach Moskau zurückgekehrt waren, und schickte sich am dritten Tag an, nach Petersburg weiterzufahren. Alles feierte den Sieg; überall in der zerstörten und wiederauflebenden Hauptstadt schäumte neues Leben. Alle freuten sich über Pierre, alle wollten ihn sehen, und alle befragten ihn über das, was er erlebt und gesehen hatte. Pierre fühlte sich jetzt gegen alle Leute, mit denen er zusammenkam, besonders freundlich gesinnt, aber unwillkürlich zeigte er sich gegen alle ein wenig vorsichtiger, um sich durch nichts zu binden. Auf alle Fragen, die man an ihn richtete, wichtige oder höchst unbedeutende: wo er wohnen werde? ob er bauen wolle? wann er nach Petersburg reise? ob er ein Köfferchen mitnehmen wolle? antwortete er immer nur: »Ja, vielleicht« oder: »Ich denke« oder dergleichen.

Von den Rostows hörte er, daß sie in Kostroma waren, und an Natascha dachte er selten. Kam ihm einmal der Gedanke an sie, so war er ihm nur eine angenehme Erinnerung an etwas, das längst vergangen war. Er fühlte sich nicht nur frei von allen weltlichen Fesseln, sondern auch von diesem Gefühl, das er, wie ihm schien, absichtlich auf sich losgelassen hatte.

Am dritten Tag nach seiner Ankunft in Moskau erfuhr er von den Drubezkojs, daß Prinzessin Marja in Moskau war. Der Tod, die Leiden und letzten Tage des Fürsten Andrej hatten Pierres Gedanken oft beschäftigt und kamen ihm jetzt mit neuer Lebendigkeit in den Sinn. Nachdem er bei Tisch erfahren hatte, daß Prinzessin Marja in der Stadt war und in ihrem vom Feuer verschonten Haus in der Wosdwishenka wohnte, fuhr er noch am selben Abend zu ihr.

Auf dem Weg zu Prinzessin Marja dachte er immer nur an den Fürsten Andrej, an seine Freundschaft und die verschiedenen Begegnungen mit ihm, besonders aber an das letzte Zusammensein in Borodino.

Ist er wirklich in jener feindseligen Stimmung gestorben, in der er sich damals befand? Sollte sich ihm die Offenbarung des Lebens nicht vor dem Tod erschlossen haben? dachte Pierre. Ihm fiel Karatajew ein, sein Tod, und unwillkürlich verglich er diese beiden Menschen miteinander, die so verschieden und doch auch wieder so ähnlich waren, weil er sie beide geliebt hatte, und weil beide gelebt hatten und gestorben waren.

In ernstester Gemütsstimmung fuhr Pierre vor dem Haus des alten Fürsten vor. Das Gebäude war verschont geblieben. Man sah an ihm wohl Spuren von Zerstörung, aber der Gesamteindruck war unverändert. Ein alter Diener, der Pierre mit strengem Gesicht entgegenkam, als wolle er den Gast fühlen lassen, daß die Ordnung im Haus durch den Tod des Fürsten nicht gelitten habe, sagte, die Prinzessin habe geruht, sich in ihre Gemächer zu begeben, und empfange nur sonntags Besuche.

»Melde mich trotzdem, vielleicht werde ich doch angenommen«, sagte Pierre.

»Zu Befehl«, erwiderte der Diener. »Bitte treten Sie ins Porträtzimmer ein.«

Einige Augenblicke später kehrte der Diener mit Dessalles zurück. Dessalles teilte Pierre im Namen der Prinzessin mit, daß sie sich sehr freue, ihn zu sehen, und ihn bitte, wenn er ihr diesen wenig förmlichen Empfang nicht übelnehmen wolle, doch nach oben in ihr Zimmer zu kommen.

In einem niedrigen kleinen Zimmer, das nur von einer einzigen Kerze beleuchtet war, saß die Prinzessin und neben ihr noch ein anderes weibliches Wesen im schwarzen Kleid. Pierre erinnerte sich, daß Prinzessin Marja immer Gesellschafterinnen gehabt hatte, wer aber und wie diese Gesellschafterinnen gewesen waren, das wußte er nicht und konnte sich auch nicht mehr darauf besinnen. Wahrscheinlich eine ihrer Gesellschafterinnen, dachte er, als er einen Blick auf die Dame im schwarzen Kleid warf.

Die Prinzessin stand schnell auf und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ja«, sagte sie, nachdem er ihr die Hand geküßt hatte, und blickte in sein verändertes Gesicht, »so sehen wir uns wieder. Er hat auch noch in der letzten Zeit oft von Ihnen gesprochen«, fuhr sie fort und ließ ihre Augen verlegen von Pierre zu der Gesellschafterin hinüberschweifen, worüber sich Pierre einen Augenblick wunderte.

»Ich war so glücklich, als ich von Ihrer Befreiung hörte. Das war die einzige frohe Botschaft, die wir seit langer Zeit erhalten haben.«

Wieder warf die Prinzessin einen noch unruhigeren Blick auf die Gesellschafterin und wollte etwas sagen, aber Pierre unterbrach sie.

»Stellen Sie sich vor, ich wußte nichts von ihm«, sagte er. »Ich hielt ihn für gefallen. Alles, was ich erfuhr, erfuhr ich bloß durch andere, aus dritter Quelle. Ich weiß nur, daß er zufällig zu den Rostows kam … Welch eine Schicksalsfügung!«

Pierre sprach schnell und lebhaft. Er warf einen flüchtigen Blick auf das Gesicht der Gesellschafterin, bemerkte den aufmerksam freundlichen, forschenden Blick, den diese auf ihn gerichtet hatte, und fühlte, wie das während eines Gespräches oft der Fall zu sein pflegt, aus irgendeinem Grund, daß diese Dame im schwarzen Kleid ein liebes, gutes, prächtiges Geschöpf sein mußte, das sein vertrauliches Gespräch mit Prinzessin Marja nicht stören werde.

Doch als er seine letzten Worte über die Rostows ausgesprochen hatte, trat die Verlegenheit auf dem Gesicht der Prinzessin Marja noch deutlicher hervor. Wieder ließ sie ihre Augen von Pierres Gesicht auf das der Dame im schwarzen Kleide schweifen und sagte: »Sie erkennen sie wohl nicht?«

Pierre schaute noch einmal auf das blasse, feine Gesicht der Gesellschafterin mit den schwarzen Augen und dem seltsamen Mund. Etwas Heimatliches, längst Vergessenes und mehr als Liebes blickte ihm aus diesen aufmerksamen Augen entgegen.

Aber nein, das kann doch nicht sein, dachte er. Dieses ernste, magere, blasse, gealterte Gesicht! Es ist nur etwas, das an sie erinnert.

Doch in diesem Augenblick sagte Prinzessin Marja: »Natascha.« Und das Gesicht mit den aufmerksamen Augen fing mühsam und mit Anstrengung, wie eine verrostete Tür sich öffnet, zu lächeln an, und aus dieser sich öffnenden Tür wehte ihm plötzlich ein längst vergessenes Glück entgegen, an das er, besonders in diesem Augenblick, gar nicht gedacht hatte. Es wehte ihm entgegen, umfing ihn und nahm ihn ganz gefangen. Von dem Augenblick an, da sie lächelte, war kein Zweifel mehr möglich: es war Natascha, und er liebte sie.

Und dieses Geheimnis, das Pierre selber gar nicht kannte, verriet er im ersten Augenblick unwillkürlich ihr, Prinzessin Marja und vor allem sich selber. Er errötete vor Freude, Gram und Schmerz. Er wollte seine Erregung verbergen, aber je mehr er sie zu verbergen suchte, um so deutlicher – deutlicher als mit den bestimmtesten Worten – sagte er sich, ihr und Prinzessin Marja, daß er sie liebe.

Nein, nein, das kommt nur von der Überraschung, dachte Pierre. Doch als er in seinem angefangenen Gespräch mit Prinzessin Marja fortfahren wollte, mußte er Natascha wieder ansehen, und eine noch stärkere Röte bedeckte sein Gesicht, und eine noch heftigere frohe und ängstliche Erregung ergriff ihn. Er verwirrte sich in seinen Worten und blieb mitten in seiner Rede stecken.

Pierre hatte Natascha nicht bemerkt, weil er keineswegs erwartet hatte, sie hier zu sehen, und erkannt hatte er sie deshalb nicht, weil die Veränderung, die, während er sie nicht gesehen hatte, mit ihr vorgegangen war, ganz gewaltig schien. Sie war sehr mager und blaß geworden. Aber nicht das war es, was sie unkenntlich machte: er hatte sie im ersten Augenblick, als er eintrat, nicht erkennen können, weil in diesem Gesicht, aus dessen Augen früher immer ein geheimes Lächeln der Lebensfreude geleuchtet hatte, jetzt, als er eingetreten und sie zum erstenmal angesehen hatte, nicht eine Spur dieses Lächelns mehr vorhanden gewesen war, sondern nur die aufmerksamen, guten und traurig fragenden Augen.

Pierres Verwirrung rief in Natascha nicht die gleiche Verlegenheit hervor, sondern nur ein stilles Glücksgefühl, das kaum merklich ihr Gesicht erhellte.

17

»Sie ist bei mir zu Besuch«, sagte Prinzessin Marja. »Der Graf und die Gräfin kommen auch dieser Tage. Die Gräfin ist in einer entsetzlichen Verfassung. Aber Natascha mußte selber einen Arzt befragen. Man hat sie nur mit Gewalt mit mir hergeschickt.«

»Gibt es. wohl eine Familie, die jetzt nicht ihr Leid zu tragen hätte?« sagte Pierre zu Natascha gewandt. »Sie wissen, daß es an demselben Tag geschah, an dem wir befreit wurden. Ich habe ihn gesehen. Was für ein prächtiger Junge das war!«

Natascha sah ihn an, und als Antwort auf seine Worte wurden ihre Augen nur noch größer und glänzender.

»Was könnte man zum Trost denken oder sagen?« fuhr Pierre fort. »Nichts. Wozu mußte ein so prächtiger, lebensfroher Junge sterben?«

»Ja, in unserer Zeit wäre es schwer zu leben ohne den Glauben …« ergänzte Prinzessin Marja.

»Ja, gewiß. Das ist eine reine Wahrheit«, fiel Pierre schnell ein.

»Warum?« fragte Natascha und sah Pierre aufmerksam an.

»Warum?« wiederholte Prinzessin Marja. »Weil nur der Gedanke an das, was uns dort erwartet …«

Natascha hörte ihr nicht bis zu Ende zu und sah wieder Pierre fragend an.

»Und auch deshalb«, fuhr Pierre fort, »weil nur ein Mensch, der daran glaubt, daß es einen Gott gibt, der uns lenkt und leitet, einen solchen Verlust ertragen kann wie den der Prinzessin Marja und … den Ihrigen.«

Natascha öffnete schon die Lippen und wollte etwas sagen, hielt aber plötzlich inne. Pierre drehte sich hastig von ihr ab, wandte sich an Prinzessin Marja und fragte nach den letzten Lebenstagen seines Freundes.

Seine Verwirrung war fast ganz vorbei. Aber statt dessen fühlte er, daß seine ganze frühere Freiheit verschwunden war. Er hatte die Empfindung, als sei für jedes seiner Worte, für jede seiner Handlungen jetzt ein Richter da, dessen Urteil ihm teurer war als das aller Menschen auf der ganzen Welt. Wenn er jetzt sprach, stellte er sich bei allen seinen Worten immer den Eindruck vor, den diese auf Natascha ausüben würden. Nicht daß er absichtlich das gesagt hätte, was ihr gefallen mußte, aber er beurteilte alles, was er sagte, nur unter diesem Gesichtspunkt.

Ungern wie immer fing Prinzessin Marja an, von dem Zustand zu erzählen, in dem sie den Fürsten Andrej vorgefunden hatte. Aber Pierres Fragen, sein lebhafter, unruhiger Blick und sein vor Erregung zitterndes Gesicht veranlaßten sie, allmählich auf alle Einzelheiten einzugehen, an die sich zu erinnern sie selbst in Gedanken immer ängstlich vermieden hatte.

»Ja, ja, so, so …« sagte Pierre, beugte sich mit dem ganzen Körper zu Prinzessin Marja vor und hörte gierig ihre Erzählung an. »Ja, ja, so ist er also ruhiger, milder geworden? Er hat mit allen Kräften seiner Seele so sehr immer nur das eine gesucht: vollständig gut zu sein, daß er den Tod gar nicht hat fürchten können. Die Fehler, die er hatte, wenn er überhaupt welche besaß, rührten nicht von ihm selber her. So ist er also milder geworden?« fragte Pierre noch einmal. »Welch ein Glück, daß er Sie wiedergesehen hat«, fügte er plötzlich, zu Natascha gewandt, hinzu und sah sie mit Augen voller Tränen an.

Nataschas Gesicht fing an zu zucken. Sie runzelte die Stirn und senkte einen Augenblick die Augen. Eine Weile schwankte sie: sollte sie reden oder nicht?

»Ja, es war ein Glück«, sagte sie dann mit leiser Bruststimme, »für mich war es sicherlich ein Glück.« Sie schwieg. »Und er … er … er sagte, er habe sich das gerade in dem Augenblick gewünscht, als ich zu ihm kam …«

Nataschas Stimme versagte. Sie wurde rot, preßte die Hände auf den Knien zusammen, überwand sich aber dann mit sichtlicher Anstrengung, hob den Kopf und begann schnell zu sprechen.

»Ich wußte noch nichts, als wir von Moskau fortfuhren. Ich wagte nicht, nach ihm zu fragen. Da plötzlich sagte mir Sonja, daß er mit uns führe. Ich machte mir keine Gedanken, keine Vorstellungen, in welchem Zustand er sei, ich mußte ihn nur unbedingt sehen, bei ihm sein«, sagte sie mit zitternder Stimme und atmete schwer.

Und ohne sich unterbrechen zu lassen, erzählte sie, was sie noch keinem Menschen erzählt hatte: alles, was sie in den drei Wochen ihrer Reise und ihres Aufenthalts in Jaroslawl durchgemacht hatte.

Pierre hörte ihr mit offenem Munde zu und wandte seine Augen, die voll Tränen standen, nicht von ihr ab. Während er ihr lauschte, dachte er weder an den Fürsten Andrej noch an den Tod noch an das, was sie erzählte. Er hörte ihr zu und fühlte nur Mitleid mit ihr wegen des Schmerzes, den sie jetzt beim Erzählen empfand.

Die Prinzessin zog die Stirn in Falten, um die Tränen zurückzuhalten. Sie saß neben Natascha und hörte zum erstenmal die Geschichte der letzten Tage der Liebe ihres Bruders und Nataschas.

Diese quälende und zugleich beglückende Aussprache war für Natascha sichtlich ein Bedürfnis.

Sie sprach, vermischte die nichtigsten Einzelheiten mit den tiefsten Seelengeheimnissen und schien gar kein Ende finden zu können. Dabei wiederholte sie einige Male dasselbe.

Vor der Tür hörte man Dessalles Stimme, der fragte, ob Nikoluschka hereinkommen dürfe, um gute Nacht zu sagen.

»Das ist alles, alles …« sagte Natascha.

Während Nikoluschka hereintrat, stand sie schnell auf und eilte so hastig zur Tür, daß sie sich mit dem Kopf an dem Pfosten stieß, der durch eine Portiere verdeckt war, und lief, weniger vor Schmerz als vor Kummer stöhnend, aus dem Zimmer.

Pierre blickte nach der Tür, durch die sie hinausgegangen war, und begriff nicht, warum er nun plötzlich allein auf der Welt zurückgeblieben war.

Prinzessin Marja weckte ihn aus seiner Zerstreutheit und lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihren Neffen, der soeben ins Zimmer trat.

Nikoluschkas Gesicht, das dem des Vaters sehr ähnlich war, übte auf Pierre in diesem Augenblick weicher Stimmung eine solche Wirkung aus, daß er das Kind küßte, hastig aufstand, sein Taschentuch zog und ans Fenster trat. Er wollte sich von Prinzessin Marja verabschieden, diese aber hielt ihn zurück.

»Nein, Natascha und ich gehen oft vor drei Uhr nachts nicht schlafen, bitte bleiben Sie doch noch da. Ich werde gleich das Abendessen auftragen lassen. Gehen Sie immer hinunter, wir kommen gleich.«

Bevor Pierre hinausging, sagte die Prinzessin noch zu ihm: »Das ist das erstemal, daß sie so von ihm gesprochen hat.«

18

Pierre wurde in das große, erleuchtete Speisezimmer geführt. Einige Augenblicke später hörte man Schritte, und die Prinzessin trat mit Natascha ins Zimmer. Natascha war ruhig, aber wieder lag ein ernster Ausdruck ohne jedes Lächeln auf ihrem Gesicht. Prinzessin Marja, Natascha und Pierre empfanden in gleicher Weise jenes peinliche Gefühl, das gewöhnlich einem ernsten, vertrauten Gespräch folgt. Die frühere Unterhaltung fortzusetzen ist unmöglich, von Nichtigkeiten zu reden, schämt man sich, ganz zu schweigen aber ist unangenehm, weil man gern reden möchte und einem das Schweigen daher vorkommt, als verstelle man sich.

Schweigend gingen sie zu Tisch. Die Diener schoben die Stühle zurück und wieder an den Tisch heran. Pierre faltete die feuchte Serviette auseinander und blickte Natascha und Prinzessin Marja an, entschlossen, das Schweigen zu brechen. Beide hatten sichtlich soeben dasselbe beschlossen: aus beider Augen leuchtete die Zufriedenheit mit dem Leben und das Geständnis, daß es außer dem Leid auch noch Freude auf der Welt gibt.

»Trinken Sie Branntwein, Graf?« fragte Prinzessin Marja, und diese Worte verscheuchten mit einem Schlag alle Schatten der Vergangenheit. »Erzählen Sie doch etwas von sich«, fuhr sie fort. »Von Ihnen werden ja die unglaublichsten Wunderdinge berichtet.«

»Ja«, erwiderte Pierre mit jenem ihm jetzt zur Gewohnheit gewordenen, sanften Spottlächeln. »Mir selber hat man von mir solche Wunderdinge erzählt, wie ich sie nicht einmal im Traum gesehen habe. Marja Abramowna hat mich eingeladen und mir immer nur erzählt und erzählt, was mir begegnet sei oder begegnet sein soll. Auch Stepan Stepanowitsch hat mir beigebracht, wie ich erzählen müsse. Im allgemeinen habe ich die Beobachtung gemacht, daß es ein interessanter Mensch – und ein solcher bin ich ja jetzt – höchst bequem hat: man lädt mich ein und erzählt mir, was ich erlebt habe.«

Natascha lächelte und wollte etwas sagen.

»Uns wurde erzählt«, kam ihr Prinzessin Marja zuvor, »daß Sie durch den Brand Moskaus zwei Millionen verloren hätten. Ist das wahr?«

»Und doch bin ich dreimal so reich geworden«, erwiderte Pierre. Obgleich die Schulden seiner Frau und die Notwendigkeit zu bauen seine Vermögenslage geändert hatten, erzählte er immer noch, daß er dreimal so reich geworden sei.

»Was ich aber ganz sicher gewonnen habe«, fuhr er fort, »das ist diese Freiheit …« wollte er in ernstem Ton anfangen, überlegte sich aber, ob er fortfahren solle, da er merkte, daß dies doch ein zu egoistischer Gesprächsstoff sei.

»Sie bauen also?«

»Ja, Saweljitsch hat es so befohlen.«

»Sagen Sie, sie wußten also noch nichts vom Tod der Gräfin, als Sie in Moskau zurückblieben?« fragte Prinzessin Marja, wurde aber sogleich rot, da sie bemerkte, daß sie dadurch, daß sie diese Frage sogleich nach seinem Ausspruch über die Freiheit gestellt hatte, seinen Worten eine Bedeutung zuschrieb, die sie möglicherweise gar nicht hatten.

»Nein«, antwortete Pierre und war offenbar durch die Auslegung, die Prinzessin Marja der Erwähnung seiner Freiheit gegeben hatte, durchaus nicht peinlich berührt. »Ich erfuhr es erst in Orel, und Sie können sich vorstellen, welchen Eindruck diese Nachricht auf mich ausübte. Wir waren keine Mustergatten«, fuhr er mit einem Blick auf Natascha schnell fort und bemerkte auf ihrem Gesicht einen gespannten Ausdruck, wie er sich über seine Frau äußern werde, »aber dieser Tod hat mich dennoch furchtbar ergriffen. Wenn sich zwei Menschen zanken, haben immer beide schuld. Und die eigne Schuld gegen den, der nicht mehr lebt, wird plötzlich zu einer furchtbaren Last. Und dann, was für ein Tod … ohne Freunde, ohne Trost. Sie tut mir sehr, sehr leid«, schloß er und bemerkte mit Vergnügen eine freudige Zustimmung auf Nataschas Gesicht.

»Also sind Sie nun wieder Junggeselle und Heiratskandidat«, sagte Prinzessin Marja.

Pierre wurde plötzlich dunkelrot und bemühte sich lange, Natascha nicht anzusehen. Als er sich endlich entschloß, wieder einen Blick auf sie zu werfen, war ihr Gesicht kalt, streng und sogar, wie ihm schien, etwas verächtlich.

»Und haben Sie wirklich Napoleon gesehen und mit ihm gesprochen, wie man uns erzählt hat?« fragte Prinzessin Marja.

Pierre lachte.

»Nicht einmal, nicht ein einziges Mal. Alle denken immer: in der Gefangenschaft zu sitzen bedeute dasselbe, wie bei Napoleon zu Gast zu sein. Ich habe ihn nicht nur nie gesehen, sondern auch nichts von ihm gehört. Ich befand mich in weit schlechterer Gesellschaft.«

Das Abendessen war beendet, und Pierre, der sich anfänglich geweigert hatte, von seiner Gefangenschaft zu erzählen, ließ sich allmählich dazu hinreißen.

»Aber das ist doch wahr, daß Sie hier geblieben sind, um Napoleon umzubringen?« fragte ihn Natascha mit leichtem Lächeln. »Ich habe es mir damals gleich gedacht, als wir Ihnen beim Sucharewturm begegneten. Wissen Sie noch?«

Pierre gab zu, daß dies richtig war, und kam von diesem Augenblick an, durch die Fragen der Prinzessin Marja und vor allem Nataschas dahingebracht, in ein ausführliches Erzählen seiner Abenteuer hinein.

Anfangs erzählte er in jener spöttischen, sanften Art, mit der er jetzt alle Menschen und vor allem sich selber betrachtete, dann aber, als er zu der Schilderung der Schrecken und der furchtbaren Leiden, die er gesehen hatte, gekommen war, ließ er sich, ohne es selber zu merken, hinreißen und erzählte mit der verhaltenen Erregung eines Menschen, der starke Eindrücke in der Erinnerung noch einmal durchlebt.

Prinzessin Marja blickte mit sanftem Lächeln bald auf Pierre, bald auf Natascha. Durch seine ganze Erzählung hindurch sah sie nur Pierre und seine Güte. Natascha saß, den Kopf auf die Hand gestützt, da, folgte Pierres Schilderungen mit einem je nach seinen Worten ständig wechselnden Gesichtsausdruck, ohne sich auch nur einen Augenblick ablenken zu lassen, und durchlebte sichtlich mit ihm zusammen noch einmal alles, was er erzählte. Und nicht nur ihr Blick, sondern auch die Ausrufe und kurzen Fragen, die sie dazwischen warf, zeigten Pierre, daß sie aus allem, was er sagte, immer gerade das in sich aufnahm, was er wiedergeben wollte. Man sah, daß sie nicht nur das verstand, was er erzählte, sondern auch das, was er schildern wollte, aber nicht mit Worten auszudrücken vermochte. Sein Erlebnis mit dem Kindchen und der Frau, bei deren Verteidigung er gefangengenommen worden war, gab er auf folgende Weise wieder: »Es war ein entsetzliches Schauspiel: verlassene Kinder, einige im Feuer zurückgeblieben … Ich war dabei, wie man ein Kind herausholte … Frauen, denen man die Sachen vom Leibe raubte, die Ohrringe abriß …«

Pierre wurde rot und stockte.

»Dann kam eine Patrouille und nahm alle, auch die, die nicht geraubt hatten, alle Männer fest. Also auch mich.«

»Sicher erzählen Sie nicht alles, sicher haben Sie irgend etwas getan …« sagte Natascha und schwieg, »… etwas Gutes.«

Pierre berichtete weiter. Als er die Hinrichtung schilderte, wollte er die furchtbaren Einzelheiten umgehen, aber Natascha verlangte, daß er nichts auslasse.

Pierre wollte von Karatajew zu erzählen anfangen – er war längst vom Tisch aufgestanden, ging im Zimmer auf und ab, und Natascha verfolgte ihn mit den Augen –, aber er hielt inne.

»Nein, Sie können das nicht verstehen, was ich von diesem einfältigen Menschen, der weder lesen noch schreiben konnte, gelernt habe.«

»Doch, doch, erzählen Sie nur«, rief Natascha. »Wo ist er jetzt?«

»Er wurde erschossen, fast vor meinen Augen.«

Und Pierre begann von der letzten Zeit ihres Rückzuges zu erzählen, von Karatajews Krankheit – seine Stimme zitterte unaufhörlich – und von seinem Tod.

Er gab seine Erlebnisse so wieder, wie er sich selbst ihrer noch nie erinnert hatte. Es war, als sähe er alles, was er durchlebt hatte, jetzt in neuem Licht. Während er Natascha alles erzählte, empfand er den seltenen Genuß, den Frauen durch Zuhören einem Mann gewähren können, nicht jene geistreichen Frauen, die sich beim Zuhören bemühen, sich das Gesagte einzuprägen, um ihren Geist zu bereichern und es bei Gelegenheit wiederzugeben, oder es sich aneignen und schnell ihre geistreichen Bemerkungen darüber machen, die sie in dem kleinen Haushalt ihres Verstandes ausgearbeitet haben, sondern echte Frauen, die mit der Fähigkeit begabt sind, das Beste auszuwählen und in sich aufzunehmen, was in den Worten eines Mannes liegt. Natascha war, ohne es selber zu wissen, ganz Ohr: ihr entging kein Wort, keine Schwankung in der Stimme, kein Blick, kein Zucken eines Gesichtsmuskels, keine seiner Gesten. Im Flug erhaschte sie die Worte, noch ehe sie ausgesprochen waren, trug sie geradewegs in ihr geöffnetes Herz und erriet den geheimen Sinn von Pierres ganzer Seelenarbeit.

Prinzessin Marja folgte ebenfalls seinen Worten, nahm Anteil an ihnen, aber sie sah jetzt etwas anderes, das ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: sie sah die Möglichkeit von Liebe und Glück zwischen Natascha und Pierre. Und dieser Gedanke, der ihr jetzt zum erstenmal kam, erfüllte ihr Herz mit Freude.

Es war drei Uhr nachts. Die Diener kamen mit müden, ernsten Gesichtern und steckten neue Kerzen auf, aber niemand bemerkte sie.

Pierres Erzählung war zu Ende. Natascha sah ihn immer noch mit lebhaft glänzenden Augen unverwandt und aufmerksam an, als wolle sie noch das übrige, was er vielleicht nicht ausgesprochen hatte, mit ihrem Geist durchdringen. Pierre blickte in verschämter, glücklicher Verwirrung dann und wann zu ihr hinüber und sann darüber nach, was er nun sagen könne, um das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Prinzessin Marja schwieg. Niemand dachte daran, daß es drei Uhr nachts und Zeit zum Schlafen war.

»Da heißt es immer: Unglück, Leiden«, fuhr Pierre fort, »wenn man mich aber jetzt, in diesem Augenblick, fragen würde: Möchtest du der bleiben, der du vor der Gefangenschaft warst, oder noch einmal von Anfang an dies alles durchleben? – dann nur um Gottes willen noch einmal Gefangenschaft und Pferdefleisch. Wir denken immer, wenn wir aus dem gewohnten Geleise geworfen werden, ist alles aus, und doch fängt erst dann das Neue, Gute an. Solange Leben ist, ist Glück. Vor uns liegt noch viel, viel. Das sage ich Ihnen«, wandte er sich an Natascha.

»Ja, ja«, sagte sie, auf den Anfang seiner Worte antwortend, »auch ich wünschte nichts anderes, als alles noch einmal von Anfang an zu durchleben.«

Pierre sah sie aufmerksam an.

»Ja, und weiter nichts«, bestätigte Natascha.

»Das kann nicht sein, das kann nicht sein«, rief Pierre. »Es ist meine Schuld, daß ich lebe und leben möchte, und ebenso ist es auch bei Ihnen.«

Plötzlich senkte Natascha den Kopf auf ihre Hand und fing an zu weinen.

»Was hast du, Natascha?« fragte Prinzessin Marja.

»Nichts, nichts.« Sie lächelte durch Tränen Pierre zu.

»Gute Nacht, es ist Zeit schlafen zu gehen.«

Pierre stand auf und empfahl sich.

Wie immer kamen Prinzessin Marja und Natascha im Schlafzimmer noch einmal zusammen. Sie sprachen von dem, was Pierre erzählt hatte. Prinzessin Marja wollte ihre Ansicht über Pierre nicht aussprechen, und auch Natascha redete nicht von ihm.

»Nun, gute Nacht, Marie«, sagte Natascha. »Weißt du, ich habe Angst: wir sprechen nie von ihm« – dem Fürsten Andrej –, »aus Furcht, unsere Gefühle in den Staub zu ziehen, und dabei vergessen wir ihn.«

Prinzessin Marja seufzte schwer und anerkannte durch diesen Seufzer die Wahrheit dessen, was Natascha gesagt hatte, aber mit Worten stimmte sie ihr nicht bei.

»Könnte man ihn denn je vergessen?« fragte sie.

»Es hat mir heute so wohl getan, alles auszusprechen, so wohl, und dabei war es doch schwer und schmerzlich. Aber es tat mir sehr wohl«, wiederholte Natascha. »Ich bin überzeugt, daß er ihn wirklich geliebt hat. Deshalb habe ich ihm auch alles erzählt … Es schadet doch nichts, daß ich es ihm erzählt habe?« fragte sie plötzlich und wurde rot.

»Pierre? O nein! Was ist er doch für ein prächtiger Mensch!« rief Prinzessin Marja aus.

»Weißt du, Marie«, fing Natascha plötzlich mit jenem schelmischen Lächeln an, das Prinzessin Marja lange nicht mehr auf ihrem Gesicht gesehen hatte. »Er ist so rein, so glatt, so frisch geworden, als käme er gerade aus dem Bad. Du verstehst mich doch? Aus einem moralischen Bad. Habe ich nicht recht?«

»Ja«, erwiderte Prinzessin Marja, »er hat sehr gewonnen.«

»Und der kurze Rock und das geschorene Haar, ganz, ganz als wenn er aus dem Bad käme … wie Papa das immer …«

»Ich kann verstehen, daß er« – sie meinte den Fürsten Andrej – »keinen mehr geliebt hat als ihn«, warf Prinzessin Marja ein.

»Und doch sind sie beide so verschieden. Es heißt ja immer, daß Männer dann die besten Freunde werden, wenn sie einander nicht gleich sind. Das muß wohl wahr sein. Nicht wahr, er ist ihm in nichts ähnlich, in nichts?«

»Nein, und doch ist er ein wunderbarer Mensch.«

»Nun, gute Nacht!« erwiderte Natascha.

Und jenes schelmische Lächeln lag noch lang wie vergessen auf ihrem Gesicht.

19

Pierre konnte an diesem Tag lange nicht einschlafen. Er ging im Zimmer auf und ab, runzelte, mit schweren Gedanken beschäftigt, bald finster die Stirn, zuckte ab und zu die Schultern oder fuhr plötzlich zusammen, dann aber lächelte er wieder glücklich vor sich hin.

Er dachte an den Fürsten Andrej, an Natascha, an ihre Liebe. Bald war er eifersüchtig auf ihre Vergangenheit, bald machte er sich wegen dieser Eifersucht Vorwürfe, bald verzieh er sie sich wieder. Es war schon sechs Uhr morgens, und immer noch ging er im Zimmer auf und ab.

Was soll ich machen, wenn es eben nicht anders geht? Was tun? Es muß wohl so sein, sagte sich Pierre, zog sich hastig aus und legte sich glücklich und erregt, aber ohne Zweifel und mit Entschlossenheit aufs Bett.

Es muß sein, wie seltsam, wie unmöglich auch dieses Glück scheint. Ich muß alles tun, damit sie die Meine wird, sagte er sich.

Noch vor einigen Tagen hatte er den Freitag für seine Abreise nach Petersburg bestimmt. Als er am Donnerstag aufwachte, kam Saweljitsch zu ihm, um seine Befehle für das Einpacken der Sachen zur Reise entgegenzunehmen.

Wie denn nach Petersburg? Was ist mit Petersburg? Wer will nach Petersburg? fragte er sich unwillkürlich, wenn auch nur im stillen. Ja, da war doch damals, ehe das geschah, etwas, weshalb ich nach Petersburg fahren wollte, fiel ihm ein. Warum nicht? Vielleicht fahre ich auch hin. Wie gut er ist, wie aufmerksam! Wie er an alles denkt! dachte er und sah in Saweljitschs altes Gesicht. Und was für ein liebes Lächeln er hat, dachte er weiter.

»Wie steht’s, Saweljitsch, möchtest du noch immer nicht frei sein?« fragte ihn Pierre.

»Wozu sollte ich frei sein wollen, Erlaucht? Ich habe mein Leben lang beim alten Grafen, Gott hab ihn selig, zufrieden gelebt, und auch bei Ihnen ist es mir nicht schlecht gegangen.«

»Aber deine Kinder?«

»Den Kindern wird es nicht anders ergehen, Erlaucht. Bei solchen Herren kann man schon leben.«

»Nun ja, aber meine Erben?« fragte Pierre. »Wenn ich nun auf einmal wieder heiraten sollte … Das könnte doch sein«, fügte er unwillkürlich lächelnd hinzu.

»Das wäre nur gut, Erlaucht, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf?«

Wie er sich das denkt, als ob das so leicht wäre, dachte Pierre. Er hat keine Ahnung, wie furchtbar, wie gefährlich das ist. Entweder zu früh oder zu spät … Entsetzlich!

»Was belieben Sie zu befehlen? Belieben Sie morgen abzufahren?« fragte Saweljitsch.

»Nein. Ich möchte es noch etwas aufschieben. Ich sage es dir dann. Nimm mir’s nicht übel, wenn ich dir Scherereien gemacht habe«, erwiderte Pierre und dachte, als er Saweljitschs Lächeln sah: Wie sonderbar, daß er nicht weiß, daß es für mich jetzt kein Petersburg mehr gibt, sondern vor allem nur das eine entschieden werden muß. Übrigens weiß er es sicher und verstellt sich bloß. Ob ich mit ihm davon spreche? Was denkt er wohl? fragte sich Pierre. Nein, später einmal.

Beim Frühstück erzählte Pierre der Prinzessin, daß er gestern bei Prinzessin Marja gewesen sei. »Und stellen Sie sich vor, wen ich dort traf«, fuhr er fort. »Natascha Rostowa.«

Die Prinzessin gab sich den Anschein, als fände sie in dieser Nachricht nichts Außergewöhnliches, ganz als ob er ihr erzählte, er habe Anna Semjonowna gesehen.

»Kennen Sie sie?« fragte Pierre.

»Ich habe die Prinzessin manchmal gesehen«, erwiderte sie. »Ich hörte, daß man sie dem jungen Rostow zugedacht hat. Das wäre recht gut für die Rostows; sie sollen ja ihr ganzes Vermögen verloren haben.«

»Nein, ich meine, ob Sie die Komtesse Rostowa kennen?«

»Ich habe damals nur jene Geschichte von ihr gehört. Das war doch recht bedauerlich.«

Nein, sie versteht mich nicht oder verstellt sich, dachte Pierre. Ich will lieber auch mit ihr nicht darüber sprechen.

Auch die Prinzessin hatte Vorbereitungen für Pierres Reise getroffen, indem sie Proviant für ihn besorgt hatte.

Wie gut sie alle sind, dachte er, daß sie jetzt, wo sie doch sicher kein Interesse mehr daran haben können, sich noch mit alledem beschäftigen. Und das alles für mich, wie wunderbar das ist!

Am selben Tag kam der Polizeimeister zu Pierre und forderte ihn auf, einen Bevollmächtigten nach dem Facettenpalast zu schicken, um die Sachen entgegenzunehmen, die heute an ihre Eigentümer zurückerstattet würden.

Und auch der, dachte Pierre, während er dem Polizeimeister ins Gesicht sah, was für ein prächtiger, hübscher Offizier, und wie gut er ist! In einem Augenblick wie jetzt gibt er sich mit solchen Kleinigkeiten ab! Und da sagen die Leute noch, er sei unehrlich und lasse sich bestechen. So ein Unsinn. Und dann übrigens, warum sollte er sich nicht bestechen lassen? Er ist doch in solchen Anschauungen groß geworden. Sie tun es doch alle. Und ein so angenehmes, gutes Gesicht und Lächeln hat er, wenn er mich ansieht.

Zum Mittagessen fuhr Pierre zu Prinzessin Marja.

Während er die Straßen zwischen den niedergebrannten Häusern entlang fuhr, wunderte er sich über die Schönheit dieser Ruinen. Die Schornsteine der Häuser, die halbzerfallenen Mauern zogen sich, hier und da einander verdeckend, durch ganze Stadtteile, die niedergebrannt waren, und erinnerten durch ihren malerischen Anblick an die Burgen des Rheins und an das Kolosseum. Die Kutscher und Fahrgäste, die Zimmerleute, die Balken aufrichteten, die Hökerfrauen und Budenbesitzer, an denen Pierre vorüberfuhr, sie alle sahen ihn mit heiteren, strahlenden Gesichtern an und schienen zu sagen: Da ist er ja! Wollen mal sehen, was daraus wird!

Als Pierre in das Haus der Prinzessin Marja eintrat, überkam ihn ein Zweifel, ob er denn wirklich gestern hier gewesen sei, wirklich Natascha gesehen und wirklich mit ihr gesprochen habe. Vielleicht habe ich das alles nur geträumt? Vielleicht komme ich jetzt her und sehe niemanden mehr? Aber kaum hatte er das Zimmer betreten, als er auch schon durch das augenblickliche Schwinden seiner Freiheit in seinem innersten Wesen fühlte, daß sie hier war.

Sie trug dasselbe schwarze Kleid mit den weichen Falten und dieselbe Frisur wie gestern, und doch war sie eine ganz andere. Wenn sie gestern, als er ins Zimmer trat, so gewesen wäre, hätte er sie augenblicklich wiedererkannt.

Sie war jetzt ganz so, wie er sie gekannt hatte, als sie noch fast ein Kind und als sie des Fürsten Andrej Braut gewesen war. Ein froher, fragender Glanz leuchtete aus ihren Augen, und auf ihrem Gesicht lag wieder der freundliche, seltsam schelmische Ausdruck.

Pierre nahm am Mittagessen teil und wäre den ganzen Abend dageblieben, wenn Prinzessin Marja nicht zum Abendgottesdienst gefahren wäre. So fuhr er mit ihnen fort.

Am nächsten Tag kam Pierre schon am Morgen, aß mit zu Mittag und blieb den ganzen Abend da. Obgleich sich Prinzessin Marja und Natascha sichtlich über den Gast freuten, obgleich Pierres ganzes Lebensinteresse jetzt nur in diesem Haus verankert war, schien gegen Abend doch jeder Gesprächsstoff erschöpft, und die Unterhaltung sprang beständig von einem nichtigen Gegenstand auf den andern über und kam oft ganz ins Stocken.

An diesem Abend blieb Pierre so lange da, daß Prinzessin Marja und Natascha einander manchmal verstohlen ansahen und spürbar darauf warteten, ob er nun nicht bald gehen werde. Pierre bemerkte dies, konnte sich aber nicht entschließen fortzugehen. Er empfand es drückend und peinlich, blieb aber doch, nur weil er nicht imstande war, aufzustehen und fortzugehen.

Prinzessin Marja, die kein Ende sah, stand zuerst auf, schützte Kopfschmerzen vor und machte Anstalten, sich zurückzuziehen.

»Also morgen fahren Sie nach Petersburg?« fragte sie.

»Nein, ich fahre nicht«, erwiderte Pierre schnell und erstaunt; fast, als ob er sich beleidigt fühlte. »Doch ja, nach Petersburg? Morgen. Aber ich nehme noch nicht Abschied. Ich komme noch einmal, um mir Aufträge zu holen«, setzte er hinzu, blieb vor Prinzessin Marja stehen, wurde rot, ging aber immer noch nicht fort.

Natascha reichte ihm die Hand und ging hinaus. Prinzessin Marja dagegen ließ sich, statt zu gehen, wieder auf einen Sessel nieder und sah Pierre mit ihrem leuchtenden, tiefen Blick ernst und aufmerksam an. Die Müdigkeit, von der sie vorhin so offen gesprochen hatte, war gänzlich vorüber. Sie seufzte lang und schwer, als bereite sie sich zu einer langen Aussprache vor.

Nachdem Natascha hinausgegangen war, war alle Verwirrung und Unbehaglichkeit plötzlich von Pierre gewichen und hatte einer lebhaften Erregung Platz gemacht. Schnell rückte er seinen Sessel nahe an Prinzessin Marja heran.

»Ja, auch ich wollte gern mit Ihnen sprechen«, sagte er, indem er auf ihren Blick wie auf Worte antwortete. »Prinzessin, helfen Sie mir! Was soll ich tun? Kann ich hoffen? Prinzessin, beste Freundin, hören Sie mich an. Ich weiß alles. Ich weiß, daß ich ihrer nicht wert bin, weiß, daß ich jetzt unmöglich mit ihr darüber sprechen kann. Aber ich will ihr Bruder sein … Nein, das nicht, das kann ich nicht, das will ich nicht …«

Er hielt inne und rieb sich Gesicht und Augen mit beiden Händen.

»Also sehen Sie«, fuhr er fort und gab sich sichtlich Mühe, im Zusammenhang zu reden, »ich weiß nicht, seit wann ich sie liebe. Aber nur sie allein, nur sie allein habe ich mein ganzes Leben lang geliebt und liebe sie so, daß ich mir ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen kann. Sie jetzt um ihre Hand zu bitten, dazu kann ich mich nicht entschließen, aber der Gedanke, daß sie vielleicht die Meine werden könnte, und ich diese Möglichkeit … diese Möglichkeit … versäumte … dieser Gedanke ist mir entsetzlich. Sagen Sie, darf ich hoffen? Raten Sie mir: was soll ich tun? Liebste Prinzessin!« bat er, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte, und berührte, da sie ihm keine Antwort gab, ihre Hand.

»Ich denke über das nach, was Sie mir gesagt haben«, erwiderte Prinzessin Marja ruhig. »Ich will Ihnen etwas sagen: Sie haben recht, jetzt mit ihr von Liebe zu reden …«

Die Prinzessin hielt inne. Sie wollte sagen: jetzt mit ihr von Liebe zu reden, ist unmöglich, brach aber ab, weil sie seit zwei Tagen die plötzliche Umwandlung Nataschas beobachtet hatte und wußte, daß Natascha nicht nur nicht beleidigt sei, wenn ihr Pierre seine Liebe ausspräche, sondern daß sie nichts dringender ersehnte.

»Jetzt mit ihr zu reden … geht nicht gut«, sagte Prinzessin Marja dennoch.

»Aber was soll ich nur tun?«

»Vertrauen Sie die Sache mir an«, fuhr sie fort. »Ich weiß …«

Pierre blickte der Prinzessin in die Augen.

»Nun?… Nun?…« sagte er.

»Ich weiß, daß Natascha Sie liebt … Sie lieben wird«, verbesserte sie sich.

Sie hatte die Worte noch nicht ausgesprochen, als Pierre aufsprang und in äußerster Erregung ihre Hand ergriff.

»Warum glauben Sie das? Sie denken, ich darf hoffen? Sie glauben es?!«

»Ja, ich glaube es«, sagte Prinzessin Marja lächelnd. »Schreiben Sie an ihre Eltern, und vertrauen Sie die Sache mir an. Ich werde es ihr sagen, sobald es möglich ist. Es ist ja auch mein Wunsch. Und mein Herz fühlt, daß er in Erfüllung gehen wird.«

»Nein, das kann nicht sein! Wie glücklich ich bin! Aber es kann ja nicht sein … Wie glücklich ich bin! Nein, es ist unmöglich!« sagte Pierre immer wieder und küßte Prinzessin Marja die Hände.

»Reisen Sie nach Petersburg, das wird das beste sein. Ich werde Ihnen schreiben«, versprach sie.

»Nach Petersburg? Abreisen? Nun gut, ich werde reisen. Aber morgen darf ich noch einmal zu Ihnen kommen?«

Am nächsten Tag kam Pierre, um sich zu verabschieden. Natascha war weniger lebhaft als die Tage zuvor, aber Pierre fühlte, wenn er ihr dann und wann ins Auge sah, daß er gleichsam versank, daß weder er noch sie auf der Welt war, sondern nur noch ein einziges Gefühl des Glücks. Ist es möglich? Nein, es kann nicht sein, sagte er sich bei jedem Blick, bei jeder Bewegung, bei jedem Wort von ihr, die seine Seele mit Glück erfüllten.

Als er beim Abschied ihre feine, magere Hand ergriff, behielt er sie unwillkürlich etwas länger in der seinen.

Soll wirklich diese Hand, dieses Gesicht, diese Augen, dieser ganze mir fremde Schatz weiblicher Reize auf ewig mein sein? Soll wirklich dies alles für mich etwas so Gewohntes werden, wie ich es für mich selber bin? Nein, das ist unmöglich! …

»Leben Sie wohl, Graf«, sagte Natascha mit lauter Stimme zu ihm, fügte aber dann flüsternd hinzu: »Ich werde Sie sehr erwarten.«

Und diese einfachen Worte und ihr Blick und Gesichtsausdruck dabei waren für Pierre zwei Monate lang der Gegenstand unerschöpflicher Erinnerungen, Deutungen und glücklicher Träumereien. Ich werde Sie sehr erwarten … Ja, ja, wie sagte sie doch? Ich werde Sie sehr erwarten … Ach, wie glücklich ich bin! Wie kommt das nur, daß ich so glücklich bin! sagte er zu sich selber.

20

In Pierres Seele vollzog sich jetzt nichts ähnlich dem, was während seiner Brautwerbung um Helene fast unter denselben Umständen in ihm vorgegangen war.

Er wiederholte nicht wie damals in schmerzlicher Scham die Worte, die er gesprochen hatte, warf sich nicht vor: Ach, warum habe ich nicht das und das gesagt, und warum, warum habe ich damals gerade gesagt: Je vous aime? sondern rief sich im Gegenteil jedes ihrer und seiner Worte ins Gedächtnis zurück, stellte sich dazu jeden einzelnen Gesichtszug, jedes Lächeln vor, mochte nichts weglassen noch hinzusetzen, sondern immer nur wiederholen, wiederholen. Von einem Zweifel, ob das, was er unternommen hatte, gut oder schlecht war, war jetzt nicht die Spur. Nur ein furchtbares Bedenken kam ihm manchmal in den Sinn: Habe ich das alles nicht etwa nur geträumt? Hat sich Prinzessin Marja auch nicht etwa geirrt? Bin ich nicht zu eingebildet und selbstbewußt? Ich glaube daran, plötzlich aber – und so muß es ja kommen – wird Prinzessin Marja es ihr sagen, und sie wird lächeln und antworten: Wie merkwürdig! Er hat sich wohl geirrt! Weiß er denn nicht, daß er ein Mensch, ganz einfach nur ein Mensch ist, während ich … Ich bin doch etwas ganz anderes, Höheres.

Dies war der einzige Zweifel, der Pierre häufig kam. Auch Pläne schmiedete er jetzt nicht mehr. Das bevorstehende Glück schien ihm so unglaublich, daß, wenn es sich wirklich erfüllen sollte, für ihn nichts mehr kommen konnte. Das war das Größte, das Letzte.

Eine glückselige, niegeahnte Liebestollheit, deren sich Pierre nie für fähig gehalten hätte, war über ihn gekommen. Die ganze Bedeutung des Lebens, nicht nur für ihn, sondern auch für alle Welt, schien ihm jetzt nur noch in seiner Liebe und in der Möglichkeit ihrer Gegenliebe zu liegen. Manchmal kam es ihm vor, als wären alle Leute nur mit dem einen Gegenstand beschäftigt: mit seinem künftigen Glück. Ihm schien, als wären sie alle ebenso glücklich wie er und suchten nur dieses Glück zu verbergen, indem sie sich stellten, als wären sie mit anderen Dingen beschäftigt. In jedem Wort, in jeder Bewegung sah er eine Anspielung auf sein Glück. Oft setzte er die Leute, mit denen er zusammentraf, durch seine bedeutsamen, glücklichen Blicke und sein Lächeln, das ein geheimes Einverständnis zum Ausdruck brachte, in Erstaunen. Sah er aber dann, daß diese Menschen ja gar nichts von seinem Glück wissen konnten, so bedauerte er sie von ganzem Herzen und war von dem Wunsch beseelt, ihnen klarzumachen, daß alles, womit sie beschäftigt waren, vollständiger Unsinn, Nebensache und nicht ihrer Aufmerksamkeit wert war.

Wenn man ihm den Vorschlag machte, in den Staatsdienst zu treten, oder über allgemeine Staats- oder Kriegsfragen stritt und dabei von der Annahme ausging, von diesem oder jenem Ausgang der Ereignisse hänge das Glück der Menschen ab, so hörte er mit sanftem mitleidigem Lächeln zu und setzte die Leute, die sich mit ihm unterhielten, durch seine sonderbaren Bemerkungen in Erstaunen. Aber sowohl jene, die, wie es Pierre schien, den wahren Sinn des Lebens, das heißt seine Liebe, verstanden hatten, wie auch jene Unglücklichen, die offenbar kein Verständnis dafür hatten – sie alle zeigten sich ihm während dieser Zeit in jenem grellen Licht des Gefühls, von dem er durchleuchtet war, so daß er ohne die geringste Anstrengung bei jedem Menschen, mochte er treffen, wen er wollte, mit einem Schlag erkennen konnte, was in ihm gut und liebenswert war.

Während er die Papiere seiner verstorbenen Frau durchsah und ihre Angelegenheiten ordnete, empfand er im Gedenken an sie kein anderes Gefühl als Mitleid, daß sie ein solches Glück, wie er es jetzt empfand, nie gekannt hatte. Fürst Wassilij, der nach Empfang eines neuen Ehrenamtes und eines neuen Ordens besonders stolz war, erschien ihm wie ein rührend guter alter Mann, mit dem man Mitleid haben mußte.

Pierre dachte später oft an diese glückselige Liebestollheit zurück. Alle Urteile, die er sich während dieser Zeit von Menschen und Dingen gebildet hatte, erwiesen sich ihm für immer als richtig. Er machte sich in der Folgezeit von diesen Anschauungen über Menschen und Dinge nicht nur nicht los, sondern nahm bei inneren Zweifeln und Widersprüchen oft wieder seine Zuflucht gerade bei jenen Ansichten, die er während dieser Zeit seiner Liebestollheit gehabt hatte, und dieser Standpunkt erwies sich immer als richtig.

Vielleicht, dachte er, erschien ich damals seltsam und lächerlich, aber ich war gar nicht so unvernünftig, wie ich schien. Im Gegenteil, ich war klüger und einsichtsvoller denn je, denn ich verstand alles, was sich im Leben zu verstehen lohnt, weil … weil ich glücklicher war.

Pierres Unvernunft bestand darin, daß er, um die Menschen zu lieben, nicht wie früher erst persönliche Gründe, die er gute Eigenschaften nannte, in den anderen suchte, sondern mit einem Herzen voll Liebe ohne jeden Grund alle Menschen umfaßte und stets unzweifelhafte Gründe fand, um derentwillen sie seiner Liebe wert waren.

21

Seit jenem ersten Abend, da Natascha, nachdem Pierre fortgegangen war, mit lustig spöttischem Lächeln zu Prinzessin Marja gesagt hatte, daß er in seinem kurzen Röckchen und kurzgeschnittenen Haar ganz, ganz so aussehe, als käme er aus dem Bad, seit jenem Augenblick keimte etwas Geheimes, Unüberwindliches in Nataschas Herzen, wovon sie selber gar nichts wußte.

Alles: ihr Gesicht, ihr Gang, ihr Blick, ihre Stimme – alles war mit einem Schlag verändert. Ihre Lebenskraft, an die sie selber nicht mehr geglaubt hatte, und ihre Hoffnungen auf Glück hatten die Oberhand gewonnen und forderten Befriedigung. Vom ersten Abend an schien Natascha alles vergessen zu haben, was mit ihr geschehen war. Seit jenem Augenblick klagte sie nicht ein einziges Mal mehr über ihren Zustand, sagte nicht ein Wort mehr über die Vergangenheit und scheute sich nicht mehr, frohe Pläne über die Zukunft zu entwerfen. Sie sprach wenig von Pierre, doch wenn ihn Prinzessin Marja erwähnte, strahlte ein lang erloschener Glanz aus ihren Augen, und ihre Lippen umspielte ein seltsames Lächeln.

Die Veränderung, die mit Natascha vorging, setzte Prinzessin Marja anfänglich in Erstaunen, doch als sie dann ihre Bedeutung erkannt hatte, stimmte sie sie traurig. Hat sie wirklich meinen Bruder so wenig geliebt, daß sie ihn so schnell vergessen kann? fragte sich Prinzessin Marja, als sie einmal über die erfolgte Veränderung nachdachte. War sie aber mit Natascha zusammen, so zürnte sie ihr nicht und machte ihr keine Vorwürfe. Die erwachende Lebenskraft kam sichtlich so unaufhaltsam und unerwartet über Natascha, daß Prinzessin Marja in ihrer Gegenwart fühlte, daß sie nicht das Recht habe, ihr Vorwürfe zu machen, nicht einmal in ihrem Herzen.

Natascha gab sich so sehr und mit solcher Aufrichtigkeit dem neuen Gefühl hin, daß sie nicht einmal den Versuch machte zu verbergen, daß sie nicht mehr traurig, sondern glücklich und heiter war.

Als Prinzessin Marja nach ihrer Aussprache mit Pierre auf ihr Zimmer kam, traf sie Natascha auf der Schwelle.

»Hat er gesprochen? Ja? Hat er gesprochen?« fragte sie immer wieder.

Und ein glücklicher und zugleich rührender Ausdruck, der wegen ihres Glückes um Verzeihung bat, lag auf ihrem Gesicht.

»Ich wollte an der Tür horchen, aber ich wußte ja, daß du es mir sagen würdest.«

Wie verständlich, wie rührend für Prinzessin Marja dieser Blick war, mit dem Natascha sie ansah, wie leid ihr auch ihre Erregung tat, sie fühlte sich doch im ersten Augenblick durch Nataschas Worte gekränkt. Sie dachte an ihren Bruder und an seine Liebe.

Was ist da zu machen? Sie kann nicht anders, dachte Prinzessin Marja.

Und mit traurigem und etwas strengem Gesicht teilte sie Natascha alles mit, was Pierre zu ihr gesagt hatte. Als Natascha hörte, daß er nach Petersburg fahren wolle, wunderte sie sich.

»Nach Petersburg?« fragte sie noch einmal, als könne sie das nicht begreifen.

Doch als sie Prinzessin Marjas bekümmerten Gesichtsausdruck bemerkte, erriet sie den Grund ihrer Traurigkeit und fing plötzlich an zu weinen.

»Marie«, schluchzte sie, »sage mir, was ich tun soll: ich habe Angst, schlecht zu sein. Was du willst, werde ich tun; sage mir …«

»Liebst du ihn?«

»Ja«, flüsterte Natascha.

»Warum weinst du da? Ich freue mich für dich«, tröstete sie Prinzessin Marja, die um dieser Tränen willen Natascha bereits vollkommen ihre Glückseligkeit verziehen hatte.

»Es wird nicht so bald werden, aber doch dereinst. Denke dir, was für ein Glück, wenn ich seine Frau sein werde und du Nicolas heiratest.«

»Natascha, ich habe dich gebeten, nicht darüber zu sprechen. Reden wir von dir.«

Beide schwiegen.

»Warum fährt er nur nach Petersburg?« sagte Natascha dann plötzlich, gab sich aber schnell selber die Antwort: »Nein, nein, es muß schon so sein … Nicht wahr, Marie, es muß wohl so sein …«

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