Nach der Verlobung des Fürsten Andrej mit Natascha hatte Pierre plötzlich ohne sichtlichen Grund gefühlt, daß er sein bisheriges Leben unmöglich so weiterführen konnte. Wie fest er auch von den Wahrheiten überzeugt war, die ihm sein Wohltäter offenbart hatte, wie freudig er sich auch im Anfang der inneren Arbeit der Selbstvervollkommnung hingegeben hatte, die er mit solchem Eifer anstrebte, – nach der Verlobung des Fürsten Andrej mit Natascha und nach dem Tod Osip Alexejewitschs – zwei Nachrichten, die er fast zu gleicher Zeit erhielt – hatte sein ganzes Streben für ihn den Reiz verloren. Nun blieb ihm vom Leben nur noch das Gerippe: sein Haus mit seiner strahlend schönen Frau, die augenblicklich die Gunst einer sehr hochgestellten Persönlichkeit genoß, seine Bekanntschaft mit ganz Petersburg und sein Dienst mit den langweiligen Formalitäten. Und plötzlich und für ihn selber unerwartet erschien ihm dieses bisherige Leben ekelhaft. Er hörte auf, in sein Tagebuch zu schreiben, floh die Gesellschaft der Brüder, ging wieder in den Klub, fing wieder an, viel zu trinken, schloß sich wieder der Junggesellenbande an und begann ein solches Leben zu führen, daß es Gräfin Helene für notwendig hielt, ihm ernste Vorhaltungen zu machen. Pierre fühlte, daß sie recht hatte, und reiste, um seine Frau nicht zu kompromittieren, nach Moskau.
Kaum war er in Moskau in sein riesiges Haus mit den teils schon vertrockneten, teils noch im Vertrocknen begriffenen Prinzessinnen und dem gewaltigen Dienertroß eingezogen, kaum hatte er auf der Fahrt durch die Stadt die Iberische Kapelle[113] mit ihren unzähligen brennenden Kerzen vor den goldenen Heiligenbildern gesehen und den Platz vor dem Kreml mit seiner jungfräulich unberührten Schneedecke, die Moskauer Droschkenkutscher und die elenden Buden von Siwzew-Wraschek[114], kaum hatte er die Moskauer alten Herren wiedergetroffen, die immer Zeit hatten und keinen Wunsch weiter verspürten, als gemächlich ihren Lebensabend zu verbringen, kaum hatte er die alten Moskauer Damen wiedergesehen und die Moskauer Bälle und den Moskauer Englischen Klub – da fühlte er sich auch schon wie zu Hause, wie in einem stillen Hafen gelandet. Er hatte die Empfindung, als sei es hier friedlich, warm und gemütlich wie in einem alten Schlafrock, in dem man sich nicht vor jedem Schmutzfleck in acht zu nehmen braucht.
Die ganze Moskauer Gesellschaft, von den alten Damen angefangen bis hinunter zu den Kindern, nahm Pierre auf wie einen lieben, lang erwarteten Gast, dessen Platz immer freigehalten und nie besetzt wird. Für die Moskauer große Welt war Pierre ein äußerst lieber, guter, kluger, lustiger und hochherziger Sonderling, ein zwar etwas zerstreuter, aber doch herzensguter, vornehmer russischer Herr noch vom alten Schlag, dessen Säckel immer leer war, weil er eben für alle offen stand.
Benefizvorstellungen, minderwertige Gemälde, Statuen, Wohltätigkeitsgesellschaften, Zigeuner, Schulen, Subskriptionsessen, Zechgelage, Freimaurer, Kirchen, Bücher – niemand und nichts wurde abgewiesen, und wenn nicht zwei seiner Freunde, die sich immer viel Geld von ihm liehen, ihn unter ihre Vormundschaft gestellt hätten, so hätte er alles hingegeben. Im Klub fand kein Essen, keine Abendgesellschaft ohne ihn statt. Kaum hatte er sich nach zwei Flaschen Margaux schwerfällig auf seinen gewöhnlichen Sofaplatz fallen lassen, so bildete sich sogleich ein Kreis um ihn, und das Plaudern, Streiten und Scherzen begann. Geriet man irgendwo ernstlich in Streit, so führte er durch sein gutmütiges Lachen allein oder durch ein rechtzeitig eingeworfenes Scherzwort immer wieder die Versöhnung herbei. Die freimaurerischen Tafellogen waren langweilig und ohne straffen Zug, wenn er nicht dabei war.
Wenn er nach einem Abendessen unter Junggesellen den Bitten der lustigen Gesellschaft nachgab und sich mit gutmütigem, mildem Lächeln erhob, um mit ihnen zu gehen, stimmten die jungen Leute ein triumphierendes Freudengeheul an. Auf den Bällen tanzte er, wenn es an Herren fehlte. Die jungen Mädchen und Frauen hatten ihn alle gern, weil er keiner den Hof machte und gegen alle gleich liebenswürdig war, hauptsächlich nach dem Abendessen. »Il est charmant, il n’a pas de sexe«, sagten sie von ihm.
Pierre war einer jener Kammerherren außer Dienst, die in Moskau harmlos ihr Leben verbringen, wie es deren dort Hunderte gab.
Wie wäre er erschrocken, wenn ihm vor sieben Jahren, als er gerade aus dem Ausland zurückgekehrt war, einer gesagt hätte, daß er gar nicht zu suchen und zu grübeln brauche, da sein Leben ja doch in dem von alters her ausgefahrenen, ihm genau vorausbestimmten Geleise abrollen werde, und daß er, wie er sich auch drehen und wenden möge, doch auch nicht anders werden würde als alle, die in derselben Lage waren. Das hätte er einfach nicht geglaubt! Hatte er nicht mit ganzer Seele gewünscht, aus Rußland eine Republik zu machen, oder selber ein Napoleon zu werden, oder ein Philosoph, oder auch Napoleon durch seine kluge Taktik zu besiegen? Hatte er nicht die Möglichkeit vor Augen gesehen und den heißen Wunsch gehegt, die verderbte Menschheit zu einer Wiedergeburt zu führen und sich selbst auf den höchsten Gipfel der Vollkommenheit zu erheben? Hatte er nicht Schulen und Krankenhäuser gebaut und seinen Bauern die Freiheit geschenkt?
Und trotz alledem war er nichts anderes geworden als der reiche Mann einer treulosen Frau, als ein Kammerherr außer Dienst, der gern gut aß und gut trank, sich dann den Rock aufknöpfte und ein bißchen über die Regierung schimpfte, als ein Mitglied des Moskauer Englischen Klubs und als ein allgemein beliebtes Glied der Moskauer Gesellschaft. Lange konnte er sich nicht mit dem Gedanken aussöhnen, daß er nun doch solch ein Moskauer Kammerherr geworden war, ein Typ, den er noch vor sieben Jahren verachtet hatte.
Manchmal tröstete er sich mit dem Gedanken, daß er dieses Leben ja doch nur vorübergehend führe, dann aber schrak er wieder auf, wenn er daran dachte, wie viele Leute schon ebenso wie er in jungen Jahren nur »vorübergehend« in diesen Klub und in dieses Leben eingetreten und erst dann davon abgekommen waren, als sie keinen Zahn mehr im Mund und kein Haar mehr auf dem Kopf gehabt hatten.
Manchmal, wenn er seine Lage überdachte, schien es ihm in Augenblicken des Hochmuts, daß er dennoch ein ganz anderer sei, sich von jenen Kammerherren außer Dienst, die er früher verachtet hatte, doch unterscheide, daß jene dumme, fade Menschen und in ihrer Lage ganz ruhig und zufrieden seien. Ich aber bin auch jetzt noch unzufrieden und möchte immer noch etwas für die Menschheit tun, sagte er sich in diesen Augenblicken des Hochmuts. Vielleicht aber haben sich alle diese meine Leidensgefährten früher ebenso herumgeschlagen wie ich, haben nach einem neuen, eignen Weg im Leben gesucht und sind nun, ganz wie ich, durch Verhältnisse, Gesellschaft, Herkunft, durch alle jene elementaren Kräfte, gegen die der Mensch nicht ankommen kann, ebendahin geführt worden, wo auch ich angelangt bin, sagte er sich wiederum in Augenblicken der Bescheidenheit. Und nachdem er einige Zeit in Moskau gelebt hatte, verachtete er seine Schicksalsgenossen bereits nicht mehr, sondern fing an, sie zu lieben, zu achten und Mitleid mit ihnen zu haben wie mit sich selber.
Jene Augenblicke der Verzweiflung, der Schwermut, der Abkehr vom Leben kamen jetzt nicht mehr wie früher über Pierre, aber diese Krankheit, die früher durch schroffe Anfälle zum Ausdruck gekommen war, war nur nach innen getrieben und niemals ganz von ihm gewichen. A quoi bon? Wozu? Was soll dies Treiben auf der Welt? fragte er sich zweifelnd wohl mehrmals am Tag und fing unwillkürlich wieder an, über den Sinn aller Lebenserscheinungen nachzugrübeln. Da er aber aus Erfahrung wußte, daß es auf diese Frage keine Antwort gab, suchte er schleunigst davon abzukommen, vertiefte sich in ein Buch oder eilte in den Klub oder zu Apollon Nikolajewitsch, um mit ihm über Stadtklatsch zu plaudern.
Helene, die nie etwas anderes geliebt hat als ihren eignen Körper und eines der dümmsten Frauenzimmer auf der ganzen Welt ist, dachte Pierre, erscheint allen Leuten als das Nonplusultra verfeinerter Geisteskultur, und alle Welt beugt sich vor ihr. Napoleon wurde damals, als er wirklich groß war, von allen verachtet, seit er aber zum jämmerlichen Komödianten geworden ist, bemüht sich Kaiser Franz, ihm seine Tochter als illegitime Gattin aufzudrängen. Die Spanier senden durch die katholische Geistlichkeit Dankgebete zu Gott empor, weil sie am 14. Juni die Franzosen geschlagen haben, und die Franzosen senden durch eben die selbe katholische Geistlichkeit ebenso Dankgebete empor, weil sie am 14. Juni die Spanier geschlagen haben. Meine Freimaurerbrüder schwören alle den heiligen Eid, für den Nächsten zu jedem Opfer bereit zu sein, geben aber dabei nicht einmal einen Rubel pro Kopf in die Armenkollekte, intrigieren untereinander und bemühen sich um einen echten schottischen Teppich oder um Akten, deren Sinn nicht einmal der verstand, der sie schrieb, und die keinem Nutzen bringen. Wir alle bekennen uns zu dem christlichen Gebot der Nächstenliebe und des Verzeihens, ein Gebot, auf dessen Grundlage Dutzende von Kirchen in Moskau gebaut worden sind, und gestern hat man mit der Knute einen Deserteur zu Tode gepeitscht, und ein Diener eben des selben Gebotes der Nächstenliebe und des Verzeihens, ein Geistlicher, hat dem Soldaten vor der Todesstrafe das Kreuz zum Küssen hingehalten. So dachte Pierre, und obgleich er doch daran gewöhnt war, staunte er immer wieder über die große, allgemeine, von allen anerkannte Lüge, als ob das etwas Neues wäre.
Ich habe diese Lüge und Verirrung erkannt, dachte er, wie aber soll ich ihnen das alles, was ich erkannt habe, sagen? Ich habe es versucht und immer gefunden, daß sie im Grund ihrer Seele alles ebenso erkennen wie ich, aber sich Mühe geben, dies alles nicht zu sehen. Folglich muß das wohl so sein! Aber ich, was soll ich nur mit mir anfangen? dachte Pierre. Er kostete die unglückliche Veranlagung aus, die vielen Menschen, vornehmlich Russen, eigen ist, die Möglichkeit des Guten und Wahren vor Augen zu haben und daran zu glauben, aber zu deutlich das Böse und Lügenhafte im Leben zu erkennen, um an diesem Leben noch ernsthaften Anteil nehmen zu können. Jedes Arbeitsfeld war in seinen Augen mit Lug und Trug verbunden. Worin er sich auch versuchte, was er auch unternahm, überall stießen ihn Schlechtigkeit und Lüge ab und versperrten ihm jeden Weg zu einer Wirksamkeit. Und doch mußte er leben, mußte sich mit etwas beschäftigen. Zu furchtbar war es, unter der schweren Last dieser unlösbaren Probleme zu leben, und so gab er sich den ersten besten Zerstreuungen hin, nur um sie zu vergessen. Er besuchte alle nur möglichen Gesellschaften, trank viel, kaufte Gemälde, baute, und, was die Hauptsache war, er fing wieder an zu lesen.
Er las, las alles, was ihm unter die Hände kam, las mit solchem Eifer, daß, wenn er eben nach Hause gekommen war und die Diener ihn noch auskleideten, er schon nach einem Buch griff und las. Er las sich in den Schlaf, und vom Schlaf ging’s dann zum Plaudern in die Salons oder in den Klub, und vom Plaudern zu den Zechgelagen und zu den Weibern, und von den Zechgelagen wieder zum Plaudern, zum Lesen und zum Wein. Wein zu trinken war ihm immer mehr zu einem physischen und dabei auch geistigen Bedürfnis geworden. Obgleich ihm die Ärzte gesagt hatten, daß ihm bei seiner Korpulenz das Weintrinken gefährlich werden könne, trank er trotzdem sehr viel. Erst dann wurde ihm vollkommen wohl zumute, wenn er, ohne es selber zu merken, ein paar Gläser Wein in seinen großen Mund hineingegossen hatte. Dann strömte eine wohlige Wärme durch seinen Körper, dann empfand er für alle, die ihn umgaben, große Zärtlichkeit, dann war sein Geist bereit, jeden Gedanken, ohne ihm bis auf den Grund zu gehen, oberflächlich abzutun. Nur wenn er eine oder zwei Flaschen Wein getrunken hatte, dämmerte ihm trübe das Bewußtsein auf, daß jener wirre, furchtbare Knoten des Lebens, der ihm vorher solches Entsetzen bereitet hatte, gar nicht so furchtbar war, wie es ihm schien. Er sah zwar diesen Knoten von irgendeiner Seite immer vor sich, wenn er nach Tisch, einen leichten Rausch im Kopf, plauderte, zuhörte oder las, aber nur unter dem Einfluß des Weines brachte er es dann fertig, sich zu sagen: Das hat nichts auf sich. Das werde ich schon noch enträtseln. Dafür habe ich schon eine Erklärung bereit; nur habe ich jetzt keine Zeit, später werde ich mir das alles überlegen. Aber dieses »Später« kam niemals.
Frühmorgens, wenn er nüchtern war, kamen ihm all diese Fragen wieder ebenso unlösbar und fürchterlich vor, und er griff eilig nach einem Buch oder freute sich, wenn jemand zu ihm auf Besuch kam.
Mitunter dachte Pierre daran, wie er einmal gehört hatte, daß die Soldaten im Felde, wenn sie in einer Deckung vom Feind beschossen werden und nichts dagegen tun können, eifrigst nach einer Beschäftigung suchen, um die Gefahr leichter ertragen zu können. Und Pierre kam es vor, als machten es alle Menschen wie diese Soldaten, um sich vor den furchtbaren Fragen des Lebens zu retten: der eine durch Ehrgeiz, der andere durchs Spiel, einer durch Gesetzeschreiben, einer durch Weiber, einer durch Tändeleien, einer durch Pferde, einer durch die Politik, einer durch die Jagd, einer durch den Wein und einer durch den Staatsdienst. Nein, nichts ist nichtig und nichts wichtig, es ist alles ganz gleich. Die Hauptsache ist, sich vor diesen Fragen zu retten, dachte Pierre. Nur sie nicht sehen, die furchtbaren Fragen!
Zu Anfang des Winters war Fürst Nikolaj Andrejewitsch Bolkonskij mit seiner Tochter nach Moskau übergesiedelt. Wegen seiner früheren Verdienste, seines Verstandes und seiner Originalität hatten ihn die Moskauer sogleich zum Gegenstand ihrer besonderen Hochachtung gemacht und in den Mittelpunkt der Moskauer Opposition gegen die Regierung gestellt, hauptsächlich wohl auch deshalb, weil in dieser Zeit die Begeisterung für die Regierung Kaiser Alexanders bereits im Abflauen begriffen war und damals eine antifranzösische und patriotische Richtung in Moskau herrschte.
Der Fürst war in diesem Jahr recht alt geworden. Deutliche Alterserscheinungen traten bei ihm zutage: er schlief mitunter plötzlich ein, vergaß die Ereignisse der Gegenwart, zeigte ein viel besseres Gedächtnis für Dinge, die weit zurücklagen, und übernahm die Rolle eines Hauptes der Moskauer Opposition mit einer schon kindischen Eitelkeit. Trotz alledem aber erweckte der alte Fürst, besonders wenn er in seinem Pelz und seiner gepuderten Perücke am Abendtee teilnahm und, von irgend jemand dazu angeregt, seine schroffen Erzählungen aus vergangenen Zeiten oder sein noch schrofferes und schärferes Urteil über die Gegenwart zum besten gab, bei allen seinen Gästen das einstimmige Gefühl von Ehrfurcht und Hochachtung. Das ganze alte Haus mit seinen riesigen Pfeilerspiegeln, seinen altertümlichen Möbeln, seinen gepuderten Lakaien und seinem Besitzer selbst, diesem straffen und klugen Greis, der aus dem vorigen Jahrhundert stammte, mit seiner sanften Tochter und der hübschen Französin, die ihm beide in Ehrfurcht ergeben waren – all dies bot den Besuchern ein majestätisch schönes Schauspiel. Aber diese Besucher dachten nicht daran, daß außer den zwei, drei Stunden, in denen sie mit den Hausbewohnern zusammensaßen, der Tag noch zweiundzwanzig Stunden hatte, in denen das innere Leben des Hauses vor aller Augen verborgen seinen Gang nahm.
Dieses innere Leben war in der letzten Zeit in Moskau für Prinzessin Marja recht schwer geworden. Sie fühlte sich hier in der Stadt ihrer liebsten Freuden beraubt – der Plauderstündchen mit den Gottesleuten und ihrer Einsamkeit –, Freuden, die sie in Lysyja-Gory immer wieder erfrischt und aufgerichtet hatten, und so bot ihr das Leben in der Hauptstadt keinerlei Vorteile noch frohe Stunden. In Gesellschaften ging sie nicht: alle wußten, daß der Vater sie niemals von sich ließ und selbst aus Gesundheitsrücksichten nicht ausgehen konnte, und so lud man sie gar nicht erst zu Diners oder Abendgesellschaften ein. Die Hoffnung, sich zu verheiraten, hatte Prinzessin Marja vollständig aufgegeben. Sie sah, wie kalt und ingrimmig Fürst Nikolaj Andrejewitsch die jungen Leute, die ab und zu ins Haus kamen und als Freier in Betracht kommen konnten, aufnahm und abfertigte. Freundinnen hatte Prinzessin Marja keine: während dieser Zeit in Moskau hatte sie an den beiden Menschen, die ihr am allernächsten gestanden hatten, tiefe Enttäuschungen erlebt. Mademoiselle Bourienne, zu der sie schon früher nicht ganz offen hatte sein können, war ihr jetzt geradezu unangenehm geworden, und sie hielt sich aus verschiedenen Gründen etwas von ihr fern. Julie, die jetzt in Moskau war und mit der die Prinzessin fünf Jahre hintereinander in regem Briefwechsel gestanden hatte, stellte sich als ganz wesensfremd heraus, als sie die persönliche Bekanntschaft mit ihr erneuerte. Sie war indessen durch den Tod ihrer Brüder zu einer der reichsten Partien von ganz Moskau geworden und befand sich nun mitten im Strudel weltlicher Vergnügungen. Sie war von jungen Leuten umschwärmt, die, wie sie sich einbildete, plötzlich zur Erkenntnis ihrer vorzüglichen Eigenschaften gekommen waren. Julie war bereits in die Periode einer alternden jungen Weltdame eingetreten, wo diese fühlt, daß die letzte Gelegenheit, sich zu verheiraten, gekommen ist, und daß sich jetzt oder nie ihr Schicksal entscheiden muß. Mit traurigem Lächeln dachte Prinzessin Marja daran, daß sie nun donnerstags an niemanden mehr zu schreiben habe, da ja Julie hier war und sie sich jede Woche sahen, ohne daß ihr dieses Beisammensein Freude gemacht hätte. Wie jener Ehemann, der die Dame, bei der er dreißig Jahre seine Abende verlebt hatte, nach dem Tod seiner Frau nicht heiraten wollte, um sich nicht des Genusses dieser Abende zu berauben, so bedauerte auch Prinzessin Marja, daß Julie mit ihr zusammen an einem Ort lebte und sie nun an niemand mehr schreiben konnte.
In Moskau hatte Prinzessin Marja niemanden, mit dem sie sich aussprechen, niemanden, dem sie ihren Kummer anvertrauen konnte, und doch stürmte gerade in dieser Zeit manch neuer Kummer auf sie ein. Der Zeitpunkt, da Fürst Andrej zurückkehren und sich verheiraten wollte, rückte immer näher, und sie hatte seinen Auftrag, den Vater vorzubereiten, nicht nur nicht ausführen können, sondern die Sache schien jetzt sogar ganz verfahren zu sein, da der alte Fürst, der sowieso größtenteils schlechter Laune war, bei der bloßen Erwähnung der Komtesse Rostowa außer sich geriet.
Eine neue Quelle des Kummers, die sich in letzter Zeit für Prinzessin Marja erschlossen hatte, waren die Unterrichtsstunden, die sie ihrem sechsjährigen Neffen geben mußte. Mit Entsetzen wurde sie sich bewußt, daß sie im Verkehr mit Nikoluschka dieselbe Reizbarkeit an den Tag legte, die ihrem Vater eigen war. Sooft sie sich auch sagte, daß sie sich in den Schulstunden ihres Neffen nicht ereifern dürfe, so geschah es doch fast jedesmal, wenn sie sich mit dem Lehrheft und der französischen Fibel zum Unterricht hinsetzte, daß sie dem Kind, das schon immer in Angst schwebte, die Tante könne gleich, gleich zornig werden, ihr Wissen so schnell und leicht einflößen wollte, daß sie bei der geringsten Unaufmerksamkeit des Knaben zusammenfuhr, sich überhastete und ereiferte, die Stimme erhob und den Kleinen manchmal am Ärmchen rüttelte und in die Ecke stellte. Hatte sie ihn aber in die Ecke gestellt, so fing sie dann über ihre böse, heftige Natur selber zu weinen an, und Nikoluschka, von ihrem Schluchzen angesteckt, kam dann ohne Erlaubnis aus seiner Ecke hervor, lief auf sie zu, zog ihr die nassen Hände vom Gesicht und tröstete sie.
Aber einen noch größeren, ja den allergrößten Kummer bereitete der Prinzessin Marja das gereizte Wesen ihres Vaters, dessen Opfer immer die Tochter war, und das sich in letzter Zeit fast bis zur Grausamkeit gesteigert hatte. Wenn er sie gezwungen hätte, ganze Nächte lang vor den Heiligenbildern zu knien, wenn er sie geschlagen hätte oder Holz und Wasser hätte schleppen lassen, wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, daß sie es schwer habe. Aber dieser liebende Peiniger war deshalb so grausam, weil er sie eben liebte und nur deshalb sich und sie quälte. Er verstand es nicht nur, sie absichtlich zu beleidigen und zu erniedrigen, sondern ihr auch immer noch zu beweisen, daß an allem immer nur sie selber schuld sei. In letzter Zeit war dazu noch ein neuer Zug getreten, der Prinzessin Marja mehr als alles andere quälte – das war seine immer größere Annäherung an Mademoiselle Bourienne. Der Gedanke, wenn Andrej diese Ehe eingehe, selber die Bourienne zu heiraten, der ihm im ersten Augenblick, als er die Nachricht von der Absicht seines Sohnes erhalten hatte, nur im Scherz gekommen war, schien ihm sichtlich zu gefallen, und mit einer Hartnäckigkeit, die, wie es Prinzessin Marja schien, nur den Zweck hatte, sie zu kränken, erwies er in letzter Zeit Mademoiselle Bourienne alle nur möglichen Liebenswürdigkeiten und brachte seine Unzufriedenheit mit der Tochter durch Liebesbezeigungen für die Bourienne zum Ausdruck.
Einmal, in Moskau, küßte der alte Fürst in Gegenwart Prinzessin Marjas – und wie ihr schien, tat er dies absichtlich vor ihr – Mademoiselle Bourienne die Hand, zog sie an sich heran und umarmte und liebkoste sie. Prinzessin Marja wurde feuerrot und lief aus dem Zimmer. Ein paar Minuten später kam Mademoiselle Bourienne zu Prinzessin Marja aufs Zimmer und erzählte ihr mit ihrer angenehmen Stimme lächelnd irgendeine lustige Geschichte. Prinzessin Marja wischte sich hastig die Tränen ab, ging mit entschiedenen Schritten auf Mademoiselle Bourienne zu und schrie ihr in zorniger Übereilung und mit erhobener Stimme, ohne anscheinend selber zu wissen, was sie tat, auf französisch zu: »Das ist gemein, niedrig, unmenschlich, eine Schwäche so auszunutzen …« Weiter brachte sie nichts hervor. »Hinaus aus meinem Zimmer!« schrie sie ihr nach und fing an zu schluchzen.
Am nächsten Tag redete der Fürst kein Wort mit seiner Tochter, aber sie hörte, wie er nach dem Mittagessen anordnete, daß beim Herumreichen der Speisen bei Tisch von nun an bei Mademoiselle Bourienne angefangen werden solle. Und als der Büfettdiener Philipp nach Tisch den Kaffee herumreichte und nach alter Gewohnheit wieder bei der Prinzessin anfing, geriet der Fürst plötzlich in eine so rasende Wut, daß er seinen Krückstock nach Philipp schleuderte und augenblicklich den Befehl erteilte, ihn zu den Soldaten zu geben.
»Er gehorcht nicht! … Zweimal habe ich es ihm gesagt, und er gehorcht nicht! Sie ist die Hauptperson hier im Hause! Sie ist mein bester Freund!« schrie der Fürst. »Und wenn du dich noch einmal unterstehst«, wandte er sich in seinem Zorn zum erstenmal wieder an Prinzessin Marja, »wenn du dich wie gestern noch einmal unterstehst, dich in ihrer Gegenwart zu vergessen, dann werde ich dir schon zeigen, wer hier Herr im Hause ist. Hinaus! Daß du mir nicht wieder unter die Augen kommst, ehe du sie um Verzeihung gebeten hast!«
Prinzessin Marja bat sowohl Mademoiselle Bourienne als auch ihren Vater um Verzeihung und legte auch für den Diener Philipp ein gutes Wort mit ein, der sie um Fürsprache gebeten hatte.
In solchen Augenblicken regte sich in Prinzessin Marjas Herzen ein Gefühl, das einem Stolz glich, dem Stolz auf ihren Opfermut. Doch wenn dann dieser Vater, den sie verurteilte, in solchen Augenblicken in ihrer Gegenwart etwa die Brille suchte und mit der Hand immer um sie herumfühlte, ohne sie zu sehen, oder irgend etwas vergaß, was sich soeben erst ereignet hatte, oder mit seinen schwachen Beinen einen unsicheren Schritt machte und sich umsah, ob auch keiner seine Schwäche bemerkt habe, oder, was am allerschlimmsten war, wenn er, sobald keine Gäste da waren, die ihn immer anregten, bei Tisch plötzlich einschlummerte, die Serviette fallen und seinen zitternden Kopf über den Teller sinken ließ, dann dachte Prinzessin Marja: Er ist alt und schwach, und ich wage es noch, ihn zu verurteilen! und verabscheute sich in solchen Augenblicken selber.
Im Jahre 1810 lebte in Moskau ein französischer Arzt, Métivier, der schnell in Mode gekommen war, ein großer, hübscher Mensch, liebenswürdig wie alle Franzosen und auch als Arzt von außergewöhnlicher Tüchtigkeit, wie es in ganz Moskau hieß. Er wurde in Häusern der ersten Gesellschaftskreise nicht wie ein Arzt, sondern wie ein Gleichgestellter empfangen.
Auch Fürst Nikolaj Andrejewitsch, der sich sonst immer nur über alle Ärzte lustig machte, hatte auf den Rat Mademoiselle Bouriennes in letzter Zeit Métivier herangezogen und sich an ihn gewöhnt. Métivier kam zweimal wöchentlich zum Fürsten.
Am Nikolaustag, dem Namensfest des Fürsten, fuhr ganz Moskau an der Freitreppe seines Hauses vor, aber er hatte befohlen, niemanden anzunehmen, und hatte nur wenige, deren Liste er Prinzessin Marja eingehändigt hatte, zum Diner einladen lassen.
Métivier, der frühmorgens zum Gratulieren gekommen war, fand es in seiner Eigenschaft als Hausarzt angemessen, de forcer la consigne, wie er sich Prinzessin Marja gegenüber ausdrückte, und ging zum Fürsten hinein. Nun traf es sich aber, daß der Fürst gerade an diesem Morgen seines Namenstages die allerschlechteste Laune hatte. Er war den ganzen Morgen im Haus herumgelaufen, hatte mit allen Händel gesucht und sich den Anschein gegeben, als verstünde er das nicht, was man zu ihm sagte, und als würde er selber auch nicht verstanden. Prinzessin Marja kannte diesen Zustand still drohender Brummigkeit, der gewöhnlich in einem Wutausbruch sein Ende fand, ganz genau, ging den ganzen Morgen wie vor einem geladenen Schießgewehr mit gespanntem Hahn umher und wartete auf den unvermeidlichen Schuß. Bis zur Ankunft des Arztes verlief der Morgen ganz glimpflich. Nachdem sie Métivier hineingeleitet hatte, setzte sich Prinzessin Marja mit einem Buch in die Nähe der Salontür, wo sie alles hören konnte, was im Arbeitszimmer ihres Vaters vor sich ging.
Anfänglich hörte sie nur die Stimme Métiviers, dann auch die Stimme ihres Vaters, dann sprachen beide Stimmen gleichzeitig, dann flog die Tür auf, und auf der Schwelle erschien ganz bestürzt die schöne Gestalt Métiviers mit seinem schwarzen Haar und hinter ihm der Fürst in Schlafrock und Nachtmütze mit wutverzerrtem Gesicht und rollenden Augen.
»Das verstehst du nicht!« schrie der Fürst. »Aber ich, ich verstehe das. Du französischer Spion, du Sklave eines Bonaparte, du Auskundschafter! Hinaus aus meinem Hause! Raus, sage ich dir …«, und er knallte die Tür zu.
Métivier zuckte die Achseln und ging auf Mademoiselle Bourienne zu, die bei dem Geschrei aus dem Nebenzimmer herbeigelaufen kam.
»Der Fürst ist nicht ganz wohl, la bile et le transport au cerveau. Beruhigen Sie sich, ich komme morgen wieder«, sagte Métivier, legte den Finger an die Lippen und eilte hinaus.
Hinter der Tür hörte man Schritte in Pantoffeln und zorniges Schimpfen: »Spione, Verräter, überall Verräter. Nicht einmal in seinem eignen Haus hat man einen Augenblick Ruhe!«
Nachdem Métivier fortgegangen war, ließ der Fürst seine Tochter zu sich rufen und fiel mit der ganzen Wucht seines Zornes über sie her. Sie sei schuld daran, daß man solche Spione zu ihm hereingelassen habe. Er habe doch ausdrücklich gesagt, ihr selber gesagt, sie solle sich nach der Liste richten, und diejenigen, die nicht auf der Liste stünden, nicht vorlassen. Warum hatte man diesen Schuft nicht abgewiesen! An alledem sei nur sie wieder schuld! Mit ihr habe er keinen Augenblick Ruhe, nicht einmal in Frieden sterben lasse sie ihn, donnerte er.
»Nein, meine Liebe, wir müssen uns trennen, müssen uns unbedingt trennen. Damit Sie es wissen! Ich kann das nicht länger ertragen«, sagte er und ging aus dem Zimmer. Und als fürchte er, daß sie sich irgendwie darüber hinwegsetzen könne, kehrte er noch einmal zu ihr zurück, bemühte sich, ruhig zu scheinen, und fügte hinzu: »Glauben Sie aber nicht, daß ich Ihnen dies jetzt nur in einem Augenblick des Zornes sage, ich bin ganz ruhig und habe mir das schon lang überlegt. Und so wird es geschehen: wir werden uns trennen. Suchen Sie sich einen anderen Aufenthaltsort …« Aber er konnte nicht an sich halten und mit einer Bosheit, deren nur ein Mensch fähig ist, der seinen Feind zugleich liebt, ballte er, sichtlich selber unter seiner Wut leidend, beide Fäuste und schrie ihr zu: »Wenn Sie doch nur irgendein Esel heiraten wollte!« Darauf warf er die Tür zu, rief Mademoiselle Bourienne zu sich, und dann wurde es still in seinem Zimmer.
Um zwei Uhr versammelten sich die auserlesenen sechs Personen zum Diner. Die Gäste: der bekannte Graf Rastoptschin, Fürst Lopuchin mit seinem Neffen, General Tschatrow, ein alter Kriegskamerad des Fürsten, und von jüngeren Leuten Pierre und Boris Drubezkoj erwarteten den Fürsten im Salon.
Boris war dieser Tage auf Urlaub nach Moskau gekommen, hatte den eifrigen Wunsch bekundet, dem Fürsten Nikolaj Andrejewitsch vorgestellt zu werden, und sich seine Sympathie in einem so hohen Grad zu erwerben verstanden, daß der Fürst mit ihm eine Ausnahme machte und er der einzige von den jüngeren Junggesellen war, den er bei sich empfing.
Das Haus des Fürsten gehörte zwar nicht gerade zur »großen Welt«, aber es war ein so kleiner, feiner Kreis, daß es, je weniger man in der Stadt von ihm hörte, nur desto schmeichelhafter war, dort empfangen zu werden. Das war Boris vor acht Tagen klar geworden, als Rastoptschin zufällig in seiner Gegenwart dem Oberkommandierenden, der ihn zum Nikolaustag zum Mittagessen gebeten hatte, die Einladung abgelehnt und erwidert hatte: »An diesem Tag wallfahrte ich immer zu den Gebeinen des Fürsten Nikolaj Andrejewitsch.«
»Ach ja, freilich«, hatte der Oberkommandierende geantwortet. »Was macht er denn?«
Die kleine Gesellschaft, die vor dem Mittagessen in dem altmodischen, hohen Salon mit den altertümlichen Möbeln zusammengekommen war, machte eher den Eindruck eines sich versammelnden feierlichen Gerichtsrates. Alle schwiegen, und wenn wirklich jemand einmal ein Wort sagte, so sprach er ganz leise. Auch Fürst Nikolaj Andrejewitsch trat ernst und schweigend ein. Prinzessin Marja schien heute noch stiller und schüchterner als gewöhnlich. Die Gäste wandten sich nur ungern an sie, weil sie sahen, daß ihr an einer Unterhaltung nichts lag. Graf Rastoptschin war der einzige, der den Faden der Unterhaltung weiterspann: er erzählte von den letzten Neuigkeiten aus der Stadt und aus der Politik. Lopuchin und der alte General warfen ab und zu ein Wort ein.
Fürst Nikolaj Andrejewitsch hörte zu, wie der Vorsitzende eines Gerichtshofes einen Bericht, anhört, der ihm vorgetragen wird, und gab nur ab und zu durch einen stummen Wink oder ein kurzes Wort kund, daß er das, was man ihm vortrug, zur Kenntnis nahm. Der Ton der Unterhaltung war so, daß man heraushören konnte, daß keiner das, was in der politischen Welt vor sich ging, billigte. Man erzählte von Ereignissen, die sichtlich bestätigten, daß alles immer schlechter und schlechter wurde, aber es war auffallend, daß der Erzähler bei jeder Erzählung und bei jedem Urteil stets an der Grenze innehielt oder von anderen angehalten wurde, wo sein Urteil die Person des Kaisers zu berühren begann.
Während des Essens kam das Gespräch auf die letzten politischen Neuigkeiten: daß Napoleon die Länder des Herzogs von Oldenburg eingezogen und daß die russische Regierung an alle Höfe Europas eine napoleonfeindliche Note gesandt habe.
»Dieser Bonaparte verfährt mit Europa wie ein Pirat mit einem gekaperten Schiff«, sagte Graf Rastoptschin und wiederholte damit eine Phrase, die er bei anderer Gelegenheit schon mehrmals angewendet hatte. »Man kann sich nur über die Geduld und die Verblendung der übrigen Herrscher wundern. Jetzt ist die Reihe schon an den Papst gekommen: ohne alle Umstände will dieser Bonaparte das Oberhaupt der katholischen Kirche stürzen[115] – und alle schweigen dazu. Unser Kaiser ist der einzige gewesen, der gegen die Annexion der Ländereien des Herzogs von Oldenburg protestiert hat. Und das …« Hier schwieg Graf Rastoptschin, da er fühlte, daß er an der Grenze angelangt war, über die hinaus zu urteilen verboten war.
»Man hat dem Herzog von Oldenburg andere Ländereien dafür angeboten«, sagte Fürst Nikolaj Andrejewitsch. »Wie ich meine Bauern von Lysyja-Gory nach Bogutscharowo und Rjasan verpflanzt habe, so macht er es mit den Herzögen.«
»Le duc d’Oldenbourg Supporte son malheur avec une force de caractère et une résignation admirable«, bemerkte Boris, sich ehrerbietig ins Gespräch mischend.
Er sagte das deshalb, weil er auf der Durchreise in Petersburg die Ehre gehabt hatte, dem Herzog vorgestellt zu werden. Fürst Nikolaj Andrejewitsch sah den jungen Mann an, als wolle er daraufhin etwas zu ihm sagen, überlegte es sich aber dann anders, weil er ihn für zu jung dafür hielt.
»Ich habe unsern Protest, die oldenburgische Angelegenheit betreffend, gelesen und war über die schlechte Abfassung dieser Note recht erstaunt«, sagte Graf Rastoptschin in dem lässigen Ton eines Menschen, der über eine Sache, die ihm wohlbekannt ist, ein Urteil fällt.
Pierre sah Rastoptschin mit naivem Erstaunen an, er konnte nicht begreifen, wie man sich an der schlechten Abfassung einer Note stoßen könne.
»Ist das denn nicht ganz gleich, Graf, wie eine Note abgefaßt ist«, sagte er, »wenn nur ihr Inhalt Hand und Fuß hat?«
»Mon cher, avec nos 500 mille hommes de troupes, il serait facile d’avoir un beau style«, erwiderte Graf Rastoptschin.
Da begriff Pierre, warum dem Grafen Rastoptschin die Abfassung der Note mißfallen hatte. »Die Gattung der Federfuchser scheint sich ja jetzt reichlich vermehrt zu haben«, bemerkte der alte Fürst. »Dort in Petersburg schreibt ja jetzt alles; und nicht nur Noten, auch neue Gesetze werden da zu Papier gebracht. Mein Andrjuscha hat da für Rußland einen ganzen Band Gesetze zusammengeschrieben. Heutzutage schreibt ja jedermann!« Und er lachte unnatürlich auf.
Die Unterhaltung verstummte einen Augenblick. Der alte General hüstelte und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich.
»Haben Sie schon von den Zwischenfällen bei der letzten Parade in Petersburg gehört? Wie sich da der neue französische Gesandte benommen hat!«
»Was meinen Sie damit? Ja, ich hörte so etwas, daß er in Anwesenheit Seiner Majestät etwas Ungeschicktes gesagt haben soll.«
»Seine Majestät machte ihn auf eine Division Grenadiere und auf unseren Parademarsch aufmerksam«, fuhr der General fort, »und da soll der Gesandte das gar nicht weiter beachtet und geäußert haben: ›Wir in Frankreich haben für solche Spielereien gar keinen Sinn.‹ Der Kaiser hat ihn keines Wortes weiter gewürdigt. Auch auf der nächsten Parade soll er sich nicht ein einziges Mal an ihn gewandt haben.«
Alle schwiegen: über diese Tatsache, die sich wieder auf die Person des Kaisers bezog, durfte sich niemand ein Urteil erlauben.
»Impertinente Menschen!« sagte der Fürst. »Kennen Sie Métivier? Den habe ich heute zum Hause hinausgejagt. Er war hier, man hatte ihn hereingelassen, obgleich ich darum gebeten hatte, alle abzuweisen«, sagte der Fürst mit einem ärgerlichen Blick auf seine Tochter.
Und er erzählte seine ganze Unterhaltung mit dem französischen Arzt und legte die Gründe dar, warum er zu der Überzeugung gekommen war, daß Métivier ein Spion sei. Obgleich diese Gründe nicht sehr stichhaltig und ziemlich unklar waren, wagte doch niemand, ihm zu widersprechen.
Nach dem Braten wurde Champagner gereicht. Die Gäste standen von ihren Plätzen auf und beglückwünschten den alten Fürsten. Prinzessin Marja ging ebenfalls zu ihm hin.
Er sah sie mit einem kalten, bösen Blick an und hielt ihr seine runzlige, glattrasierte Backe hin. Sein ganzer Gesichtsausdruck sagte ihr, daß er das Gespräch von heute morgen noch nicht vergessen habe, daß er seinen Entschluß mit der früheren Festigkeit aufrechterhalte, und daß er ihr das jetzt nur wegen der Anwesenheit der Gäste nicht sage.
Nachdem man zum Kaffee in den Salon hinübergegangen war, setzten sich die alten Herren zusammen.
Fürst Nikolaj Andrejewitsch wurde immer lebhafter und legte seine Ansicht über den bevorstehenden Krieg dar.
Er sagte, unsere Kriege mit Bonaparte würden so lange unglücklich verlaufen, wie wir mit den Deutschen Bündnisse suchten und uns in europäische Händel einließen, in die wir durch den Tilsiter Frieden hineingezogen worden seien. Wir hätten weder für Österreich noch gegen Österreich Krieg zu führen. Unsere Politik dürfe sich nur auf den Osten beschränken, und gegen Bonaparte brauchten wir bloß eine bewaffnete Grenzmacht und etwas Festigkeit in der Politik, und dann werde er nie wieder wagen, die russischen Grenzen zu überschreiten wie Anno 1807.
»Aber wie sollten wir denn gegen die Franzosen kämpfen, Fürst?« rief Graf Rastoptschin. »Können wir gegen unsere Lehrmeister, gegen unsere Götter Krieg führen? Sehen Sie nur unsere Jugend, sehen Sie nur unsere Damen an! Unsere Götter sind nun einmal die Franzosen, und unser Himmelreich – Paris.«
Er fing an, lauter zu sprechen, sichtlich aus dem Grund, damit ihn alle hören sollten: »Wir kleiden uns französisch, wir denken französisch, wir fühlen französisch. Da haben Sie heute diesen Métivier mit einem Fußtritt aus dem Hause gejagt, weil er ein Franzose, ein Halunke ist, unsere Damen aber rutschen auf den Knien vor ihm herum. Gestern war ich auf einer Abendgesellschaft, da waren von fünf Damen drei katholisch und durften nach einer Entscheidung des Papstes sonntags auf Kanevas sticken. Dabei saßen sie aber fast nackt da wie – wenn ich mir diesen Vergleich erlauben darf – die Gestalten auf den Reklameschildern der öffentlichen Badeanstalten. Ach, Fürst, wenn man so unsere Jugend ansieht, da möchte man am liebsten den alten Stock Peters des Großen aus der Kunstkammer hervorholen und ihnen einmal auf russisch den Buckel vollhauen, damit der ganze Unfug herausspränge!«
Alle schwiegen. Der alte Fürst sah Rastoptschin lächelnd an und nickte bestätigend.
»Aber nun leben Sie wohl, Durchlaucht, lassen Sie sich von der Krankheit nicht unterkriegen!« sagte Rastoptschin, stand mit der ihm eigenen Behendigkeit auf und reichte dem Fürsten die Hand.
»Leb wohl, mein Lieber, ich höre immer gern deiner Unterhaltung zu«, sagte der alte Fürst, hielt seine Hand fest und reichte ihm die Wange zum Kuß hin. Mit Rastoptschin zusammen erhoben sich auch die übrigen.
Prinzessin Marja hatte inzwischen im Salon gesessen und den Reden und Urteilen der alten Herren zugehört, ohne etwas von dem, was sie hörte und sah, zu begreifen: sie hatte nur immer den einen Gedanken, ob nicht alle Gäste die feindliche Stimmung ihres Vaters gegen sie bemerkt hätten. So hatte sie nicht einmal die besondere Aufmerksamkeit und Liebenswürdigkeit wahrgenommen, die ihr Drubezkoj, der heute schon zum drittenmal bei ihnen war, während der ganzen Zeit des Mittagessens entgegengebracht hatte.
Mit einem zerstreut fragenden Blick sah Prinzessin Marja zu Pierre auf, der als letzter der Gäste mit dem Hut in der Hand und einem Lächeln auf den Lippen noch einmal zu ihr herantrat, nachdem der Fürst schon hinausgegangen war und sie beide im Salon allein zurückgeblieben waren.
»Darf ich noch einen Augenblick Platz nehmen?« fragte er und ließ seinen gewichtigen Körper schwerfällig in einen Sessel neben Prinzessin Marja fallen.
»Aber gewiß«, sagte sie. Sie haben nichts bemerkt? fragte ihr Blick.
Pierre befand sich in jener angenehmen Gemütsverfassung, in die er sich nach Tisch immer versetzt fühlte. Er sah vor sich hin und lächelte unmerklich.
»Kennen Sie diesen jungen Menschen schon lange, Prinzessin?« fragte er.
»Welchen jungen Menschen?«
»Drubezkoj.«
»Nein, noch nicht lang …«
»Gefällt er Ihnen?«
»Ja, er ist ein netter Mensch … Aber warum fragen Sie mich danach?« sagte Prinzessin Marja, war aber in Gedanken immer noch bei ihrem Gespräch mit dem Vater von heute morgen.
»Deshalb, weil ich eine Beobachtung gemacht habe: die jungen Leute kommen gewöhnlich von Petersburg nach Moskau auf Urlaub, nur um sich hier eine reiche Frau zu suchen.«
»Das haben Sie beobachtet?« fragte Prinzessin Marja.
»Ja«, fuhr Pierre lächelnd fort. »Und dieser junge Mann, von dem wir eben sprachen, macht es jetzt hier so, daß er immer da auftaucht, wo ein reiches junges Mädchen ist. Ich lese in ihm wie in einem aufgeschlagenen Buch. Er schwankt jetzt noch, wo er den ersten Sturmangriff wagen soll: bei Ihnen oder bei Julie Karagina. Il est très assidu auprès d’elle.«
»Verkehrt er bei ihnen?«
»Ja, sehr viel. Und wissen Sie auch, wie man einer Dame nach der neuesten Mode den Hof macht?« sagte Pierre mit heiterem Lächeln, offenbar befand er sich in jener gutmütig lustigen Spötterlaune, die er sich in seinem Tagebuch so oft zum Vorwurf machte.
»Nein«, erwiderte Prinzessin Marja.
»Um heutzutage einer Moskauer jungen Dame zu gefallen, il faut être mélancolique. Il est très mélancolique auprès de mademoiselle Karaguine«, sagte Pierre.
»Vraiment?« entgegnete Prinzessin Marja und sah Pierre in sein gutmütiges Gesicht, ohne auch nur einen Augenblick ihren Kummer zu vergessen. Mir würde leichter ums Herz, dachte sie, wenn ich mich entschließen könnte, irgend jemandem das, was ich fühle, anzuvertrauen. Und gerade diesem Pierre möchte ich alles erzählen. Er ist so gut und edel. Dann wäre mir leichter zumute. Er könnte mir auch einen Rat geben.
»Würden Sie ihn heiraten?« fragte Pierre.
»Ach, mein Gott, Graf, es gibt Augenblicke, wo ich jeden nehmen würde«, antwortete Prinzessin Marja mit tränenerstickter Stimme, indem sie sich selbst über diese Worte wunderte. »Wie schwer ist es doch, einen, der uns nahesteht, zu lieben und fühlen zu müssen, daß man …« – ihre Stimme fing an zu zittern – »nichts für ihn tun kann, als ihm Kummer zu bereiten, und wenn man weiß, daß dies niemals anders werden kann. Dann gibt es nur ein Mittel – fortzugehen. Doch wohin könnte ich nur gehen? …«
»Aber was ist Ihnen, was haben Sie, Prinzessin?«
Doch Prinzessin Marja konnte nicht weitersprechen, sie fing an zu weinen.
»Ich weiß nicht, was heute mit mir ist. Hören Sie nicht auf meine Worte, vergessen Sie, was ich zu Ihnen gesagt habe.«
Pierres ganze Heiterkeit war dahin. Besorgt versuchte er, Prinzessin Marja auszufragen, bat sie, ihm alles zu erzählen, ihm ihren Kummer anzuvertrauen; aber sie wiederholte nur immer wieder, daß sie ihn bitte, alles, was sie gesagt habe, zu vergessen, daß sie selber gar nicht mehr wisse, was sie eigentlich gesagt habe, und daß sie gar keinen Kummer habe außer dem einen, den er ja kenne, den Kummer nämlich, daß die Heirat des Fürsten Andrej Vater und Sohn zu entzweien drohe.
»Haben Sie etwas von den Rostows gehört?« fragte sie, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Ich hörte, sie würden bald hierherkommen. Auch André erwarte ich alle Tage. Ich möchte gern, daß sie sich hier wiedersähen.«
»Wie steht er denn jetzt zu dieser Angelegenheit?« fragte Pierre und meinte mit »er« den alten Fürsten.
Prinzessin Marja wiegte das Haupt.
»Was soll man tun? An dem Jahr fehlen nur noch ein paar Monate. Und noch immer keine Möglichkeit. Ich möchte meinem Bruder nur die ersten, schrecklichen Augenblicke ersparen. Wenn sie doch nur bald hierherkämen! Dann hoffe ich, einmal mit ihr zusammenzukommen. Sie kennen sie ja doch schon so lange«, fuhr Prinzessin Marja fort, »sagen Sie mir einmal, Hand aufs Herz, die reine Wahrheit: was ist das für ein Mädchen, wie finden Sie sie? Aber die volle Wahrheit, bitte, denn, wissen Sie, Andrej setzt doch sehr viel aufs Spiel, wenn er gegen den Willen seines Vaters handelt, und deshalb möchte ich wissen …«
Ein unklares Gefühl sagte Pierre, daß durch diese weitschweifige Frage, durch diese wiederholten Bitten, ihr doch die »volle Wahrheit« zu sagen, Prinzessin Marjas Mißgunst gegen ihre künftige Schwägerin durchblickte, und daß sie den Wunsch hatte, Pierre solle die Wahl des Fürsten Andrej nicht billigen. Aber Pierre ließ sich bei seiner Antwort mehr von seinen Gefühlen als von seinem Verstand leiten.
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen auf Ihre Frage antworten soll«, sagte er und wurde, ohne selber zu wissen warum, rot. »Ich weiß tatsächlich nicht, was das für ein Mädchen ist, ich kann mir ihr Wesen nicht in klare Einzelheiten zerlegen. Sie ist bezaubernd; warum aber – das weiß ich nicht. Das ist alles, was ich Ihnen über sie sagen kann.«
Prinzessin Marja seufzte und der Ausdruck ihres Gesichtes sagte: Ja, das habe ich erwartet und gefürchtet.
»Ist sie klug?« fragte sie dann weiter.
Pierre überlegte.
»Ich glaube – nein«, sagte er, »übrigens – doch, ja. Nur legt sie keinen Wert darauf, klug zu sein … Sie ist eben bezaubernd, und weiter nichts.«
Prinzessin Marja schüttelte wieder bedenklich den Kopf.
»Ach, ich möchte sie so gern liebgewinnen! Sagen Sie ihr doch das, wenn Sie sie früher sehen sollten als ich.«
»Ich hörte, daß sie in den nächsten Tagen kommen werden«, erwiderte Pierre.
Darauf teilte Prinzessin Marja Pierre ihren Feldzugsplan mit, der darin bestand, daß sie, wenn die Rostows angekommen seien, ihrer künftigen Schwägerin näherkommen und versuchen wollte, auch den alten Fürsten an sie zu gewöhnen.
In Petersburg war Boris die Verlobung mit einem reichen jungen Mädchen nicht geglückt, und so kam er zu diesem Zweck nach Moskau. Hier schwankte er unentschieden zwischen den beiden reichsten Partien von ganz Moskau, zwischen Julie Karagina und der Prinzessin Marja. Obgleich ihm Prinzessin Marja trotz ihrer Häßlichkeit anziehender schien als Julie, war es ihm doch unbehaglich, ihr den Hof zu machen. Als er zum Namenstag des alten Fürsten zuletzt mit ihr zusammen war, hatte sie ihm auf alle seine Versuche, mit ihr über Gefühle zu reden, nur ungereimte Antworten gegeben und offenbar gar nicht auf das hingehört, was er zu ihr gesagt hatte.
Julie dagegen nahm seine Aufmerksamkeiten zwar in einer besonderen, ihr persönlich eigentümlichen Art, aber immerhin doch sehr bereitwillig entgegen.
Julie war siebenundzwanzig Jahre alt. Nach dem Tod ihrer Brüder war sie sehr reich geworden. Sie war jetzt direkt häßlich, bildete sich aber ein, nicht nur noch ebenso hübsch, sondern sogar noch anziehender als früher zu sein. In dieser Verblendung erhielt sie erstens einmal der Zufall, daß sie eine so reiche Partie geworden war, und zweitens der Umstand, daß, je älter und ungefährlicher sie für die Herren wurde, diese um so ungezwungener mit ihr verkehrten und sich keineswegs für gebunden hielten, wenn sie ihre Diners und Abendgesellschaften mitmachten und sich der lustigen Gesellschaft beigesellten, die sich um sie versammelt hatte. Herren, die sich vor zehn Jahren gescheut hätten, jeden Tag in ein Haus zu gehen, wo sich ein siebzehnjähriges Mädchen befand, um dieses nicht zu kompromittieren und sich selber keine Verpflichtungen aufzuerlegen, kamen jetzt ungeniert alle Tage ins Haus und verkehrten mit ihr nicht wie mit einem heiratsfähigen jungen Mädchen, sondern wie mit einem guten Bekannten, der kein Geschlecht hat.
Die Karagins führten in diesem Winter in Moskau das glänzendste, gastfreiste Haus. Außer bei den Abendgesellschaften und Diners, zu denen die Gäste geladen wurden, versammelte sich bei ihnen jeden Tag eine große Gesellschaft, die größtenteils aus Herren bestand. Um zwölf Uhr nachts wurde zu Abend gegessen und dann blieb man noch bis gegen drei Uhr zusammen sitzen. Es fand kein Ball, kein Schlittenausflug, kein Theaterabend statt, den sich Julie hätte entgehen lassen. Immer trug sie die modernsten Toiletten. Trotz alledem schien Julie von allem enttäuscht zu sein und erzählte jedem, daß sie weder an Freundschaft noch an Liebe noch an sonstige Freuden des Lebens glaube und Ruhe und Trost nur »dort« erwarte. Sie hatte sich den Ton eines Mädchens zu eigen gemacht, das eine schwere Enttäuschung erlitten hat, eines Mädchens, das den geliebten Mann verloren hat oder von ihm grausam betrogen worden ist. Obgleich sie gar nichts Derartiges erlebt hatte, wurde sie doch von allen als ein solches Mädchen angesehen, und glaubte nun schließlich sogar selber, daß sie im Leben viel durchgemacht habe. Doch hinderte sie diese Melancholie ebenso wenig, das Leben zu genießen, wie sie die jungen Leute, die sich um sie scharten, darin störte, ihre Zeit auf die angenehmste Weise bei ihr zu verbringen. Jeder Gast, der zu ihnen kam, entrichtete zuerst der melancholischen Stimmung der Tochter des Hauses seinen pflichtschuldigen Tribut und gab sich dann den gesellschaftlichen Unterhaltungen, den Tänzen, den intellektuellen Spielen und Reimturnieren, wie sie damals bei den Karagins gerade Mode waren, mit ungeteiltem Genuß hin. Nur einige wenige junge Leute, unter denen sich auch Boris befand, gingen tiefer auf Julies melancholische Stimmung ein, und mit diesen führte sie dann ausführlichere, einsame Gespräche über die Eitelkeit alles Irdischen und weihte sie in ihre Albums ein, die ganz mit elegischen Zeichnungen, Sprüchen und Versen angefüllt waren.
Gegen Boris zeigte sich Julie besonders freundlich, bedauerte ihn, daß er schon so früh im Leben solche Enttäuschungen zu ertragen gehabt habe, und bot ihm jene Tröstungen der Freundschaft an, die sie ihm gewähren konnte, weil sie ja selber schon soviel im Leben erlitten hatte, und zeigte ihm ihre Albums. Boris zeichnete ihr zwei Bäume hinein und schrieb darunter: »Arbres rustiques, vos sombres rameaux secouent sur moi les ténèbres et la mélancolie.«
Auf ein anderes Blatt zeichnete er ein Grabmal mit der Inschrift:
La mort est secourable et la mort est tranquille.
Ah! contre les douleurs il n’y à pas d’autre asile.
Julie sagte, das sei begeisternd schön.
»Il y a quelque chose de si ravissant dans le sourire de la mélancolie«, sagte sie zu Boris und brachte damit eine Stelle zur Anwendung, die sie Wort für Wort aus einem französischen Buch abgeschrieben hatte: »C’est un rayon de lumière dans l’ombre, une nuance entre la douleur et le désespoir, qui montre la consolation possible.«
Darauf schrieb Boris ihr folgende Verse ins Album:
Aliment de poison d’une âme trop sensible,
Toi, sans qui le bonheur me serait impossible,
Tendre mélancolie, ah, viens me consoler,
Viens calmer les tourments de ma sombre retraite
Et mêle une douceur secrète
A ces pleurs que je sens couler.
Julie spielte Boris auf der Harfe die schwermütigsten Weisen vor. Boris las ihr »Die arme Lisa[116]« vor, wobei er mehr als einmal mitten im Vorlesen abbrechen mußte, da ihm vor Rührung und Aufregung die Stimme versagte. Trafen sie sich in großer Gesellschaft, so sahen Julie und Boris einander an, als wären sie die einzigen Menschen in der weiten Welt, deren Seelen übereinstimmten und die sich gegenseitig verstanden.
Anna Michailowna, die oft zu den Karagins fuhr, um mit der Mutter Karten zu spielen, zog bei dieser Gelegenheit zuverlässige Nachrichten darüber ein, was Julie wohl mitbekommen werde – sie sollte zwei Güter im Gouvernement Pensa und Wälder im Gouvernement Nishnij-Nowgorod als Mitgift erhalten. Und so beobachtete Anna Michailowna gerührt und in den Willen der Vorsehung ergeben den feinsinnigen Weltschmerz, der zum festen Band zwischen ihrem Sohn und der reichen Julie wurde.
»Toujours charmante et mélancolique, cette chère Julie«, sagte sie zu der Tochter.
»Boris sagt immer, daß nur in Ihrem Haus seine Seele Ruhe finde. Er hat schon so viele Enttäuschungen erleiden müssen und ist so empfindsam«, sagte sie zu der Mutter.
»Ach, lieber Sohn, wie teuer mir doch in letzter Zeit diese Julie geworden ist«, sagte sie zu ihrem Sohn, »ich kann es dir gar nicht beschreiben. Wer müßte sie auch nicht liebgewinnen? Sie ist ein so überirdisches Wesen. Ach Boris, Boris!« Sie schwieg einen Augenblick. »Und wie leid tut mir ihre Mama«, fuhr sie dann fort, »heute zeigte sie mir wieder Abrechnungen und Briefe aus Pensa, sie haben dort riesige Besitzungen, und das muß die Ärmste alles selber und ganz allein erledigen und wird dabei so betrogen.«
Boris lächelte kaum merklich über die Worte seiner Mutter. Er machte sich im stillen über ihre einfältige Schlauheit lustig, hörte aber trotzdem zu und befragte sie eingehend über die Güter in Pensa und Nishnij-Nowgorod.
Julie wartete schon lange auf einen Antrag ihres melancholischen Verehrers und war bereit, ihn anzunehmen, aber ein geheimes Gefühl der Abneigung gegen sie selber, gegen ihre leidenschaftliche Sucht, einen Mann zu ergattern, und gegen ihr ganzes unnatürliches Wesen, sowie ein Gefühl des Entsetzens, daß er nun jeder Möglichkeit einer wahren Liebe entsagen müsse, hielten Boris noch davon ab, das entscheidende Wort auszusprechen. Bald würde seine Urlaubszeit abgelaufen sein. Von früh bis abends und jeden Tag, den Gott werden ließ, war er bei den Karagins, und jeden Tag ging er mit sich zu Rate und sagte sich, daß er morgen seinen Antrag machen müsse. Wenn er aber dann wieder mit Julie zusammen war und ihr rotes Gesicht mit dem fast immer mit Puder bedeckten Kinn, ihre feuchten Augen und ihren Gesichtsausdruck sah, der die stete Bereitwilligkeit verriet, aus ihrer Melancholie augenblicklich in eine erkünstelte Begeisterung für Eheglück überzugehen, konnte Boris das entscheidende Wort nicht herausbringen, obgleich er sich im Geist schon lange als Eigentümer der Güter in Pensa und Nishnij-Nowgorod fühlte und sich über den Verbrauch der aus ihnen gewonnenen Einkünfte bereits völlig im klaren war. Julie bemerkte seine Unentschiedenheit sehr wohl, und es kam ihr mitunter der Gedanke, daß sie ihm zuwider sei, doch tröstete sie sich mit weiblichem Selbstbetrug sogleich immer wieder damit, daß sie sich sagte, nur die Liebe mache ihn so schüchtern. Ihre sanfte Melancholie fing an, sich in Gereiztheit zu verwandeln, und kurz vor Boris’ Abreise unternahm sie einen entscheidenden Schachzug. Zur selben Zeit nämlich, als sich Boris’ Urlaub seinem Ende näherte, war in Moskau, und daher selbstverständlich auch im Hause Karagin, Anatol Kuragin aufgetaucht, und so warf Julie plötzlich all ihre Melancholie beiseite und zeigte sich sehr lustig und aufmerksam gegen Kuragin.
»Mon cher«, sagte Anna Michailowna zu ihrem Sohn, »je sais de bonne source que le prince Basile envoie son fils à Moscou pour lui faire épouser Julie. Ich aber liebe Julie so sehr, daß sie mir leid täte, wenn eine solche Verlobung zustande käme. Wie denkst du darüber, mein Sohn?« sagte Anna Michailowna.
Der Gedanke, der Genarrte zu sein, diese ganzen vier Wochen anstrengenden melancholischen Minnedienstes bei Julie nutzlos verloren zu haben und alle die Einkünfte aus den Gütern in Pensa und Nishnij-Nowgorod, die er im Geiste schon zusammengerechnet und, wie es sich gehört, verwendet hatte, nun schließlich in den Händen eines anderen zu sehen, noch dazu in den Händen des dummen Anatol – dieser Gedanke wurmte Boris doch zu sehr. So fuhr er denn zu den Karagins mit der festen Absicht, Julie einen Antrag zu machen. Julie kam ihm mit heiterer und sorgloser Miene entgegen, erzählte ihm so nebenbei, wie herrlich sie sich auf dem gestrigen Ball amüsiert habe, und fragte ihn, wann er denn nun abreisen wolle. Obgleich er in der Absicht hergekommen war, von seiner Liebe zu sprechen, und sich infolgedessen vorgenommen hatte, zärtlich zu sein, fing er doch in gereiztem Ton über die weibliche Unbeständigkeit zu reden an, wie leicht Frauen von Leiden zu Freuden übergehen könnten, und daß ihre ganze Seelenstimmung immer nur davon abhänge, wer ihnen gerade den Hof mache. Julie fühlte sich dadurch beleidigt und erwiderte, er habe ganz recht, Frauen brauchten Abwechslung, und immer ein und dasselbe würde jedem Menschen einmal langweilig.
»Deshalb würde ich Ihnen raten …« fing Boris an und wollte ihr eine Stichelei sagen, aber im selben Augenblick schoß ihm der kränkende Gedanke durch den Kopf, daß er dann womöglich aus Moskau abreisen müsse, ohne sein Ziel erreicht zu haben, und daß dann alle seine Bemühungen umsonst gewesen wären, was ihm noch nie im Leben vorgekommen war.
So hielt er mitten in seiner Rede inne, schlug die Augen nieder, um ihr abstoßend gereiztes, unentschlossenes Gesicht nicht sehen zu müssen, und sagte: »Ich bin durchaus nicht hier hergekommen, um mich mit Ihnen zu entzweien, ganz im Gegenteil …«
Er sah sie an, um sich zu vergewissern, ob er weitersprechen könne. Ihre ganze Gereiztheit war plötzlich geschwunden, und ihre unsteten, bittenden Augen waren mit gieriger Erwartung auf ihn gerichtet. Ich kann es ja immer so einrichten, daß ich sie selten sehe, dachte Boris. Nun habe ich mich aber einmal in die Sache eingelassen und muß sie nun auch zu Ende führen. Er errötete tief, hob die Augen zu ihr auf und sagte: »Sie kennen ja meine Gefühle für Sie!«
Weiter brauchte er eigentlich nichts zu sagen: Julies Gesicht erstrahlte in Triumph und Selbstzufriedenheit; aber sie zwang ihn, ihr alles zu sagen, was man bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegt, ihr zu sagen, daß er sie liebe und niemals eine Frau mehr geliebt habe als sie. Sie wußte, daß sie dies für ihre Güter in Pensa und ihre Wälder in Nishnij-Nowgorod verlangen könne, und so wurde ihr denn zuteil, was sie forderte.
Bräutigam und Braut dachten nun nicht mehr an Bäume, die sie mit düsterem Schatten und Melancholie überschütteten, sondern schmiedeten Pläne über die künftige Einrichtung eines glänzenden Hauses in Petersburg, machten Besuche und bereiteten alles für eine pompöse Hochzeit vor.
Ende Januar kam Graf Ilja Andrejewitsch mit Natascha und Sonja nach Moskau. Die Gräfin war immer noch krank und durfte deshalb nicht mitfahren, aber man konnte unmöglich noch länger auf ihre Genesung warten: Fürst Andrej wurde täglich in Moskau erwartet, außerdem mußte die Aussteuer besorgt und das Landhaus bei Moskau verkauft werden, und dann wollte man doch auch den Aufenthalt des alten Fürsten in Moskau dazu benutzen, ihm seine künftige Schwiegertochter vorzustellen. Das Rostowsche Haus in Moskau war nicht geheizt, außerdem kamen sie ja nur auf ganz kurze Zeit, weil die Gräfin nicht mit dabei war, und deshalb hatte sich Ilja Andrejewitsch entschlossen, in Moskau bei Marja Dmitrijewna Achrosimowa abzusteigen, die ihm schon immer ihre Gastfreundschaft angeboten hatte.
Spät abends kamen die Rostows in vier Schlitten vor dem Hause Marja Dmitrijewnas in der Staraja Konjuschennaja an. Marja Dmitrijewna lebte dort ganz allein. Ihre Tochter war schon verheiratet, ihre Söhne standen alle im Staatsdienst.
Sie hielt sich noch ebenso aufrecht, sagte jedem noch ebenso offen, laut und entschieden ihre Meinung und schien durch ihr ganzes Wesen allen Leuten jede Schwäche, jede Leidenschaft, jede Neigung zum Vorwurf zu machen, deren Notwendigkeit sie nicht anerkannte. Vom frühen Morgen beschäftigte sie sich, mit einem bequemen Gewand bekleidet, im Haushalt, dann fuhr sie aus: an den Feiertagen zur Messe und von der Messe in die Gefängnisse und Zuchthäuser, wo sie ein gutes Werk tat, von dem sie nicht sprach. An den Wochentagen empfing sie, nachdem sie sich angezogen hatte, zu Hause Bittsteller aus den verschiedensten Lebenskreisen, die sich alle Tage bei ihr einfanden, dann speiste sie zu Mittag. An dem kräftigen, schmackhaften Mahl nahmen gewöhnlich drei, vier Gäste teil. Nach dem Mittagessen spielte sie eine Partie Boston, und abends ließ sie sich dann Zeitungen oder neue Bücher vorlesen, sie selber aber strickte. Selten wich sie einmal von ihrer Tagesordnung ab, um einen Besuch zu machen, und wenn sie es wirklich tat, fuhr sie nur zu den vornehmsten Persönlichkeiten in der Stadt.
Sie hatte sich noch nicht schlafen gelegt, als die Rostows ankamen und im Vorzimmer die Tür knarrte, durch welche die Gäste mit ihrer Dienerschaft aus der Kälte hereintraten. Marja Dmitrijewna stand, den Kopf zurückgeworfen und die Brille weit auf der Nase heruntergeschoben, in der Tür zum Saal und sah die Ankommenden mit ernster, grimmiger Miene an. Man hätte denken können, daß sie sich über die Gäste ärgerte und sie sogleich wieder hinausjagen werde, wenn sie nicht gleichzeitig ihren Leuten fürsorgliche Befehle erteilt hätte, wie sie die Herrschaften und ihr Gepäck unterbringen sollten.
»Die Koffer des Grafen? Die kommen dorthin«, sagte sie und wies auf die Koffer, ohne noch jemanden begrüßt zu haben. »Die jungen Mädchen – dorthin, nach links! Na, was scharwenzelt ihr da herum!« rief sie den Dienstmädchen zu. »Macht lieber den Samowar fertig! Voller und hübscher ist sie geworden«, sagte sie dann und zog Natascha, deren Gesicht ganz rot vor Kälte unter der Pelzkappe hervorschaute, an sich. »Hu, wie kalt du bist!« Dann rief sie dem Grafen, der auf sie zutreten und ihr die Hand küssen wollte, zu: »Na, zieh dich nur lieber erst aus, du bist ja ganz erfroren. Schnell etwas Rum zum Tee! Bonjour, Sonjuschka«, sagte sie zu Sonja und brachte durch diesen französischen Gruß eine leichte Geringschätzigkeit in ihren freundlichen Beziehungen zu Sonja zum Ausdruck.
Als sie dann alle, ausgezogen und von der Fahrt wieder zurechtgemacht, zum Tee erschienen, küßte Marja Dmitrijewna alle der Reihe nach ab.
»Von ganzem Herzen freue ich mich, daß ihr gekommen seid und bei mir bleiben wollt«, sagte sie. »Es ist auch nun die höchste Zeit«, fügte sie hinzu und blickte Natascha bedeutsam an. »Der Alte ist hier, und sein Sohn wird alle Tage erwartet. Es ist unbedingt, unbedingt nötig, daß ihr euch bekannt macht. Na, davon wollen wir aber später reden«, sagte sie und warf Sonja einen Blick zu, der deutlich besagte, daß sie in ihrer Gegenwart nicht darüber sprechen wolle. »Jetzt höre einmal«, wandte sie sich dann wieder an den Grafen, »wen soll ich dir morgen vorsetzen? Wen wollen wir einladen? Schinschin?« Sie bog zählend einen Finger um. »Die Heulsuse Anna Michailewna? Sind schon zwei. Sie ist hier mit ihrem Sohn. Sucht eine Frau für ihn. Und dann Besuchow, nicht wahr? Er ist mit seiner Frau hier. War ihr ausgerückt, sie ist aber schleunigst nachkutschiert. Er war schon am Mittwoch bei mir zu Tisch. Na, und die da«, sie zeigte auf die jungen Mädchen, »werde ich morgen in die Iberische Kapelle bringen, und dann fahren wir zusammen zur Ober-Schelmin. Denn ich fürchte, ihr werdet wohl wieder mal alles neu haben wollen. An mir könnt ihr euch freilich nichts absehen. Ärmel werden jetzt getragen – so! Kürzlich war die junge Fürstin Irina Wassiljewna einmal bei mir, da konnte man es bald mit der Angst kriegen, wenn man die sah: ganz wie wenn sie zwei Fässer über die Arme gezogen hätte! Jeden Tag kommt jetzt hier eine neue Mode auf. Und was hast du hier für Geschäfte?« wandte sie sich mit strenger Miene an den Grafen.
»Ja, das ist alles so plötzlich gekommen«, erwiderte der Graf. »Da muß ich nun hier den Kram einkaufen, und dann habe ich einen Käufer für meinen Landsitz und auch einen für das Stadthaus. Wenn ich Ihre Liebenswürdigkeit hier in Anspruch nehmen darf, so wähle ich mir dann eine passende Zeit aus, fahre mal auf einen Tag nach Marinskoe und halse Ihnen inzwischen meine Mädels auf.«
»Schön, schön, bei mir sind sie gut aufgehoben. Bin ja das wandelnde Vormundschaftsgericht selber. Ich werde sie ausführen, wohin es nötig sein wird, werde sie verhätscheln und ihnen auch mal tüchtig den Kopf waschen«, sagte Marja Dmitrijewna und tätschelte mit ihrer großen Hand ihrem Liebling und Patenkind Natascha die Wangen.
Am nächsten Morgen führte Marja Dmitrijewna die jungen Mädchen in die Iberische Kapelle und dann zu Madame Auber-Chalmé, die solche Angst vor Marja Dmitrijewna hatte, daß sie ihr alle Modelle immer weit unter Preis abließ, nur um sie möglichst bald wieder loszuwerden. Marja Dmitrijewna bestellte dort fast die ganze Ausstattung. Nach Hause zurückgekehrt, jagte sie alle, außer Natascha, aus dem Zimmer und rief ihren Liebling dicht an ihren Sessel heran.
»Na, nun wollen wir mal miteinander reden. Zu deinem Bräutigam kann ich dir nur Glück wünschen. Da hast du wirklich einen prächtigen jungen Menschen erwischt. Das freut mich für dich; ich kannte ihn schon, als er noch so klein war.« Sie zeigte etwa dreiviertel Meter hoch über die Erde. Natascha wurde rot vor Glück.
»Ich habe ihn und seine ganze Familie sehr gern. Aber nun höre einmal. Du weißt, daß der alte Fürst Nikolaj sehr gegen die Heirat seines Sohnes ist. Ein eigensinniger alter Mann. Selbstverständlich ist Fürst Andrej kein Kind mehr und kann ohne seine Einwilligung heiraten, aber immerhin wäre es nicht gut, ohne den Willen des Vaters in die Familie einzutreten. Das muß in aller Liebe und in allem Frieden geschehen. Du bist ein kluges Mädchen und weißt, wie du dich zu benehmen hast. Suche in aller Güte und Klugheit mit ihnen fertig zu werden. Dann wird alles gut ausschlagen.«
Natascha schwieg. Marja Dmitrijewna dachte, sie tue dies aus Schüchternheit, aber es war Natascha im Grund ihres Herzens unangenehm, daß man sich in ihre Liebesangelegenheiten mit dem Fürsten Andrej mischte, die ihr so eigenartig und von allem, was andere Menschen fühlten und taten, so verschieden dünkten, daß sie ihrer Ansicht nach gar niemand begreifen konnte. Sie liebte und kannte nur den Fürsten Andrej, er liebte sie und mußte jeden Tag kommen und sie heimführen. Weiter hatte sie gar nichts nötig.
»Siehst du, ich kenne ihn schon seit langer Zeit und habe auch deine Schwägerin Maschenka sehr gern. Schwägerin – Anklägerin, sagt man sonst immer, die aber tut keiner Fliege etwas zuleide. Sie hat mich gebeten, euch zusammenzuführen. Du wirst morgen mit deinem Vater zu ihr hinfahren, komme ihr da recht liebenswürdig entgegen: du bist jünger als sie. Wenn dann dein Bräutigam zurückkommt, bist du bereits mit seiner Schwester und seinem Vater bekannt und man hat dich schon liebgewonnen. Ist’s nicht so? Wird das nicht das beste sein?«
»Ja«, entgegnete Natascha widerwillig.
Am andern Tag fuhr Graf Ilja Andrejewitsch auf den Rat Marja Dmitrijewnas mit Natascha zum Fürsten Nikolaj Andrejewitsch. Ziemlich verstimmt bereitete sich der Graf auf diesen Besuch vor: er empfand im Grund seines Herzens ein bißchen Angst. Er hatte sein letztes Renkontre mit dem Fürsten gelegentlich der Aushebung des Landsturmes noch nicht vergessen, wo er als Antwort auf seine Einladung zum Mittagessen nur einen tüchtigen Rüffel vom Fürsten bekommen hatte, daß nicht rechtzeitig genügend Leute von ihm gestellt worden waren. Natascha dagegen hatte ihr bestes Kleid angezogen und befand sich in heiterster Stimmung. Es kann ja gar nicht sein, daß sie mich nicht liebgewinnen werden, dachte sie, bisher haben mich immer alle Leute gern gehabt. Und ich bin so bereit, alles zu tun, was sie von mir verlangen, so bereit, sie liebzuhaben, ihn, weil er sein Vater, und sie, weil sie seine Schwester ist, daß sie keinen Grund haben werden, mich nicht wiederzulieben.
So fuhren sie vor dem alten düstern Haus in der Wosdwishenka vor und traten in die Halle ein.
»Nun sei uns Gott gnädig«, flüsterte der Graf halb scherzend, halb ernst, aber Natascha bemerkte, daß ihr Vater nicht so ruhig wie sonst ins Vorzimmer trat und schüchtern und leise fragte, ob der Fürst und die Prinzessin zu Hause seien.
Nachdem ihre Ankunft gemeldet worden war, machte sich bei der Dienerschaft eine gewisse Kopflosigkeit bemerkbar. Der Diener, der sie drinnen gemeldet hatte, wurde im Saal von einem zweiten zurückgehalten, und beide steckten flüsternd die Köpfe zusammen. Dann kam ein Stubenmädchen in den Saal gelaufen und flüsterte ihnen hastig etwas zu, wobei sie den Namen der Prinzessin nannte. Endlich trat ein alter Diener mit grimmiger Miene auf die Rostows zu und meldete ihnen, der Fürst könne sie nicht empfangen, Prinzessin Marja aber lasse bitten.
Die erste, die den Gästen entgegenkam, war Mademoiselle Bourienne. Sie begrüßte Vater und Tochter ausnehmend höflich und führte sie zur Prinzessin. Die Prinzessin kam den Gästen mit ihrem schwerfälligen Gang ganz erregt und erschrocken entgegengelaufen, ihr Gesicht war vor Aufregung ganz mit roten Flecken bedeckt, und sie bemühte sich vergebens, ungezwungen und erfreut zu scheinen.
Auf den ersten Blick gefiel der Prinzessin Natascha nicht. Sie kam ihr zu geputzt, zu leichtsinnig heiter, zu eitel vor. Prinzessin Marja war sich nicht bewußt, daß sie aus unwillkürlichem Neid auf Schönheit, Jugend und Glück ihrer künftigen Schwägerin sowie aus Eifersucht auf die Liebe ihres Bruders, schon ehe sie diese erblickt hatte, etwas voreingenommen gegen sie gewesen war. Außer diesem unüberwindlichen Gefühl einer Abneigung war die Prinzessin in diesem Augenblick noch deshalb so aufgeregt, weil der alte Fürst, als ihm die Ankunft der Rostows gemeldet worden war, geschrien hatte, sie sollten sich zum Teufel scheren, Prinzessin Marja könne sie ja empfangen, wenn es ihr Spaß mache, zu ihm aber dürfe man sie niemals vorlassen. Darauf hatte sich Prinzessin Marja entschlossen, die Rostows anzunehmen, fürchtete aber jeden Augenblick, der Fürst werde sich in seiner Wut zu irgendeiner Unhöflichkeit hinreißen lassen, da ihn die Ankunft der Rostows sehr aufgeregt zu haben schien.
»Da habe ich Ihnen nun meine kleine Heidelerche gebracht, meine liebe Prinzessin«, sagte der Graf und verbeugte sich, sah sich dabei aber immer unruhig um, als fürchte er, der alte Fürst könne jeden Augenblick eintreten. »Wie freue ich mich, Sie miteinander bekannt machen zu können … Es ist doch recht bedauerlich, daß der Fürst immer noch leidend ist.« Er sagte noch ein paar allgemeine Phrasen und stand dann auf. »Wenn Sie erlauben, Prinzessin, lasse ich Ihnen meine Natascha auf ein Viertelstündchen hier, ich möchte nur noch schnell, zwei Schritte von hier, bei Anna Semjonowna auf dem Sobatschjaplatz einen Besuch machen und hole meine Tochter dann wieder ab.«
Ilja Andrejewitsch hatte sich diesen diplomatischen Trick ausgedacht, um – wie er seiner Tochter später auseinandersetzte – den künftigen Schwägerinnen Gelegenheit zu geben, sich auszusprechen, aber vielleicht doch auch etwas aus dem Grund, um einer möglichen Begegnung mit dem Fürsten, vor dem er doch ein bißchen Angst hatte, aus dem Wege zu gehen. Das sagte er natürlich seiner Tochter nicht, aber Natascha erriet die Angst und Unruhe ihres Vaters und fühlte sich dadurch gekränkt. Sie errötete für ihren Vater, ärgerte sich aber dann noch mehr darüber, daß sie rot geworden war, und sah Prinzessin Marja mit einem dreisten, herausfordernden Blick an, der bekunden sollte, daß sie selber sich vor niemandem fürchte. Die Prinzessin sagte zum Grafen, sie freue sich darüber sehr und bitte ihn, nur recht lang bei Anna Semjonowna zu bleiben, und Ilja Andrejewitsch ging fort.
Obgleich Prinzessin Marja, die gern mit Natascha unter vier Augen reden wollte, Mademoiselle Bourienne zu wiederholten Malen unruhige Blicke zuwarf, verließ diese doch nicht das Zimmer und unterhielt sich flott über Moskauer Vergnügungen und Moskauer Theater. Natascha fühlte sich gekränkt durch die Ratlosigkeit der Dienerschaft im Vorzimmer, durch die Unruhe ihres Vaters und durch den unnatürlichen Ton der Prinzessin, die, wie ihr schien, ihr eine Gnade erwies, wenn sie sie annahm. Aus diesem Grund machte ihr alles einen unangenehmen Eindruck. Prinzessin Marja gefiel ihr nicht. Sie schien ihr zu häßlich, gemacht und trocken. Natascha zog sich plötzlich ganz in sich selber zurück und nahm unwillkürlich einen lässigen Ton an, der Prinzessin Marja nur noch mehr abstoßen mußte. Nachdem das Gespräch etwa fünf Minuten schwerfällig und erkünstelt dahingeschlichen war, hörte man rasche Schritte in Pantoffeln heranschlürfen. Auf Prinzessin Marjas Gesicht malte sich Entsetzen, die Tür ging auf, und der Fürst trat ein in Schlafrock und weißer Nachtmütze.
»Ah, gnädiges Fräulein«, sagte er, »Fräulein Komtesse … Komtesse Rostowa, wenn ich nicht irre … entschuldigen Sie bitte, entschuldigen Sie … Ich wußte nicht, gnädiges Fräulein, bei Gott, ich wußte nicht, daß Sie uns mit Ihrem Besuch beehrt haben, wollte in diesem Kostüm nur zu meiner Tochter. Entschuldigen Sie bitte, entschuldigen Sie, bei Gott, ich wußte nicht …«, wiederholte er in so unnatürlichem und unangenehmem Ton, wobei er das Wort »Gott« stark betonte, daß Prinzessin Marja dastand, die Augen senkte und weder ihren Vater noch Natascha anzusehen wagte.
Natascha war aufgestanden und hatte einen Knicks gemacht, wußte aber nun auch nicht, was sie weiter tun sollte. Nur Mademoiselle Bourienne lächelte liebenswürdig.
»Bitte um Entschuldigung, bitte um Entschuldigung! Bei Gott, ich wußte nicht …« brummte der Alte noch einmal, musterte Natascha von Kopf bis zu Füßen und ging wieder hinaus.
Mademoiselle Bourienne gewann als erste nach dieser Erscheinung ihre Fassung wieder und lenkte das Gespräch auf die Unpäßlichkeit des Fürsten. Natascha und Prinzessin Marja blickten einander schweigend an, und je länger sie sich so stumm ansahen, ohne das, was ihnen am Herzen lag, aussprechen zu können, um so weniger wohlwollend dachten sie voneinander.
Als der Graf zurückkam, freute sich Natascha in ziemlich unhöflicher Weise über sein Kommen und hatte es sehr eilig, wegzufahren. In diesem Augenblick haßte sie fast die alte, trockene Prinzessin, die sie in eine so peinliche Lage versetzt und es fertig gebracht hatte, eine halbe Stunde mit ihr zusammen zu sein, ohne den Fürsten Andrej auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Ich konnte doch vor dieser Französin nicht als erste von ihm zu reden anfangen, dachte Natascha.
Inzwischen quälte sich Prinzessin Marja nicht weniger. Sie wußte, was sie Natascha hätte sagen müssen, aber sie hatte es deshalb nicht tun können, weil Mademoiselle Bourienne sie gestört hatte, und dann kam es ihr, sie wußte selber nicht warum, so schwer an, mit Natascha über diese Ehe zu sprechen. Als der Graf schon aus dem Zimmer gegangen war, lief die Prinzessin Natascha noch mit schnellen Schritten nach, nahm ihre Hand und sagte mit einem schweren Seufzer: »Warten Sie, ich muß Ihnen noch …«
Natascha blickte, ohne selber zu wissen warum, Prinzessin Marja spöttisch an.
»Meine liebe Natalie«, sagte Prinzessin Marja, »seien Sie überzeugt, daß ich glücklich bin, daß mein Bruder in Ihnen sein Glück gefunden hat …«
Sie hielt inne, da sie fühlte, daß sie die Unwahrheit sagte. Natascha bemerkte ihr Stocken und erriet seinen Grund.
»Ich denke, Prinzessin, daß es jetzt nicht an der Zeit ist, darüber zu reden«, sagte Natascha, äußerlich würdig und kühl, aber sie konnte kaum noch das Schluchzen zurückhalten, das ihr in der Kehle aufstieg.
Was habe ich gesagt, was habe ich getan! dachte sie, als sie kaum aus dem Zimmer heraus war.
An diesem Tag ließ Natascha beim Mittagessen lang auf sich warten. Sie saß in ihrem Zimmer und schluchzte wie ein Kind und schluckte und schneuzte sich. Sonja stand vor ihr und küßte sie aufs Haar.
»Natascha, was fehlt dir denn?« fragte sie. »Was hast du denn mit denen zu schaffen? Das geht doch vorüber, Natascha.«
»Nein, wenn du nur wüßtest, wie kränkend das ist … Ganz, als wäre ich …«
»Hör auf, Natascha. Sieh, du kannst doch nichts dafür. Also, was kümmert’s dich dann? Komm, gib mir einen Kuß«, sagte Sonja.
Natascha hob den Kopf, küßte ihre Freundin auf die Lippen und preßte ihr nasses Gesicht an deren Wangen.
»Ich kann nicht sagen, wer schuld daran ist, ich weiß es nicht. Niemand ist schuld«, sagte Natascha. »Oder doch ich selbst. Aber das tut so schrecklich weh. Ach, wenn er doch bloß käme!«
Mit rotgeweinten Augen kam sie zum Mittagessen. Marja Dmitrijewna, die bereits erfahren hatte, wie die Rostows beim Fürsten empfangen worden waren, gab sich den Anschein, als bemerke sie Nataschas unglückliches Gesicht nicht, und scherzte laut und derb mit dem Grafen und den übrigen Gästen.
An diesem Abend sollten die Rostows in die Oper fahren. Marja Dmitrijewna hatte ihnen Eintrittskarten verschafft.
Natascha hatte gar keine Lust, aber sie konnte Marja Dmitrijewnas liebenswürdiges Anerbieten, die damit hauptsächlich ihr eine Freude hatte bereiten wollen, unmöglich abschlagen. Nachdem sie sich angezogen hatte, ging sie in den Saal, um dort auf den Vater zu warten, besah sich in dem großen Spiegel, bemerkte, daß sie hübsch aussah, sehr hübsch sogar, und da wurde ihr noch trauriger zumute, aber es war eine süße, sehnsuchtsvolle Traurigkeit.
Mein Gott, wenn er doch nur hier wäre, dann würde ich ihn nicht so wie früher umarmen, nicht mit jener dummen Angst vor irgend etwas, sondern ganz anders, einfach und frei würde ich ihn an mich pressen, würde ihn zwingen, mich mit seinen suchenden, forschenden Augen anzusehen, wie er mich sooft betrachtete, und dann würde ich ihn zum Lachen bringen, so wie er damals lachte. Und seine Augen – wie deutlich ich diese Augen vor mir sehe! dachte Natascha. Was gehen mich sein Vater und seine Schwester an? Ich liebe ihn, ihn allein, ihn, dieses Gesicht, diese Augen und sein halb männliches, halb kindliches Lächeln … Nein, lieber nicht an ihn denken, nicht daran denken, alles vergessen, ganz vergessen diese Zeit über. Sonst kann ich dieses Warten nicht ertragen, sonst werde ich gleich wieder losheulen, und sie ging vom Spiegel weg und tat sich Gewalt an, nicht loszuschluchzen. Wie kann nur Sonja Nikolenka so ruhig und gleichmäßig lieben und so lang und geduldig auf ihn warten? dachte sie und sah Sonja an, die jetzt ebenfalls fertig angekleidet mit dem Fächer in der Hand ins Zimmer trat. Nein, sie ist ganz anders als ich. Ich kann das nicht.
Natascha war in diesem Augenblick in einer so weichen und zärtlichen Stimmung, daß ihr das Bewußtsein, zu lieben und geliebt zu werden, nicht mehr genügte: sie mußte jetzt, augenblicklich, den geliebten Mann umarmen, Liebesworte von ihm hören und ihm sagen, wovon ihr Herz so voll war. Während sie, neben dem Vater sitzend, im Wagen dahinfuhr und in Gedanken versunken nach den an den gefrorenen Wagenfenstern vorbeihuschenden Laternenlichtern blickte, wurde ihr noch sehnsüchtiger und trauriger zumute und sie vergaß ganz, mit wem und wohin sie fuhr. Die Rostowsche Equipage bog nun in den langen Zug der Wagen ein und fuhr, langsam mit den Rädern über den Schnee hinknirschend, im Schritt am Theater vor. Behend sprangen Natascha und Sonja, ihre Kleider raffend, heraus, dann folgte der Graf, von den Dienern gestützt, und alle drei begaben sich durch das Gewirr der hineinströmenden Damen und Herren und der Zettelverkäufer nach dem Foyer der Parkettlogen. Durch die halbgeöffneten Türen hörte man schon die Klänge der Musik.
»Natalie, vos cheveux …« flüsterte Sonja.
Der Logenschließer huschte flink und höflich vor den Damen her und machte die Tür zur Loge auf. Lauter hörte man die Musik, und die hellerleuchteten Logenreihen mit den entblößten Schultern und Armen der Damen und das lärmende, von bunten Uniformen schimmernde Parkett erschienen in strahlendem Glanz. Eine Dame, die in die Nebenloge eintrat, warf Natascha einen frauenhaft neidischen Blick zu. Der Vorhang war noch nicht aufgegangen, man spielte die Ouvertüre. Natascha zupfte ihr Kleid zurecht, ging mit Sonja vor, setzte sich und betrachtete die strahlend erleuchteten Reihen der gegenüberliegenden Logen. Das Gefühl, daß sich Hunderte von Augen auf ihren nackten Hals und ihre nackten Arme richteten, das sie solange nicht empfunden hatte, löste halb angenehme, halb unangenehme Empfindungen in ihr aus und scheuchte einen ganzen Schwarm damit verknüpfter Erinnerungen, Wünsche und Aufregungen in ihr auf.
Die beiden auffallend hübschen Mädchen, Natascha und Sonja, unter der Obhut des Grafen Ilja Andrejewitsch, den man so lange nicht in Moskau gesehen hatte, zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Man wußte dunklen Gerüchten zufolge, daß Natascha mit dem Fürsten Andrej verlobt war, wußte, daß die Rostows bis jetzt auf dem Lande gelebt hatten, und musterte nun voll Neugier die Braut eines Mannes, der als eine der reichsten und vornehmsten Partien von ganz Rußland galt.
Natascha war, wie ihr auch alle sagten, auf dem Land noch hübscher geworden und sah an diesem Abend infolge ihrer inneren Erregung ganz besonders vorteilhaft aus. Sie setzte durch ihre Fülle an Schönheit und Leben, die mit gelassener Gleichgültigkeit gegen ihre ganze Umgebung gepaart war, alle in Erstaunen. Ohne für irgend jemanden Aufmerksamkeit zu zeigen, ließ sie ihre schwarzen Augen über die Menge schweifen, ihr zarter, bis über den Ellbogen entblößter Arm ruhte auf der samtenen Brüstung der Loge, und leise und unbewußt bewegte sich ihre Hand im Takt der Ouvertüre, wobei sie den Theaterzettel leicht zerknitterte.
»Sieh mal, dort ist die Alenina«, sagte Sonja. »Ich glaube, mit ihrer Mutter.«
»Großer Gott! Michail Kirilytsch ist noch dicker geworden!« bemerkte der alte Graf.
»Seht mal dort, unsere Anna Michailowna, und in was für einer Toque!«
»Da sind auch die Karagina, Julie, und Boris ist auch dabei. Denen sieht man es aber von weitem an, daß sie verlobt sind. Hat Dubrezkoj eigentlich schon in aller Form um sie angehalten?«
»Und ob! Gerade heute habe ich es erfahren«, erwiderte Schinschin, der in Rostows Loge eingetreten war.
Natascha blickte nach derselben Richtung, nach der ihr Vater hinsah, und bemerkte Julie, die, eine Perlenschnur um den dicken, roten Hals – Natascha wußte, daß er außerdem noch gepudert war – mit glückstrahlendem Gesicht mit ihrer Mutter zusammensaß. Hinter ihnen, das Ohr zu Julies Mund herabgebeugt, sah man Boris’ lächelnden, glatt geschniegelten, hübschen Kopf. Er schielte heimlich zu den Rostows hinüber und sagte lächelnd etwas zu seiner Braut.
Er spricht von uns, von mir mit ihnen, dachte Natascha. Sicherlich redet er seiner Braut die Eifersucht auf mich aus. Das kann er nur getrost bleiben lassen! Wenn sie wüßten, wie gleichgültig sie mir alle miteinander sind!
Dahinter saß Anna Michailowna in einer grünen Toque. Ihr gottergebenes Gesicht zeigte heute einen glücklichen, feiertäglichen Ausdruck. In ihrer Loge herrschte jene von Brautpaaren unzertrennliche Atmosphäre, die Natascha so gut kannte und liebte. Sie wandte sich ab, und plötzlich fielen ihr alle die Demütigungen bei ihrem Besuch von heute morgen wieder ein.
Was für ein Recht hat er, mich nicht in seine Familie aufnehmen zu wollen? Ach, lieber nicht daran denken, nicht daran denken, bis er wieder da ist! sagte sie sich und fing an, die bekannten und unbekannten Gesichter im Parkett zu mustern. Vorn in der ersten Reihe, gerade in der Mitte, stand, mit dem Rücken an die Rampe gelehnt, Dolochow, den mächtigen, krausen Haarschopf nach oben gekämmt, in persischem Kostüm. Er stand so, daß alle Leute ihn sehen mußten, wußte, daß er die Aufmerksamkeit des ganzen Theaters auf sich zog, und stand dabei doch so frei und ungezwungen da, als befände er sich zu Hause in seinem Zimmer. Um ihn herum drängte sich die ganze glänzende Jugend von Moskau, unter der er sichtlich die erste Stelle einnahm.
Graf Ilja Andrejewitsch stieß die errötende Sonja an und zeigte ihr lachend ihren früheren Verehrer.
»Hast du ihn erkannt?« fragte er sie. »Wo kommt denn der auf einmal wieder her? Er war doch irgendwohin verschwunden?« wandte er sich an Schinschin.
»Ja, ja«, erwiderte Schinschin. »Er war im Kaukasus, desertierte dort und soll dann in Persien bei irgendeinem regierenden Fürsten Minister gewesen sein. Dort soll er den Bruder des Schahs totgeschlagen haben. Na, unsere Moskauer Damen sind wie die Verrückten hinter ihm her. Dolochoff le Persan ist jetzt überall die Losung. Kein Wort hört man reden, ohne daß nicht Dolochows Name dabei genannt wird: man schwört bei seinem Namen, lädt Gäste auf ihn ein wie auf einen Sterlet«, fuhr Schinschin fort. »Dolochow und Anatol Kuragin verdrehen all unseren Damen die Köpfe.«
Da trat eine große, schöne Frau mit reichem Haar, schneeweißen vollen Schultern und sehr tief entblößtem Hals, um den sie eine doppelreihige Kette großer Perlen geschlungen hatte, in die Nebenloge ein und nahm lässig und umständlich Platz, wobei ihr schweres Seidenkleid knisterte und rauschte.
Natascha sah sich unwillkürlich nach diesem Hals, diesen Schultern, diesen Perlen und dieser Frisur um und bewunderte die Schönheit der Schultern und Perlen. Und während sie zum zweitenmal hinüberschaute, wandte sich die Dame um, und als ihre Augen den Blicken Ilja Andrejewitschs begegneten, nickte sie grüßend und lächelte. Es war die Gräfin Besuchowa, Pierres Frau. Ilja Andrejewitsch, der die ganze vornehme Welt kannte, beugte sich zu ihr hinüber und redete sie an.
»Sind Sie schon lange in Moskau, Gräfin?« fragte er. »Werde mir sogleich, sogleich gestatten, Sie zu begrüßen und Ihnen die Hand zu küssen. Bin soeben erst hier eingetroffen, in geschäftlichen Angelegenheiten, und habe meine Mädels mitgebracht. Die Semjonowna[117] soll ja unvergleichlich spielen«, sagte Ilja Andrejewitsch. »Graf Pjotr Kirillowitsch hat sich immer unser erinnert. Ist er hier?«
»Ja, er wollte kommen«, sagte Helene und sah Natascha aufmerksam an.
Graf Ilja Andrejewitsch setzte sich wieder auf seinen Platz.
»Ist sie nicht schön?« sagte er flüsternd zu Natascha.
»Wunderbar schön!« erwiderte Natascha. »In die muß man sich ja verlieben.«
In diesem Augenblick erklangen die letzten Akkorde der Ouvertüre, und der Kapellmeister klopfte mit dem Stab auf. Im Parkett suchten ein paar Herren, die zu spät gekommen waren, noch eilig auf ihre Plätze zu gelangen, und der Vorhang ging auf.
Kaum war der Vorhang in die Höhe gezogen, wurde es in den Logen und im Parkett ganz still, und all die Herren in Uniform oder im Frack, die alten wie die jungen, und all die Damen mit den kostbaren Edelsteinen auf den nackten Körpern wandten mit hungriger Neugier ihre ganze Aufmerksamkeit der Bühne zu. Auch Natascha schaute hin.
In der Mitte der Bühne sah man einen ebenen Bretterboden und zu beiden Seiten angestrichene Wandflächen, die Bäume vorstellen sollten. Im Hintergrund war eine Leinwand über Bretter gespannt. Vorn saßen Mädchen in weißen Röcken und roten Miedern. Die eine, die etwas dicker war als die andern, saß in einem weißen Seidenkleid für sich allein auf einem niedrigen Bänkchen, an das hinten eine grüne Pappe angeklebt war. Sie alle sangen etwas. Als sie mit ihrem Lied fertig waren, lief das Mädchen mit dem weißen Kleid an den Souffleurkasten, und ein Mann mit einer Feder auf dem Hut, einem Dolch und seidenen Hosen, die prall seine dicken Beine umspannten, stellte sich neben sie und fing an zu singen und mit den Armen zu fuchteln.
Nachdem der Mann mit den prallen Hosen fertig gesungen hatte, fing das Mädchen an zu singen. Dann waren sie beide still, und die Musik spielte, und der Mann tastete mit seinen Fingern nach der Hand des Mädchens im weißen Kleid und wartete offenbar auf den Takt, wo sie beide zum Duett einsetzen mußten. Nachdem sie das Duett zu Ende gesungen hatten, fingen alle Leute im Theater an zu klatschen und zu schreien, der Mann und das Mädchen auf der Bühne aber, die ein Liebespaar vorstellen sollten, breiteten lächelnd die Arme auseinander und verbeugten sich.
Nach dem langen Aufenthalt auf dem Lande und in der ernsten Stimmung, in der sich Natascha befand, kam ihr das alles fremd und wunderlich vor. Sie vermochte dem Gang der Oper nicht zu folgen, vermochte nicht einmal auf die Musik zu hören: sie sah nur die angemalten Pappwände und die wunderlich verkleideten Männer und Frauen, die in der grellen Beleuchtung so sonderbar sprachen, sangen und sich bewegten. Sie wußte, daß dies etwas vorstellen sollte, aber es war alles so eingelernt künstlich und unnatürlich, daß sie sich bald für die Schauspieler schämte, bald über sie lachen mußte. Sie sah sich um und suchte auf den Gesichtern der Zuschauer dasselbe Gefühl der Verwunderung und des Spottes, das sie selber empfand, aber alle Gesichter verfolgten nur mit gespannter Aufmerksamkeit die Vorgänge auf der Bühne und drückten nur ein, wie es ihr schien, erheucheltes Entzücken aus.
Also muß es wohl so sein, dachte Natascha. Abwechselnd musterte sie die langen Reihen der pomadisierten Köpfe im Parkett und der halbnackten Damen in den Logen, und während sie besonders ihre Nachbarin Helene betrachtete, die fast aller Hüllen bar, mit stillem, ruhigem Lächeln nach der Bühne hinsah, ohne ein Auge von den Vorgängen dort zu wenden, empfand sie plötzlich bei dem grellen Licht, das sich über den ganzen Raum ergoß, und in der warmen, durch die vielen Menschen erhitzten Luft ein wohliges Gefühl. Ganz allmählich geriet Natascha in jenen Zustand der Berauschtheit, den sie so lange nicht an sich empfunden hatte. Sie wußte nicht mehr, wer sie war, wo sie sich befand und was sich vor ihr abspielte. Sie sah und dachte, und die sonderbarsten, tollsten Gedanken schossen ihr unvermittelt durch den Kopf. Bald kam ihr der Gedanke, auf die Rampe zu springen und die Arie der Sängerin selber zu singen, bald hatte sie die größte Lust, einen in ihrer Nähe sitzenden alten Herrn mit dem Fächer anzuschupsen oder sich zu Helene hinüberzubeugen und sie zu kitzeln.
Als auf der Bühne einmal alles still war, weil gerade eine Arie einsetzen sollte, knarrte auf der Seite von Rostows Loge die Eingangstür zum Parkett, und man hörte die Schritte eines zu spät kommenden Herrn. »Das ist Kuragin«, flüsterte Schinschin. Die Gräfin Besuchowa wandte sich um und lächelte dem Eintretenden zu. Natascha schaute nach derselben Seite wie die Gräfin Besuchowa und erblickte einen auffallend hübschen Adjutanten, der mit selbstbewußter und dabei doch höflicher Miene unter ihrer Loge vorüberging. Es war Anatol Kuragin, den sie seinerzeit auf dem Ball in Petersburg gesehen hatte und der ihr schon damals aufgefallen war. Er trug jetzt Adjutantenuniform mit Epaulett und Achselband. Sein gemäßigt forscher Gang hätte lächerlich gewirkt, wenn er nicht ein so schmucker Kerl gewesen wäre und sein hübsches Gesicht nicht einen so harmlos zufriedenen, heiteren Ausdruck gezeigt hätte. Obgleich es mitten im Akt war, schlenderte er doch, leicht mit Sporen und Säbel klirrend, den schönen, pomadisierten Kopf frei und hoch tragend, lässig und ohne sich zu beeilen, durch den mit Teppichen ausgelegten Gang. Als er Natascha erblickte, trat er auf seine Schwester zu, legte seine Hand in dem wie angegossen sitzenden Handschuh auf die Brüstung ihrer Loge, nickte ihr grüßend zu und fragte sie etwas, indem er auf Natascha wies.
»Mais charmante«, sagte er dann offenbar über Natascha, was diese nicht nur hörte, sondern auch von seinen Lippen ablas. Dann ging er in die erste Reihe, setzte sich neben Dolochow und stieß ihn, um dessen Gunst alle anderen so warben, freundschaftlich und lässig mit dem Ellbogen an. Dann blinzelte und lächelte er ihm lustig zu und stemmte das Bein gegen die Rampe.
»Wie ähnlich doch Bruder und Schwester einander sind«, sagte der Graf. »Und wie schön alle beide.«
Schinschin erzählte dem Grafen irgendeine tolle Geschichte, die in Moskau über Kuragin in Umlauf war, auf die Natascha nur aus dem Grund hinlauschte, weil er von ihr »charmante« gesagt hatte.
Der erste Akt war zu Ende. Im Parkett standen alle auf, drängten sich wirr durcheinander, gingen hinaus und kamen herein.
Boris trat zu den Rostows in die Loge, nahm harmlos ihre Glückwünsche entgegen, überbrachte dann Natascha und Sonja mit hochgezogenen Brauen und zerstreutem Lächeln die Bitte seiner Braut, doch ja an ihrer Hochzeit teilzunehmen, und ging wieder hinaus. Natascha hatte sich mit lustigem, kokettem Lächeln mit ihm unterhalten und jenem Boris, in den sie einst so verliebt gewesen war, zu seiner Verlobung von ganzem Herzen Glück gewünscht. In dem Zustand der Berauschtheit, in dem sie sich augenblicklich befand, kam ihr alles so einfach und natürlich vor.
Die nackte Helene saß neben ihr und lächelte allen in derselben Weise zu, und ganz ebenso hatte nun Natascha auch Boris zugelächelt.
Helenens Loge, die schon voller Gäste war, wurde nun auch vom Parkett aus von den bekanntesten und geistreichsten Herren umringt. Es schien, als wollten alle sich gegenseitig und auch den übrigen Leuten zeigen, daß sie mit ihr bekannt waren.
Kuragin stand während dieser ganzen Pause mit Dolochow zusammen vorn an der Rampe und sah nach der Rostowschen Loge hinüber. Natascha wußte, daß er über sie sprach, und das bereitete ihr Vergnügen. Sie drehte sich sogar so, daß er ihr Gesicht von der Seite sehen mußte, von der es ihrer Ansicht nach am vorteilhaftesten aussah. Kurz vor Beginn des zweiten Aktes tauchte im Parkett auch die behäbige Gestalt Pierres auf, den die Rostows seit ihrer Ankunft in Moskau noch nicht zu Gesicht bekommen hatten. Er machte ein trauriges Gesicht und war seit der Zeit, da ihn Natascha zum letztenmal gesehen hatte, noch dicker geworden. Ohne jemandem Beachtung zu schenken, ging er nach den ersten Reihen. Anatol trat auf ihn zu und sagte etwas zu ihm, wobei er mit einem Blick auf die Rostowsche Loge wies. Als Pierre Natascha gesehen hatte, wurde er lebhafter, ging eilig durch die Reihen und trat auf ihre Loge zu. Als er sie erreicht hatte, lehnte er sich mit den Ellbogen auf die Brüstung, lächelte und unterhielt sich lange mit Natascha.
Während Natascha mit Pierre sprach, hörte sie in der Nebenloge bei der Gräfin Besuchowa eine Männerstimme, und wußte aus irgendeinem Grund sofort, daß dies Kuragin war. Sie blickte sich um, und ihre Augen trafen sich. Fast lächelnd sah er ihr mit einem so entzückten, schmeichelnden Blick gerade in die Augen, daß es ihr sonderbar schien, ihm so nahe zu sein, ihn so zu sehen, so überzeugt zu sein, daß sie ihm gefiel, ohne ihn persönlich zu kennen.
Im zweiten Akt waren Grabsteine auf die Pappwände gemalt, in der Leinwand hinten war ein Loch, das den Mond darstellte, die Lampen an der Rampe hatte man mit Schirmen abgeblendet, die Trompeten und Bässe spielten ganz tiefe Noten, und von rechts und von links kamen eine Masse Leute in schwarzen Mänteln heraus. Diese Leute begannen mit den Armen zu fuchteln, und in den Händen hatten sie eine Art Dolche. Dann kamen noch andere Leute herzugelaufen und fingen an, jenes Mädchen, das erst das weiße Kleid angehabt hatte und jetzt ein himmelblaues trug, mit Gewalt fortzuschleppen. Aber das taten sie nicht plötzlich und mit einemmal, sondern sangen erst noch ein langes und breites mit ihr hin und her, bis sie sie dann wirklich forttrugen. Darauf schlug jemand hinter der Bühne dreimal auf etwas Metallisches, und alle fielen auf die Knie und sangen ein Gebet. Ab und zu wurde diese Handlung von den entzückten Beifallskundgebungen der Zuschauer unterbrochen.
Jedesmal, wenn Natascha während dieses Aktes ins Parkett hinunterschaute, sah sie Anatol Kuragin, wie er, den Arm auf die Lehne seines Sessels gelegt, zu ihr herüberschaute. Es machte ihr Freude zu sehen, daß er so von ihr entzückt war, und nicht einmal kam ihr der Gedanke, daß dabei etwas Schlechtes sein könne.
Als der zweite Akt zu Ende war, stand die Gräfin Besuchowa auf, wandte sich der Rostowschen Loge zu – ihre Brust war jetzt völlig unverhüllt – winkte mit ihrer behandschuhten Rechten den alten Grafen zu sich heran und knüpfte mit dem liebenswürdigsten Lächeln ein Gespräch mit ihm an, ohne all den anderen, die in ihre Loge traten, Beachtung zu schenken.
»Aber so machen Sie mich doch mit Ihren entzückenden Töchtern bekannt«, sagte sie. »Die ganze Stadt spricht von ihnen, und ich kenne sie nicht.«
Natascha stand auf und machte vor der üppigen Gräfin ihren Knicks. Sie freute sich so über das Lob dieser strahlend schönen Frau, daß sie vor Vergnügen über und über rot wurde.
»Ich habe jetzt auch die Absicht, zur Moskowiterin zu werden«, sagte Helene. »Aber schämen Sie sich denn nicht, solche Perlen auf dem Lande verborgen zu halten?«
Die Gräfin Besuchowa stand nicht zu Unrecht im Ruf einer bezaubernden Frau. Sie verstand es ausgezeichnet, oft das Gegenteil dessen zu sagen, was sie dachte, und war eine Meisterin in der Kunst, jemandem in harmloser und natürlicher Weise eine Schmeichelei zu sagen.
»Nein, lieber Graf, das müssen Sie mir schon erlauben, daß ich mich Ihrer beiden Töchter annehme. Ich bin zwar jetzt nur vorübergehend in Moskau, aber Sie ja ebenfalls. Ich werde mir alle Mühe geben, ihre jungen Damen zu amüsieren. Ich habe schon in Petersburg viel von Ihnen gehört und wollte Sie schon immer gern kennen lernen«, sagte sie mit ihrem Allerweltslächeln zu Natascha. »Mein Page, Drubezkoj, erzählte mir von Ihnen – haben Sie schon gehört, daß er heiratet? – und dann noch ein Freund meines Mannes, Bolkonskij, Fürst Andrej Bolkonskij«, sagte sie mit ganz besonderer Betonung, um anzudeuten, daß sie Nataschas Beziehungen zu ihm kannte. Dann forderte Helene die jungen Damen auf, eine von ihnen solle sich doch für den Rest der Vorstellung neben sie in ihre Loge setzen, damit sie besser miteinander bekannt werden könnten, und so ging Natascha zu ihr hinüber.
Im dritten Akt sah man auf der Bühne einen Palast dargestellt, in dem unzählige Kerzen brannten und Bilder an den Wänden hingen, die bärtige Ritter darstellten. Zwei Personen standen in der Mitte, wahrscheinlich König und Königin. Der König bewegte den rechten Arm, sang etwas – aber es klang schlecht, weil er sichtlich Angst hatte – und setzte sich dann auf den himbeerfarbenen Thron. Das Mädchen, das erst das weiße und dann das himmelblaue Kleid angehabt hatte, war jetzt nur mit einem Hemd bekleidet und stand mit offenem Haar neben dem Thron. Sie sang, an die Königin gewandt, etwas recht Trauriges, aber der König winkte streng mit der Hand, und da kamen aus den Pappwänden an der Seite Männer und Frauen mit nackten Beinen heraus und fingen miteinander zu tanzen an. Die Geigen zirpten lustig und in den höchsten Tönen, und ein Mädchen mit dicken nackten Beinen und mageren Armen zog sich von den anderen zurück, rannte hinter die Kulissen, zupfte ihr Mieder zurecht, lief dann wieder in die Mitte und fing hier an zu springen und ein Bein gegen das andere zu schlagen. Die Leute im Parkett klatschten in die Hände und riefen bravo. Darauf stellte sich auf der Bühne ein Mann in eine Ecke. Die Zimbeln und Trompeten im Orchester spielten noch lauter, und da fing denn dieser eine Mann auf der Bühne an, mit seinen nackten Beinen sehr hoch zu springen, und machte dann wieder ganz kleine, schnelle und zierliche Schritte. Dieser Mann war Duport, der für seine Kunst sechzigtausend Rubel im Jahr erhielt. Im Parkett, in den Logen und auf der Galerie fing alles an, wie rasend Beifall zu klatschen und zu toben, und der Mann auf der Bühne hielt inne, lächelte und verbeugte sich nach allen Seiten. Dann tanzten noch andere Männer und Frauen mit nackten Beinen, worauf der König oder einer aus dem Gefolge etwas rief, wozu die Musik spielte, und nun fingen wieder alle an zu singen. Plötzlich geriet alles in Aufruhr, im Orchester hörte man chromatische Tonleitern und Akkorde in verminderten Septimen, alles rannte durcheinander, und wieder wurde einer der Anwesenden hinter die Kulissen geschleppt. Der Vorhang fiel. Wieder brachen die Zuschauer in fürchterliches Lärmen und Toben aus, und alles schrie mit verzückten Gesichtern: »Duport! Duport! Duport!« Auch Natascha fand dies nicht mehr sonderbar, ja es bereitete ihr sogar Vergnügen, und sie sah sich glücklich lächelnd um.
»N’est-ce pas qu’il est admirable – Duport?« sagte Helene zu ihr.
»Oh, oui«, erwiderte Natascha.
In der Pause strömte auf einmal ein kalter Luftzug in Helenes Loge: Die Tür war aufgegangen, und Anatol trat herein, etwas nach vorn gebeugt und bemüht, an niemanden anzuecken.
»Erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Bruder vorstelle«, sagte Helene, und ihre Augen irrten unruhig zwischen Natascha und Anatol hin und her.
Natascha wandte ihren hübschen Kopf über die nackte Schulter dem jungen Mann zu und lächelte. Anatol, der in der Nähe ebenso hübsch war wie von weitem, setzte sich neben sie und sagte zu ihr, daß er schon lange gewünscht habe, dieses Vergnügen zu haben, schon seit dem Naryschkinschen Ball, wo er das für ihn unvergeßliche Vergnügen gehabt habe, sie zum erstenmal zu sehen. In Frauengesellschaft benahm sich Kuragin immer weit klüger und schlichter als unter Männern. Er sprach frei und natürlich, und es machte auf Natascha einen sonderbaren, aber angenehmen Eindruck, daß dieser Mensch, von dem man sich so viele Geschichten erzählte, nicht nur gar nicht so schrecklich war, sondern sogar in äußerst naiver, lustiger und gutmütiger Weise lächeln konnte.
Kuragin fragte sie, wie ihr die Oper gefallen habe, und erzählte ihr, daß die Semjonowa bei der letzten Vorstellung mitten im Spiel hingefallen sei.
»Wissen Sie, Komtesse«, sagte er plötzlich zu ihr wie zu einer alten, langjährigen Bekannten, »es wird jetzt bei uns ein Karussell in Kostümen veranstaltet, daran sollten Sie doch teilnehmen. Das wird sicher sehr lustig. Wir gehen alle zu den Karagins. Bitte, kommen Sie doch, nicht wahr?« fügte er dann etwas leiser hinzu.
Während er dies sagte, hatte er seine lächelnden Augen nicht ein einziges Mal von Nataschas Gesicht, ihrem Hals und ihren entblößten Armen abgewandt. Natascha wußte genau, daß er von ihr entzückt war. Das war ihr angenehm, aber trotzdem wurde ihr in seiner Gegenwart eng und schwer zumute. Sobald sie ihn nicht ansah, fühlte sie, wie sein Blick über ihre Schultern glitt, und dann suchte sie unwillkürlich seinen Blick einzufangen, damit er ihr lieber in die Augen sehe. Wenn sie aber einander in die Augen schauten, fühlte sie zu ihrem Entsetzen, daß zwischen ihm und ihr jene Schranke der Schamhaftigkeit gar nicht vorhanden war, die sie zwischen sich und anderen Männern immer wahrgenommen hatte. Ohne selber zu wissen, wie es kam, fühlte sie sich diesem Menschen bereits nach fünf Minuten schrecklich nahe. Wandte sie ihm den Rücken, so fürchtete sie, er könne sie von hinten an den nackten Armen fassen und auf den Nacken küssen. Obgleich sie sich von den allerharmlosesten Dingen unterhielten, fühlte sie doch, daß sie ihm nähergetreten war als je einem anderen Mann. Natascha sah sich nach Helene und nach dem Vater um, als wolle sie diese beiden fragen, was das zu bedeuten habe, aber Helene war in ihre Unterhaltung mit einem General vertieft und gab ihr auf ihren Blick keine Antwort, und aus den Augen ihres Vaters las sie weiter nichts als das, was er immer zu sagen pflegte: Amüsierst du dich? Na, das freut mich.
Als in einem jener Augenblicke unbehaglichen Schweigens Anatol sie mit weitgeöffneten Augen ruhig und unverwandt ansah, fragte ihn Natascha, um dem Stillschweigen ein Ende zu machen, wie ihm Moskau gefalle. Kaum hatte sie es ausgesprochen, so wurde sie über und über rot. Sie hatte fortwährend den Eindruck, als ob sie etwas Unpassendes täte, wenn sie sich mit ihm unterhielte. Anatol lächelte, wie wenn er sie aufmuntern wollte.
»Zuerst gefiel es mir nicht besonders, denn was eine Stadt angenehm macht, ce sont les jolies femmes. Nicht wahr? Na, aber jetzt gefällt es mir sehr gut hier«, sagte er und sah sie dabei bedeutsam an. »Sie kommen doch zu unserem Karussell, Komtesse, nicht wahr? Kommen Sie nur«, sagte er, streckte die Hand nach ihrem Bukett aus und fügte dann mit etwas gedämpfter Stimme hinzu: »Vous serez la plus jolie. Venez, chère comtesse, et comme gage donnez-moi cette fleur.«
Natascha verstand das, was er sagte, anders als er, aber sie fühlte doch auch aus den nichtverstandenen Worten einen unziemlichen Anschlag heraus. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, und wandte sich ab, als hätte sie das, was er gesagt hatte, gar nicht gehört. Kaum hatte sie sich aber abgewandt, so mußte sie auch schon wieder daran denken, daß er dort hinter ihr und so ganz nahe bei ihr saß.
Was denkt er jetzt? Ist er verwirrt? Erzürnt? Muß ich das wieder gutmachen? fragte sie sich im stillen, konnte es nicht lange aushalten und mußte sich wieder umsehen. Sie blickte ihm gerade in die Augen, und seine Nähe, seine Sicherheit und sein gutmütiges, liebenswürdiges Lächeln besiegten sie immer wieder. Sie lächelte jetzt ebenso wie er selbst, wenn sie ihm offen in die Augen sah. Und wieder wurde sie sich mit Schrecken bewußt, daß es zwischen ihr und ihm keine Schranke mehr gab.
Wieder ging der Vorhang auf. Anatol verließ ruhig und heiter die Loge. Natascha kehrte in die Loge ihres Vaters zurück, schon vollständig überwältigt von der Welt, in der sie sich befand. Alles, was sich vor ihr abspielte, kam ihr bereits vollkommen natürlich vor, und all ihre ehemaligen Gedanken: an ihren Bräutigam, an Prinzessin Marja und an das Leben auf dem Lande kamen ihr nicht ein einziges Mal mehr in den Sinn, als wäre das etwas, was unendlich weit hinter ihr lag.
Im vierten Akt sah man auf der Bühne so etwas wie einen Teufel, der sang und mit den Armen fuchtelte, bis man die Bretter unter seinen Füßen wegzog, so daß er versank. Das war das einzige, was Natascha vom ganzen vierten Akt sah: ein unbestimmtes Gefühl erregte und quälte sie, dessen Ursache Kuragin war, den sie unwillkürlich mit den Augen verfolgte.
Als sie aus dem Theater herausgingen, trat Anatol noch einmal auf sie zu, rief ihren Wagen herbei und half ihnen beim Einsteigen. Während er Natascha half, drückte er ihr den Arm oberhalb des Ellbogens. Natascha sah sich mit rotem erregtem Gesicht nach ihm um. Seine Augen blitzten sie an, und er lächelte ihr zärtlich zu.
Erst nachdem sie zu Hause angelangt waren, konnte sich Natascha über alles klar werden, was mit ihr geschehen war. Plötzlich fiel ihr Fürst Andrej ein, sie erschrak und stöhnte in Gegenwart aller beim Tee, den sie nach dem Theater alle zusammen tranken, laut auf, wurde rot und lief aus dem Zimmer.
Großer Gott, ich bin verloren! sagte sie zu sich selber. Wie konnte ich es so weit kommen lassen? dachte sie. Lange saß sie so da, das heiße Gesicht hinter beiden Händen versteckend, und versuchte, sich klare Rechenschaft darüber abzulegen, was mit ihr geschehen war, aber sie konnte weder das, was sich ereignet hatte, noch das, was sie fühlte, begreifen. Alles schien ihr dunkel, unklar und entsetzlich. Dort in jenem riesigen, hell erleuchteten Saal, wo unter den Klängen der Musik Duport in seinem kurzen Flitterjäckchen mit den nackten Beinen über die feuchten Bretter gesprungen war und alle Welt, von den jungen Mädchen bis zu den ältesten Greisen, ja selbst die nackte Helene mit dem ruhigen und stolzen Lächeln, wie in einem Taumel des Entzückens bravo geschrien hatte – dort, in dem Dunstkreis dieser Helene, war alles so klar und einfach gewesen, und jetzt hier, so allein, sich selber überlassen, erschien ihr dies alles unfaßbar. Was ist das? Was bedeutet diese Angst, die ich vor ihm empfand? Was sollen diese Gewissensbisse, die mich jetzt quälen? dachte sie.
Nur der alten Gräfin hätte Natascha nachts im Bett dies alles erzählen können, was ihr jetzt durch den Kopf ging. Sonja mit ihren strengen, musterhaften Ansichten würde entweder gar nichts begreifen oder über ihr Geständnis zu Tode erschrecken, das wußte sie. So bemühte sich denn Natascha, allein mit alledem fertig zu werden, was sie quälte.
Bin ich nun für die Liebe des Fürsten Andrej verloren oder nicht? fragte sie sich, lachte sich aber im selben Augenblick gleich wieder selber aus und gab sich die beruhigende Antwort: Was bin ich doch für ein Gänschen, daß ich so frage! Was ist denn mit mir geschehen? Nichts. Ich habe nichts getan, durch nichts dies hervorgerufen. Niemand wird es erfahren, und ihn werde ich niemals wiedersehen, sagte sie sich. Folglich ist es ganz klar, daß nichts geschehen ist, daß ich nichts zu bereuen habe, und daß Fürst Andrej mich auch so lieben kann, wie ich jetzt bin … Aber wie bin ich denn jetzt? Ach, mein Gott, mein Gott, warum ist er nicht hier? Natascha beruhigte sich einen Augenblick, dann aber sagte ihr ein gewisser Instinkt gleich wieder, daß, wenn auch dies alles seine Richtigkeit habe und wirklich nichts geschehen sei, doch die ganze frühere Lauterkeit ihrer Liebe zum Fürsten Andrej dahin sei. Und wieder rief sie sich ihr ganzes Gespräch mit Kuragin ins Gedächtnis zurück und stellte sich das Gesicht, die Gebärden und das zärtliche Lächeln dieses hübschen, kühnen Mannes vor, der ihr den Arm gedrückt hatte.
Anatol Kuragin lebte jetzt in Moskau, weil ihn sein Vater aus Petersburg weggeschickt hatte, wo er jährlich nicht nur zwanzigtausend Rubel durchgebracht, sondern noch außerdem Schulden gemacht hatte, deren Begleichung die Gläubiger dann von seinem Vater forderten.
Der Vater hatte dem Sohn erklärt, daß er die Hälfte seiner Schulden bezahlen wolle, aber zum aller letzten mal und nur unter der Bedingung, daß er in der Stellung eines Adjutanten beim Oberkommandierenden, die er für ihn erwirkt hatte, nach Moskau gehe und sich dort endlich einmal Mühe gebe, eine gute Partie zu machen. Er hatte ihn auf Prinzessin Marja und Julie Karagina hingewiesen.
Anatol hatte sich einverstanden erklärt und war nach Moskau gefahren, wo er sich bei Pierre einquartiert hatte. Pierre hatte Anatol anfänglich ungern bei sich aufgenommen, sich aber dann doch an ihn gewöhnt, hatte mitunter an seinem Bummelleben teilgenommen und ihm unter dem Vorwand, daß es sich dabei nur um ein Darlehen handle, auch Geld gegeben.
Anatol hatte, seit er nach Moskau gekommen war, wie Schinschin ganz richtig von ihm gesagt hatte, tatsächlich allen Moskauer Damen die Köpfe verdreht, und zwar besonders dadurch, daß er sie sichtlich vernachlässigte und Zigeunerinnen und französische Schauspielerinnen vorzog, mit deren berühmtester, Mademoiselle Georges, er, wie es hieß, in engsten Beziehungen stand. Er versäumte kein Trinkgelage bei Danilow und anderen tollen Kumpanen in Moskau, zechte ganze Nächte hindurch, trank alle unter den Tisch und fehlte auf keiner Abendgesellschaft und auf keinem Ball der ersten Gesellschaftskreise. Man erzählte von verschiedenen Liebeshändeln, die er bereits mit einigen verheirateten Moskauer Damen gehabt habe, und auf den Bällen bemühte er sich auch um mehrere von ihnen in ganz auffallender Weise. Von den jungen Mädchen jedoch, besonders von den reichen Partien, die größtenteils sehr häßlich waren, hielt er sich absichtlich fern, vor allem, weil er seit zwei Jahren verheiratet war, was aber außer seinen intimsten Freunden kein Mensch wußte.
Vor zwei Jahren nämlich, als Anatols Regiment noch in Polen stand, hatte ihn ein unbemittelter polnischer Gutsbesitzer gezwungen, seine Tochter zu heiraten. Anatol hatte seine Frau bald wieder verlassen und sich für das Geld, das er seinem Schwiegervater zu schicken sich verpflichtet hatte, das Recht ausbedungen, als Junggeselle zu gelten.
Anatol war ein Mensch, der mit seiner Lage, sich selbst und anderen Leuten immer zufrieden war. Sein ganzes Wesen war instinktiv von der Überzeugung durchdrungen, daß er gar nicht anders leben könne, als er eben lebe, und daß er nie in seinem ganzen Leben etwas Schlechtes getan habe. Er war gar nicht imstande, sich zu überlegen, wie sein Benehmen wohl auf andere wirke oder was aus dieser oder jener seiner Handlungen entstehen könne. Wie eine Ente eigens dazu erschaffen ist, immer auf dem Wasser zu schwimmen, so glaubte auch er sich von Gott besonders dazu geschaffen, jährlich dreißigtausend Rubel auszugeben und in der Gesellschaft eine hervorragende Rolle zu spielen. Und er glaubte so fest daran, daß auch andere davon überzeugt wurden, wenn sie ihn nur ansahen, und ihm weder die hervorragende Rolle in der Gesellschaft noch das Geld verweigerten, das er sich, ohne augenscheinlich je an Rückerstattung zu denken, vom ersten besten borgte, der ihm über den Weg lief.
Er war kein Spieler, spielte wenigstens niemals, nur um zu gewinnen. Auch eitel war er nicht. Es war ihm vollständig gleichgültig, was andre von ihm denken mochten. Noch weniger konnte man ihn des Ehrgeizes beschuldigen. Mehr als einmal hatte er seinen Vater dadurch in Wolle gebracht, daß er sich seine Karriere verscherzte, und er machte sich immer über alle Titel und Würden lustig. Auch geizig war er nicht: nie wies er jemanden ab, der ihn um Geld bat. Das einzige, was er liebte, war ein lustiges Leben und dann – die Frauen, und da seiner Ansicht nach in dieser Geschmacksrichtung nichts Unedles lag und er nicht zu bedenken imstande war, welche Folgen die Befriedigung seiner Leidenschaften für andre Leute haben könne, hielt er sich im Grund seiner Seele für einen tadellosen Kavalier, sah mit aufrichtiger Verachtung auf alle Schurken und Bösewichte herab und trug mit ruhigem Gewissen den Kopf hoch.
Alle diese flotten Lebemänner, diese männlichen Magdalenen[118], tragen wie die weiblichen das Bewußtsein ihrer völligen Schuldlosigkeit in sich, das bei beiden auf derselben Hoffnung auf Verzeihung fußt. »Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebet« – folglich wird auch ihm alles vergeben werden, denn er hat ja ein so lustiges Leben geführt.
Dolochow, der nach seiner Ausweisung und seinen persischen Abenteuern in diesem Jahr wieder in Moskau aufgetaucht war und hier ein üppiges Spieler- und Prasserleben führte, hatte sich wieder eng an seinen alten Petersburger Kameraden Kuragin angeschlossen und nützte ihn zu seinen Zwecken aus.
Anatol liebte Dolochow seines Verstandes und seiner Kühnheit wegen aufrichtig. Dolochow dagegen war es mehr um Anatols Namen, Rang und Verbindungen zu tun, um reiche junge Leute in seinen Spielerkreis zu locken, und so nutzte er Kuragin aus und spielte mit ihm, ohne es ihn merken zu lassen. Außer diesen Berechnungen war ihm auch Anatol deshalb so nötig, weil das Herrschen über einen fremden Willen für Dolochow eine genußreiche Gewohnheit und ein Bedürfnis war.
Natascha hatte auf Kuragin einen sehr starken Eindruck gemacht. Als er nach dem Theater mit Dolochow zusammen zu Abend speiste, zählte er diesem mit den Allüren eines Kenners die Reize ihrer Arme, Schultern, Füße und Haare auf und teilte ihm seinen Entschluß mit, sich an sie heranzumachen. Was aus dieser Liebelei werden sollte, das mochte Anatol sich nicht überlegen und wollte es auch gar nicht wissen, wie er sich überhaupt niemals darum kümmerte, welche Folgen seine Handlungen haben könnten.
»Hübsch ist sie, alter Junge, aber das ist nichts für uns«, sagte Dolochow zu ihm.
»Ich werde es meiner Schwester sagen, daß sie sie zum Mittagessen einlädt«, erwiderte Anatol. »Nicht?«
»Du solltest lieber warten, bis sie verheiratet ist …«
»Aber du weißt doch«, sagte Anatol, »j’adore les petites filles, und das ist dann bald dahin.«
»Du bist schon einmal auf eine ›petite fille‹ hereingefallen«, erwiderte Dolochow, der von Anatols Ehe wußte. »Sieh dich vor!«
»Na, zweimal kann einem das doch nicht passieren! Nicht?« sagte Anatol und lachte gutmütig.
An dem der Theatervorstellung folgenden Tag gingen die Rostows nirgends hin, und es kam auch niemand zu ihnen. Marja Dmitrijewna besprach mit Nataschas Vater etwas, das diese nicht hören sollte. Natascha erriet, daß sie vom alten Fürsten redeten und sich etwas ausdachten, und das beunruhigte und kränkte sie. Sie erwartete den Fürsten Andrej jeden Augenblick und schickte an diesem Tag zweimal den Hausknecht nach der Wosdwishenka hin, um zu erfahren, ob er noch nicht gekommen sei. Aber er kam nicht. Es war ihr jetzt schwerer ums Herz als in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in Moskau. Zu all ihrer Ungeduld und traurigen Sehnsucht nach ihm kam noch die unangenehme Erinnerung an den Besuch bei der Prinzessin Marja und dem alten Fürsten und eine Bangigkeit und Unruhe, deren Ursache sie sich nicht erklären konnte. Immer hatte sie das Gefühl, als werde er überhaupt niemals kommen, oder als werde etwas mit ihr geschehen, noch ehe er zurückkam. Wenn sie allein und sich selber überlassen war, konnte sie sich nicht mehr so ruhig und ununterbrochen in Gedanken mit ihm beschäftigen wie früher. Sobald sie nur anfing, an ihn zu denken, mischte sich sogleich in ihre Gedanken die Erinnerung an Prinzessin Marja und den alten Fürsten, an die letzte Theatervorstellung und an Kuragin. Wieder stieg die Frage vor ihr auf, ob sie nicht doch schuldig war und nicht doch dem Fürsten Andrej bereits die Treue gebrochen habe, und dies veranlaßte sie wiederum, sich alles noch einmal bis in die kleinsten Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen, jedes Wort, jede Geste, jeden flüchtigen Ausdruck im Mienenspiel dieses Menschen, der ein ihr so unverständliches, furchtbares Gefühl in ihr zu erwecken verstanden hatte. Ihren Hausgenossen kam Natascha jetzt lebhafter vor als früher, aber sie war bei weitem nicht mehr so ruhig und glücklich wie einst.
Am Sonntag morgen lud Marja Dmitrijewna ihre Gäste zur Messe in die Kirche der Gemeinde ein, zu welcher sie gehörte.
»Ich kann diese Modekirchen nicht leiden«, sagte sie, sichtlich stolz auf ihr freies Urteil. »Gott ist überall derselbe. Wir haben einen prächtigen Popen, der so, wie es sich gehört, die Messe liest, in würdiger Art, und der Diakonus ebenfalls. Erhöht das etwa die heilige Andacht, wenn auf dem Chor ganze Konzerte gesungen werden? Das mag ich nicht, das sind nur Kinkerlitzchen!«
Marja Dmitrijewna liebte die Sonntage und verstand sie zu feiern. Jeden Sonnabend wurde ihr ganzes Haus von oben bis unten gewaschen und sauber geputzt, am Sonntag aber rührte weder sie selber eine Hand noch irgendeiner ihrer Leute: alle waren festlich gekleidet und gingen regelmäßig zur Messe. An der Mittagstafel der Herrschaft gab es noch ein paar Gänge mehr, und die Leute erhielten Schnaps und Gänsebraten oder Spanferkel. Aber nichts im ganzen Haus verkündete so unwiderruflich den Sonntag wie Marja Dmitrijewnas breites, ernstes Gesicht, das an diesem Tag stets einen unverändert feierlichen Ausdruck anzunehmen pflegte.
Als man nach der Messe im Salon, wo heute die Überzüge abgenommen waren, Kaffee trank, wurde Marja Dmitrijewna gemeldet, der Wagen sei bereit. Sie erhob sich mit strengem Gesicht, warf ihren Paradeschal um, den sie nur beim Besuchemachen zu tragen pflegte, und erklärte, sie fahre zum Fürsten Nikolaj Andrejewitsch Bolkonskij, um sich mit ihm über Natascha auszusprechen.
Nachdem Marja Dmitrijewna fortgefahren war, kam eine Modistin von Madame Chalmé zu den Rostows, und Natascha ging, höchst befriedigt über diese Ablenkung, ins Nebenzimmer, machte die Tür zum Salon zu und fing an, die neuen Kleider zu probieren. Während sie gerade eine bis jetzt nur geheftete Taille ohne Ärmel übergezogen hatte und mit umgewandtem Kopf in den Spiegel schaute, um zu sehen, wie der Rücken saß, hörte sie im Salon plötzlich die aufgeregte Stimme ihres Vaters und gleich darauf eine weibliche Stimme, die sie erröten machte. Es war Helene Besuchowa. Natascha hatte noch nicht Zeit gehabt, die Taille abzustreifen, als sich die Tür auftat und die Gräfin Besuchowa in einem dunkellila Samtkleid mit hohem Kragen mit strahlend gutmütigem und liebenswürdigem Lächeln ins Zimmer trat.
»Ah, ma délicieuse!« sagte sie zu der errötenden Natascha. »Charmante! Nein, so etwas ist ja noch nie dagewesen, mein lieber Graf«, wandte sie sich an Ilja Andrejewitsch, der ihr auf dem Fuß folgte, »wie können Sie nur in Moskau leben und nirgends hingehen? Nein, ich lasse Ihnen keine Ruhe! Heute abend wird Mademoiselle Georges bei mir einiges vortragen, und dazu werden sich ein paar Bekannte bei mir einfinden. Wenn Sie mir da Ihre reizenden Töchter vorenthalten, die viel entzückender sind als Mademoiselle Georges selber, so kündige ich Ihnen meine Freundschaft. Mein Mann ist nicht da, er ist nach Twer gefahren, sonst hätte ich ihn schon hergeschickt, um Sie für unseren Abend zu gewinnen. Sie müssen unbedingt, unbedingt kommen. Um neun Uhr, bitte.«
Sie nickte der bekannten Modistin, die sich ehrerbietig vor ihr verbeugte, zu, und ließ sich auf einen Sessel neben dem Spiegel nieder, wobei sie ihr Samtkleid in malerische Falten legte. Dann fing sie in ihrer gutmütigen lustigen Weise zu plaudern an, ohne auch nur einmal eine Pause zu machen, und äußerte sich fortwährend entzückt über Nataschas Schönheit. Sie sah sich die neuen Kleider an und lobte sie, pries auch eine ihrer eignen Toiletten en gaze métallique, die sie sich aus Paris hatte kommen lassen, und gab Natascha den Rat, sich eine ebensolche zu verschaffen.
»Übrigens steht Ihnen ja alles, mein reizendes Kind«, sagte sie.
Natascha strahlte nur so vor Vergnügen. Sie fühlte sich glücklich und neu erblüht unter den Lobeserhebungen dieser liebenswürdigen Gräfin Besuchowa, die sie früher für eine so stolze, unnahbare Dame gehalten hatte, und die doch jetzt so nett zu ihr war. Natascha wurde ganz heiter und war in diese Frau, die dermaßen schön und gutherzig war, fast verliebt. Helene aber war aufrichtig von Natascha entzückt und wollte sie heiter stimmen. Anatol hatte sie darum gebeten, ihn mit Natascha zusammenzuführen, und deshalb war sie denn heute zu den Rostows gefahren. Der Plan, Natascha mit ihrem Bruder zusammenzubringen, kam ihr unterhaltend vor.
Obgleich sie sich früher über Natascha geärgert hatte, weil diese damals der Grund gewesen war, daß Boris sich in Petersburg von ihr ferngehalten hatte, trug sie ihr das doch jetzt nicht mehr nach und wünschte Natascha auf ihre Art von ganzem Herzen alles Gute. Ehe sie von den Rostows fortfuhr, rief sie ihren Schützling noch einmal beiseite.
»Gestern war mein Bruder bei mir zum Mittagessen – wir sind fast gestorben vor Lachen – er aß nicht und trank nicht, sondern seufzte nur immer nach Ihnen, mein reizendes Kerlchen. Il est fou, mais fou amoureux de vous, ma chère.«
Natascha wurde dunkelrot, als sie diese Worte hörte.
»Wie sie rot wird, wie sie rot wird, ma délicieuse!« flüsterte Helene. »Sie müssen unbedingt heute kommen! Si vous aimez quelqu’un, ma délicieuse, ce n’est pas une raison pour se cloîtrer. Si même vous êtes promise, je suis sûre que votre promis aurait désiré que vous alliez dans le monde en son absence plutôt que de dépérir d’ennui.«
Folglich weiß sie, daß ich Braut bin, dachte Natascha, folglich hat sie auch mit ihrem Mann, mit Pierre, mit diesem rechtschaffenen Pierre, darüber gesprochen und darüber gelacht. Folglich ist weiter nichts dabei. Und wieder war es der Einfluß Helenes, der ihr das, was ihr erst beängstigend vorgekommen war, auf einmal ganz einfach und natürlich erscheinen ließ. Und sie, diese grande dame, ist so nett zu mir und hat mich offenbar von ganzem Herzen lieb. Warum sollte ich mich auch nicht amüsieren? dachte Natascha, und sah Helene mit großen, bewundernden Augen an.
Zum Mittagessen kehrte Marja Dmitrijewna zurück, ernst und schweigsam, offenbar hatte sie beim alten Fürsten eine Niederlage erlitten. Sie war von diesem soeben erlebten Zusammenstoß noch so aufgeregt, daß sie nicht imstande war, ruhig zu berichten, wie sich die Sache abgespielt hatte. Auf die Frage des Grafen erwiderte sie, es sei alles gut, und sie werde es morgen erzählen. Als sie von dem Besuch der Gräfin Besuchowa und ihrer Einladung zum Abend hörte, sagte sie: »Ich verkehre nicht gern mit der Besuchowa und würde es auch euch nicht raten. Na, wenn du es aber einmal versprochen hast, dann fahre nur hin, das wird dich auf andere Gedanken bringen«, fügte sie, an Natascha gewandt, hinzu.
Graf Ilja Andrejewitsch führte seine beiden jungen Damen bei der Gräfin Besuchowa ein. Es waren an diesem Abend eine Menge Leute da. Aber fast die ganze Gesellschaft war Natascha unbekannt. Graf Ilja Andrejewitsch bemerkte mit Mißvergnügen, daß die Gesellschaft vorwiegend aus solchen Herren und Damen bestand, die wegen ihres freien Benehmens bekannt waren. Mademoiselle Georges, von einem Kreis junger Leute umringt, stand in einer Ecke des Saales. Es waren auch einige Franzosen da, unter ihnen auch Métivier, der seit Helenes Ankunft in Moskau täglicher Gast bei ihr geworden war. Graf Ilja Andrejewitsch faßte den Entschluß, nicht mit Karten zu spielen, seine Töchter nicht aus den Augen zu lassen und, sobald nur die Vorträge der Mademoiselle Georges zu Ende wären, nach Hause zu fahren.
Anatol hatte offenbar an der Tür auf das Kommen der Rostows gewartet. Nachdem er den Grafen begrüßt hatte, trat er sogleich auf Natascha zu und folgte ihr auf dem Fuße. Ganz ebenso wie im Theater wurde Natascha wieder, als sie ihn nur sah, von dem eitlen Behagen, ihm zu gefallen, erfüllt, gleichzeitig ergriff sie aber auch wieder dieselbe Furcht, als sie sich des Fehlens der moralischen Schranke zwischen ihm und ihr bewußt wurde.
Helene empfing Natascha mit großer Freude und bewunderte laut ihre Schönheit und ihre Toilette. Bald nach ihrer Ankunft verließ Mademoiselle Georges das Zimmer, um sich für ihre Vorträge umzukleiden. Im Salon wurden die Stühle in Reihen gestellt und man nahm Platz. Anatol schob Natascha einen Stuhl hin und wollte sich neben sie setzen, aber der Graf, der Natascha nicht aus den Augen ließ, setzte sich neben sie. Da nahm Anatol hinter ihr Platz.
Mademoiselle Georges trat mit ihren dicken, roten Armen mit den Grübchen, einen roten Schal über die Schulter geworfen, in den für sie freigelassenen leeren Raum zwischen den Stühlen und stellte sich dort in unnatürlicher Pose hin. Ringsum hörte man begeistertes Flüstern.
Streng und finster sah sich Mademoiselle Georges im Publikum um und fing an, französische Verse zu deklamieren[119], in denen von ihrer verbrecherischen Liebe zu ihrem Sohn die Rede war. An manchen Stellen erhob sie die Stimme, an anderen sprach sie ganz leise, dann wieder hob sie feierlich den Kopf oder hielt plötzlich inne, krächzte ganz heiser und verdrehte die Augen.
»Adorable, divin, délicieux!« hörte man von allen Seiten.
Natascha sah die üppige Mademoiselle Georges an, hörte, sah und verstand aber nichts von allem, was um sie vorging. Wieder fühlte sie sich unwiderstehlich in jene seltsame, tolle Welt versetzt, die von ihrer früheren so himmelweit verschieden war, jene Welt, in der man nicht erkennen konnte, was gut und was böse, was klug und was unvernünftig war. Hinter ihr saß Anatol, sie fühlte seine Nähe, und eine bange Erwartung machte sie beklommen.
Nach dem ersten Monolog stand die ganze Gesellschaft auf und umringte Mademoiselle Georges, um ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen.
»Wie hübsch sie ist«, sagte Natascha zu ihrem Vater, der ebenso wie alle anderen aufgestanden war und sich durch die Menge hindurch zu der Schauspielerin Bahn brach.
»Das finde ich nicht, wenn ich Sie ansehe«, sagte Anatol, der Natascha folgte, und zwar so, daß nur sie allein es hören konnte. »Sie sind entzückend … Von dem Augenblick an, da ich Sie gesehen habe, konnte ich nicht wieder aufhören …«
»Komm, komm, Natascha«, rief der Graf und wandte sich nach der Tochter um. »Eine schöne Erscheinung!«
Natascha sagte nichts, ging auf den Vater zu und sah ihn mit erstaunt fragenden Augen an.
Nach einigen weiteren deklamatorischen Vorträgen verschwand Mademoiselle Georges, und die Gräfin Besuchowa bat die Gesellschaft, in den Saal hinüberzugehen.
Der Graf wollte wegfahren, aber Helene flehte ihn an, ihr doch bei ihrem kleinen, improvisierten Ball keinen Strich durch die Rechnung zu machen. Die Rostows blieben. Anatol forderte Natascha zum Walzer auf, preßte sie während des Tanzens an sich, drückte ihr die Hand und sagte ihr, daß sie bezaubernd sei und daß er sie liebe. Als sie dann während der Ekossaise, die sie wieder mit Kuragin tanzte, allein zurückblieben, sagte Anatol kein Wort und sah sie nur immer an. Natascha wußte nicht recht, ob sie das, was er während des Walzers zu ihr gesagt hatte, nicht nur geträumt habe. Beim Schluß der ersten Figur drückte er ihr wieder die Hand. Natascha sah ihn mit erschrockenen Augen an, aber in seinem schmeichelnden, lächelnden Blick lag ein so selbstbewußt zärtlicher Ausdruck, daß sie das, was sie ihm hatte sagen wollen, nicht aussprechen konnte, solange sie ihn ansah. Sie schlug die Augen nieder.
»Sprechen Sie nicht so zu mir: ich bin verlobt und liebe einen anderen!« stieß sie schnell hervor. Dann sah sie ihn an.
Anatol geriet über das, was sie ihm sagte, weder in Verlegenheit, noch zeigte er sich gekränkt.
»Reden Sie mir nicht davon. Was geht das mich an?« erwiderte er. »Ich sage Ihnen nur, daß ich wahnsinnig, ganz wahnsinnig in Sie verliebt bin. Ist das etwa meine Schuld, daß Sie so bezaubernd sind? Aber wir müssen anfangen!«
Mit weit aufgerissenen, erregt flatternden, ängstlichen Augen blickte Natascha um sich und schien heiterer als sonst. Aber sie hörte und sah fast nichts von allem, was an diesem Abend um sie herum vorging. Es wurde Ekossaise und Großvater getanzt, der Vater rief sie, um aufzubrechen, sie aber bat ihn, noch bleiben zu dürfen. Wo sie sich auch befand, mit wem sie auch sprach, immer fühlte sie seinen Blick auf sich ruhen. Sie wußte dann nur noch, daß sie ihren Vater um Erlaubnis gebeten hatte, in die Garderobe gehen zu dürfen, um an ihrem Kleid etwas in Ordnung zu bringen, daß Helene ihr nachgeeilt war und lachend mit ihr von der Liebe ihres Bruders gesprochen hatte, daß sie dann in dem kleinen Diwanzimmer Anatol wieder getroffen hatte, daß Helene irgendwohin verschwunden war und sie allein zurückgeblieben, und daß Anatol ihre Hand nahm und mit zärtlicher Stimme zu ihr sagte: »Ich darf nicht zu Ihnen kommen, soll ich Sie aber etwa nie wiedersehen? Ich liebe Sie wie ein Wahnsinniger. Darf ich Sie wiedersehen?« Und er versperrte ihr den Weg und neigte sein Gesicht ganz nahe zum ihrigen.
Die großen, strahlenden Männeraugen waren so dicht vor ihren Augen, daß sie nichts anderes sehen konnte als nur diese Augen allein.
»Natalie«, hörte sie seine Stimme fragend flüstern, und sie fühlte den schmerzhaften Druck seiner Hand. »Natalie?«
Ich verstehe nichts von alledem, was soll ich dazu sagen? erwiderte ihr Blick.
Heiße Lippen preßten sich auf ihren Mund, und im selben Augenblick fühlte sie sich wieder frei und hörte das Geräusch von Helenes Schritten und das Rascheln ihres Kleides im Zimmer. Natascha sah sich nach Helene um, warf dann errötend und zitternd einen ängstlich fragenden Blick auf ihn und ging nach der Tür.
»Un mot, un seul, au nom de Dieu«, flehte Anatol.
Sie blieb stehen in dem brennenden Verlangen, daß er ihr dieses eine Wort sagen solle, das ihr alles, was geschehen war, erklärt hätte, damit sie ihm darauf hätte antworten können.
»Natalie, un mot, un seul«, bat er immer wieder, da er sichtlich nicht wußte, was er sagen sollte, und wiederholte es so lange, bis Helene zu ihnen trat.
Mit Helene zusammen betrat Natascha wieder den Salon. Ohne das Souper abzuwarten, fuhren die Rostows heim.
Nach Hause zurückgekehrt, konnte Natascha die ganze Nacht nicht schlafen: sie quälte die unlösbare Frage, wen von beiden sie liebte: Anatol oder den Fürsten Andrej. Den Fürsten Andrej liebte sie, sie erinnerte sich mit aller Deutlichkeit daran, wie heftig sie ihn geliebt hatte. Aber Anatol liebte sie ebenfalls, daran war nicht zu zweifeln. Wenn dem anders wäre, hätte dann alles so kommen können? dachte sie. Wenn ich heute nach alledem beim Abschied sein Lächeln mit einem Lächeln erwidern konnte, ja, wenn ich es überhaupt so weit habe kommen lassen, so bedeutet das, daß ich ihn vom ersten Augenblick an geliebt habe, daß er ein guter, edler, herrlicher Mensch ist und es gar nicht möglich war, ihn nicht zu lieben. Was soll ich aber anfangen, wenn ich ihn liebe und den andern ebenfalls? sagte sie sich und fand auf diese fürchterlichen Fragen keine Antwort.
Der Morgen kam und mit ihm neue Sorgen und Geschäfte. Alle standen auf, rührten und regten sich, fingen an, sich zu unterhalten, wieder kamen Modistinnen, wieder platzte Marja Dmitrijewna herein, um sie zum Tee zu rufen. Natascha sah mit weit geöffneten Augen, als wolle sie jeden Blick, der auf sie gerichtet wurde, auffangen, unstet von einem zum anderen und gab sich Mühe, so zu scheinen, wie sie immer gewesen war.
Nach dem Frühstück setzte sich Marja Dmitrijewna in ihren Lehnstuhl – es war dies ihre beste Zeit am Tage – und rief Natascha und den alten Grafen zu sich.
»Also, meine lieben Freunde, ich habe mir jetzt die ganze Sache überlegt und will euch nun mal einen Rat geben«, fing sie an. »Wie ihr wißt, war ich gestern beim Fürsten Nikolaj. Na, da habe ich denn ein Wörtchen mit ihm gesprochen … Und er untersteht sich, mich anzuschreien! Aber mich überschreit so leicht keiner. Na, da habe ich mir also auch kein Blatt vor den Mund genommen.«
»Und was hat er gesagt?« fragte der Graf.
»Was er gesagt hat? Ein ganz verschrobener Dickschädel ist er … will von nichts hören. Aber wozu das breittreten, wir haben das arme Mädel genug gequält«, sagte Marja Dmitrijewna. »Ich kann euch nur folgendes raten: wickelt eure Geschäfte ab und fahrt nach Hause und wartet das Weitere dort ab … in Otradnoje …«
»Ach, nein!« entfuhr es Natascha unwillkürlich.
»Doch, ihr müßt fahren«, sagte Marja Dmitrijewna, »und zu Hause alles ruhig abwarten. Wenn dein Bräutigam jetzt hierherkommt, so geht es ohne Zank und Streit nicht ab, ist er aber allein mit dem Alten, so kann er ihn eher überreden und dann zu euch kommen.«
Ilja Andrejewitsch stimmte ihr bei, weil er das Vernünftige dieses Vorschlags einsah. Wenn sich der Alte besänftigen ließ, um so angenehmer war es dann für sie, ihn später in Moskau oder LysyjaGory zu besuchen; war das Gegenteil der Fall, so konnte eine Trauung ohne seine Einwilligung nur in Otradnoje stattfinden.
»Das ist das einzig Richtige«, sagte der Graf. »Es tut mir sogar jetzt leid, daß ich zu ihm hingefahren bin und Natascha mitgenommen habe.«
»Nein, warum das bedauern? Wo ihr nun schon einmal hier wart, ging es doch gar nicht anders, da mußtet ihr ihm doch diese Ehre erweisen. Will er nicht – nun, so ist das seine Sache«, sagte Marja Dmitrijewna und suchte etwas in ihrem Ridikül. »Na, und die Ausstattung ist fertig, auf was wartet ihr also noch? Und was noch nicht fertig sein sollte, das schicke ich euch nach. Obgleich ich es natürlich auch sehr bedaure, euch nicht länger bei mir zu haben, aber es ist besser so. Also nochmals: fahrt mit Gott!«
Sie fand in ihrem Ridikül das, was sie suchte, und gab es Natascha. Es war ein Brief von Prinzessin Marja.
»Sie schreibt an dich. Wie sie sich quält, die Ärmste! Sie fürchtet, du könntest etwa von ihr denken, sie liebte dich nicht!«
»Ja, sie kann mich auch nicht leiden«, erwiderte Natascha.
»Rede nicht solchen Unsinn!« fuhr sie Marja Dmitrijewna an.
»Ich lasse mich von niemandem täuschen, ich weiß doch, daß sie mich nicht mag«, sagte Natascha kühn, nahm den Brief, und ihr Gesicht drückte eine trockene und feindselige Entschlossenheit aus, die Marja Dmitrijewna veranlaßte, sie aufmerksamer anzusehen und die Stirn in Falten zu ziehen.
»So darfst du nicht antworten, meine Tochter. Was ich sage, ist wahr«, erwiderte sie. »Schreibe ihr eine Antwort.«
Natascha erwiderte nichts darauf und ging in ihr Zimmer, um den Brief der Prinzessin Marja zu lesen.
Marja schrieb, daß sie über das zwischen ihnen entstandene Mißverständnis ganz verzweifelt sei. Welcher Art auch die Gefühle ihres Vaters seien, so bitte sie doch Natascha, ihr zu glauben, daß sie gar nicht anders könne, als diejenige von ganzem Herzen zu lieben, die ihr Bruder, für dessen Glück sie jedes Opfer zu bringen bereit sei, erwählt habe.
»Übrigens«, schrieb sie dann weiter, »glauben Sie nicht, daß mein Vater Ihnen übelgesinnt ist. Er ist ein alter kranker Mann, mit dem man Nachsicht haben muß, aber er ist gut und großmütig und wird diejenige lieben, die seinen Sohn glücklich machen wird.« Dann bat Prinzessin Marja noch, Natascha solle ihr doch eine Zeit angeben, wo sie sich noch einmal sehen könnten.
Nachdem Natascha den Brief gelesen hatte, setzte sie sich an den Schreibtisch, um eine Antwort zu schreiben. »Chère princesse«, fing sie schnell und mechanisch an, hielt aber sogleich inne. Was konnte sie noch weiter schreiben nach dem, was sich gestern ereignet hatte? Ja, ja, das alles war einmal, jetzt aber ist alles anders, dachte sie, während sie über den angefangenen Brief gebeugt saß. Ich muß ihm eine Absage schreiben. Muß ich das wirklich? Das ist entsetzlich! … Und um nicht diese furchtbaren Gedanken zu Ende denken zu müssen, ging sie zu Sonja hinüber und wählte mit ihr zusammen Muster aus.
Nach Tisch begab sich Natascha auf ihr Zimmer und nahm wieder Prinzessin Marjas Brief vor. Ist wirklich alles zu Ende? dachte sie. Kann das so plötzlich geschehen und so schnell alles Frühere zunichte machen? Sie erinnerte sich an die ganze Kraft ihrer Liebe zum Fürsten Andrej, fühlte aber dabei gleichzeitig, daß sie Kuragin liebte. Lebhaft stellte sie sich vor, wie sie als Frau des Fürsten Andrej an seiner Seite glücklich sein würde, ein Bild, das sie sich, in ihrer Phantasie immer und immer wieder ausgemalt hatte, gleichzeitig mußte sie aber auch, glühend vor Erregung, wieder an alle Einzelheiten ihres gestrigen Wiedersehens mit Kuragin denken.
Warum kann das beides nicht gleichzeitig sein? dachte sie oft in ihrer inneren Zerrissenheit. Nur dann wäre ich vollkommen glücklich; jetzt aber muß ich wählen und kann doch weder ohne den einen noch ohne den andern glücklich sein. Soll ich es dem Fürsten Andrej sagen? Unmöglich! dachte sie. Es ihm verheimlichen? Ebenso unmöglich! Doch im zweiten Fall ist wenigstens noch nichts verdorben. Kann ich denn aber von der Liebe des Fürsten Andrej, von diesem Glück, von dem ich so lange gezehrt habe, auf ewig Abschied nehmen?
»Gnädiges Fräulein«, sagte in diesem Augenblick flüsternd und mit geheimnisvoller Miene eine Zofe, die eben ins Zimmer getreten war. »Ein Mann hat mich beauftragt, Ihnen das zu überbringen.« Das Mädchen reichte Natascha einen Brief.
»Aber um Gottes willen kein Wort …« flüsterte das Mädchen noch, während Natascha schon, ohne an etwas zu denken, mit einer mechanischen Handbewegung das Siegel löste und Anatols Liebesbrief las, von dem sie, ohne die Worte fassen zu können, zuerst nur das eine begriff, daß es ein Brief von ihm war, von dem Mann, den sie liebte. Ja, ich liebe ihn, könnte es denn sonst so gekommen sein, wie es gekommen ist? Könnte ich denn sonst einen Liebesbrief von ihm in meiner Hand halten? sagte sie sich.
Mit zitternden Händen hielt Natascha diesen leidenschaftlichen Liebesbrief, den Dolochow für Anatol verfaßt hatte, las ihn und fand in ihm den Widerhall all dessen, was sie, wie ihr schien, selber fühlte.
»Seit gestern abend ist mein Schicksal entschieden: ich muß entweder von Ihnen geliebt werden – oder sterben. Einen anderen Ausweg gibt es für mich nicht«, fing der Brief an. Dann schrieb er weiter, er wisse, daß ihre Verwandten sie ihm nicht geben würden, daß da geheime Gründe vorlägen, die er nur ihr allein eröffnen könne, daß sie aber nur das Wörtchen »ja« zu sagen brauche, und keine Macht der Welt könne ihre Glückseligkeit stören. Die Liebe überwinde alles. Er werde mit ihr fliehen und sie bis ans Ende der Welt führen.
Ja, ja, ich liebe ihn, dachte Natascha und las den Brief wohl zum zwanzigstenmal durch, wobei sie in jedem Wort einen besonders tiefen Sinn zu finden suchte.
An diesem Abend fuhr Marja Dmitrijewna zu den Archarows und schlug den jungen Mädchen vor, mitzufahren. Natascha aber blieb unter dem Vorwand, Kopfschmerzen zu haben, zu Hause.
Als Sonja spät abends nach Hause kam, trat sie noch einmal in Nataschas Zimmer und fand diese zu ihrer Verwunderung angekleidet und schlafend auf dem Sofa liegen. Auf dem Tisch neben ihr lag offen Anatols Brief. Sonja nahm den Brief und las ihn.
Sie las ihn und blickte auf die schlafende Natascha, um auf ihrem Gesicht eine Erklärung dessen, was sie gelesen hatte, zu suchen, fand aber keine. Das Gesicht war still, sanft und glücklich. Bleich und vor Angst und Aufregung zitternd, griff sich Sonja an die Brust, um nicht zu ersticken, ließ sich auf einen Sessel fallen und brach in Tränen aus.
Und ich habe nichts davon gemerkt! Wie konnte das nur so weit kommen? Liebt sie denn den Fürsten Andrej nicht mehr? Wie konnte sie nur diesen Kuragin so an sich herankommen lassen? Er ist ein Betrüger und Bösewicht, das ist klar. Was wird Nicolas sagen, der liebe, edle Nicolas, wenn er das erfährt? Daher also ihr erregtes, entschlossenes, unnatürliches Gesicht vorgestern, gestern und heute, dachte Sonja. Aber das kann ja gar nicht sein, daß sie ihn liebt! Wahrscheinlich hat sie gar nicht gewußt, von wem der Brief ist, und ihn aufgemacht. Sicher fühlt sie sich beleidigt. So etwas kann sie doch nicht tun!
Sonja wischte sich die Tränen ab, trat auf Natascha zu und sah ihr wieder ins Gesicht.
»Natascha«, sagte sie kaum hörbar.
Natascha erwachte und sah Sonja an.
»Ah, wieder zurück?«
Energisch und zärtlich, wie man im ersten Augenblick des Erwachens zu sein pflegt, umarmte sie die Freundin, als sie aber die Verlegenheit auf Sonjas Gesicht sah, nahm auch ihr Gesicht einen verwirrten, argwöhnischen Ausdruck an.
»Sonja, du hast den Brief gelesen?« fragte sie.
»Ja«, erwiderte Sonja leise.
Natascha lächelte verzückt.
»Nein, Sonja, ich kann nicht mehr!« sagte sie. »Ich kann es nicht länger vor dir geheimhalten. Du weißt, wir lieben einander. Sonja, Herzenssonja, er schreibt an mich … Sonja …«
Sonja, die ihren Ohren nicht traute, sah Natascha ganz entgeistert an.
»Und Bolkonskij?« fragte sie.
»Sonja, ach Sonja, wenn du nur wüßtest, wie glücklich ich bin!« rief Natascha. »Du weißt gar nicht, was Liebe ist …«
»Aber, Natascha, soll jenes wirklich alles zu Ende sein?«
Natascha sah Sonja mit großen, weitgeöffneten Augen an, als verstünde sie ihre Frage nicht.
»Ich meine, willst du dem Fürsten Andrej schreiben?« fragte Sonja.
»Ach, du verstehst ja alles nicht, du redest ja nur dummes Zeug! So höre doch nur!« sagte Natascha plötzlich ärgerlich.
»Nein, ich kann das nicht glauben«, wiederholte Sonja. »Ich begreife das nicht. Wie kannst du nur einen Menschen ein ganzes Jahr lang lieben und dann mit einemmal … Und du hast ihn doch nur dreimal gesehen. Natascha, das glaube ich dir nicht, du machst nur Spaß. In drei Tagen alles zu vergessen und so …«
»Drei Tage?« sagte Natascha. »Mir kommt es vor, als liebte ich ihn schon hundert Jahre. Und als hätte ich vorher nie einen Menschen geliebt. Aber du kannst das ja nicht verstehen. Komm, Sonja, setz dich einmal her!« Natascha umarmte und küßte sie. »Man hat mir erzählt, daß dies manchmal so ist, und auch du hast das sicherlich gehört, aber erst jetzt habe ich diese Liebe an mir selbst erfahren. Das ist nicht das, was ich früher empfand. Als ich ihn nur gesehen hatte, fühlte ich sofort, daß er mein Herr und ich seine Sklavin bin, und daß ich gar nicht anders kann, als ihn lieben. Ja, seine Sklavin! Was er mir befiehlt, das tue ich. Das verstehst du eben nicht. Aber was soll ich tun? Was soll ich nur tun, Sonja?« rief Natascha mit glücklichem und doch ängstlichem Gesicht.
»Aber so bedenke doch, was du tust«, rief Sonja. »Ich kann das nicht so weitergehen lassen. Diese heimlichen Briefe … Wie konntest du ihn nur so weit kommen lassen?« sagte sie entsetzt und voll Abscheu, den sie nur mit Mühe verbergen konnte.
»Ich sagte dir ja schon«, erwiderte Natascha, »daß ich keinen Willen mehr habe. Verstehst du denn das nicht: ich liebe ihn!«
»Aber ich werde es nicht so weit kommen lassen, ich werde es erzählen«, schluchzte Sonja mit tränenüberströmtem Gesicht.
»Was fällt dir ein? Um Gottes willen … Wenn du etwas erzählst, bist du meine Freundin nicht mehr«, fiel Natascha hastig ein. »Du willst mein Unglück, willst, daß man uns trennt …«
Sonja sah Nataschas Angst, und Tränen der Scham und des Mitleids mit ihr stürzten ihr aus den Augen.
»Aber was ist denn zwischen euch vorgefallen?« fragte sie. »Was hat er zu dir gesagt? Warum kommt er nicht ins Haus?«
Natascha gab keine Antwort auf ihre Fragen.
»Um Gottes willen, Sonja, sage niemandem ein Wort, quäle mich nicht«, flehte Natascha. »Denke doch daran, daß man sich in solche Sachen nicht einmengen darf. Ich habe es dir offen anvertraut …«
»Aber wozu diese Heimlichtuerei? Weshalb kommt er nicht ins Haus?« fragte Sonja. »Warum hält er nicht offen um deine Hand an? Fürst Andrej hat dir doch volle Freiheit gelassen, wenn es nun schon einmal so ist. Aber ich traue ihm nicht, Natascha. Hast du schon darüber nachgedacht, was das für geheime Gründe sein können?«
Natascha sah Sonja mit erstaunten Augen an. Sichtlich drängte sich ihr diese Frage zum erstenmal auf, und sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Was das für Gründe sind? Ich weiß es nicht. Aber er schreibt es, folglich müssen doch Gründe da sein.«
Sonja seufzte und schüttelte argwöhnisch den Kopf.
»Wenn solche Gründe wirklich da wären …« fing sie an.
Aber Natascha, die ihre Zweifel erriet, schnitt ihr erschrocken das Wort ab.
»Sonja, du darfst nicht an ihm zweifeln! Du darfst nicht! Ich erlaube es nicht! Verstehst du?« rief sie.
»Liebt er dich?«
»Ob er mich liebt?« wiederholte Natascha mit einem Lächeln des Mitleids über den Mangel an Verständnis bei ihrer Freundin. »Aber du hast doch seinen Brief gelesen, hast ihn doch selber gesehen.«
»Wenn er nun aber ein Unwürdiger ist?«
»Er? … Ein Unwürdiger? Du solltest ihn nur kennen!« rief Natascha.
»Wenn er ein ehrlicher Mensch wäre, müßte er sich entweder offen erklären oder aufhören, deine Nähe zu suchen. Und wenn du es nicht tun willst, so tue ich es: ich werde an ihn schreiben und es Papa sagen«, erwiderte Sonja in entschiedenem Ton.
»Aber ich kann doch nicht ohne ihn leben!« schrie Natascha.
»Natascha, ich begreife dich nicht. Was sagst du da? Denke doch an deinen Vater, an Nicolas.«
»Ich brauche keinen, liebe keinen auf der ganzen Welt als ihn allein! Wie kannst du sagen, daß er ein Unwürdiger ist? Weißt du denn nicht, daß ich ihn liebe?« schrie Natascha. »Geh hinaus, Sonja! Ich will mich nicht mit dir zanken, geh, um Gottes willen, geh! Du siehst doch, wie ich mich quäle!« schrie Natascha feindselig mit mühsam beherrschter, gereizter und verzweifelter Stimme.
Sonja schluchzte auf und lief aus dem Zimmer.
Natascha trat an den Schreibtisch und schrieb, ohne einen Augenblick zu überlegen, jene Antwort an Prinzessin Marja, die sie den ganzen Morgen über nicht hatte finden können. In diesem Brief teilte sie ihr ganz kurz mit, daß alle Mißverständnisse nun ein Ende hätten, da sie von dem großmütigen Anerbieten des Fürsten Andrej, der ihr bei seiner Abreise volle Freiheit gelassen habe, nun Gebrauch machen werde. Sie bat Prinzessin Marja, alles zu vergessen und ihr zu verzeihen, wenn sie ihr gegenüber einen Fehler begangen habe, aber sie könne nicht die Frau ihres Bruders werden. Und in diesem Augenblick erschien ihr das alles so leicht, einfach und klar.
Am Freitag sollten die Rostows auf ihr Gut zurückkehren, und deshalb fuhr der Graf am Mittwoch noch schnell mit einem Käufer auf seinen Landsitz bei Moskau.
An diesem Mittwoch, an dem der Graf wegfuhr, waren Sonja und Natascha zu einem großen Diner bei den Karagins eingeladen, und Marja Dmitrijewna fuhr mit ihnen hin. Bei diesem Essen traf Natascha wieder mit Anatol zusammen, und Sonja bemerkte, daß sie etwas mit ihm besprach, wobei sie nicht belauscht zu werden wünschte, und daß sie während des ganzen Essens noch aufgeregter war als sonst. Nach Hause zurückgekehrt, fing Natascha von selber zu erklären an, was Sonja von ihr erwartete.
»Siehst du, Sonja, da hast du nun allerlei dummes Zeug über ihn gesagt«, fing Natascha mit sanfter Stimme an, wie Kinder sprechen, wenn sie gelobt sein wollen. »Ich habe mich heute mit ihm ausgesprochen.«
»Nun und? Was hat er gesagt? Wie glücklich bin ich, Natascha, daß du mir nicht böse bist. Sag mir alles, die ganze Wahrheit. Was hat er zu dir gesagt?«
Natascha dachte nach.
»Ach, Sonja, wenn du ihn so kenntest, wie ich ihn kenne! Er sagte … Er fragte mich, wie es mit meiner Verlobung mit Bolkonskij sei. Er freute sich, als ich ihm sagte, daß es nur von mir abhänge, ihm sein Wort zurückzugeben.«
Sonja seufzte traurig.
»Aber du hast ja eben Bolkonskij sein Wort nicht zurückgegeben«, sagte sie.
»Vielleicht habe ich es doch getan! Vielleicht ist mit Bolkonskij schon alles zu Ende! Warum denkst du so schlecht von mir?«
»Ich denke gar nichts, ich begreife dich nur nicht …«
»Warte, Sonja, du wirst alles begreifen. Du wirst sehen, was das für ein Mensch ist. Denke nur nichts Schlechtes von mir und von ihm.«
»Ich denke von niemandem Schlechtes; ich liebe euch alle und fühle mit euch. Aber was soll ich tun?«
Sonja ließ sich von dem zärtlichen Ton, in dem Natascha mit ihr sprach, nicht unterkriegen. Je weicher und bittender Nataschas Gesichtsausdruck wurde, um so ernster und strenger blickte Sonja.
»Natascha«, sagte sie, »du hast mich gebeten, mit dir nicht über diese Angelegenheit zu sprechen, und ich habe deinen Wunsch erfüllt. Jetzt hast du aber selber davon angefangen. Natascha, ich traue ihm nicht. Warum diese Heimlichtuerei?«
»Fängst du schon wieder so an!« unterbrach sie Natascha.
»Natascha, ich habe Angst um dich.«
»Angst? Wovor denn?«
»Ich fürchte, daß du dich ins Unglück stürzest«, sagte Sonja fest, und erschrak selbst über das, was sie sagte.
Nataschas Gesicht nahm wieder einen feindseligen Ausdruck an.
»Nun, dann renne ich eben in mein Unglück, stürze mich hinein, so bald wie nur möglich. Das ist doch meine Sache. Ich selber habe doch den Schaden davon und nicht ihr. Laß mich, laß mich. Ich hasse dich!«
»Natascha!« rief Sonja erschrocken.
»Ich hasse dich! Ich hasse dich! Wir können nie wieder Freunde sein!«
Natascha lief aus dem Zimmer.
Von nun an sprach Natascha kein Wort mehr mit Sonja und mied sie. Immer mit der gleichen, erstaunt erregten, schuldbewußten Miene lief sie durch alle Zimmer, nahm sich bald diese, bald jene Beschäftigung vor, um gleich wieder damit aufzuhören.
Wie schwer es auch Sonja wurde, sie beobachtete ihre Freundin doch unablässig und ließ sie nicht aus den Augen.
Am Freitag vormittag wurde der Graf zurückerwartet, und am Donnerstag bemerkte Sonja, daß Natascha den ganzen Morgen im Salon am Fenster saß, als warte sie auf etwas, und wirklich machte ihr auch ein vorüberreitender Offizier, den Sonja für Anatol hielt, ein geheimes Zeichen.
Sonja beobachtete ihre Freundin noch schärfer und bemerkte, daß Natascha sich während des Mittagessens und im Verlauf des ganzen Nachmittags in einem sonderbaren, unnatürlichen Zustand befand: sie gab auf Fragen, die an sie gerichtet wurden, verkehrte Antworten, fing Sätze an, die sie nicht zu Ende führte, und lachte über alles.
Nach dem Tee sah Sonja, wie eine Zofe an Nataschas Tür ängstlich auf sie wartete. Sonja ließ beide vorübergehen, horchte an der Tür und merkte, daß wieder ein Brief abgegeben wurde.
Da wurde Sonja auf einmal klar, daß Natascha irgendeinen furchtbaren Plan für heute abend vorhatte. Sie klopfte an ihre Tür. Natascha ließ sie nicht ein.
Sie will mit ihm fliehen! dachte Sonja. Sie ist zu allem fähig. Es lag heute etwas ganz besonders Wehes und Entschlossenes in ihrem Gesicht. Als sie vom Onkel Abschied nahm, fing sie an zu weinen, fiel Sonja ein. Ja, das ist es ganz sicher: sie will mit ihm fliehen. Was soll ich nur tun? überlegte sich Sonja, und nun fielen ihr all die Anzeichen ein, die deutlich bewiesen, daß sich Natascha mit irgendeiner furchtbaren Absicht trug. Der Graf ist nicht zu Hause. Was soll ich tun? Soll ich an Kuragin schreiben und eine Erklärung von ihm fordern? Aber wer kann ihn zu einer Antwort zwingen? Soll ich mich an Pierre wenden, wie Fürst Andrej mich gebeten hat, wenn sich irgend etwas Schlimmes ereignen sollte? … Aber vielleicht hat sie wirklich Bolkonskij schon abgeschrieben, sie hat ja gestern einen Brief an Prinzessin Marja fortgeschickt. Der Onkel ist nicht da … Marja Dmitrijewna etwas zu sagen, die so viel von Natascha hielt, schien Sonja entsetzlich. So oder so, dachte Sonja, während sie auf dem dunklen Korridor stand, jetzt oder nie ist die Zeit gekommen, da ich beweisen kann, daß ich alle die Wohltaten, die mir die Familie erwiesen hat, nicht vergessen habe und Nicolas liebe. Nein, und wenn ich drei Nächte nicht schlafen sollte, ich werde nicht aus diesem Korridor weggehen, sie mit Gewalt zurückhalten und nicht dulden, daß der Familie diese Schande zugefügt wird.
Anatol war in letzter Zeit zu Dolochow übergesiedelt. Der Plan, die Komtesse Rostowa zu entführen, war schon vor mehreren Tagen von Dolochow ersonnen und vorbereitet worden, und an jenem Tag, als Sonja an Nataschas Tür gehorcht und den Entschluß gefaßt hatte, sie zu überwachen, sollte dieser Plan zur Ausführung gebracht werden. Natascha hatte versprochen, sich um zehn Uhr abends an der Hintertreppe mit Kuragin zu treffen. Kuragin sollte sie sogleich in eine bereitgehaltene Troika setzen und mit ihr nach dem sechzig Werst entfernten Kirchdorf Kamenka fahren, wohin man einen seines Amtes enthobenen Popen bestellt hatte, der sie sogleich trauen sollte. In Kamenka standen frische Pferde bereit, die sie auf die Warschauer Route bringen sollten, und von dort aus wollten sie mit der Post so schnell wie möglich ins Ausland fahren.
Anatol hatte sowohl einen Paß als auch einen Postschein, dazu zehntausend Rubel, die er sich von seiner Schwester gepumpt, und weitere zehntausend, die er sich durch Dolochow zu verschaffen gewußt hatte.
Die beiden Trauzeugen: Chwostikow, ein früherer Kanzleibeamter, den Dolochow bei seinen Spielabenden verwendete, und Makarin, ein gutmütiger und charakterschwacher Husarenoffizier außer Dienst, der leidenschaftlich für Kuragin schwärmte, saßen bei Dolochow im Vorzimmer und tranken Tee.
In Dolochows eignem Arbeitszimmer, dessen Wände bis hoch an die Decke mit Perserteppichen, Bärenfellen und Waffen geschmückt waren, saß vor dem offenen Schreibtisch, auf dem ein Blatt Papier und Päckchen mit Banknoten lagen, Dolochow selber in kurzem Reiserock und hohen Stiefeln. Anatol kam mit halbzugeknöpfter Uniform aus dem Vorzimmer gelaufen, wo die Zeugen saßen, und ging durch Dolochows Zimmer in einen hinteren Raum, wo sein französischer Kammerdiener mit anderen Dienern zusammen die letzten Sachen einpackte. Dolochow zählte das Geld und notierte sich etwas.
»Hör mal«, sagte er, »diesem Chwostikow müssen wir doch zweitausend Rubel geben.«
»Na, so gib sie ihm doch«, erwiderte Anatol.
»Dein Makarka« – so nannten sie Makarin – »geht ja ohne schnöden Mammon für dich durchs Feuer. Na, da wäre also die Abrechnung fertig«, sagte Dolochow und zeigte ihm das Blatt. »Ist’s recht so?«
»Ja natürlich, selbstverständlich«, erwiderte Anatol, der offenbar gar nicht hinhörte, was Dolochow sagte, sondern immer nur mit einem Lächeln vor sich hinblickte, das nicht von seinem Gesicht wich.
Dolochow schloß den Schreibtisch und wandte sich mit spöttischem Lächeln an Anatol.
»Weißt du was? Gib die ganze Geschichte auf. Noch ist es Zeit«, meinte er.
»Du bist wohl verrückt?« erwiderte Anatol. »Hör doch mit solchen Dummheiten auf. Wenn du nur wüßtest … Weiß der Teufel, was diesmal mit mir ist!«
»Wirklich, gib es auf«, riet Dolochow. »Ich rede ganz im Ernst mit dir. Ist das etwa ein Kinderspiel, was du vorhast?«
»Willst mich wohl schon wieder zum besten haben? Scher dich zum Teufel!« rief Anatol und runzelte die Stirn. »Mir ist jetzt wirklich nicht nach deinen albernen Witzen zumute.« Und er verließ das Zimmer.
Dolochow lächelte überlegen und geringschätzig.
»Warte doch mal«, rief er Anatol nach. »Ich mache gar keine Witze, ich rede ganz im Ernst. Komm doch mal her.«
Anatol kam ins Zimmer zurück, gab sich Mühe, sich zu sammeln, sah Dolochow an und beugte sich offenbar unwillkürlich seinem Willen.
»Also paß mal auf, ich sage es dir jetzt zum letztenmal. Warum sollte ich Scherz mit dir treiben? Habe ich dich irgendwie an der Ausführung deines Planes gehindert? Im Gegenteil. Wer hat alles vorbereitet? Wer hat den Popen ausfindig gemacht? Wer den Paß besorgt, das Geld verschafft? Alles nur ich.«
»Nun ja, und ich danke dir dafür. Du denkst wohl, daß ich das nicht anerkenne?« Anatol seufzte und umarmte Dolochow.
»Ich habe dir geholfen, aber eben deshalb muß ich dir die ganze Wahrheit sagen: Die Sache ist gefährlich und, bei Licht besehen, sogar dumm. Du entführst sie, gut. Wird man es aber dabei bewenden lassen? Es wird herauskommen, daß du schon einmal verheiratet bist. Dann wird man dich vors Kriminalgericht schleppen …«
»Ach, Unsinn, Unsinn!« fing Anatol wieder an und zog ärgerlich die Stirne kraus. »Wie oft habe ich dir das nicht schon auseinandergesetzt!« Und mit jener besonderen Vorliebe dummer Menschen für Vernunftschlüsse, die sie gerade noch mit ihrem Verstand fassen können, wiederholte Anatol Dolochow jene Gründe, die er ihm schon hundertmal dargelegt hatte: »Das habe ich dir doch alles schon soundso oft auseinandergesetzt. Ich bin zu dem Schluß gekommen: Ist die Ehe ungültig«, sagte er und bog einen Finger um, »dann kann man mich für nichts verantwortlich machen, hat sie aber Gültigkeit – nun, dann ist es auch einerlei: im Ausland wird das niemand wissen. Ist es nicht so? Da kannst du sagen, was du willst.«
»Tatsächlich, du solltest es lieber lassen. Du bindest dich bloß$
»Zum Teufel mit dir!« rief Anatol, fuhr sich durchs Haar und lief ins andere Zimmer, kehrte aber gleich wieder zurück, setzte sich dicht vor Dolochow auf einen Sessel und zog die Beine hoch. »Weiß der Teufel, was diesmal mit mir los ist! Nicht? Paß mal auf, wie das hier hämmert!« Und er nahm Dolochows Hand und legte sie auf sein Herz. »Ah, quel pied, mon cher, quel regard! Une déesse! Nicht?«
Dolochow lächelte kalt und blitzte Anatol mit seinen schönen, frechen Augen an, offenbar wollte er noch ein bißchen mit ihm spielen.
»Aber wenn nun das Geld ausgeht, was dann?«
»Was dann?« wiederholte Anatol mit aufrichtigem Staunen vor jedem Gedanken an eine weitere Zukunft. »Was dann? Wie soll ich denn das wissen … Aber wozu diesen Unsinn schwatzen!« Er sah nach der Uhr. »Es ist Zeit.«
Damit ging er in das hintere Zimmer.
»Na, seid ihr bald fertig? So eine Trödelei hier!« schrie er den Dienern zu.
Dolochow nahm das Geld weg, schrie einem Diener zu, noch schnell vor der Fahrt etwas zum Essen und Trinken zu bringen, und ging in das Vorzimmer, wo Chwostikow und Makarin saßen.
Anatol legte sich in Dolochows Zimmer auf das Sofa, stützte den Arm auf, lächelte in Gedanken versunken und flüsterte mit seinem hübschen Mund zärtlich etwas vor sich hin.
»Komm, iß etwas! Oder willst du nicht wenigstens etwas trinken?« rief ihm Dolochow aus dem Nebenzimmer zu.
»Ich mag nicht«, erwiderte Anatol, immer noch lächelnd.
»Komm, Balaga ist da.«
Anatol stand auf und ging ins Speisezimmer. Balaga war ein bekannter Troikakutscher, der Dolochow und Anatol schon über sechs Jahre kannte, und sie schon oft gefahren hatte. Als Anatols Regiment noch in Twer stand, hatte er diesen mehr als einmal abends in Twer abgeholt, war zum Morgengrauen in Moskau gewesen und hatte dann in der nächsten Nacht Anatol wieder nach Twer zurückgefahren. Oft hatte er auch Dolochow durch eine rasende Fahrt vor seinen Verfolgern gerettet, hatte sie mit Zigeunern und »solchen Dämchen«, wie Balaga sich ausdrückte, durch die Stadt kutschiert. Wie oft hatte er, wenn er sie fuhr, Leute überfahren oder Wagen angerannt, aber seine »Herren«, wie er sie nannte, hatten ihm immer wieder aus der Patsche geholfen. Gar manches Pferd hatte er ihretwegen schon zu Tode gehetzt. Mehr als einmal hatten sie ihn verprügelt, mehr als einmal mit Champagner und Madeira, der ihm über alles ging, betrunken gemacht, und von jedem von ihnen wußte er Streiche zu erzählen, die einem gewöhnlichen Sterblichen schon lange Sibirien eingebracht hätten. Oft hatten sie Balaga an ihren Zechgelagen teilnehmen lassen, hatten ihn zu trinken und mit den Zigeunern zu tanzen gezwungen, und mancher Tausender von ihnen war schon durch seine Hände gegangen. Wohl zwanzigmal im Jahr setzte er seine Haut und sein Leben aufs Spiel, wenn er sie fuhr, und hetzte für sie mehr Pferde zu Tod, als sie ihm an Geld bezahlten. Aber er liebte sie, liebte diese tollen Fahrten von achtzig Werst in der Stunde und tat nichts lieber, als andere Fuhren und Fußgänger über den Haufen zu fahren und wie der Teufel durch die Straßen Moskaus zu rasen. Ihm lachte das Herz im Leibe, wenn er hinter sich das wilde Schreien betrunkener Stimmen hörte: »Schneller! Schneller!« in einem Augenblick, in dem es schon nicht mehr möglich war, die Fahrt noch zu beschleunigen, und mit Genugtuung zog er dem Bauer, der sowieso, wenn er angerast kam, mehr tot als lebendig zur Seite sprang, eins mit der Peitsche über. Echte Herren, dachte er.
Anatol und Dolochow hatten Balaga wegen seines meisterhaften Fahrens und weil er die selben Passionen hatte wie sie, ebenfalls gern. Bei anderen machte Balaga den Preis immer vorher aus, nahm für eine zweistündige Fahrt zwanzig Rubel und fuhr andere Herrschaften überhaupt selten selber, sondern schickte dann immer einen von seinen jungen Leuten. Seine Herren aber, wie er sie nannte, fuhr er immer selbst und verlangte nie etwas dafür. Nur alle paar Monate einmal, wenn er durch die Diener erfahren hatte, daß gerade Geld da war, kam er frühmorgens nüchtern zu ihnen und bat unter tiefen Verbeugungen, ob sie ihm nicht aus der Klemme helfen könnten. Die Herren forderten ihn dann immer auf, Platz zu nehmen. »Nichts für ungut, Väterchen Fjodor Iwanowitsch«, oder: »Euer Durchlaucht«, fing er dann immer an. »Ich habe kein Pferd mehr im Stall; geben Sie mir einen kleinen Vorschuß, wenn es Ihnen möglich ist, damit ich nach dem Pferdemarkt gehen kann.« Und dann gab ihm sowohl Anatol als auch Dolochow, wenn sie gerade Geld hatten, tausend oder auch zweitausend Rubel. Balaga war ein blonder, untersetzter Mann von etwa siebenundzwanzig Jahren, mit rotem Gesicht, einer Stumpfnase, einem kleinen Bärtchen, blitzenden kleinen Augen und auffallend rotem, dickem Hals.
Er trug über seinem Halbpelz einen dünnen blauen Kaftan, der mit Seide gefüttert war.
Nachdem Balaga ins Zimmer getreten war, bekreuzigte er sich vor dem Heiligenbild in der Ecke, ging dann auf Dolochow zu und streckte ihm seine kleine, sonnengebräunte Hand entgegen.
»Habe die Ehre, Fjodor Iwanowitsch«, sagte er mit einer Verbeugung.
»Guten Tag, alter Junge, na, da bist du ja.«
»Gehorsamster Diener, Euer Durchlaucht«, fuhr Balaga fort und streckte Anatol, der eben ins Zimmer trat, ebenfalls seine Pranke entgegen.
»Ich will dir mal was sagen, Balaga«, fing Anatol an, indem er ihm mit der Hand auf die Schulter klopfte, »hast du mich eigentlich lieb oder nicht? Was? Du könntest mir heute einen Dienst erweisen … Mit was für Gäulen bist du denn da? Was?«
»Ganz, wie mir durch den Boten befohlen wurde: mit euren, mit den Teufelsbiestern«, erwiderte Balaga.
»Also höre, Balaga! Hetze alle drei Pferde zu Tode, aber in drei Stunden müssen wir dort sein. Verstanden?«
»Wenn ich sie zu Tode hetze, wie sollen wir dann hinkommen?« erwiderte Balaga und blinzelte verschmitzt mit den Augen.
»Untersteh dich, die Sache nicht ernst zu nehmen, die Schnauze schlag ich dir ein!« schrie Anatol plötzlich mit heraustretenden Augen.
»Wie sollte ich das nicht ernst nehmen«, besänftigte ihn der Kutscher grinsend. »Ist mir je für meine Herren etwas leid gewesen? Wir werden fahren, was die Pferde nur laufen können.«
»Gut«, sagte Anatol. »Setz dich.«
»Na, so setz dich doch«, redete ihm auch Dolochow zu.
»Ich kann doch auch stehen, Fjodor Iwanowitsch.«
»Rede kein Blech, setz dich hin und trink!« sagte Anatol und goß ihm ein großes Glas Madeira ein.
Beim Anblick des Weines fingen die Augen des Kutschers an zu funkeln. Nachdem er ihn zuerst anstandshalber abgelehnt hatte, trank er ihn aus und wischte sich mit dem rotseidenen Taschentuch, das er in der Mütze stecken hatte, den Mund ab.
»Und wann wollen wir fahren, Durchlaucht?«
»Ja so« – Anatol sah nach der Uhr – »… jetzt gleich müssen wir fahren. Also nimm dich zusammen, Balaga! Du wirst es doch schaffen?«
»Das kommt drauf an, wie wir abfahren: geht die Abfahrt glücklich vonstatten, warum sollen wir da nicht zur Zeit hinkommen?« erwiderte Balaga. »Haben wir’s doch in Twer auch geschafft, in sieben Stunden sind wir hingekommen. Weißt du das noch, Durchlaucht?«
»Erinnerst du dich noch, einmal bin ich gerade zu Weihnachten aus Twer hergefahren«, sagte Anatol zu Makarin gewandt, der gerührt kein Auge von ihm wandte und bei dieser Erinnerung lächelte. »Und glaubst du, Makarin, das schnitt uns die Luft ab, so flogen wir dahin. Wir kamen in einen Transport hinein, über zwei Fuhren sind wir hinweggefahren. Kannst du dir so etwas vorstellen?«
»Das waren aber auch Gäule!« fuhr Balaga zu erzählen fort. »Ich hatte damals zu meinem Braunen zwei junge Seitenpferde eingespannt«, wandte er sich an Dolochow, »und glaube mir, Fjodor Iwanytsch, sechzig Werst rannten diese Teufelsbiester, nicht zu halten waren sie, die Hände waren mir ja auch vor Kälte ganz steif geworden. Ich schmiß die Zügel hin: ›Halte du sie mal, Durchlaucht!‹ und sank wie tot in den Schlitten zurück. Die brauchte man nicht anzutreiben; nicht zu halten waren sie, bis wir an Ort und Stelle waren. In drei Stunden hatten sie es geschafft, die Satanskreaturen! Das linke Seitenpferd fiel allerdings gleich tot um.«
Anatol ging aus dem Zimmer und kehrte gleich darauf in einem mit silbernem Riemen umgürteten Pelz und in einer Zobelmütze zurück, die ihm, fesch auf die Seite gesetzt, zu seinem hübschen Gesicht vorzüglich stand. Er sah in den Spiegel und stellte sich dann in derselben Pose, die er vorm Spiegel eingenommen hatte, vor Dolochow hin, ein Glas Wein in der Hand.
»Nun, Fedja, leb wohl. Ich danke dir für alles, lebe wohl!« sagte Anatol.
»Und ihr, meine Kameraden und Freunde …« – er dachte einen Augenblick nach – »… meiner Jugend … lebet wohl!« wandte er sich an Makarin und die übrigen.
Obgleich sie alle mit ihm fuhren, wollte sich Anatol offenbar den rührend feierlichen Augenblick einer Ansprache an seine Kameraden nicht entgehen lassen. Er sprach laut und langsam, hatte die Brust herausgestreckt und wiegte sich auf dem einen Bein.
»Greift alle zu den Gläsern, auch du, Balaga! Also, ihr Kameraden und Freunde meiner Jugend, wir haben zusammen in Saus und Braus gelebt. Wann werden wir uns wiedersehen? Ich fahre heute ins Ausland. Wir haben das Leben ausgekostet, lebt wohl, Kinder! Auf euer Wohl! Hurra!« rief er, trank sein Glas aus und schleuderte es auf die Erde.
»Bleibe gesund!« sagte Balaga, trank ebenfalls sein Glas aus und wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab.
Makarin umarmte Anatol mit Tränen in den Augen.
»Ach, Fürst, wie weh ist mir ums Herz, daß ich mich von dir trennen muß!« stammelte er.
»Abfahren, abfahren!« drängte Anatol.
Balaga wollte hinausgehen.
»Nein, halt!« rief Anatol. »Mach die Tür zu! Wir müssen uns noch einmal hinsetzen. So.«
Sie machten die Tür zu, und alle setzten sich noch einmal hin[120].
»Na, aber nun marsch, Kinder!« sagte Anatol endlich und stand auf.
Der Diener Joseph reichte Anatol die Tasche und den Säbel, und alle gingen ins Vorzimmer.
»Wo ist der Pelz?« fragte Dolochow. »He, Ignatka! Lauf schnell zu Matrona Matwejewna und bitte sie um ihren Pelz, die Zobelsaloppe. Ich kenne doch vom Hörensagen, wie es bei solchen Entführungen zugeht«, sagte Dolochow und blinzelte mit den Augen. »Da kommt sie mehr tot als lebendig aus dem Haus gestürzt, ohne Mantel, so wie sie im Zimmer gesessen hat, zögert man aber nur einen Augenblick, kommen gleich die Tränchen gerollt, und man ruft nach Papachen und Mamachen, zittert vor Kälte und will wieder zurück. Du mußt sie sofort in den Pelz einwickeln und in den Schlitten setzen!«
Der Diener brachte einen Damenfuchspelz.
»Esel! Ich sagte dir doch, den Zobelpelz. He, Matroscha, den Zobelpelz!« schrie er so laut, daß seine Stimme durch alle Zimmer hallte.
Eine hübsche, schlanke, blasse Zigeunerin mit funkelnden schwarzen Augen und blauschillerndem schwarzem Haar kam in einem roten Tuch herausgelaufen, die große Pelzsaloppe über dem Arm.
»Ach wo! Das tut mir gar nicht leid, nimm sie nur«, sagte sie; offenbar tat ihr die Saloppe aber doch leid und sie hatte nur Angst vor ihrem Herrn.
Dolochow nahm ihr, ohne ein Wort zu erwidern, den Pelz ab, warf ihn Matroscha um und wickelte sie hinein.
»Paß auf, so mußt du es machen!« sagte Dolochow. »Und dann so!« fuhr er fort und schlug ihr rings um den Kopf den Kragen hoch, daß nur von dem Gesicht ein Stückchen freiblieb. »Und dann so, siehst du?« und er bog Anatols Kopf gegen dieses kleine Stück, das der Kragen freiließ, aus dem mit strahlendem Lächeln Matroscha hervorschaute.
»Na, leb wohl, Matroscha«, sagte Anatol und gab ihr einen Kuß. »Ja, ja, mein lustiges Leben hier ist nun vorbei. Grüß mir den Stjoschka! Leb wohl, leb wohl, Matroscha! Wünsch mir viel Glück!«
»Gott schenke dir alles Glück!« sagte Matroscha mit ihrer zigeunerhaften Betonung.
Vor der Freitreppe standen zwei Troikas, die von zwei jungen Kutschern gehalten wurden.
Balaga bestieg die erste, hob die Ellbogen hoch und legte gemächlich die Zügel zurecht. Anatol und Dolochow setzten sich zu ihm. Makarin, Chwostikow und die Diener stiegen in den zweiten Schlitten.
»Alles fertig?« fragte Balaga.
»Los!« rief er dann, schlang sich die Zügel um die Hand, und die Troika flog in sausender Fahrt den Nikitski-Boulevard entlang.
»Brrr! Holla! He! … Brrr …« hörte man nur Balaga und den jungen Kutscher schreien, die auf den Böcken saßen. Auf dem ArbatPlatz prasselte der Schlitten gegen einen Wagen, irgend etwas krachte, man hörte einen Aufschrei, aber die Troika flog bereits den ArbatBoulevard entlang.
Nachdem er die Podnowinskaja hinauf- und hinuntergefahren war, ließ Balaga die Pferde nicht mehr so in die Zügel schießen und hielt beim Zurückfahren an der Ecke der Staraja Konjuschennaja an.
Der junge Kutscher sprang vom Bock, um die Pferde an den Zäumen zu halten. Anatol und Dolochow traten auf den Gehsteig. Als sie bis ans Tor gekommen waren, pfiff Dolochow. Jemand pfiff wieder, und gleich darauf kam eine Zofe herausgelaufen.
»Kommen Sie auf den Hof, sonst werden Sie gesehen. Sie kommt gleich«, flüsterte sie.
Dolochow blieb am Tor stehen. Anatol folgte der Zofe auf den Hof, bog um die Ecke und lief auf die Haustür zu.
Gawrila, Marja Dmitrijewnas großer, muskelstarker Fahrdiener, trat Anatol entgegen.
»Bitte, zur gnädigen Frau«, sagte der Diener im tiefsten Baß und wollte ihm den Rückweg zur Tür versperren.
»Zu was für einer gnädigen Frau? Wer bist du denn?« fragte Anatol flüsternd und mit stockender Stimme.
»Bitte, ich habe Befehl, Sie hereinzuführen.«
»Kuragin, zurück!« schrie in diesem Augenblick Dolochow. »Wir sind verraten. Zurück!«
Dolochow rang am Gitter, wo er zurückgeblieben war, mit dem Hausknecht, der hinter Anatol die Gittertür zuschließen wollte. Mit einer letzten Kraftanstrengung stieß Dolochow den Hausknecht zurück, packte den herauseilenden Anatol am Arm, zog ihn durch die Pforte und eilte mit ihm zum Schlitten zurück.
Marja Dmitrijewna hatte die verweinte Sonja auf dem Korridor getroffen und sie gezwungen, ihr alles zu gestehen. Dann hatte sie noch einen Brief Nataschas abgefaßt und ihn gelesen und ging nun mit dem Brief in der Hand zu Natascha hinein.
»Du abscheuliches, schamloses Ding!« sagte sie zu ihr. »Ich will gar nichts weiter hören!«
Sie stieß Natascha, die sie mit erstaunten, tränenlosen Augen ansah, zurück, schloß sie ein, befahl dem Hausknecht, die Herren, die heute abend kommen würden, ins Tor hinein –, aber nicht wieder herausgehen zu lassen, und dem Diener, diese Herren zu ihr zu führen. Dann setzte sie sich in den Salon und wartete auf die Entführer.
Als Gawrila ihr dann gemeldet hatte, daß die Herren gekommen, aber dann geflohen seien, stand sie auf, runzelte die Stirn, legte die Hände auf den Rücken, ging lange im Zimmer auf und ab und überlegte, was sie tun solle. Endlich, um zwölf Uhr nachts, tastete sie nach dem Schlüssel in der Tasche und ging auf Nataschas Zimmer. Sonja saß schluchzend auf dem Korridor.
»Marja Dmitrijewna, lassen Sie mich um Gottes willen zu ihr!« flehte sie.
Marja Dmitrijewna gab ihr keine Antwort, schloß die Tür auf und ging hinein. Scheußlich, infam … in meinem Hause … so ein schamloses Ding … mir tut nur der Vater leid! dachte Marja Dmitrijewna, bemühte sich aber, ihren Zorn zu bändigen. Wie schwer es mir auch ankommt, ich werde doch allen befehlen, zu schweigen, und werde die ganze böse Geschichte vor dem Grafen vertuschen.
Mit festen Schritten trat Marja Dmitrijewna ins Zimmer. Natascha lag auf dem Sofa, hatte den Kopf in beide Hände vergraben und rührte sich nicht. Sie lag noch ebenso da, wie Marja Dmitrijewna sie vorhin verlassen hatte.
»Ein nettes Früchtchen, wirklich, ein sehr nettes Früchtchen!« fing Marja Dmitrijewna an. »Sich in meinem Haus mit dem Liebsten ein Rendezvous zu geben! Jetzt hilft dir alle Verstellung nichts mehr. Hörst du denn nicht, daß ich mit dir rede?« Marja Dmitrijewna rüttelte sie am Arm. »Hör zu, wenn ich mit dir spreche! Du hast dich mit Schimpf und Schande bedeckt wie die gewöhnlichste Dirne. Ich würde dir nichts ersparen, aber dein Vater tut mir leid. Ich werde dafür sorgen, daß niemand etwas von der ganzen Geschichte erfährt.«
Natascha lag immer noch so da, aber ihr ganzer Körper erbebte in einem lautlosen, krampfhaften Schluchzen, das sie zu ersticken drohte. Marja Dmitrijewna sah sich nach Sonja um und setzte sich dann neben Natascha aufs Sofa.
»Ein Glück für ihn, daß er mir entronnen ist! Aber ich werde ihn schon noch zu finden wissen«, sagte sie mit ihrer rauhen Stimme. »Hörst du eigentlich, was ich mit dir rede?«
Sie schob ihre große Hand unter Nataschas Kopf und wandte ihn zu sich um. Beide, sowohl Marja Dmitrijewna als auch Sonja, erschraken, als sie Nataschas Gesicht sahen. Ihre Augen brannten und zeigten keine Spuren von Tränen, die Lippen waren fest zusammengepreßt, die Wangen eingefallen.
»Lassen … Sie mich … ich … sterbe …« stieß sie hervor, entwand sich mit grimmiger Anstrengung Marja Dmitrijewnas Händen und nahm wieder ihre frühere Lage ein.
»Natalja …!« sagte Marja Dmitrijewna. »Ich will doch nur dein Bestes. Wenn du so liegen willst, nun, dann bleib meinetwegen so liegen, ich werde dich nicht anrühren, aber höre mich an … Ich will dir nicht sagen, wie sehr du dich vergangen hast, das weißt du ja selber. Aber morgen kommt dein Vater zurück, was soll ich da zu ihm sagen? Wie?«
Wieder zuckte ein Schluchzen durch Nataschas Körper.
»Dann wird er es erfahren, und auch dein Bruder, dein Bräutigam!«
»Ich habe keinen Bräutigam, ich habe ihm abgeschrieben«, stieß Natascha hervor.
»Das ist ganz gleich«, fuhr Marja Dmitrijewna fort. »Sie werden es also erfahren, und glaubst du denn, daß sie das so hingehen lassen werden? Sieh mal, dein Vater, ich kenne ihn doch … wenn der ihn nun zum Duell fordert, ist das vielleicht schön? Was?«
»Ach lassen Sie mich! Warum haben Sie uns alles zerstört? Warum? Wozu? Wer hat Sie darum gebeten?« schrie Natascha, richtete sich vom Sofa auf und sah Marja Dmitrijewna feindselig an.
»Ja, was wolltest du denn eigentlich?« rief Marja Dmitrijewna, die nun wieder in Zorn geriet. »Haben wir dich hier etwa hinter Schloß und Riegel gehalten? Wie? Hat ihn jemand daran gehindert, im Haus zu verkehren? Warum muß er dich denn wie eine Zigeunerin entführen? … Na, und wenn er dich nun wirklich entführt hätte, glaubst du denn, sie hätten ihn nicht zu finden gewußt? Dein Vater, dein Bruder, dein Bräutigam? Aber er ist ein Schurke, ein Ehrloser, das ist er!«
»Er ist besser als ihr alle!« schrie Natascha auf und richtete sich wieder hoch. »Wenn ihr uns nicht alles vereitelt hättet … Ach, mein Gott, wie furchtbar, wie entsetzlich! Sonja, warum hast du mir das angetan? Geht! Geht!«
Und sie schluchzte so verzweifelt, wie man nur einen Kummer zu beweinen pflegt, an dem man sich selber schuldig fühlt. Marja Dmitrijewna wollte wieder zu reden anfangen, aber Natascha schrie: »Geht, geht! Ihr haßt mich alle, verachtet mich alle!« Dann warf sie sich wieder auf das Sofa.
Marja Dmitrijewna fuhr noch eine Weile fort, Natascha ins Gewissen zu reden und ihr klarzumachen, daß man dies alles vor dem Grafen geheimhalten müsse, daß niemand etwas erfahren werde, wenn es nur Natascha selber auf sich nehme, alles zu vergessen und sich vor allem den Anschein zu geben, als ob nichts geschehen wäre. Natascha gab keine Antwort. Sie schluchzte auch nicht mehr, aber ein fröstelndes Zittern lief über ihren Körper. Marja Dmitrijewna schob ihr ein Kissen unter, deckte sie mit zwei Decken zu und brachte ihr eigenhändig Lindenblütentee, aber Natascha rührte und regte sich nicht.
»Na, mag sie schlafen«, sagte Marja Dmitrijewna und ging in der Annahme, daß sie schlafe, aus dem Zimmer.
Aber Natascha schlief nicht und starrte mit bleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen gerade vor sich hin. Sie schlief die ganze Nacht nicht, weinte auch nicht und sprach auch nicht mit Sonja, die ein paarmal aufstand und zu ihr hinging.
Am nächsten Morgen um die Frühstückszeit kam Graf Ilja Andrejewitsch, wie er versprochen hatte, von seinem Landhaus bei Moskau zu Marja Dmitrijewna zurück. Er war bei bester Laune, die Sache mit dem Käufer war zum Klappen gekommen, es hielt sie nichts mehr in Moskau zurück, und die Trennung von der Gräfin, nach der er sich doch recht sehnte, sollte nun ein Ende haben. Marja Dmitrijewna ging ihm entgegen und erklärte ihm, Natascha sei gestern recht krank gewesen, sie habe nach dem Doktor schicken müssen, jetzt aber gehe es ihr schon wieder etwas besser.
Natascha war den ganzen Morgen nicht aus ihrem Zimmer gekommen. Mit zusammengepreßten, rissigen Lippen und tränenlosen, stieren Augen saß sie am Fenster, blickte unruhig nach den auf der Straße Vorübergehenden und sah sich hastig um, wenn jemand zu ihr ins Zimmer trat. Offenbar wartete sie auf Nachricht von ihm, wartete darauf, daß er entweder selber kommen oder an sie schreiben werde.
Als der Graf zu ihr ins Zimmer trat, wandte sie sich bei dem Geräusch seiner männlichen Schritte hastig um, und ihr Gesicht nahm wieder einen kalten, beinahe feindseligen Ausdruck an. Sie stand nicht einmal auf, um ihm entgegenzugehen.
»Was hast du denn, mein Engel, bist du krank?« fragte der Graf.
Natascha schwieg.
»Ja, krank«, sagte sie dann.
Als der Graf sie besorgt fragte, warum sie so niedergeschlagen sei, und ob denn vielleicht mit ihrem Bräutigam etwas vorgefallen wäre, versicherte sie ihm, es sei nichts weiter mit ihr, und bat ihn, sich nicht zu beunruhigen. Marja Dmitrijewna bestätigte dem Grafen Nataschas Versicherungen, daß nichts vorgefallen sei. Der Graf ersah zwar aus der angeblichen Krankheit und dem verstörten Wesen seiner Tochter und aus den verlegenen Gesichtern Sonjas und Marja Dmitrijewnas ganz deutlich, daß sich in seiner Abwesenheit etwas ereignet haben mußte, aber der Gedanke, daß seiner geliebten Tochter etwas Schändliches zugestoßen sein könne, war ihm so furchtbar, und er liebte seine heitere Ruhe so sehr, daß er alle weiteren Fragen unterließ und sich einzureden versuchte, es sei sicherlich nichts Besonderes geschehen. Er grämte sich nur darüber, daß wegen Nataschas Krankheit ihre Heimreise aufs Land verschoben werden mußte.
Pierre hatte sich schon von dem Tag an, als seine Frau ihm nach Moskau gefolgt war, vorgenommen, irgendwohin zu reisen, nur um nicht mit ihr zusammen zu sein. Bald nach der Ankunft der Rostows in Moskau war ihm dann der Eindruck, den Natascha auf ihn gemacht hatte, zur Veranlassung geworden, die Ausführung seiner Absicht noch zu beschleunigen. So fuhr er nach Twer zu der Witwe Osip Alexejewitschs, die schon lange versprochen hatte, ihm die hinterlassenen Papiere ihres Mannes zu übergeben.
Als Pierre nach Moskau zurückkehrte, überreichte man ihm einen Brief von Marja Dmitrijewna, die ihn in einer äußerst wichtigen Angelegenheit, den Fürsten Andrej Bolkonskij und seine Braut betreffend, zu sich bat. Pierre floh Natascha, soviel er konnte. Ihm schien, als empfinde er für sie ein stärkeres Gefühl, als ein verheirateter Mann für die Braut seines Freundes empfinden dürfe. Aber ein seltsames Geschick führte ihn immer wieder mit ihr zusammen.
Was ist denn da los? Und was wollen sie von mir, was geht denn mich das an? dachte Pierre, während er sich anzog, um zu Marja Dmitrijewna zu fahren. Wenn doch Fürst Andrej nur bald käme und sie heiratete! dachte er auf dem Weg zur Achrosimowa.
Auf dem Twerschen Boulevard rief ihn plötzlich jemand an.
»Pierre! Schon lange wieder da?« hörte er eine bekannte Stimme. Pierre hob den Kopf. In einem Schlitten, mit zwei Apfelschimmeln bespannt, welche die ganze Vorderseite des Schlittens mit Schnee bestäubt hatten, flog Anatol mit seinem unzertrennlichen Kameraden Makarin an ihm vorüber. Anatol saß kerzengerade, in der vorschriftsmäßigen Haltung eines eleganten Offiziers, das Gesicht unten ganz in einen Biberkragen eingehüllt und den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. Er sah frisch und rot aus, den Hut mit der großen weißen Feder trug er etwas zur Seite gesetzt, so daß das gelockte und pomadisierte, mit feinem Schnee bestäubte Haar ein wenig sichtbar war.
Wirklich, dies ist der wahre Weise! dachte Pierre. Er kümmert sich um nichts als um das Vergnügen des Augenblicks, regt sich über nichts auf und ist deshalb immer heiter, ruhig und zufrieden. Was würde ich darum geben, wenn ich so wäre wie er! dachte Pierre voll Neid.
Bei der Achrosimowa nahm ein Diener Pierre im Vorzimmer den Pelz ab und sagte, Marja Dmitrijewna lasse Pierre zu sich ins Schlafzimmer bitten.
Als man ihm die Tür zum Saal öffnete, sah Pierre Natascha mit blassem, eingefallenem, grimmigem Gesicht am Fenster sitzen. Sie wandte sich nach ihm um, runzelte die Stirn und ging mit einem Ausdruck kalter Würde aus dem Zimmer.
»Was ist denn geschehen?« fragte Pierre, als er zu Marja Dmitrijewna ins Zimmer trat.
»Schöne Geschichten!« erwiderte sie. »Achtundfünfzig Jahre bin ich nun schon auf der Welt, aber so einen Skandal habe ich noch nicht erlebt.«
Und nachdem sie Pierre das Ehrenwort abgenommen hatte, über alles, was er jetzt erfahren werde, zu schweigen, teilte sie ihm mit, daß Natascha ohne Wissen der Eltern ihrem Bräutigam abgeschrieben habe, und daß der Grund dieser Absage Anatol Kuragin sei, mit dem Pierres Frau Natascha zusammengebracht habe, und daß Natascha während der Abwesenheit ihres Vaters mit ihm habe fliehen wollen, um sich heimlich trauen zu lassen.
Pierre hörte mit hochgezogenen Schultern und offenem Munde zu, was Marja Dmitrijewna ihm erzählte, und traute seinen Ohren nicht. Die Braut des Fürsten Andrej, die dieser so leidenschaftlich liebte, die sonst so liebe Natascha Rostowa tauschte einen Bolkonskij gegen diesen Dummkopf Anatol ein, der bereits verheiratet war – Pierre kannte das Geheimnis seiner Ehe –, und verliebte sich so in ihn, daß sie gleich bereit war, mit ihm auf und davon zu gehen – das konnte Pierre nicht begreifen, sich nicht einmal vorstellen.
Zu dem liebreizenden Eindruck, den er von Natascha hatte, die er von Kind auf kannte, paßten diese neuen Vorstellungen von ihrer niedrigen Denkungsart und dummen und herzlosen Handlungweise schlecht. Er mußte an seine Frau denken. Da ist doch eine wie die andere, sagte er sich im stillen und dachte, daß das traurige Los, mit einer treulosen Frau verknüpft zu sein, nicht nur ihm allein beschieden sei. Trotzdem tat ihm aber Fürst Andrej, wenn er an dessen Stolz dachte, so leid, daß ihm fast die Tränen kamen. Und je mehr er seinen Freund bemitleidete, mit um so größerer Verachtung und um so größerem Abscheu mußte er an diese Natascha denken, die soeben mit dem Ausdruck einer so kalten Würde im Saal an ihm vorbeigegangen war. Er wußte nicht, daß Nataschas Seele von Verzweiflung, Scham und demütigenden Vorstellungen erfüllt war, und daß sie nichts dafür konnte, wenn ihr Gesicht unwillkürlich den Ausdruck ruhiger und strenger Würde zeigte.
»Aber wie denn trauen lassen?« wiederholte Pierre Marja Dmitrijewnas Worte. »Er kann sich doch gar nicht trauen lassen: er ist doch bereits verheiratet.«
»Das wird ja mit jeder Stunde besser!« rief Marja Dmitrijewna. »Ein netter Bursche! So ein Schuft! Und sie wartet immer noch auf ihn, wartet nun schon zwei Tage lang. Das muß man ihr doch sagen, damit sie wenigstens mit Warten aufhört.«
Nachdem sie von Pierre alle Einzelheiten über Anatols Ehe erfahren und mit allen ihr zu Gebote stehenden Schimpfworten ihrem Zorn über diesen ehrlosen Halunken Luft gemacht hatte, teilte Marja Dmitrijewna Pierre mit, warum sie ihn zu sich gebeten habe. Sie fürchtete, der Graf oder Bolkonskij, der jeden Augenblick ankommen mußte, könnte die ganze Geschichte erfahren, die sie zwar vor ihm geheimzuhalten beabsichtigte, und dann Kuragin zum Duell fordern. Deshalb bat sie Pierre, seinem Schwager in ihrem Namen zu befehlen, sofort aus Moskau zu verschwinden und nicht zu wagen, ihr noch unter die Augen zu kommen. Pierre versprach, ihren Wunsch zu erfüllen, da er erst jetzt die Gefahr erkannte, die dem alten Grafen, Nikolaj und Bolkonskij drohte. Nachdem sie Pierre kurz und bündig ihre Forderung auseinandergesetzt hatte, entließ sie ihn und schickte ihn in den Salon hinüber.
»Nimm dich in acht, der Graf weiß von nichts. Stelle dich, als hättest du von nichts eine Ahnung«, sagte sie zu ihm. »Und ich werde zu ihr gehen und ihr sagen, daß sie nicht länger zu warten braucht. Bleib doch zum Essen da, wenn du Lust hast«, rief Marja Dmitrijewna Pierre noch nach.
Pierre begrüßte den alten Grafen. Dieser schien verlegen und zerstreut. Natascha hatte ihm am Morgen gesagt, daß sie Bolkonskij abgeschrieben habe.
»Ich habe meine liebe Not, mon cher«, sagte er zu Pierre, »meine liebe Not mit diesen Mädels, wenn die Mutter nicht dabei ist. Ich habe es schon so bereut, daß ich mit ihnen hergereist bin. Ihnen gegenüber kann ich ja ganz offen sein. Haben Sie schon so etwas gehört: sie hat ihrem Bräutigam abgeschrieben, ohne jemanden um Rat zu fragen. Allerdings, das muß ich ja zugeben, ich war nie sehr beglückt über diese Verlobung. Er ist ja ein vorzüglicher Mensch, meinetwegen, aber so gegen den Willen seines Vaters wäre das doch nie ein rechtes Glück geworden, und Natascha wird es nie an Freiern fehlen. Aber immerhin, die Sache hat sich ja nun so lange hingezogen, und nun auf einmal dieser Schritt: ohne daß Vater und Mutter etwas davon wissen! Jetzt ist sie nun wieder krank und Gott weiß was alles! Man hat seine liebe Not, Graf, seine liebe Not mit diesen Mädels, wenn die Mutter fehlt!«
Pierre merkte, daß der Graf sehr verstimmt war, und gab sich Mühe, das Gespräch auf ein anderes Thema überzuleiten, aber immer wieder kehrte der Graf zu seinem Kummer zurück.
Da trat Sonja mit erregtem Gesicht in den Salon.
»Natascha ist nicht ganz wohl. Sie ist auf ihrem Zimmer und möchte Sie gern sehen. Marja Dmitrijewna ist bei ihr und läßt Sie ebenfalls bitten.«
»Ja, Sie sind ja so sehr mit Bolkonskij befreundet, sicherlich will sie ihm irgend etwas übermitteln«, sagte der Graf. »Mein Gott, mein Gott! Wie schön war doch alles bisher!«
Und der Graf fuhr sich durch sein an den Schläfen spärliches graues Haar und ging aus dem Zimmer.
Marja Dmitrijewna hatte Natascha mitgeteilt, daß Anatol verheiratet war. Natascha hatte es ihr nicht glauben wollen und verlangt, daß Pierre selber es ihr bestätige. Dies teilte Sonja Pierre mit, während sie ihn über den Korridor nach Nataschas Zimmer führte.
Natascha saß mit bleichem, ernstem Gesicht neben Marja Dmitrijewna und warf Pierre schon in der Tür aus ihren wie vom Fieber brennenden Augen einen fragenden Blick zu. Sie nickte weder grüßend, noch lächelte sie ihm zu, sondern sah ihn nur starr an, und ihr Blick fragte ihn nur das eine: war er, was Anatol betraf, ihr Freund oder ebenso ein Feind wie die andern alle. Pierre selber existierte offenbar gar nicht für sie.
»Er weiß alles«, sagte Marja Dmitrijewna zu Natascha gewandt und wies auf Pierre. »Er kann dir sagen, ob ich die Wahrheit gesprochen habe.«
Natascha blickte von einem zum anderen, wie ein angeschossenes, gehetztes Wild auf Jäger und Hunde blickt, die immer näher und näher kommen.
»Natalja Iljinitschna«, fing Pierre an, schlug die Augen nieder und empfand ein gewisses Mitleid mit ihr und einen Widerwillen gegen die Operation, die er ausführen mußte, »ob es nun wahr ist oder nicht, kann ja für Sie ganz gleichgültig sein, weil …«
»So ist es also nicht wahr, daß er verheiratet ist!«
»Doch, es ist wahr.«
»Er ist also verheiratet. Schon lange?« fragte sie. »Auf Ehrenwort?«
Pierre gab ihr sein Ehrenwort.
»Ist er noch hier?« fragte sie hastig.
»Ja, ich habe ihn soeben gesehen.«
Sie war sichtlich nicht imstande, weiterzusprechen, und machte nur mit den Händen ein Zeichen, daß man sie allein lassen solle.
Pierre blieb nicht zum Essen da, sondern brach sogleich auf und fuhr fort. Er begab sich in die Stadt, um Anatol Kuragin zu suchen, wobei ihm, wenn er nur an ihn dachte, alles Blut zum Herzen strömte und es ihm fast schwer wurde, Atem zu holen. In den verschiedensten Vergnügungsstätten, bei den Zigeunern, bei Comoneno war er nicht. Pierre fuhr in den Klub. Im Klub ging alles seinen alten Gang: die Gäste, die zum Mittagessen gekommen waren, saßen in Gruppen beieinander, begrüßten Pierre und unterhielten sich von Stadtneuigkeiten. Der Klubdiener, der Pierres Freunde und Gewohnheiten kannte, meldete ihm mit einer tiefen Verbeugung, daß ein Platz für ihn im kleinen Speisezimmer reserviert wäre, und daß Fürst N.N. in der Bibliothek, Herr T.T. aber noch nicht gekommen sei. Mitten in einem Gespräch über das Wetter fragte ein Bekannter Pierre, ob er schon etwas davon gehört hätte, daß Kuragin die kleine Rostowa entführt habe; die ganze Stadt spreche davon, ob es denn wahr sei? Pierre lachte und sagte, das sei alles Unsinn, er komme ja soeben von den Rostows. Er fragte alle nach Anatol: einer sagte ihm, Anatol sei noch nicht da, ein anderer, er werde bestimmt zum Essen hierherkommen. Es war für Pierre ein eigenes Gefühl, auf diese friedliche, gleichgültige Menschenmenge hinzusehen, die keine Ahnung davon hatte, was in seiner Seele vorging. Er ging im Saal auf und ab und wartete, bis sich alle versammelt hatten, da aber Anatol nicht kam, blieb er nicht zum Essen da, sondern fuhr nach Hause.
Anatol, den er so suchte, speiste an diesem Tag bei Dolochow und beriet mit ihm, wie man die verfahrene Sache wieder ins rechte Geleise bringen könne. Es schien ihm unbedingt notwendig, die Komtesse Rostowa wiederzusehen. Deshalb fuhr er gegen Abend zu seiner Schwester, um mit ihr Mittel und Wege zu besprechen, diese Zusammenkunft zustande zu bringen.
Als Pierre, nachdem er ganz Moskau umsonst abgesucht hatte, nach Hause zurückkehrte, meldete ihm sein Kammerdiener, daß Fürst Anatol Wassiljewitsch bei der Gräfin sei.
Der Salon der Gräfin war voller Gäste. Pierre trat in den Salon ein, erblickte Anatol und ging, ohne seine Frau zu begrüßen, die er nach seiner Rückkehr aus Twer noch gar nicht gesehen hatte – sie war ihm in diesem Augenblick verhaßter denn je –, auf Anatol zu.
»Ah, Pierre«, sagte die Gräfin und ging ihrem Mann entgegen. »Du weißt noch gar nicht, in was für eine Lage unser Anatol …«
Sie hielt inne, da sie aus dem tief gesenkten Kopf ihres Mannes, aus seinen funkelnden Augen, seinem entschlossenen Gang jenen furchtbaren Ausdruck der Kraft und Wut wiedererkannte, den sie nach dem Duell mit Dolochow an sich selber erfahren hatte.
»Wo Sie sind, da ist Leichtsinn und Niederträchtigkeit«, sagte Pierre zu seiner Frau. »Anatol, kommen Sie, ich muß mit Ihnen reden«, rief er diesem auf französisch zu.
Anatol sah sich nach der Schwester um und stand gehorsam auf, bereit, Pierre zu folgen. Pierre faßte ihn am Arm, zog ihn zu sich heran und verließ so das Zimmer.
»Si vous vous permettez dans mon salon …« fing Helene flüsternd an, aber Pierre gab ihr keine Antwort und ging hinaus.
Anatol ging in seinem gewöhnlichen, forschen Gang hinter ihm her. Aber es lag doch eine gewisse Unruhe auf seinem Gesicht.
Nachdem sie in Pierres Zimmer eingetreten waren, machte Pierre die Tür zu und wandte sich an Anatol, ohne ihn anzusehen.
»Sie haben der Gräfin Rostowa versprochen, sie zu heiraten, und wollten sie entführen?«
»Mein Lieber«, erwiderte Anatol auf französisch – das ganze Gespräch wurde in dieser Sprache geführt –, »ich halte mich nicht für verpflichtet, auf Fragen zu antworten, die mir in einem solchen Ton gestellt werden.«
Pierres Gesicht, das schon vorher bleich gewesen war, erschien vor Wut ganz entstellt. Er packte mit seiner großen Faust Anatol am Uniformkragen und schüttelte ihn so lange hin und her, bis Anatols Gesicht genügend Furcht bekundete.
»Wenn ich Ihnen aber sage, daß ich mit Ihnen reden muß …«, wiederholte Pierre.
»Na, was ist denn nur? Das hat doch gar keinen Sinn. Nicht?« sagte Anatol und befühlte den Knopf an seinem Kragen, der mit dem Tuch herausgerissen war.
»Sie sind ein Lotterbube und ein Schuft obendrein, und ich weiß nicht, was mich noch von dem Vergnügen abhält, Ihnen hiermit den Schädel zu zertrümmern«, schrie Pierre – er drückte sich deshalb so kunstvoll aus, weil er französisch sprach –, nahm seinen gewichtigen Briefbeschwerer und hob ihn drohend empor, legte ihn aber gleich wieder hastig an Ort und Stelle.
»Haben Sie versprochen, sie zu heiraten?«
»Ich … ich … ich habe gar nicht daran gedacht. Übrigens habe ich schon deshalb nie etwas versprochen, weil …«
Pierre unterbrach ihn.
»Haben Sie Briefe von ihr? Haben Sie Briefe?« wiederholte Pierre und trat wieder auf Anatol zu.
Anatol warf nur einen kurzen Blick auf ihn, fuhr sogleich mit der Hand in die Tasche und zog seine Brieftasche hervor.
Pierre nahm den Brief, den Anatol ihm reichte, stieß einen ihm im Wege stehenden Tisch um und ließ sich auf das Sofa fallen.
»Je ne serai pas violent, ne craignez rien«, sagte er auf die erschrockene Gebärde Anatols hin. »Also das war Nummer eins: die Briefe«, sagte Pierre, als wiederhole er eine auswendig gelernte Lektion. »Nun Nummer zwei«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, stand wieder auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen: »Sie müssen morgen aus Moskau abfahren.«
»Aber wie kann ich denn das …«
»Drittens«, fuhr Pierre fort, ohne auf ihn zu hören, »Sie dürfen niemals ein Wort von dem verlauten lassen, was zwischen Ihnen und der Komtesse vorgefallen ist. Ich weiß, daß ich Ihnen dies nicht verbieten kann, aber wenn nur ein Funken von Ehrgefühl noch in Ihnen ist …« Pierre ging ein paarmal schweigend im Zimmer auf und ab.
Anatol saß mit finsterer Miene am Tisch und biß sich auf die Lippen.
»Es sollte Ihnen doch endlich einmal klar werden, daß es außer Ihrem Vergnügen auch noch das Glück und die Ruhe anderer Menschen auf der Welt gibt, daß Sie nicht ein ganzes Leben zerstören dürfen, nur weil Sie sich amüsieren wollen. Suchen Sie doch Ihr Vergnügen bei solchen Weibern, wie meine Frau eines ist; da sind Sie in Ihrem Recht, die wissen, was Sie von ihnen wollen. Die sind durch ihre eigne Erfahrung im Laster gegen Sie gewappnet. Aber einem anständigen jungen Mädchen die Ehe zu versprechen … sie zu täuschen und entführen zu wollen … Sehen Sie denn nicht ein, daß das ebenso gemein ist, wie einen Greis oder ein kleines Kind zu mißhandeln?«
Pierre schwieg und sah Anatol nicht mehr mit zornigen, sondern mit fragenden Blicken an.
»Das weiß ich nicht«, sagte Anatol, der im selben Maß, wie Pierre seinen Zorn bewältigte, immer kühner wurde. »Das weiß ich nicht und will ich auch gar nicht wissen«, sagte er mit leisem Zittern des Unterkiefers und sah Pierre an, »aber Sie haben mir gegenüber Worte gebraucht wie ›gemein‹ und ähnliches, die ich mir, comme un homme d’honneur, von niemandem sagen lasse.«
Pierre sah ihn erstaunt an und war nicht imstande, zu begreifen, was er wolle.
»Obgleich es unter vier Augen war«, fuhr Anatol fort, »so kann ich doch nicht …«
»Wie? Sie fordern wohl Genugtuung?« fragte Pierre spöttisch.
»Wenigstens nehmen Sie diese Worte zurück. Nicht? Wenn Sie wollen, daß ich Ihre Wünsche erfüllen soll. Nicht?«
»Ich nehme sie zurück, gewiß«, sagte Pierre leise, »und bitte Sie um Entschuldigung.«
Pierre warf unwillkürlich einen Blick nach dem herausgerissenen Knopf. »Und wenn Sie Geld für die Reise brauchen …«
Anatol lächelte. Dieses verlegene, gemeine Lächeln, das er von seiner Frau her kannte, brachte Pierre außer sich.
»O diese gemeine, herzlose Brut!« murmelte er und verließ das Zimmer.
Am nächsten Tag fuhr Anatol nach Petersburg.
Pierre ging zu Marja Dmitrijewna, um sie davon in Kenntnis zu setzen, daß er ihren Wunsch erfüllt und Anatol aus Moskau vertrieben habe.
Das ganze Haus war in Angst und Aufregung. Natascha war sehr krank und hatte sich, wie ihm Marja Dmitrijewna insgeheim erzählte, nachdem sie erfahren hatte, daß Anatol verheiratet war, noch in derselben Nacht mit Arsenik, das sie sich heimlich zu verschaffen gewußt hatte, vergiften wollen. Nachdem sie etwas davon hinuntergeschluckt hatte, war sie so erschrocken, daß sie Sonja geweckt und ihr ihr Vorhaben eingestanden hatte.
So waren noch rechtzeitig alle Maßnahmen gegen das Gift getroffen worden, und sie war jetzt außer Gefahr, aber immerhin noch so schwach, daß gar nicht daran zu denken war, sie nach Hause aufs Land zu schaffen, und deshalb hatte man die Gräfin gebeten, hierher zu kommen. Pierre sprach mit dem kopflosen Grafen und der verweinten Sonja, Natascha aber bekam er nicht zu sehen.
Pierre speiste an diesem Tag im Klub, hörte, wie auf allen Seiten über den Entführungsversuch der kleinen Rostowa geredet wurde, und widersprach diesen Gerüchten hartnäckig, indem er allen versicherte, es sei weiter nichts geschehen, als daß sein Schwager der Komtesse Rostowa einen Antrag gemacht habe, aber von ihr abgewiesen worden sei. Es erschien Pierre als heilige Pflicht, die ganze Sache zu vertuschen und den Ruf der Komtesse Rostowa wiederherzustellen.
Mit bangem Herzen erwartete er die Rückkehr des Fürsten Andrej und fuhr jeden Tag zum alten Fürsten, um sich nach ihm zu erkundigen.
Durch Mademoiselle Bourienne hatte Fürst Nikolaj Andrejewitsch alle die Gerüchte erfahren, die über Natascha in der Stadt umliefen, auch hatte er jenen Brief an die Prinzessin Marja gelesen, worin Natascha sich von ihrem Bräutigam lossagte. Er schien heiterer als gewöhnlich zu sein und erwartete seinen Sohn mit großer Ungeduld.
Wenige Tage nach Anatols Abreise erhielt Pierre einen Brief vom Fürsten Andrej, in dem er ihm seine Ankunft mitteilte und Pierre bat, ihn doch sogleich aufzusuchen.
Als Fürst Andrej in Moskau ankam, überreichte ihm sein Vater als erstes den Brief Nataschas an Prinzessin Marja, in dem sich Natascha von ihrem Bräutigam lossagte – diesen Brief hatte Mademoiselle Bourienne der Prinzessin Marja entwendet und dem Fürsten zugesteckt –, und außerdem bekam er von seinem Vater die Geschichte von Nataschas Entführung mit allem Drum und Dran zu hören.
Fürst Andrej war spät abends eingetroffen. Am nächsten Morgen kam Pierre zu ihm. Er hatte erwartet, den Fürsten Andrej beinahe in derselben Verfassung vorzufinden, in der Natascha gewesen war, und war deshalb nicht wenig erstaunt, als er beim Eintreten in den Salon im Nebenzimmer die laute Stimme des Fürsten Andrej vernahm, der angeregt irgendeine Petersburger Intrige erzählte. Dazwischen hörte man ab und zu den alten Fürsten reden, und noch eine andere Stimme. Prinzessin Marja trat in den Salon, um Pierre zu begrüßen. Sie seufzte und wies mit einem Blick nach der Tür, hinter der man Fürst Andrej sprechen hörte, wodurch sie offenbar ihr Mitgefühl mit seinem Kummer aussprechen wollte, aber Pierre sah an ihrem Gesicht, daß sie über das, was geschehen war, sowie darüber, wie Fürst Andrej die Nachricht vom Treubruch seiner Braut aufgenommen hatte, im Grund ihres Herzens doch recht glücklich war.
»Er sagte, er habe dies erwartet«, fing Prinzessin Marja an. »Ich weiß zwar, daß sein Stolz es ihm nicht erlaubt, seine Gefühle zu zeigen, aber immerhin erträgt er es leichter, viel leichter, als ich erwartet hatte. Man sieht, es hat so kommen müssen …«
»Aber ist denn wirklich alles zu Ende?« fragte Pierre.
Prinzessin Marja sah ihn erstaunt an. Es war ihr völlig unverständlich, wie man da noch fragen könne.
Pierre trat in das Nebenzimmer, das Kabinett des alten Fürsten, ein. Fürst Andrej stand, völlig verändert und auffallend gesünder und frischer geworden, aber mit einer neuen Querfalte zwischen den Brauen, in Zivilkleidung vor seinem Vater und dem Fürsten Meschtscherskij und disputierte hitzig mit ihnen, wobei er energische Gesten machte. Sie sprachen gerade über Speranskij: die Kunde von seiner plötzlichen Verbannung und vermeintlichen Verräterei war eben in Moskau eingetroffen.
»Und alle diejenigen, die vor vier Wochen noch von ihm begeistert waren, verurteilen und beschuldigen ihn jetzt«, sagte Fürst Andrej, »und dazu kommen noch die, die seine Absichten und Ziele nicht zu begreifen imstande sind. Einen Menschen, der in Ungnade gefallen ist, zu verdammen, fällt niemandem schwer, und alle Fehler anderer werden einem solchen dann in die Schuhe geschoben. Ich aber sage, wenn unter unserer jetzigen Regierung wirklich etwas Gutes zustande gekommen ist, so ist er allein der Urheber davon, er ganz allein …«
Er hielt inne, als er Pierre erblickte. Über sein Gesicht lief ein Zucken und es nahm sogleich einen finsteren Ausdruck an.
»Aber die Nachwelt wird ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen«, schloß er und wandte sich sogleich an Pierre.
»Na, und was machst du? Du wirst ja immer dicker«, sagte er lebhaft zu ihm, doch die neue Falte auf seiner Stirn grub sich dabei immer tiefer ein. »Ja, mir geht es sehr gut«, erwiderte er auf Pierres Frage und lächelte.
Es war Pierre klar, daß sein Lächeln besagte: Ja, gesund bin ich jetzt wohl, aber für wen?
Nachdem Fürst Andrej mit Pierre ein paar Worte über die schauderhaften Wegeverhältnisse an der polnischen Grenze gewechselt und ihm erzählt hatte, mit welchen ihrer gemeinsamen Bekannten er in der Schweiz zusammengewesen war, und daß er einen Herrn Dessalles als Hauslehrer für seinen Sohn aus dem Ausland mitgebracht habe, mischte er sich wieder mit großem Eifer in das Gespräch über Speranskij, das die beiden alten Herren inzwischen weitergesponnen hatten.
»Wenn es tatsächlich Verrat wäre und man wirklich Beweise für seine geheimen Beziehungen zu Napoleon in Händen hätte, so hätte man ihn öffentlich beschuldigt«, warf er eifrig und hastig ein. »Ich persönlich liebe Speranskij nicht und habe ihn auch niemals geliebt, aber die Gerechtigkeit geht mir über alles.«
Pierre merkte seinem Freunde das ihm nur zu wohl bekannte Bedürfnis an, zu fernerliegenden Dingen zu greifen und sich aufzuregen, nur um die drückenden Gedanken, die auf seiner Seele lasteten, im Keim zu ersticken.
Nachdem Meschtscherskij fortgegangen war, nahm Fürst Andrej Pierres Arm und führte ihn in das Zimmer, das man für ihn hergerichtet hatte. Hier war ein Bett aufgeschlagen, und offene Reisetaschen und Koffer lagen umher. Fürst Andrej trat auf einen von ihnen zu und nahm eine Schatulle heraus. Aus der Schatulle zog er ein in Papier gewickeltes Päckchen. Das alles tat er schweigend und sehr schnell. Dann richtete er sich auf und räusperte sich. Sein Gesicht war finster, seine Lippen fest zusammengepreßt.
»Entschuldige, wenn ich dich belästige …«
Pierre merkte, daß Fürst Andrej mit ihm über Natascha sprechen wollte, und sein breites Gesicht drückte Mitleid und Teilnahme aus. Dieser Gesichtsausdruck Pierres reizte den Fürsten Andrej, und er fuhr in festem, scharfem und unangenehmem Ton fort: »Die Komtesse Rostowa hat ihre Verlobung mit mir aufgelöst, und es sind mir Gerüchte zu Ohren gekommen, dein Schwager habe um ihre Hand angehalten, oder so etwas Ähnliches. Ist das wahr?«
»Wahr und auch wieder nicht wahr«, fing Pierre an, aber Fürst Andrej ließ ihn nicht ausreden.
»Hier sind ihre Briefe und ihr Bild«, sagte er.
Er nahm das Päckchen vom Tisch und überreichte es Pierre.
»Gib das der Komtesse … wenn du sie siehst …«
»Sie ist sehr krank«, sagte Pierre.
»So ist sie also noch hier? Und Fürst Kuragin?« fragte Fürst Andrej hastig.
»Der ist schon lange fort. Sie lag auf den Tod …«
»Ich bedaure ihre Krankheit ungemein«, sagte Fürst Andrej und lächelte dabei kalt, feindselig und unangenehm wie sein Vater. »Folglich hat also Herr Kuragin die Komtesse Rostowa seiner Hand nicht für würdig erachtet?« fragte er dann weiter. Dabei schnaubte er mehrmals hörbar mit der Nase.
»Er konnte sie nicht heiraten, weil er bereits verheiratet ist«, erwiderte Pierre.
Fürst Andrej lachte unangenehm auf, wobei er wieder an seinen Vater erinnerte.
»Und wo befindet er sich jetzt, Ihr Schwager, wenn ich fragen darf?« sagte er.
»Er ist fortgefahren, nach Pet…, übrigens weiß ich wirklich nicht, wo er jetzt ist«, erwiderte Pierre.
»Na, das ist ja auch ganz gleich«, sagte Fürst Andrej. »Richte der Komtesse Rostowa aus, daß sie vollkommen frei war und ist, und daß ich ihr alles Gute wünsche.«
Pierre nahm das Päckchen entgegen. Fürst Andrej sah ihn mit starren Blicken an, als überlege er, ob er noch etwas hinzufügen oder warten müsse, ob Pierre etwas sagen werde.
»Hören Sie, erinnern Sie sich noch an unser Gespräch in Petersburg«, fragte Pierre, »wissen Sie noch …«
»Ich entsinne mich«, entgegnete Fürst Andrej hastig, »ich sagte damals, daß man einer gefallenen Frau verzeihen müsse; aber ich habe nicht gesagt, daß ich es könnte. Ich kann es nicht.«
»Aber hier liegt der Fall doch anders …«, fiel Pierre ein.
Fürst Andrej ließ ihn nicht ausreden. In scharfem Ton unterbrach er ihn: »Ich soll wohl noch einmal um ihre Hand anhalten, großmütig sein oder so etwas Ähnliches. Das wäre ja sehr edel, aber ich bin nicht imstande, d’aller sur les brisées de monsieur. Wenn du mein Freund sein willst, so sprich nie wieder mit mir von dieser … von dieser ganzen Geschichte. Nun leb wohl. Du wirst es ihr also ausrichten …«
Pierre verließ das Zimmer und ging wieder zum alten Fürsten und zu Prinzessin Marja.
Der alte Herr schien lebhafter als gewöhnlich. Prinzessin Marja war so wie immer, aber bei allem Mitgefühl für ihren Bruder beobachtete Pierre an ihr doch eine gewisse Freude, daß diese Ehe nun doch nicht zustande kam. Wenn er die beiden so ansah, begriff Pierre voll und ganz, welch verächtliche und feindselige Gefühle sie für die Familie Rostow hegten, und sah ein, daß es fernerhin einfach unmöglich war, in ihrer Gegenwart auch nur den Namen eines Mädchens auszusprechen, die es übers Herz gebracht hatte, einen anderen, wer es auch sein mochte, dem Fürsten Andrej vorzuziehen.
Während des Mittagessens kam die Rede auf den Krieg, dessen nahe bevorstehender Ausbruch immer augenscheinlicher wurde. Fürst Andrej sprach ununterbrochen, disputierte bald mit seinem Vater, bald mit dem schweizerischen Erzieher Dessalles und zeigte sich angeregter als sonst und von jener Lebhaftigkeit erfaßt, deren innere Ursache Pierre nur zu gut kannte.
Noch am selben Abend fuhr Pierre zu den Rostows, um den ihm erteilten Auftrag auszuführen. Natascha lag im Bett, der Graf war im Klub, und so übergab Pierre Sonja die Briefe und ging zu Marja Dmitrijewna hinein, die darauf brannte, zu erfahren, wie Fürst Andrej die Nachricht aufgenommen habe. Nach zehn Minuten kam Sonja zu Marja Dmitrijewna hereingelaufen.
»Natascha möchte unbedingt den Grafen Pjotr Kirillowitsch sehen«, sagte sie.
»Ja, aber wie denn? Man kann ihn doch nicht zu ihr hineinführen? Bei euch im Zimmer ist ja gar nicht aufgeräumt«, sagte Marja Dmitrijewna.
»Nein, sie hat sich angezogen und ist in den Salon hinuntergegangen«, sagte Sonja.
Marja Dmitrijewna zuckte nur mit den Achseln.
»Wenn nur diese Gräfin bald käme! Das Mädchen macht mich noch ganz kaputt! Nimm dich in acht und sage ihr nicht alles«, wandte sie sich an Pierre. »Man hat nicht einmal den Mut, ihr gründlich den Kopf zu waschen, so jämmerlich sieht sie aus!«
Natascha stand abgezehrt, mit bleichem, ernstem Gesicht, aber gar nicht beschämt, wie Pierre erwartet hatte, mitten im Salon. Als Pierre in der Tür erschien, geriet sie in Hast und Unruhe und wußte offenbar nicht, ob sie Pierre entgegengehen oder ihn dort erwarten sollte.
Pierre ging mit schnellen Schritten auf sie zu. Er dachte, sie werde ihm wieder, wie immer, die Hand reichen, aber sie ging nur bis zu ihm heran, atmete schwer, ließ leblos die Arme herabsinken und blieb in derselben Stellung vor ihm stehen, in der sie sich sonst immer zum Singen mitten in den Saal hinstellte, nur mit einem ganz anderen Gesichtsausdruck.
»Pjotr Kirillytsch«, fing sie schnell und hastig an, »Fürst Bolkonskij war Ihr Freund, ist noch Ihr Freund«, verbesserte sie sich – ihr schien, als wäre dies alles vergangen und alles müsse jetzt ganz anders sein. »Er sagte mir damals, ich möchte mich an Sie wenden …«
Pierre holte schnaufend Atem und sah sie an. Er hatte ihr bisher im Grund seines Herzens Vorwürfe gemacht und sich bemüht, sie zu verachten, jetzt aber tat sie ihm so leid, daß in seinem Herzen für einen Vorwurf gar kein Platz mehr war.
»Er ist jetzt hier«, fuhr sie fort. »Sagen Sie ihm, er solle mir ver … verzeihen.«
Sie stockte und atmete noch erregter, aber sie weinte nicht.
»Ja … das will ich ihm sagen«, entgegnete Pierre, »aber …«
Er wußte nicht, was er sagen sollte.
Natascha erschrak sichtlich, als es ihr klar wurde, was Pierre denken konnte.
»Nein, nein, ich weiß, daß alles zu Ende ist«, sagte sie hastig. »Nein, das ist für immer vorbei. Mich quält nur der Gedanke an das Böse, das ich ihm angetan habe. Sagen Sie ihm nur, ich bäte ihn, mir alles, alles, alles zu verzeihen …«
Sie zitterte am ganzen Körper und setzte sich auf einen Stuhl.
Ein Gefühl von Mitleid erfüllte Pierres Seele, wie er es noch nie empfunden hatte.
»Ich werde es ihm sagen, werde ihm das alles noch einmal sagen«, erwiderte Pierre. »Aber … eines möchte ich gern wissen …«
Was denn? fragte Nataschas Blick.
»Ich möchte wissen, ob Sie …« – Pierre wußte nicht, wie er Anatol nennen sollte, und wurde schon bei dem Gedanken an ihn rot – »… diesen elenden Menschen geliebt haben?«
»Nennen Sie ihn nicht einen Elenden«, entgegnete Natascha. »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht …«
Sie fing an zu weinen. Und das Gefühl des Mitleids, der Zärtlichkeit und der Liebe für sie ergriff Pierre immer heftiger. Er fühlte, wie unter seiner Brille die Tränen hervorkamen, und hoffte, daß sie es nicht bemerken werde.
»Wir wollen nicht weiter davon reden, Liebe«, sagte Pierre.
Seine sanfte, herzliche, zärtliche Stimme erschien Natascha auf einmal so seltsam.
»Wir wollen nicht weiter darüber reden, Liebe; ich werde ihm alles sagen. Aber um eines bitte ich Sie: zählen Sie mich zu Ihren Freunden. Und wenn Sie Hilfe oder einen Rat brauchen, oder auch nur Ihr Herz jemandem ausschütten wollen – nicht jetzt, sondern wenn es in Ihrer Seele wieder licht und klar sein wird –, dann denken Sie an mich.« Er nahm ihre Hand und küßte sie. »Ich würde glücklich sein, wenn ich imstande wäre …«
Pierre wurde verlegen.
»Sprechen Sie nicht so mit mir, ich bin es nicht wert!« schrie Natascha auf und wollte aus dem Zimmer laufen, aber Pierre hielt ihre Hand fest. Er wußte, daß er ihr noch etwas sagen mußte. Als er es aber aussprach, wunderte er sich selber darüber.
»Nicht doch, quälen Sie sich nicht länger. Das ganze Leben liegt noch vor Ihnen«, sagte er.
»Vor mir? Nein! Für mich ist alles vorbei«, sagte sie voll Scham und Selbsterniedrigung.
»Alles vorbei?« wiederholte er. »Wenn ich nicht ich wäre, sondern ein hübscher, kluger, ja der beste Mensch in der ganzen Welt und frei wäre, würde ich noch in diesem Augenblick vor Ihnen auf die Knie fallen und um Ihre Hand und Ihre Liebe bitten.«
Zum erstenmal nach langer Zeit weinte Natascha Tränen der Dankbarkeit und Rührung. Sie sah Pierre an und ging aus dem Zimmer.
Pierre folgte ihr und begab sich fast laufend ins Vorzimmer, da er die Tränen der Rührung und des Glückes, die ihm die Kehle zuschnürten, kaum noch zurückhalten konnte. Er zog seinen Pelz an, ohne die Ärmel zu finden, und setzte sich in den Schlitten.
»Wohin soll ich jetzt fahren?« fragte der Kutscher.
Wohin? fragte sich Pierre. Wohin könnte ich jetzt noch fahren? Wohl in den Klub oder irgendwohin zu Besuch? Alle Menschen schienen ihm jetzt so jämmerlich und ärmlich im Vergleich zu dem Gefühl der Rührung und Liebe, das er empfand, im Vergleich zu dem weichen, dankbaren Blick, mit dem sie ihn unter Tränen zum letztenmal angesehen hatte.
»Nach Hause«, sagte Pierre und knöpfte trotz der zehn Grad Kälte den Bärenpelz über seiner breiten, glücklich atmenden Brust auf.
Es war ein kalter, klarer Tag. Über den schmutzigen, halbdunklen Straßen, über den schwarzen Dächern der Häuser wölbte sich der dunkle Sternenhimmel. Pierre schaute empor und empfand in diesem Augenblick nicht wie sonst die bedrückende Kleinlichkeit alles Irdischen, weil das, was er fühlte, so herrlich, hoch und unendlich war. Als er auf den Arbat-Platz hinausbog, erschloß sich vor seinen Augen das ganze unendliche, sternenübersäte Himmelsgewölbe. Fast in der Mitte dieses Himmels, gerade über dem Pretschistenskij-Boulevard, stand der riesengroße helle Komet von 1812, von allen Seiten von Sternen umringt und umstreut, von denen allen er sich jedoch durch seinen nahen Stand zur Erde, durch sein weißes Licht und seinen langen, nach oben gerichteten Schweif deutlich abhob, jener Komet, der, wie man sagte, alles nur mögliche Unheil und das Ende der Welt ankündigte.
Aber in Pierre erweckte dieser glänzende Stern mit seinem langen leuchtenden Schweif keinerlei beängstigende Gefühle. Im Gegenteil, mit tränenfeuchten Augen blickte er freudig zu diesem hellen Gestirn empor, das in unsagbarer Geschwindigkeit den unermeßlichen Raum in parabolischer Linie durchflogen hatte, plötzlich wie ein in die Erde gebohrter Pfeil auf diesem von ihm selbst gewählten Platz am dunklen Himmel stehen geblieben war, sich mit energisch erhobenem Schweif dort aufgepflanzt hatte und nun zwischen den unzähligen anderen funkelnden Sternen mit seinem weißen Licht glitzerte und spielte. Und Pierre schien es, als spiegle dieses Gestirn all die Gefühle wider, die seine weichgestimmte Seele erstarken und zu neuem Leben erblühen ließen.