Vierter Teil

1

Zu Anfang des Jahres 1806 fuhr Rostow auf Urlaub nach Hause. Denissow reiste ebenfalls in seine Heimat, nach Woronesch, und Rostow überredete ihn, mit nach Moskau zu fahren und im Hause seiner Eltern Quartier zu nehmen. Auf der vorletzten Station hatte Denissow einen Kameraden getroffen und drei Flaschen Wein mit ihm getrunken, und so lag er denn nun, als sie sich Moskau näherten, neben Rostow auf dem Boden des Postschlittens und schlief trotz des holperigen Weges fest, während Rostow, je näher sie Moskau kamen, immer ungeduldiger und ungeduldiger wurde.

Sind wir denn noch nicht bald da? Diese endlosen Straßen, Läden, Kalatschen[79], Laternen und Fuhrleute! dachte Rostow, als sie bereits in Moskau eingefahren und am Schlagbaum ihren Urlaubspaß vorgezeigt hatten.

»Denissow! Wir sind da! Er schläft«, rief er und beugte sich mit dem ganzen Körper vor, als hoffe er, durch diese Haltung die Fahrt des Schlittens zu beschleunigen.

Denissow rührte sich nicht.

»Da ist die Straßenecke, wo immer Sachar, der Droschkenkutscher, hielt. Und da ist er wirklich auch selber, der Sachar, und hat auch noch dasselbe Pferd … Und da ist das Büdchen« wo wir uns immer Pfefferkuchen kauften. Schneller! Schneller!«

»Nach welchem Hause denn?« fragte der Kutscher.

»Zu dem großen dort, an der Ecke, siehst du das nicht? Da ist unser Haus«, rief Rostow. »Endlich, endlich unser Haus! Denissow, Denissow! Wir sind gleich da!«

Denissow hob den Kopf, räusperte sich und gab keine Antwort.

»Dimitrij«, wandte sich Rostow an den Diener, der auf den Bock saß, »ist dort bei uns nicht noch Licht?«

»Jawohl, gewiß, auch der Herr Papa hat im Arbeitszimmer noch Licht.«

»Ob sie sich schon schlafen gelegt haben? Wie? Was denkst du? Hör mal, vergiß nicht, mir gleich meine neue Husarenjacke herauszugeben«, fügte Rostow hinzu und strich über sein neues Bärtchen.

»Vorwärts, vorwärts, fahr zu!« rief er den Kutscher an. »Aber so wach doch auf, Waska!« wandte er sich an Denissow, der wieder den Kopf hingelegt hatte. »Vorwärts, vorwärts! Drei Rubel Trinkgeld bekommst du, schnell, schnell!« schrie er dem Kutscher zu, als der Schlitten nur noch drei Häuser von der Einfahrt entfernt war.

Ihm kam es vor, als kämen die Pferde nicht von der Stelle. Endlich bog der Schlitten nach rechts zur Einfahrt hinüber, und Rostow sah über seinem Haupt das bekannte Gesims mit dem abgebröckelten Stuck, erblickte vor sich den Prellstein, den Treppenaufgang. Er sprang noch im Fahren aus dem Schlitten heraus und stürmte in den Vorsaal. Das Haus stand stumm und teilnahmslos, als kümmere es sich nicht darum, wer seine Hallen betrat. Im Flur war niemand.

Mein Gott, sie werden doch alle wohlauf sein? dachte Rostow und hielt bangen Herzens einen Augenblick an, stürmte dann aber sogleich weiter den Flur entlang und die wohlbekannten, schiefgetretenen Stufen hinauf. Dieselbe altertümliche Türklinke, über die sich die Gräfin immer so ärgerte, wenn sie nicht blank geputzt war, ließ sich noch ebenso leicht und reibungslos aufklinken. Im Vorzimmer brannte nur ein Talglicht.

Der alte Michail schlief auf der Truhe. Prokofij, der Fahrdiener, der so stark war, daß er einen Wagen am Hintergestell in die Höhe heben konnte, saß in einer Ecke und flocht Schuhe aus Tuchkanten. Als die Tür aufging, sah er sich um, und der gleichgültige, verschlafene Ausdruck seines Gesichtes verwandelte sich plötzlich in Schrecken und Begeisterung.

»Gott und alle Heiligen! Der junge Graf!« rief er aus, als er den jungen Herrn erkannte. »Ist es möglich? Unser lieber, guter junger Herr!« Und Prokofij stürzte, vor Aufregung zitternd, nach der Tür des Salons, wahrscheinlich, um ihn anzumelden, überlegte sich das dann aber anders, kehrte wieder um und küßte seinem jungen Gebieter Hand und Schulter.

»Sind alle wohlauf?« fragte Rostow und entzog ihm seine Hand.

»Gott sei Dank, ja, alle, Gott sei Dank. Sie haben eben erst zu Abend gegessen. So lassen Sie sich doch anschauen, Euer Erlaucht.«

»Und steht sonst alles gut?«

»Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Rostow, der gar nicht an Denissow dachte, wollte sich nicht anmelden lassen, warf seinen Pelz ab und eilte auf den Zehen durch den großen dunklen Saal. Alles war hier wie immer: dieselben Lombertische, derselbe verhängte Kronleuchter. Doch jemand hatte den jungen Herrn schon gesehen, und so kam er denn nicht bis zum Salon, eine Seitentür flog auf, und wie der Sturmwind brauste etwas heran, umarmte und küßte ihn. Noch ein zweites, ein drittes Wesen sprang aus dieser und aus jener Tür, wieder folgten Umarmungen, Küsse, Freudenschreie, Freudentränen. Er konnte gar nicht unterscheiden, wo und welcher der Papa, wer Natascha und wer Petja war. Alle schrien, sprachen und küßten ihn zu gleicher Zeit. Nur die Mutter war nicht dabei – das merkte er gleich.

»Und ich habe gar nicht gewußt … Nikoluschka … mein Lieber!«

»Da ist er … unser Junge … mein lieber Kolja. Hast du dich verändert! Macht doch Licht! Man soll gleich Tee bringen!«

»Aber so küß mich doch!«

»Mich auch … Liebling!«

Sonja, Natascha, Petja, Anna Michailowna, Wera und der alte Graf umarmten ihn, dann kamen auch die Diener und die Stubenmädchen herein, füllten das ganze Zimmer und begrüßten ihn mit lautem Freudengeschrei.

Petja klammerte sich an seine Beine.

»Mich auch, mich auch!« schrie er.

Natascha, die ihn zu sich herabgezogen und sein Gesicht ganz mit Küssen bedeckt hatte, ließ nun von ihm ab, hielt sich am Saum seiner Husarenjacke fest und hüpfte wie ein Ziegenböckchen immer auf derselben Stelle auf und nieder, wobei sie ein durchdringendes Freudengeheul ausstieß.

In aller Augen strahlte Liebe, schimmerten Freudentränen und von allen Seiten drängten sich ihm Lippen zum Kuß entgegen.

Sonja, rot wie ein Mohnröschen, hielt ebenfalls seine Hand fest und suchte in strahlender Glückseligkeit seine Augen, nach denen sie sich so gesehnt hatte. Sie war nun schon sechzehn Jahre alt und bildhübsch, besonders in diesem Augenblick glücklichen, erregten Entzückens. Sie sah ihn an und verwandte kein Auge von ihm, lächelte und hielt den Atem an. Dankbar erwiderte er ihren Blick, suchte und wartete aber immer noch auf jemanden. Die alte Gräfin war noch nicht da. Da hörte man Schritte vor der Tür. Doch diese Schritte kamen so schnell näher, daß es unmöglich die Schritte seiner Mutter sein konnten.

Doch sie war es in einem neuen Kleide, das während seiner Abwesenheit gemacht worden war, so daß er es noch nicht kannte. Alle ließen von ihm ab, und er eilte auf sie zu. Als sie einander erreicht hatten, sank sie schluchzend an seine Brust. Sie konnte ihr Gesicht nicht aufheben und preßte es nur gegen die kalten Schnüre seiner Husarenjacke. Da trat Denissow, der von keinem bemerkt worden war, ins Zimmer, blieb an der Tür stehen, sah alle an und rieb sich die Augen.

»Wassilij Denissow, ein Freund Ihres Sohnes«, sagte er, sich dem alten Grafen vorstellend, der ihn fragend ansah.

»Herzlich willkommen! Ich weiß, ich weiß«, sagte der Graf und umarmte und küßte Denissow. »Nikoluschka hat es mir geschrieben … Natascha, Wera, hier ist Denissow!«

Und dieselben glücklichen, aufgeregten Gesichter wandten sich nun der struppigen Gestalt Denissows zu und umringten ihn.

»Mein herzallerliebster Denissow!« schrie Natascha, sprang außer sich vor Freude auf ihn zu und umarmte und küßte ihn. Alle gerieten über dieses Benehmen Nataschas etwas in Verlegenheit. Auch Denissow wurde rot, aber er ergriff lachend Nataschas Hand und küßte sie.

Denissow wurde in das für ihn bereitgehaltene Zimmer geführt, während sich die Rostows alle im Diwanzimmer um Nikoluschka versammelten.

Die alte Gräfin ließ die Hand ihres Sohnes, die sie immer wieder und wieder küßte, nicht los und setzte sich neben ihn. Die übrigen drängten sich rings um die beiden, haschten nach seinen Worten, Gesten und Blicken und wandten die verliebt entzückten Augen nicht von ihm ab. Bruder und Schwester stritten miteinander, wer neben ihm sitzen durfte, schnappten sich diesen bevorzugten Platz gegenseitig vor der Nase weg und prügelten sich sogar, weil jeder ihm den Tee, das Taschentuch und seine Pfeife herbeiholen wollte.

Rostow war sehr glücklich über diese Liebe, die man ihm erwies, aber der erste Augenblick des Wiedersehens war so glückselig gewesen, daß ihm das jetzige Glück fast klein dagegen erschien und er immer noch mehr, immer noch mehr erwartete.

Am nächsten Morgen schliefen die Angekommenen von der Reise aus und standen erst gegen zehn Uhr auf.

Im Vorzimmer lagen Säbel, Säcke, Taschen, geöffnete Koffer und schmutzige Stiefel bunt durcheinander. Zwei Paar geputzte Reitstiefel mit Sporen hatte man soeben an die Wand gestellt. Die Diener brachten Waschbecken, heißes Wasser zum Rasieren und die ausgebürsteten Uniformen. Es roch nach Tabak und Männern.

»He! Grischka! Meine Pfeife!« rief Waska Denissows heisere Baßstimme.

»Rostow, steh auf!«

Rostow rieb sich die verschlafenen Augen und hob den zerzausten Kopf aus den warmen Kissen.

»Was ist? Schon so spät?«

»Und ob, es ist zehn Uhr«, erwidert Nataschas Stimme. Aus dem Nebenzimmer hörte man das Rascheln frischgestärkter Kleider, flüsternde und lachende Mädchenstimmen, und durch die kaum merklich offenstehende Tür schimmerten blaue Bänder, schwarzes Haar und lustige Gesichter. Es war Natascha mit Sonja und Petja, die gekommen waren, um nachzusehen, ob er noch nicht aufgestanden sei.

»Nikolenka, steh auf!« hörte man wieder Nataschas Stimme an der Tür.

»Gleich, gleich!«

In diesem Augenblick riß Petja, der im Vorzimmer die Säbel erblickte und einen davon ergriffen hatte, in jener Begeisterung, die Jungen beim Anblick eines großen Bruders, der beim Militär steht, zu empfinden pflegen, die Tür auf, ohne daran zu denken, daß für Schwester und Base der Anblick unbekleideter Männer unpassend war.

»Ist das dein Säbel?« rief er.

Die Mädchen prallten zurück. Denissow versteckte mit erschrockenen Augen seine behaarten Beine unter der Decke und sah sich hilfesuchend nach dem Kameraden um. Petja rannte durch die Tür und warf sie hinter sich zu. Aus dem Vorzimmer hörte man Gekicher.

»Nikolenka, komm doch im Schlafrock heraus!« ertönte wieder Nataschas Stimme.

»Ist das dein Säbel?« fragte Petja. »Oder gehört er Ihnen?« wandte er sich in ehrerbietigem Ton an den schwarzen, bärtigen Denissow.

Rostow schlüpfte rasch in die Schuhe, zog den Schlafrock über und kam heraus. Natascha hatte den einen Reitstiefel angezogen und stieg soeben in den anderen hinein. Sonja wirbelte wie ein Kreisel um sie herum und wollte sich eben mit aufgeblähtem Kleid auf die Erde setzen, als Nikoluschka hereinkam.

Sie hatten beide gleiche neue blaue Kleider an und sahen frisch, rosig und heiter aus. Sonja lief davon, Natascha aber henkelte sich beim Bruder ein und führte ihn ins Diwanzimmer. Hier fingen sie an zu schwatzen. Kaum daß sie einander über die tausenderlei Kleinigkeiten, die nur sie allein interessieren konnten, Rede und Antwort stehen konnten. Natascha lachte bei jedem Wort, das er oder sie sagte, nicht etwa, weil das, was sie sich zu erzählen hatten, komisch gewesen wäre, sondern weil sie einfach nicht imstande war, ihre Freude, die sich durch Lachen äußern mußte, zurückzuhalten.

»Ach, das ist herrlich, famos!« sagte sie zu allem.

Rostow fühlte, wie unter den Strahlen dieser warmen Liebe zum erstenmal wieder nach einem halben Jahr in seinem Herzen und auf seinem Gesicht jenes Kinderlächeln aufstieg, das nicht ein einziges Mal, seit er von zu Hause fort war, über ihn gekommen war.

»Hör mal«, sagte sie, »bist du jetzt ein richtiger Mann? Ich freue mich schrecklich, daß du mein Bruder bist.« Sie strich über seinen Schnurrbart. »Ich möchte zu gern wissen, wie ihr seid, ihr Männer. So wie wir? Nein?«

»Warum ist Sonja weggelaufen?« fragte Rostow.

»Ja, das ist eine ganze Geschichte. Wie wirst du Sonja nennen? ›Du‹ oder ›Sie‹?«

»Wie es gerade kommt«, erwiderte Rostow.

»Sage ›Sie‹ zu ihr, bitte, ich erzähle dir nachher warum. Nein, ich will es dir lieber gleich sagen. Du weißt doch, daß Sonja mein Freund ist, ein Freund, für den ich den Arm ins Feuer lege. Da sieh her!«

Sie streifte den Ärmel ihres Musselinkleidchens auf und zeigte an ihrem langen, dünnen, zarten Arme weit oberhalb des Ellbogens fast unter der Schulter, an einer Stelle, die selbst in Balltoilette bedeckt bleibt, auf ein rotes Mal.

»Das habe ich mir eingebrannt, um ihr meine Liebe zu beweisen. Habe einfach ein Lineal im Feuer heiß gemacht und es dann daraufgedrückt.«

Wie Rostow so auf dem alten Sofa mit den gepolsterten Armlehnen in seinem früheren Schulzimmer saß und in Nataschas wilde, lebhafte Augen sah, fühlte er sich wieder in jene Kinderwelt seiner Familie zurückversetzt, die nur für ihn allein Sinn und Bedeutung hatte und ihm einer der schönsten Genüsse des Lebens gewesen war. Deshalb erschien ihm auch das Verbrennen des Armes mit einem Lineal zum Zeichen der Freundschaft nicht unsinnig: er hatte Verständnis dafür und es befremdete ihn nicht im geringsten.

»Nun und dann? Ist das alles?« fragte er.

»Also solche Freunde sind wir, solche Freunde! Das mit dem Lineal ist ja nur Unsinn, aber wir sind eben Freunde fürs ganze Leben. Wenn sie einmal jemanden lieb hat, dann ist es bei ihr auch auf ewig. Das verstehe ich eigentlich nicht, ich vergesse so etwas immer gleich wieder.«

»Na, und was nun weiter?«

»Ja, so liebt sie mich eben und – auch dich.«

Natascha wurde auf einmal rot.

»Weißt du noch, bevor du abreistest … nun will sie, du solltest es vergessen … Sie hat zu mir gesagt: ›Ich werde ihn ewig lieben, er aber soll frei sein.‹ Nicht wahr, das ist doch wundervoll, das ist doch edel! Nicht wahr? Nicht wahr? Riesig edel! Nicht?« fragte Natascha so ernsthaft und aufgeregt, daß man deutlich merkte, daß sie das, was sie jetzt sagte, vorher unter Tränen besprochen hatte.

Rostow wurde nachdenklich.

»Ich nehme niemals ein gegebenes Wort zurück«, sagte er. »Und dann ist Sonja so entzückend, daß der ein Narr wäre, der auf ein solches Glück verzichten wollte.«

»Nein, nein, nein!« rief Natascha. »Darüber haben wir schon gesprochen. Das wußten wir ja, daß du dies sagen würdest. Das geht aber nicht, weißt du, wenn du das sagst, dann hältst du dich doch für gebunden, und es sähe dann so aus, als habe sie es mit Absicht gesagt. Dann würdest du sie doch nur gezwungen heiraten, und es käme etwas ganz anderes dabei heraus.«

Rostow merkte, daß die beiden sich das alles genau überlegt hatten. Sonja hatte schon gestern durch ihre Anmut einen großen Eindruck auf ihn gemacht. Heute war sie ihm noch reizender vorgekommen, obgleich er sie nur ganz flüchtig gesehen hatte. Sie war ein entzückendes, sechzehnjähriges Mädchen, das offenbar leidenschaftlich in ihn verliebt war, daran zweifelte er nicht einen Augenblick. Warum sollte er sie also nicht lieben und später einmal heiraten? dachte Rostow. Aber jetzt hatte er ja noch so viele andere Freuden und Beschäftigungen. Ja, das ist ein guter Gedanke von ihnen, dachte er, man muß frei bleiben.

»Na, auch schön«, sagte er. »Wir reden später noch mal darüber. Ach, wie freue ich mich, daß ich dich wiederhabe«, fügte er hinzu. »Na, aber wie steht’s mit dir? Bist du Boris auch nicht untreu geworden?« fragte der Bruder.

»Ach, das waren ja nur Kindereien!« rief Natascha lachend. »Weder an ihn noch an irgendeinen anderen denke ich jetzt, will gar nichts von ihnen allen wissen.«

»So, so. An was denkst du denn?«

»Ich?« fragte Natascha zurück, und ein glückliches Lächeln überstrahlte ihr Gesicht. »Hast du Duport gesehen?«

»Nein.«

»Den berühmten Tänzer Duport[80] hast du nicht gesehen? Nun, dann kannst du das auch nicht verstehen. Nun paß mal auf!«

Natascha bog die Arme rund, faßte ihr Röckchen wie beim Ballett, lief ein paar Schritte zurück, drehte sich um, machte einen Kreuzsprung, schlug die Füßchen aneinander, erhob sich auf die äußersten Fußspitzen und trippelte ein paar Schritte nach vorn.

»Siehst du, wie ich stehe? Siehst du das?« rief sie, aber schon konnte sie sich nicht mehr auf den Zehen halten. »Das ist es, woran ich denke! Keinen werde ich zum Mann nehmen, ich will Tänzerin werden. Aber du darfst keinem Menschen etwas davon sagen!«

Rostow fing so laut und lustig an zu lachen, daß Denissow in seinem Zimmer ganz neidisch wurde. Auch Natascha konnte sich nicht mehr halten und stimmte fröhlich in sein Gelächter ein.

»Nicht, das ist doch fein?« fragte sie immer dazwischen.

»Schön, also den Boris willst du nicht mehr heiraten?«

Natascha fuhr auf.

»Ich will überhaupt nicht heiraten, auch keinen anderen. Das werde ich ihm selber sagen, wenn ich ihn sehe.«

»So, so«, sagte Rostow.

»Aber das ist ja alles dummes Zeug«, fuhr Natascha zu schwatzen fort. »Hör mal, ist Denissow ein guter Mensch?« fragte sie.

»Ja.«

»Na, also leb wohl, zieh dich an! Braucht man keine Bange vor ihm zu haben, vor Denissow?«

»Warum denn Bange?« fragte Nicolas. »Nein, Waska ist ein sehr netter Kerl.«

»Du nennst ihn Waska? … Merkwürdig. Also ist er wirklich ein guter Mensch?«

»Ein sehr guter Kerl.«

»Na, komm nur schnell, wir wollen Tee trinken. Es sind schon alle versammelt.«

Und Natascha hob sich wieder auf die Zehen und ging so aus dem Zimmer ab, wie es Tänzerinnen zu tun pflegen, aber ihr Lächeln dabei war so, wie nur glückliche fünfzehnjährige Mädchen lächeln können.

Als Rostow im Salon mit Sonja zusammentraf, wurde er rot. Er wußte nicht recht, wie er ihr begegnen sollte. Gestern in der ersten Freude des Wiedersehens hatten sie sich geküßt, aber heute fühlten sie, daß sie es nicht mehr tun durften. Er merkte deutlich, daß alle, sowohl die Mutter als auch die Schwestern, ihn fragend ansahen und darauf gespannt waren, wie er sich gegen sie benehmen werde. Er küßte ihr die Hand und nannte sie »Sie« und Sonja. Aber ihre Augen sagten, wenn sie sich trafen, »du« zueinander und küßten sich zärtlich. Sie bat ihn durch einen Blick um Verzeihung, daß sie gewagt hatte, ihn durch ihre Abgesandte, Natascha, an sein Versprechen zu erinnern, und sagte ihm Dank für seine Liebe. Er dankte ihr mit einem Blick dafür, daß sie ihm die Freiheit angeboten hatte, und sagte ihr, daß er, so oder so, doch niemals aufhören werde, sie gern zu haben, weil es eben einfach unmöglich sei, sie nicht zu lieben.

»Das ist aber doch merkwürdig«, sagte Wera in einem Augenblick, als alle schwiegen, »daß Sonja und Nikolenka jetzt ›Sie‹ zueinander sagen und sich wie Fremde begegnen.«

Weras Worte waren ganz zutreffend wie alle ihre Bemerkungen, aber die ganze Familie empfand wie bei allem, was Wera sagte, ein peinliches Gefühl, und nicht nur Sonja, Nikolaj und Natascha, sondern auch die alte Gräfin wurde rot wie ein junges Mädchen, weil sie immer fürchtete, diese Liebe ihres Sohnes zu Sonja könne ihn einmal um eine glänzende Partie bringen.

Da erschien Denissow im Salon, zu Rostows Verwunderung in einer nagelneuen Uniform, pomadisiert und parfümiert, genauso, wie er sich vor einer Schlacht gezeigt hatte, und erwies sich den Damen gegenüber als ein so liebenswürdiger Kavalier, wie es Rostow niemals von ihm erwartet hätte.

2

Als Rostow aus dem Feld auf Urlaub nach Moskau zurückgekehrt war, hatte man ihn im Elternhaus als Helden, als besten Sohn und Herzens-Nikoluschka aufgenommen. Die übrigen Verwandten empfingen ihn als lieben, neuen, achtbaren jungen Mann und seine Bekannten als hübschen Husarenleutnant, flotten Tänzer und als eine der besten Partien von ganz Moskau.

Die Rostows waren mit der ganzen Stadt bekannt. Der alte Graf hatte in diesem Jahr genügend Geld, weil er alle seine Güter neu mit Hypotheken belastet hatte, und Nikoluschka, der sich ein eignes Pferd hielt und die allermodernsten Reithosen von ganz besonderem Schnitt, wie sie in Moskau noch kein Mensch kannte, und dazu die allerelegantesten Stiefel mit ganz schmalen Spitzen und kleinen silbernen Sporen trug, verbrachte deshalb seine Zeit auf höchst vergnügte Weise. Vom Feld zurückgekehrt, empfand er es als ein angenehmes Gefühl, nach längerer Unterbrechung wieder die alten Gewohnheiten aufzunehmen. Er kam sich sehr männlich und erwachsen vor. An seine frühere Verzweiflung über ein nicht bestandenes Religionsexamen, an das Anpumpen Gawrilas um Geld für Droschkenfahrten, an seine heimlichen Küsse mit Sonja – an all das erinnerte er sich jetzt nur noch als an Kindereien, die weit, weit hinter ihm lagen. Jetzt war er Husarenleutnant, trug den silberverschnürten Dolman und das Georgskreuz auf der Brust und fuhr seinen Traber mit bekannten, vornehmen, älteren Sportsleuten zusammen zum Rennen ein. Abends besuchte er eine Dame, die am Boulevard wohnte. Er tanzte auf dem Ball bei den Archarows die Masurka vor, unterhielt sich mit dem Feldmarschall Kamenskij über den Krieg, besuchte den englischen Klub und nannte sich mit einem vierzigjährigen Obersten »du«, den er durch Denissow kennen gelernt hatte.

Seine leidenschaftliche Liebe für den Zaren verblaßte etwas in Moskau. Da er ihn nicht mehr sah und ihn zu sehen auch keine Gelegenheit hatte, sprach er oft von ihm und von seiner Zarenverehrung, ließ aber durchfühlen, daß er nicht alles aussprach, und daß da in seinem Gefühl für den Kaiser noch etwas war, was nicht alle verstehen konnten. Von ganzem Herzen teilte er das allgemeine Gefühl der Vergötterung, das die ganze Hauptstadt für den Kaiser Alexander Pawlowitsch empfand, dem man damals in Moskau den Beinamen »der verkörperte Engel« gegeben hatte.

Während seiner kurzen Urlaubszeit in Moskau kam Rostow Sonja nicht nur nicht näher, sondern wurde ihr im Gegenteil weit fremder. Sie war sehr hübsch und reizend und sichtlich leidenschaftlich in ihn verliebt, aber er befand sich jetzt in den Jahren, wo so viel auf einen jungen Mann einstürmt, daß er anscheinend gar nicht die Zeit hat, sich mit so etwas zu beschäftigen, weil er fürchtet, sich dadurch zu binden und seine Freiheit zu verlieren, die er doch über alles schätzt und für so vieles andere noch nötig hat. Wenn er während seines jetzigen Aufenthaltes in Moskau an Sonja dachte, so sagte er sich: Ach was, es gibt doch so viele, so viele, die ebenso sind und nicht nur hier, auch anderswo, die ich noch nicht kenne. Dazu werde ich immer Gelegenheit haben, mich mit der Liebe abzugeben, wenn ich einmal Lust dazu verspüre. Jetzt habe ich zu so etwas keine Zeit. Außerdem fand er weibliche Gesellschaft für seine Männerwürde erniedrigend. Zwar besuchte er Bälle und bewegte sich in Damengesellschaft, aber er gab sich den Anschein, als täte er es nur widerwillig. Die Rennen, der englische Klub, Zechereien mit Denissow, seine Besuche bei der Dame am Boulevard – das war etwas anderes, das stand einem schneidigen Husaren wohl an.

Anfang März war der alte Graf Ilja Andrejewitsch Rostow damit beauftragt worden, im englischen Klub ein Festessen zum Empfang Bagrations zu veranstalten.

Der Graf ging im Schlafrock im Saal auf und ab und erteilte dem Ökonomen und dem Koch des Englischen Klubs, dem berühmten Feoktist, Aufträge auf Spargel, frische Gurken, Erdbeeren, Kalbfleisch und Fische zum Festessen für den Fürsten Bagration. Der Graf war seit Gründung des Klubs dessen Mitglied und Vorstand. Ihm waren vom Klub die Vorbereitungen dieses Diners für Bagration übertragen worden, weil sonst wohl kaum jemand zu finden gewesen wäre, der ein Festessen so großzügig und gastlich auszurichten verstanden hätte, und hauptsächlich auch deshalb, weil sich selten jemand fand, der so von seinen eignen Mitteln zuschießen konnte und auch wollte, wenn die für das Essen angesetzte Summe einmal nicht ausreichte. Der Koch und der Ökonom hörten die Befehle des Grafen mit schmunzelnden Gesichtern an, weil sie wußten, daß bei einem solchen Diner, das mehrere tausend Rubel kostete, sie unter keiner anderen Leitung ihr Schäfchen so ins trockne bringen konnten wie unter der seinen.

»Und hörst du, Hahnenkämme, Hahnenkämme in die soupe en tortue, du weißt doch!«

»Also drei kalte Platten?« fragte der Koch.

Der Graf dachte nach.

»Ja, weniger ist nicht gut möglich, drei … erstens die Mayonnaise …« sagte er und bog einen Finger dazu ein.

»Befehlen Sie dazu die ganz großen Sterlets?« fragte der Ökonom.

»Je nun … Nimm sie nur, auch wenn die Händler nicht mit den Preisen heruntergehen. Aber, mein Gott, das hätte ich ja beinahe vergessen: wir brauchen ja noch eine andere Vorspeise. Und dann, ihr Heiligen!« Er griff sich verzweifelt an den Kopf. »Wer soll mir denn die Blumen besorgen? Mitenka! He, Mitenka! Reite mal schleunigst aufs Gut hinaus«, wandte er sich an den auf seinen Ruf herbeigeeilten Verwalter, »und sage dem Gärtner Maxim, er solle gleich alle Leute zur Fronarbeit antreten lassen. Sage ihm, er soll mir die ganze Orangerie hereinschaffen, soll aber alles gut in warme Decken einpacken. Daß ich bis zum Freitag wenigstens zweihundert Töpfe hier habe!«

Nachdem er noch diesen und jenen Befehl erteilt hatte, wollte er gerade zur Gräfin hinübergehen, um sich ein wenig zu erholen, als ihm noch etwas Wichtiges einfiel und er noch einmal umkehrte, den Koch und den Ökonomen zurückrief und abermals Befehle zu erteilen begann. Da hörte man flüchtige Männerschritte und Sporenklirren an der Tür, und herein trat der junge Graf mit seinem schwarzen Schnurrbärtchen, hübsch, frisch und gesund, er hatte sich bei dem ruhigen Leben in Moskau sichtlich erholt.

»Ach du bist es, mein Junge! Mir schwirrt der Kopf nur so«, sagte der Alte mit einem Lächeln, als schäme er sich vor seinem Sohn. »Du könntest mir auch ein bißchen helfen! Ich muß doch noch Sänger haben. Musik ist ja da, aber soll ich nicht lieber Zigeuner bestellen? Ihr Soldaten habt ja so etwas gern.«

»Wirklich, Papachen, ich glaube, die Schlacht bei Schöngrabern hat dem Fürsten Bagration weniger Kopfzerbrechen gemacht als Ihnen jetzt die Vorbereitung für dieses Diner«, versetzte der Sohn lachend.

Der alte Graf stellte sich erzürnt.

»Ja, du hast gut reden, mach du’s nur mal.«

Und der Graf wandte sich an den Koch, der mit ehrerbietig verschmitztem Gesicht daneben stand und Vater und Sohn aufmerksam und wohlgefällig beobachtete.

»So ist die Jugend von heutzutage, nicht war, Feoktist?« sagte der alte Graf. »Lacht uns alte Leute einfach aus!«

»Ja, ja, Durchlaucht, sie wollen nur immer gut essen, wie aber alles vorbereitet und serviert werden muß, darum kümmern sie sich nicht.«

»So ist es«, fiel der Graf ein, faßte seinen Sohn vergnügt an beiden Händen und rief: »Siehst du, du kommst mir gerade wie gerufen! Du kannst mal gleich mit dem zweispännigen Schlitten zum Grafen Besuchow fahren und ihm sagen, Graf Ilja Andrejewitsch ließe ihn um Erdbeeren und frische Ananas bitten. Die gibt es nämlich außer bei ihm nirgendwo. Er selber ist nicht da, du kannst es aber, wenn du hinkommst, den Prinzessinnen sagen. Und von dort aus fährst du dann gleich mal auf den Rasguljai-Platz – der Kutscher Ipatka weiß schon Bescheid – und machst dort den Zigeuner Iljuschka ausfindig, du weißt, der damals beim Grafen Orlow im weißen Kosakenrock tanzte, und den bringst du mir hierher.«

»Soll ich die Zigeunerinnen auch gleich mitbringen?« fragte Nikolaj lachend. »Na, na!«

In diesem Augenblick trat Anna Michailowna mit ihrer ewig besorgten, geschäftigen und dabei christlich sanften Miene mit kaum hörbaren Schritten ins Zimmer. Obgleich Anna Michailowna den Grafen jeden Morgen im Schlafrock antraf, wurde er doch jedesmal, wenn sie kam, wieder verlegen und bat wegen dieses Anzugs um Entschuldigung.

»Aber ich bitte Sie, mein lieber Graf«, sagte sie und schlug bescheiden die Augen nieder. »Zu Besuchow möchte ich selber einmal hinfahren«, fuhr sie fort. »Pierre ist zurückgekommen, Graf, wir können deshalb aus seinen Gewächshäusern alles bekommen. Ich muß sowieso einmal zu ihm hin. Er hat mir einen Brief von Boris geschickt. Gott sei Dank ist Boris jetzt beim Stabe.«

Der Graf war sehr erfreut, daß Anna Michailowna einen Teil seiner Aufträge übernahm, und ließ ihr sogleich den kleinen Schlitten anspannen.

»Sagen Sie Besuchow, daß er auch kommen soll. Ich werde seinen Namen auf die Liste setzen. Was hat er eigentlich mit seiner Frau?« fragte er.

Anna Michailowna machte einen bedeutsamen Augenaufschlag, und ein tiefer Kummer prägte sich auf ihrem Gesicht aus.

»Ach, mein Freund, er ist sehr unglücklich«, erwiderte sie. »Wenn das alles wahr ist, was man gehört hat, ist es einfach entsetzlich. Hätte man das gedacht, als man sich so über sein Glück freute! Und dieses edle, himmlische Gemüt dieses jungen Besuchow! Ja, ich bedaure ihn von ganzem Herzen und werde mich bemühen, ihm Trost zu spenden, soweit es in meiner Macht steht.«

»Ja, was ist denn geschehen?« fragten beide Rostows, der alte und der junge, zugleich.

Anna Michailowna seufzte tief auf.

»Es heißt, dieser Dolochow, der Sohn der Maria Iwanowna«, sagte sie in geheimnisvollem Flüsterton, »habe seine Frau gänzlich kompromittiert. Pierre hatte ihm vorwärts geholfen, ihn in sein Haus nach Petersburg eingeladen und da … Sie ist dann hierher abgereist und dieser Tollkopf ihr nach …« fuhr Anna Michailowna fort in der Absicht, ihr Mitgefühl für Pierre zum Ausdruck zu bringen, bekundete aber durch ihren Tonfall und ein halbes Lächeln unwillkürlich mehr Mitgefühl für den Tollkopf, wie sie Dolochow nannte.

»Pierre soll durch diesen Kummer ganz niedergeschmettert sein.«

»Na, sagen Sie ihm nur auf jeden Fall, daß er in den Klub kommen soll. Das wird schon alles wieder vorübergehen. Sagen Sie ihm, daß es ein Götterschmaus werden wird.«

Am nächsten Tag, dem dritten März, erwarteten die zweihundertundfünfzig Mitglieder des Englischen Klubs nebst fünfzig geladenen Gästen ihren Ehrengast und Helden des österreichischen Feldzuges, den Fürsten Bagration, um zwei Uhr zum Festessen.

In der ersten Zeit nach dem Eintreffen der Nachricht von der Schlacht bei Austerlitz war ganz Moskau im Zweifel gewesen. Man war damals in Rußland so sehr an Siege gewöhnt, daß, als die Meldung von dieser Niederlage kam, die einen es einfach nicht glaubten, während andere die Erklärung eines so merkwürdigen Ereignisses in irgendwelchen außergewöhnlichen Umständen suchten. Im Englischen Klub, wo alles das zusammenkam, was von Bedeutung war und die sichersten Nachrichten erhielt, sprach man im Monat Dezember überhaupt nicht über den Krieg und die letzte Schlacht, als seien alle stillschweigend übereingekommen, darüber kein Wort zu verlieren. Alle die, welche sonst den Ton anzugeben pflegten, wie Graf Rastoptschin[81], Fürst Jurij Wladimirowitsch Dolgorukow, Walujew, Graf Markow, Fürst Wjasemskij, ließen sich im Klub nicht sehen und kamen nur in ihren eignen Häusern im intimen Kreis zusammen, und so standen denn die übrigen Moskauer, die immer nur nachsagten, was ihnen die anderen vorredeten – zu ihnen gehörte auch Ilja Andrejewitsch Rostow –, den Kriegsangelegenheiten eine kurze Zeit lang ziemlich urteilslos gegenüber, da sie ohne Führer waren. Sie fühlten, daß hier irgend etwas nicht stimmte, daß diese schlimmen Nachrichten schwer zu beurteilen waren, und es deshalb das beste sei, zu schweigen. Doch nach einiger Zeit erschienen, wie die Geschworenen aus dem Beratungszimmer, auch die im Klub tonangebenden Matadore wieder auf der Bildfläche, und alles wurde klar und deutlich besprochen. Man hatte für die unglaubliche, unerhörte und unmögliche Tatsache, daß die Russen geschlagen worden waren, nun die Gründe gefunden, alles wurde mit einemmal klar, und in allen Ecken und Enden Moskaus sagte man ein und dasselbe. Diese Gründe aber waren: der Verrat der Österreicher, die schlechte Verproviantierung der Truppen, die Treulosigkeit des Polen Przebyszewski und des Franzosen Langeron, die Unfähigkeit Kutusows und, was nur heimlich hinzugefügt wurde, die Jugend und Unerfahrenheit des Kaisers, der schlechten und unbedeutenden Männern sein Vertrauen geschenkt hatte. Aber die Truppen, die russischen Truppen waren gewesen wie noch nie, das sagten alle, und hatten Wunder der Tapferkeit vollbracht. Die Soldaten, die Offiziere, die Generäle waren Helden. Und der Held aller Helden war Fürst Bagration, der durch das Gefecht bei Schöngrabern und seinen Rückzug von Austerlitz Berühmtheit erlangt hatte, wo seine Kolonne die einzige gewesen war, die unaufgelöst zurückgewichen war, nachdem sie einen ganzen Tag einem doppelt so starken Feind standgehalten hatte. Auch daß Bagration nirgends Verbindungen hatte und ganz fremd war, wirkte noch mit, um ihn zum Helden von ganz Moskau zu machen. Man erwies in seiner Person dem einfachen Krieger, dem russischen Soldaten, der keine Begünstigungen und Intrigen zu seinem Vorwärtskommen brauchte, die schuldige Ehre. Zudem war sein Name noch durch Erinnerungen an den italienischen Feldzug mit dem Namen Suworows verknüpft. Außerdem konnte man dadurch, daß man ihm soviel Ehre erwies, am besten seine Mißbilligung und Abneigung gegen Kutusow zum Ausdruck bringen.

»Wenn es keinen Bagration gäbe, il faudrait l’inventer«, hatte der witzige Schinschin, das bekannte Wort Voltaires variierend, gesagt. Von Kutusow sprach kein Mensch, einige schimpften im stillen auf ihn und nannten ihn eine Hofschranze, die den Mantel nach dem Wind hänge, oder einen alten Satyr.

Ganz Moskau wiederholte die Worte des Fürsten Dolorukow: »Wer immer nur leimt und immer nur leimt, muß schließlich auch einmal der Geleimte sein.« Und so tröstete man sich mit der Erinnerung an frühere Siege über diese Niederlage hinweg, und überall hörte man den Ausspruch Rastoptschins, der französische Soldat müsse vor der Schlacht mit hochtrabenden Phrasen angefeuert werden, dem deutschen müsse man vorher logisch auseinandersetzen, daß zu fliehen für ihn gefährlicher sein würde als vorzugehen, den russischen Soldaten aber müsse man nur immer zurückhalten und bitten: »Nicht so stürmisch, nicht so stürmisch!« Von allen Seiten hörte man immer neue und neue Geschichten über einzelne Beispiele der Tapferkeit, die unsere Soldaten und Offiziere bei Austerlitz bewiesen hatten. Bald hatte einer eine Fahne gerettet, bald ein anderer fünf Franzosen erschlagen, bald ein einziger Mann fünf Kanonen auf einmal bedient. Auch von Berg wurde erzählt, von Leuten, die ihn gar nicht kannten, daß er, an der rechten Hand verwundet, den Degen in die linke genommen habe und so vorgegangen sei. Von Bolkonskij sprach kein Mensch; nur die ihn näher kannten, bedauerten, daß er so jung hatte sterben müssen und seine junge Frau so kurz vor ihrer Niederkunft nun allein bei seinem Vater, diesem Sonderling, zurückgeblieben war.

3

Am 3. März schwirrten wie Bienenschwärme im Frühling durch alle Räume des Englischen Klubs lustige Stimmen, und die Mitglieder und Gäste, in Uniform oder Frack, zum Teil auch noch im Kaftan und mit gepudertem Haar, promenierten auf und ab, saßen und standen herum oder traten zu Gruppen zusammen und auseinander. Gepuderte Diener in Livree mit Halbschuhen und langen Strümpfen standen an jeder Tür und warteten gespannt auf einen Wink der Gäste und Klubmitglieder, um gleich zu Diensten sein zu können. Die Mehrzahl der Anwesenden waren alte, ehrwürdige Herren mit breiten, selbstbewußten Gesichtern, dicken Fingern, sicheren Bewegungen und stahlharten Stimmen. Sie saßen auf ihren gewohnten Stammplätzen oder hatten sich zu den üblichen Gruppen zusammengefunden. Die andere, kleinere Hälfte der Anwesenden bestand aus zufälligen Gästen, hauptsächlich aus jungen Leuten, unter denen sich auch Denissow, Rostow und Dolochow befanden, der nun wieder Offizier im Semjonower Regiment geworden war. Auf den Gesichtern der jungen Leute, hauptsächlich der Offiziere, lag jener Ausdruck geringschätziger Ehrerbietung gegen das Alter, die der alten Generation zu sagen scheint: »Wir sind ja bereit, euch zu achten und zu ehren, aber vergeßt nicht, daß wir es sind, denen die Zukunft gehört.«

Neswizkij war, als altes Mitglied des Klubs, ebenfalls da. Pierre, der auf Verlangen seiner Frau sich die Haare wachsen ließ, die Brille abgenommen hatte und nach der letzten Mode gekleidet ging, schritt traurig und mit niedergeschlagener Miene durch den Saal. Ihn umringte hier wie überall dieselbe Schar Menschen, die sich alle vor seinem Reichtum beugten, er aber, gewohnt zu herrschen, behandelte sie mit zerstreuter Geringschätzung.

Seinem Alter nach hätte er sich zur Jugend halten müssen, seinem Reichtum aber und seinen Verbindungen nach gehörte er zu dem Kreis der älteren, ehrwürdigen Mitglieder und Gäste, und deshalb ging er von einer Gruppe zur anderen. Die vornehmsten älteren Herren bildeten immer den Mittelpunkt eines Kreises, zu dem dann ehrerbietig auch Unbekannte hinzutraten, um diese bekannten Größen reden zu hören. Ein großer Kreis hatte sich um den Grafen Rastoptschin, um Walujew und Naryschkin gebildet. Rastoptschin erzählte, wie russische Soldaten durch fliehende Österreicher so eingekeilt gewesen seien, daß sie sich mit dem Bajonett einen Weg durch die Fliehenden hätten bahnen müssen.

Walujew teilte ganz im Vertrauen mit, daß Uwarow aus Petersburg hierher gesandt sei, um das Urteil der Moskauer über Austerlitz in Erfahrung zu bringen.

In einem dritten Kreise erzählte Naryschkin von einer Sitzung des österreichischen Kriegsrats, wo Suworow als Antwort auf die Dummheiten der österreichischen Generäle wie ein Hahn gekräht habe. Schinschin, der daneben stand, wollte einen Witz machen und sagte, daß Kutusow anscheinend nicht einmal diese unschwere Kunst, wie ein Hahn zu krähen, von Suworow gelernt habe, aber die alten Herren sahen den Witzbold nur streng an und gaben ihm dadurch zu verstehen, daß es bei einer solchen Gelegenheit und an einem solchen Tage höchst unpassend sei, so über Kutusow zu sprechen.

Graf Ilja Andrejewitsch Rostow eilte geschäftig in seinen weichen Stiefeln aus dem Speisesaal in den Salon und wieder zurück, begrüßte hastig und immer in derselben Weise sowohl die bedeutenden als auch die unbedeutenden Persönlichkeiten, die er alle kannte, suchte ab und zu seinen schlanken, schneidigen Sohn mit den Augen, ließ seine Blicke stolz auf ihm ruhen und nickte ihm zu. Der junge Rostow stand mit Dolochow am Fenster, den er erst kürzlich kennengelernt hatte, und dessen Bekanntschaft er sehr schätzte. Der alte Graf trat auf die beiden zu und drückte Dolochow die Hand.

»Besuche uns doch einmal! Du bist ja mit meinem Recken hier bekannt … ihr habt ja doch zusammen … zusammen heldenhaft gekämpft … Ah, Wassilij Ignatitsch! Wie geht’s, alter Freund?« wandte er sich an einen vorübergehenden alten Herrn, aber er hatte seine Begrüßung noch nicht zu Ende gesprochen, als alles in Bewegung geriet, da ein Diener hereingelaufen war und mit erschrockenem Gesicht gemeldet hatte: »Die Herrschaften geruhen zu kommen!«

Man hörte Klingelzeichen, die Vorstandsmitglieder stürzten nach vorn. Die in den verschiedenen Zimmern zerstreuten Gäste drängten sich wie Roggenkörner, die man auf einen Haufen zusammengeschaufelt hat, an einer Stelle zusammen und nahmen im großen Salon an der Saaltür Aufstellung.

Bagration erschien in der Tür des Vorzimmers, ohne Hut und Degen, die er, wie es im Klub Sitte war, beim Portier abgegeben hatte. Er trug diesmal keine Lammfellmütze und keine Nagaika über der Schulter, wie ihn Rostow in der Nacht vor der Schlacht bei Austerlitz gesehen hatte, sondern eine neue, enganliegende Uniform mit vielen russischen und ausländischen Orden und dem Georgenstern auf der linken Brustseite. Er hatte sich sichtlich noch soeben vor dem Festessen das Haar und den Bart schneiden lassen, wodurch sein Gesicht unvorteilhaft verändert schien. Der naiv feierliche Ausdruck, den es jetzt zeigte, wirkte auf seinen männlichen, wetterharten Zügen sogar etwas komisch. Bekleschow und Fjodor Petrowitsch Uwarow, die mit ihm zusammen gekommen waren, blieben an der Tür stehen in der Absicht, ihn, als den Ehrengast, zuerst eintreten zu lassen. Bagration wurde verwirrt und wollte diese Höflichkeit nicht annehmen, es entstand eine Verzögerung an der Tür, und endlich trat Bagration doch als erster ein. Verlegen und unfrei, ohne zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte, schritt er über das Parkett des Empfangszimmers: gewohnter und freier wäre es ihm gewesen, inmitten eines Kugelregens über einen frischgepflügten Acker zu laufen, wie er bei Schöngrabern dem Kursker Regiment vorangegangen war. Die Herren vom Vorstand waren ihm bis zur ersten Tür entgegengegangen, sprachen hier ein paar Worte, daß sie sich freuten, einen so teuren Gast bei sich zu sehen, umringten ihn dann, ohne eine Antwort abzuwarten, als wollten sie sich seiner ganz bemächtigen, und führten ihn in den Salon. Es war aber gar nicht möglich, durch die Tür zum Salon hindurchzukommen, weil sich hier alle Gäste und Mitglieder zusammengeschart hatten, einander drängten und stießen und einer dem anderen über die Schulter zu sehen versuchte, um Bagration wie ein seltenes Tier anzustaunen. Graf Ilja Andrejewitsch lachte und rief energischer als alle anderen: »Machen Sie Platz, mon cher, machen Sie Platz!« Er drängte die Menge zurück, geleitete so die Gäste in den Salon und ließ sie auf einem Sofa in der Mitte Platz nehmen. Die Matadore, die vornehmsten Mitglieder des Klubs, scharten sich von neuem um die Ehrengäste, Graf Ilja Andrejewitsch brach sich noch einmal Bahn durch die Menge und verließ den Salon, um gleich darauf mit einem anderen Vorstandsmitglied wieder zu erscheinen, der eine große silberne Schale in der Hand trug, die er dem Fürsten Bagration präsentierte. Auf der Schale lag ein gedrucktes Gedicht, das zu Ehren des Helden verfaßt war. Bagration sah die Schale an und blickte sich erschrocken und hilfesuchend um. In allen Augen las er die Forderung, daß er dies annehmen solle. Da er sich ganz in der Gewalt der anderen fühlte, ergriff er mit beiden Händen entschlossen die Schale und sah den Grafen, der sie ihm gereicht hatte, grimmig und vorwurfsvoll an. Doch einer der Umstehenden nahm Bagration dienstfertig die Schale wieder ab – sonst hätte er sie wahrscheinlich den ganzen Abend so in den Händen gehalten und wäre auch mit ihr zu Tisch gegangen – und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Gedicht. Meinetwegen, auch das werde ich lesen, schien Bagrations Miene zu sagen. Er heftete seine müden Augen auf das Papier und schickte sich an, mit aufmerksamer, ernster Miene zu lesen. Doch der Dichter selber griff nach dem Blatt und las die Verse vor. Fürst Bagration senkte das Haupt und hörte zu.

»Heil dir und Ruhm![82]« ruft Alexanders Reich,

Hältst vor dem Throne unsres Zaren Wacht,

Dem Feind ein Graus und edler Mensch zugleich,

Ein Fels dem Vaterland, ein Cäsar in der Schlacht.

Selbst der sonst siegreiche Napoleon

Verspürt’ die wucht’gen Hiebe von Bagration,

Nun wagt er nicht mehr, Rußlands tapfre Söhne …

Aber er hatte das Gedicht noch nicht zu Ende gelesen, als der Haushofmeister mit lauter Stimme meldete: »Es ist angerichtet!« Die Türen zum Speisesaal taten sich auf, und dröhnend spielte die Musik als Polonäse:

Donner des Sieges,

weithin ertöne,

Freuet euch,

Rußlands tapfere Söhne!

Graf Ilja Andrejewitsch warf dem Dichter, der gar nicht auf hören wollte, seine Verse vorzulesen, einen wütenden Blick zu und verbeugte sich vor Bagration. Alle erhoben sich in dem Gefühl, daß das Essen wichtiger sei als die Verse, und wieder schritt Bagration allen voran zu Tisch. Er saß obenan, zwischen Bekleschow und Naryschkin, die beide den Vornamen Alexander führten. Diesem Zufall wurde im Hinblick auf den Namen des Kaisers eine sinnige Bedeutung beigemessen. Dann verteilten sich die übrigen Gäste nach Rang und Würden an der Tafel, so daß die Vornehmsten den Ehrengästen am nächsten saßen, und das in so natürlicher Weise, wie das Wasser abzufließen pflegt, je mehr sich die Landschaft nach unten senkt.

Kurz vor dem Essen stellte Graf Ilja Andrejewitsch dem Fürsten noch seinen Sohn vor. Bagration, der ihn wiedererkannte, wechselte ein paar Worte mit ihm, die genau so unbedeutend und gezwungen waren wie alles andere auch, was er an diesem Tag sagte. Während Bagration mit Nikolaj sprach, sah sich Graf Ilja Andrejewitsch froh und stolz im Kreise um.

Nikolaj Rostow, Denissow und ihr neuer Bekannter Dolochow saßen zusammen fast in der Mitte der Tafel. Ihnen gegenüber saß Pierre neben dem Fürsten Neswizkij. Graf Ilja Andrejewitsch hatte mit anderen Vorstandsmitgliedern Bagration gerade gegenüber Platz genommen und versorgte, gewissermaßen als verkörperte Moskauer Gastfreundlichkeit, den Fürsten mit Speise und Trank.

Seine Mühe war nicht vergeblich gewesen. Alle Gänge, sowohl die Fastenspeisen als auch die Fleischgerichte, waren hervorragend, und doch konnte er sich, ehe nicht die letzte Platte herumgereicht war, einer gewissen Unruhe nicht erwehren. Er winkte dem Büfettmeister zu, erteilte flüsternd den Dienern Befehle und erwartete mit Herzklopfen jedes der ihm wohlbekannten Gerichte. Alles war ausgezeichnet. Beim zweiten Gang, den Riesensterlets, bei deren Anblick Ilja Andrejewitsch vor Freude und Verlegenheit ganz rot wurde, ließen die Diener bereits die Pfropfen knallen und fingen an, den Champagner einzugießen. Nach dem Fisch, der allgemeines Staunen hervorgerufen hatte, wechselte Graf Ilja Andrejewitsch mit den anderen Vorstandsmitgliedern rasche Blicke. »Es wird viele Toaste geben, also muß ein Anfang gemacht werden!« flüsterte er, nahm das Glas in die Hand und stand auf. Alles verstummte und wartete, was er sagen werde.

»Auf das Wohl unseres Herrn und Kaisers!« rief er, und seine gutmütigen Augen füllten sich mit Tränen der Freude und der Begeisterung. Im selben Augenblick setzte die Musik wieder ein mit: »Donner des Sieges, weithin ertöne …« Alle standen von ihren Plätzen auf und schrien: »Hurra!« Auch Bagration schrie: »Hurra!« mit derselben Stimme, mit der er es auf dem Feld bei Schöngrabern gerufen hatte. Doch aus all den dreihundert Stimmen hörte man die des jungen Rostow am meisten heraus. Er weinte beinahe. »Auf das Wohl unseres Herrn und Kaisers!« schrie er, »Hurra!« Und in einem Zuge trank er sein Kelchglas aus und schleuderte es zu Boden. Viele folgten seinem Beispiel, und lange noch hallten die lauten Rufe wider. Als alle endlich verstummt waren, sammelten die Lakaien die Scherben auf, man nahm wieder Platz und fuhr, lächelnd über das Geschrei, in der Unterhaltung fort. Da erhob sich Graf Ilja Andrejewitsch abermals, warf noch einen schnellen Blick auf ein Zettelchen, das neben seinem Teller lag, und brachte, wobei sich seine blauen Augen wiederum mit Tränen füllten, einen Toast auf das Wohl des Helden unseres letzten Feldzuges, auf den Fürsten Pjotr Iwanowitsch Bagration, aus. »Hurra!« schrien wieder alle dreihundert Gäste, und statt der Musik setzte jetzt ein Sängerchor; ein, der eine von Pawel Iwanowitsch Kutusow[83] verfaßte Kantate vortrug:

Und bietet uns die ganze Welt den Krieg,

Der Russen Tapferkeit erringt den Sieg.

Wenn ein Bagration uns führt zum Streit,

Ist jeder Feind dem sichern Tod geweiht.

Kaum hatten die Sänger zu Ende gesungen, als immer wieder neue und neue Toaste ausgebracht wurden, bei denen Graf Ilja Andrejewitsch immer mehr in Rührung geriet, immer mehr Gläser zerschlagen wurden und immer lauter geschrien wurde. Man trank auf das Wohl Bekleschows, Narysdikins, Uwarows, Dolgorukows, Apraxins, Walujews, auf das Wohl des Vorstandes und Festausschusses, auf das Wohl aller Klubmitglieder und ihrer Gäste und endlich ganz besonders auf das Wohl des Veranstalters des heutigen Essens, auf das Wohl des Grafen Ilja Andrejewitsch. Als dieser Toast ausgebracht wurde, zog der Graf sein Taschentuch hervor, bedeckte sein Gesicht damit und weinte nun wirklich.

4

Pierre saß Dolochow und Nikolaj Rostow gegenüber. Er aß viel und mit großem Appetit und trank dazu eine ganze Menge wie immer. Aber alle, die ihn näher kannten, sahen, daß seit dem heutigen Tag eine große Veränderung mit ihm vorgegangen war. Er sagte während des ganzen Essens kein Wort, sah sich mit zusammengekniffenen Augen und finsterer Stirn rings um oder starrte mit vollkommen zerstreuter Miene auf irgend etwas hin und fuhr sich dabei mit dem Finger an die Nase. Er sah niedergeschlagen und finster aus. Nichts von alledem, was rings um ihn her vorging, schien er zu sehen und zu hören und nur immer über etwas Schweres, Unlösbares nachzugrübeln.

Diese unlösbare, quälende Frage war heraufbeschworen worden durch eine Anspielung der bei ihm in Moskau wohnenden Prinzessin auf die nahen Beziehungen Dolochows zu seiner Frau und durch einen anonymen Brief, den er heute morgen erhalten hatte, und in dem in jenem gemeinen, spöttischen Ton, der allen anonymen Briefen eigen ist, gesagt wurde, daß er doch trotz seiner Brille noch recht kurzsichtig sei, denn die Beziehungen seiner Frau zu Dolochow seien niemandem ein Geheimnis außer ihm allein. Obgleich Pierre ganz entschieden weder den Anspielungen der Prinzessin noch dem anonymen Brief glaubte, so war es ihm doch jetzt fürchterlich, diesen Dolochow anzusehen, der da vor ihm saß. Jedesmal, wenn sein Blick zufällig den hübschen frohen Augen Dolochows begegnete, hatte Pierre das Gefühl, als ob etwas Entsetzliches, Scheußliches in seiner Seele aufstünde, und er wandte sich hastig ab. Während unwillkürlich das ganze frühere Leben seiner Frau und ihre Beziehungen zu Dolochow an seiner Seele vorüberzogen, erkannte Pierre deutlich, daß alles, was in dem Brief gesagt wurde, wahr sei, zum mindesten wahr sein konnte, wenn es sich hierbei nicht um seine Frau gehandelt hätte. Unwillkürlich dachte Pierre daran, wie Dolochow, der nach dem Feldzug wieder in alle seine Rechte eingesetzt worden war, nach Petersburg zurückgekehrt und gleich zu ihm gekommen war. Sich auf seine Freundschaft zu Pierre aus jener früheren tollen Zeit berufend, war er geradewegs zu ihm ins Haus gekommen; Pierre hatte ihn aufgenommen und ihm Geld geliehen. Jetzt fiel es Pierre ein, wie Helene lächelnd ihre Unzufriedenheit darüber, daß Dolochow bei ihnen im Hause lebe, geäußert und Dolochow ihm zynisch die Reize seiner Frau angepriesen und sich bis zu ihrer Abreise nach Moskau nicht einen Augenblick von ihnen getrennt hatte.

Ja, so ein Mensch ist das, dachte Pierre, ich kenne ihn. Es hätte für ihn einen besonderen Reiz, meinen Namen zu schänden und sich über mich lustig zu machen, gerade deshalb, weil ich mich um ihn bemüht, ihn aufgenommen und ihm geholfen habe. Ich kenne ihn, verstehe, wie gerade das in seinen Augen den Betrug würzen würde, wenn es wirklich wahr wäre. Ja, wenn es wahr wäre, aber ich glaube es nicht, habe kein Recht, es zu glauben, und kann es auch nicht glauben. Er dachte an den Ausdruck, den Dolochows Gesicht manchmal anzunehmen pflegte, wenn er irgendeine Grausamkeit beging, wie zum Beispiel damals, als er den Revieraufseher mit dem Bären zusammengekoppelt und ins Wasser geworfen hatte, oder jemanden ohne jeden Grund zum Duell herausgefordert oder das Pferd eines Fuhrmanns mit der Pistole niedergeschossen hatte. Dieser Ausdruck hatte sich jetzt wieder häufig auf Dolochows Gesicht gezeigt, wenn er Pierre angesehen hatte. Ja, er ist ein Raufbold, dachte Pierre, es macht ihm nichts aus, einen Menschen umzubringen; er muß denken, alle Leute fürchten ihn, und das ist ihm anscheinend angenehm. Vielleicht glaubt er auch, daß ich ihn fürchte. Und tatsächlich fürchte ich ihn ja auch, dachte Pierre und fühlte bei diesem Gedanken wieder, daß etwas Entsetzliches, Scheußliches in seiner Seele aufstieg.

Dolochow, Denissow und Rostow saßen Pierre gegenüber und schienen sehr vergnügt zu sein. Rostow unterhielt sich lustig mit seinen zwei Freunden, von denen der eine ein flotter Husar, der andere ein bekannter Raufbold und Tunichtgut war, und schielte ab und zu spöttisch zu Pierre hinüber, der bei diesem Essen durch seine Versunkenheit und Zerstreutheit sowie durch seine massige Gestalt auffiel. Rostow stand Pierre wenig wohlwollend gegenüber, erstens, weil dieser nach seiner Ansicht als Husar weiter nichts als ein reicher Zivilist, der Mann einer schönen Frau und überhaupt weibisch und eine Memme war, und zweitens weil Pierre vorhin in seiner grüblerischen und zerstreuten Gemütsverfassung Rostow nicht sogleich erkannt und seinen Gruß nicht erwidert hatte. Als auf das Wohl des Kaisers getrunken wurde, war Pierre in Gedanken versunken sitzengeblieben und hatte nicht zum Glase gegriffen.

»Was ist mit Ihnen?« rief Rostow ihm zu und sah ihn mit begeisterten und entrüsteten Augen an. »Hören Sie denn nicht, daß auf das Wohl des Kaisers getrunken wird?«

Pierre seufzte, stand ruhig auf, trank sein Glas aus, wartete, bis sich die anderen wieder hinsetzten, und wandte sich dann mit seinem gutmütigen Lächeln an Rostow.

»Ich hatte Sie gar nicht erkannt«, sagte er. Aber Rostow hörte jetzt nicht auf ihn, er schrie weiter: »Hurra!«

»Warum erneuerst du denn deine Bekanntschaft mit ihm nicht?« fragte Dolochow Rostow.

»Ach, hol ihn der Teufel, er ist ein närrischer Kerl«, erwiderte Rostow.

»Mit den Männern schöner Frauen darf man es nicht verderben«, warf Denissow ein.

Pierre verstand nicht, was sie sagten, aber er wußte, daß sie über ihn sprachen. Er wurde rot und wandte sich ab.

»Jetzt auf das Wohl aller schönen Frauen«, rief Dolochow mit ernsthafter Miene, aber mit einem Lächeln in den Mundwinkeln, und wandte sich mit seinem Glase an Pierre.

»Auf das Wohl aller schönen Frauen und ihrer Liebhaber, Petruscha!« sagte er.

Pierre hob die Augen nicht auf und trank, ohne Dolochow anzusehen oder ihm eine Antwort zu geben, aus seinem Glas. Ein Diener, der die gedruckten Blätter der Kutusowschen Kantate verteilte, legte auch Pierre, als einem der vornehmsten Gäste, ein Exemplar hin. Gerade wollte er es aufnehmen, als sich Dolochow über den Tisch beugte, ihm das Blatt aus der Hand nahm und anfing zu lesen. Pierre sah Dolochow an, seine Augen bohrten sich ganz in ihn hinein, und das Entsetzliche, Widerliche, das ihn während des ganzen Mahles gequält hatte, stieg wieder in ihm auf und bemächtigte sich seiner ganz.

»Unterstehen Sie sich nicht, das Blatt wegzunehmen!« schrie er ihm zu.

Neswizkij und Pierres Nachbar zur Rechten wandten sich hastig und erschrocken an Besuchow, als sie die lauten Worte hörten und sahen, an wen sie gerichtet waren.

»Hören Sie auf! Seien Sie still! Was haben Sie denn?« flüsterten erschrockene Stimmen ringsum.

Dolochow sah Pierre mit lustig blitzenden, grausamen Augen und einem Lächeln an, als wollte er sagen: Das macht mir gerade Spaß!

»Ich gebe es nicht wieder her«, sagte er klar und deutlich.

Da riß ihm Pierre bleich und mit zitternden Lippen das Blatt aus der Hand.

»Sie … Sie sind … ein ganz gemeiner Mensch!… Ich fordere Sie!« schrie Pierre, stieß seinen Stuhl zurück und stand vom Tisch auf.

Im selben Augenblick, als Pierre dies tat und diese Worte aussprach, fühlte er, daß die Frage über die Schuld seiner Frau, die ihn in den letzten vierundzwanzig Stunden so sehr gequält hatte, nun endgültig, einwandfrei und entschieden mit Ja beantwortet war. Er haßte sie und war für immer von ihr geschieden.

Obgleich Denissow Rostow bat, sich nicht in diese Angelegenheit zu mischen, willigte dieser doch ein, Dolochows Sekundant zu sein, und besprach nach der Tafel mit Neswizkij, dem Sekundanten Besuchows, die Bedingungen zum Duell. Pierre war nach Hause gefahren, aber Rostow, Dolochow und Denissow saßen noch bis zum späten Abend im Klub und hörten sich die Zigeuner und Sänger an.

»Also morgen auf Wiedersehen in Sokolniki«, sagte Dolochow, als er sich auf der Freitreppe des Klubs von Rostow verabschiedete.

»Du bist so ruhig?« fragte Rostow.

Dolochow blieb stehen.

»Siehst du, in zwei Worten kann ich dir das ganze Geheimnis eines Duells offenbaren. Wenn man vor einem Duell sein Testament macht und zärtliche Briefe an seine Eltern schreibt, wenn man überhaupt nur daran denkt, daß man getötet werden könnte, so ist man ein Narr und wird sicherlich dran glauben müssen. Geht man aber mit der festen Absicht hin, seinen Gegner so schnell und so sicher wie möglich um die Ecke zu bringen, dann wird alles gut gehen. Wie mir unser Bärenjäger in Kostroma immer sagte: ›Natürlich muß man sich vor einem Bären fürchten, steht man ihm aber Aug in Auge gegenüber, ist die Furcht auch schon vorbei. Dann hat man nur noch die eine Angst, daß er entweichen könnte.‹ Siehst du, so geht es mir beim Duell. A demain, mon cher!«

Am nächsten Morgen war Pierre mit Neswizkij pünktlich um acht Uhr im Sokolnikiwäldchen zur Stelle und fand Dolochow, Denissow und Rostow bereits dort vor. Pierre machte den Eindruck eines Menschen, der mit Gedanken beschäftigt ist, die mit dem vorliegenden Fall nicht das mindeste zu tun haben. Sein eingefallenes Gesicht sah gelblich aus. Offenbar hatte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er sah sich zerstreut um und blinzelte mit den Augen wie bei grellem Sonnenlicht. Zwei Gedanken beschäftigten ihn ausschließlich: die Schuld seiner Frau, über die ihm nach dieser schlaflosen Nacht nicht der geringste Zweifel mehr verblieben war, und die Schuldlosigkeit Dolodiows, der doch keinerlei Grund gehabt hatte, die Ehre eines ihm fremden Menschen zu schonen. Vielleicht hätte ich an seiner Stelle auch nicht anders gehandelt, dachte Pierre. Ich hätte es sogar ganz sicherlich so gemacht. Warum also dieses Duell, dieser Mord? Entweder strecke ich ihn nieder oder er schießt mir eine Kugel durch den Kopf, durch den Ellbogen, durchs Knie. Man sollte von hier fortgehen, weglaufen, sich irgendwohin verstecken, schoß es ihm durch den Sinn. Doch im selben Augenblick, als ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, fragte er mit ruhiger, zerstreuter Miene, die jedem, der ihn ansah, Achtung einflößen mußte: »Geht es bald los? Sind Sie bereit?«

Als alles fertig war, die Säbel im Schnee steckten, die die Grenze bezeichnen sollten, bis zu welcher vorgegangen werden mußte, und die Pistolen geladen waren, trat Neswizkij auf Pierre zu.

»Ich würde meine Pflicht nicht erfüllen, Graf«, fing er mit zaghafter Stimme an, »und das Vertrauen und die Ehre, die Sie mir erwiesen, indem Sie mich zu Ihrem Sekundanten auserwählt haben, nicht rechtfertigen, wenn ich Ihnen in diesem ernsten, sehr ernsten Augenblick nicht die volle Wahrheit sagen würde. Ich bin der Ansicht, daß kein genügender Grund vorliegt, und die Sache gar nicht wert ist, daß ihretwegen Blut vergossen wird … Sie sind im Unrecht oder wenigstens nicht ganz im Recht, Sie waren erregt …«

»Ach ja, es war furchtbar dumm …« sagte Pierre.

»So gestatten Sie wohl, daß ich dem Gegner Ihr Bedauern übermittle; ich bin überzeugt, daß er bereit sein wird, Ihre Entschuldigungen entgegenzunehmen«, sagt Neswizkij, der wie auch die übrigen Teilnehmer und überhaupt alle, die sich in ähnlicher Lage befinden, noch nicht daran glaubte, daß es wirklich zu einem Duell käme. »Sie wissen, Graf, daß es bei weitem edler ist, einen Fehler einzugestehen, als eine Sache so weit zu treiben, daß sie nicht wiedergutzumachen ist. Eine Beleidigung liegt auf keiner Seite vor. Wenn Sie gestatten, werde ich noch einmal verhandeln …«

»Nein, was ist da noch zu verhandeln!« sagte Pierre. »Das ist ja alles ganz gleich … Also fertig?« fuhr er fort. »Sagen Sie mir nur noch, wohin ich gehen und wohin ich schießen muß«, fügte er mit einem unnatürlich sanften Lächeln hinzu.

Er nahm die Pistole in die Hand, fragte, wo man sie abdrücken müsse, da er bis auf den heutigen Tag noch nie eine Pistole in der Hand gehabt hatte, was er sich aber nicht merken lassen wollte.

»Ach ja, so war es, ich weiß, ich hatte es nur vergessen«, sagte er.

»Was da Entschuldigungen? Auf keinen Fall!« sagte Dolochow zu Denissow, der seinerseits auch einen Versöhnungsversuch gemacht hatte, und trat ebenfalls auf den ihm bezeichneten Platz.

Man hatte für das Duell eine kleine Lichtung im Fichtenwald ausgewählt, die etwa achtzig Schritt vom Wege, auf dem die Schlitten zurückgeblieben waren, entfernt lag und mit einer durch das Tauwetter der letzten Tage etwas zusammengeschmolzenen Schneedecke bedeckt war. Die Gegner standen, etwa vierzig Schritt voneinander entfernt, an den Rändern der Lichtung. Von dort, wo sie standen, bis an die Stelle, wo Neswizkijs und Denissows Säbel, die die Barriere bedeuten sollten, in den Schnee gesteckt waren, hatten die Sekundanten durch das Abmessen der Schritte in dem tiefen, weichen Schnee einen kleinen Weg gebahnt. Die Entfernung zwischen den Säbeln betrug zehn Schritt. Es taute immer noch und war neblig, so daß man auf vierzig Schritte nichts sehen konnte. Nach drei Minuten war alles fertig, aber man zögerte immer noch anzufangen. Alle schwiegen.

5

»Na los!« rief Dolochow.

»Auf was warten wir noch?« sagte Pierre, immer noch mit demselben Lächeln.

Allen war fürchterlich zumute. Es war klar, daß die Sache, die so leichthin angefangen hatte, jetzt nicht mehr aufzuhalten war, daß sie wie von selber, unabhängig von jedes Menschen Willen, ihren Lauf nahm und nun zu Ende geführt werden mußte. Denissow trat als erster bis an die Barriere vor und rief: »Da die Gegner eine Versöhnung abgelehnt haben, so wolle man bitte nun beginnen. Nehmen Sie die Pistolen und gehen Sie auf das Kommando ›Drei‹ aufeinander zu.«

»Eins … zwei … drei!« kommandierte Denissow zornig und trat beiseite.

Die beiden Gegner schritten in den vorgetretenen Wegen aufeinander zu und erkannten sich bald im Nebel. Sie hatten, während sie auf die Barriere zugingen, das Recht, zu schießen, wenn es ihnen beliebte. Dolochow ging langsam vor, hielt die Pistole gesenkt und sah dem Gegner mit seinen hellen, blitzenden blauen Augen fest ins Gesicht. Um seinen Mund spielte wie immer etwas wie ein Lächeln.

Pierre war bei dem Wort »Drei« mit hastigen Schritten vorwärts geeilt, war von dem gebahnten Weg abgekommen und im tiefen Schnee weitergegangen. Er hielt die Pistole vor sich in der ausgestreckten rechten Hand und hatte offenbar Angst, daß er sich selber damit verletzen könne. Die linke Hand hielt er sorgsam nach hinten, weil er immer in Versuchung war, die Rechte mit ihr zu unterstützen, und doch wußte, daß das nicht anging. Nachdem er sechs Schritte nach vorn und etwas abseits vom Weg in den Schnee gegangen war, sah er zuerst zu Boden, hob dann rasch seinen Blick zu Dolochow auf, streckte, wie man ihm gezeigt hatte, den Finger vor und schoß. Da er einen so starken Knall nicht erwartet hatte, fuhr er bei dem Schusse zusammen, lächelte aber dann selber über seinen Schreck und blieb stehen. Der Rauch, der infolge des Nebels besonders stark war, verhinderte ihn im ersten Augenblick, irgend etwas zu sehen, aber der Gegenschuß, auf den er wartete, erfolgte nicht. Er hörte nur die hastigen Schritte Dolochows und sah aus dem Rauch seine Gestalt auftauchen. Die eine Hand hatte er gegen die linke Seite gepreßt, die andere hing herunter und umklammerte krampfhaft die Pistole. Sein Gesicht war bleich. Rostow sprang auf ihn zu und sagte etwas zu ihm.

»Nei-ein«, stieß Dolochow zwischen den Zähnen hervor, »nein, nicht zu Ende.« Er machte noch ein paar unsichere, schwankende Schritte auf den Säbel zu und sank neben ihm in den Schnee. Seine linke Hand war voller Blut, er wischte sie an seinem Rock ab und stützte sich darauf. Er sah bleich und finster aus und zitterte.

»Wollen …« fing Dolochow an, konnte aber nicht zu Ende sprechen. »Wollen Sie bitte …« fügte er dann mit Anstrengung hinzu.

Pierre, der kaum ein Schluchzen unterdrücken konnte, lief auf Dolochow zu und wollte schon den Zwischenraum, der die Barrieren trennte, überschreiten, als Dolochow ihm zurief: »An die Barriere!« Da begriff Pierre, was er wollte, und blieb neben dem Säbel stehen. Sie waren nur noch zehn Schritte voneinander entfernt. Dolochow ließ den Kopf in den Schnee sinken, nahm lechzend etwas davon in den Mund, hob den Kopf wieder hoch, richtete sich auf, zog die Beine ein und setzte sich, um dadurch für die Last seines Körpers einen festen Halt zu bekommen. Er sog an dem kalten Schnee und schluckte ihn hinunter, seine Lippen zitterten, aber trotzdem lächelte er immer noch, und seine Augen blitzten vor Anstrengung und Feindseligkeit, während er seine letzten Kräfte sammelte. Er hob die Pistole auf und fing an zu zielen.

»Seitlich stellen! Sich mit der Pistole decken!« rief Neswizkij.

»Decken Sie sich doch!« schrie sogar Denissow, der sich nicht mehr halten konnte, seinem Gegner zu.

Pierre stand mit einem sanften Lächeln des Bedauerns und der Reue breitbeinig und die Arme auseinandergespreizt hilflos vor Dolochow da, bot ihm offen seine breite Brust und sah ihn traurig an. Denissow, Rostow und Neswizkij schlossen die Augen. Da hörten sie auch schon den Schuß Dolochows und gleichzeitig einen wütenden Schrei.

»Gefehlt!« schrie Dolochow und sank ohnmächtig mit dem Gesicht nach unten in den Schnee.

Pierre griff sich an den Kopf, wandte sich um, stampfte durch den hohen Schnee in den Wald hinein und stieß laut unzusammenhängende Worte aus.

»Dumm … dumm! Tod … Lüge …« wiederholte er immer wieder und runzelte die Stirn.

Neswizkij holte ihn ein und brachte ihn nach Hause.

Rostow und Denissow führten den verwundeten Dolochov zurück.

Dolochow lag schweigend und mit geschlossenen Augen im Schlitten und antwortete kein Wort auf die Fragen, die man ihm stellte. Als sie aber in Moskau einfuhren, kam er plötzlich zu sich, hob mit Mühe den Kopf hoch und ergriff Rostows Hand, der neben ihm saß. Rostow fiel der völlig veränderte, unerwartet zärtliche und erregte Ausdruck seines Gesichtes auf.

»Nun, wie steht’s? Wie fühlst du dich?« fragte Rostow.

»Schlecht. Aber das ist es nicht, mein Freund«, sagte Dolochow mit stockender Stimme. »Wo sind wir? In der Stadt, ich weiß. Mit mir hat das nichts auf sich, aber sie … sie habe ich getötet … Sie wird es nicht ertragen … sie wird es nicht ertragen …«

»Wer denn?« fragte Rostow.

»Meine Mutter. Meine engelsgute, angebetete Mutter.« Und Dolochow fing an zu weinen und drückte Rostows Hand.

Nachdem er etwas ruhiger geworden war, erzählte er Rostow, daß er mit seiner Mutter zusammen lebe und daß diese es niemals überleben würde, wenn sie ihn sterben sähe. Er flehte Rostow an, zu ihr hinzufahren und sie vorzubereiten.

Rostow fuhr voraus, um diesen Auftrag auszuführen, und erfuhr zu seinem größten Erstaunen, daß Dolochow, dieser Durchgänger und Raufbold, in Moskau mit einer alten Mutter und einer buckligen Schwester zusammen wohnte und der zärtlichste Sohn und Bruder war.

6

Pierre hatte seine Frau in letzter Zeit selten unter vier Augen gesehen. Sowohl in Petersburg als auch in Moskau hatten sie das Haus stets voller Gäste gehabt. In der auf das Duell folgenden Nacht ging er, wie er das oft zu tun pflegte, nicht in das Schlafzimmer, sondern blieb in dem großen Zimmer seines Vaters, in demselben, wo der alte Graf Besuchow gestorben war.

Er legte sich auf den Diwan und wollte schlafen, um alles zu vergessen, was mit ihm geschehen war, aber er konnte nicht. Ein solcher Sturm von Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen erhob sich plötzlich in seiner Seele, daß er keinen Schlaf finden, ja nicht einmal ruhig liegen bleiben konnte, sondern aufspringen und mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab gehen mußte. Und er sah sie vor sich, wie er sie in der ersten Zeit nach der Hochzeit gesehen hatte, mit nackten Brüsten und müdem, leidenschaftlichem Blick, aber sogleich tauchte neben ihr das hübsche, freche, spöttische Gesicht Dolochows auf, wie er es bei dem Festessen gesehen hatte, und dann wieder das bleiche, zuckende, leidende Gesicht jenes Dolochow, der sich umgewandt hatte und in den Schnee gesunken war.

Was ist geschehen? fragte er sich. Ich habe einen Liebhaber getötet, den Liebhaber meiner Frau getötet. Ja, das war es. Aber warum? Wie bin ich so weit gekommen?

Weil du sie geheiratet hast, antwortete eine Stimme in ihm.

Aber worin besteht denn meine Schuld? fragte er sich. Darin, daß du sie geheiratet hast, ohne sie zu lieben, darin, daß du sie und dich selber getäuscht hast. Und deutlich trat jener Augenblick nach dem Abendessen beim Fürsten Wassilij wieder vor seine Seele, wo er die Worte, die so lange nicht über seine Lippen gewollt hatten, endlich ausgesprochen hatte: »Je vous aime.« Und davon dies alles! Ich fühlte schon damals, dachte er, ich fühlte schon damals, daß es nicht so war, wie es sein sollte, und daß ich kein Recht dazu hatte. Und so ist nun auch alles gekommen.

Er dachte an seine Flitterwochen und errötete bei dieser Erinnerung. Besonders lebendig, verletzend und beschämend war für ihn die Erinnerung an einen Augenblick, wo er einmal kurz nach der Hochzeit mittags um zwölf Uhr im seidenen Schlafrock aus dem Schlafzimmer in sein Arbeitszimmer gegangen war und dort den Oberverwalter vorgefunden hatte, der sich ehrerbietig verbeugte und mit einem Blick auf Pierres Gesicht und seinen Schlafrock leicht gelächelt hatte, als wolle er durch dieses Lächeln seine ehrerbietige Teilnahme an dem Glück seines Herrn zum Ausdruck bringen.

Wie oft bin ich stolz auf sie gewesen, stolz auf ihre majestätische Schönheit, stolz auf ihr gesellschaftliches Taktgefühl, dachte Pierre, stolz auf mein Haus, in dem sie ganz Petersburg empfing, stolz auf ihre Unnahbarkeit und Schönheit. Und nun sehe ich, auf was ich stolz gewesen bin! Damals dachte ich, ich verstünde sie nicht. Wie oft habe ich mir gesagt, wenn ich mich in ihren Charakter hineinzudenken versuchte, daß es an mir liege, wenn ich sie nicht begriffe, wenn ich diese stete Ruhe und Befriedigung, dieses Fehlen aller Wünsche und Interessen nicht verstünde, und dabei war die ganze Lösung dieses Rätsels nur das eine furchtbare Wort, daß sie ein gemeines Weib ist. Nun ich dieses furchtbare Wort ausgesprochen habe, ist mir alles klar geworden!

Anatol kam zu ihr, um sich Geld von ihr zu borgen, und küßte sie auf die nackten Schultern. Das Geld gab sie ihm nicht, aber sie erlaubte ihm, sie zu küssen. Ihr Vater wollte sie einmal aus Scherz eifersüchtig machen, aber sie erwiderte lächelnd und in aller Ruhe, so dumm, eifersüchtig zu sein, sei sie nicht; ›mag er machen, was er will‹, sagte sie von mir. Einmal fragte ich sie, ob sie noch keine Anzeichen von Schwangerschaft fühle. Da lachte sie verächtlich und sagte, eine solche Gans sei sie nicht, sich Kinder zu wünschen, und von mir werde sie niemals welche haben.

Dann dachte er an ihre rohen und frechen Gedanken und an die gemeine Ausdrucksweise, die ihr eigen war, obgleich sie in den höchsten aristokratischen Kreisen erzogen worden war. »Ich bin doch nicht die erste beste Straßengans … lauf doch und versuch dein Glück … allez vous promener«, pflegte sie zu sagen. Oft, wenn er ihre Erfolge bei alten und jungen Männern und auch bei Frauen gesehen hatte, hatte er sich nicht erklären können, warum nur er allein sie nicht liebte. Ja, ich habe sie niemals geliebt sagte sich Pierre. Ich wußte, daß sie ein gemeines Weib ist, sagte er sich noch einmal, aber ich wagte nicht, es mir einzugestehen. Und nun Dolochow! Er liegt im Schnee, lächelt gezwungen und stirbt vielleicht, trotzt aber dennoch meiner Reue mit einem erkünstelten Heldentum.

Pierre war einer von denjenigen Menschen, die trotz ihrer äußeren sogenannten Charakterschwäche niemals einen Vertrauten für ihren Kummer suchen. Er verarbeitete sein Leid in sich allein.

Und an allem, an allem ist nur sie allein schuld, sagte er sich, aber was folgt daraus? Warum habe ich mich an sie gekettet und ihr dieses: »Je vous aime« gesagt, das eine Lüge, ja vielleicht noch schlimmer als eine Lüge war? Ich bin schuldig und muß es nun tragen … Aber was? Die Schande meines Namens, das Unglück meines Lebens? Ach was, das ist ja alles Unsinn, dachte er. Sowohl die Schande des Namens als auch die Ehre sind ja nur konventionelle Begriffe, das alles hängt doch ganz allein von mir selber ab. Ludwig der Sechzehnte wurde hingerichtet, ging es Pierre durch den Kopf, weil man sagte, er sei ein Ehrloser und ein Verbrecher, und die das sagten, hatten sicher von ihrem Standpunkt aus recht. Aber ebenso recht hatten auch diejenigen, die dann für ihn den Märtyrertod starben und ihn zu den Heiligen erhoben. Und später richteten sie auch einen Robespierre[84] hin, weil er ein Despot sein sollte. Wer war im Recht? Wer trug die Schuld? Niemand. Solange man lebt, soll man sich dieses Lebens freuen: morgen schon kann man sterben, wie mich vor einer Stunde der Tod hätte ereilen können. Lohnt es sich da nun, sich noch so zu quälen, wenn unser Leben im Vergleich zur Ewigkeit sowieso nur einen Augenblick währt?

Aber gerade, als er sich durch derartige Erwägungen etwas beruhigt fühlte, stieg sie wieder vor ihm auf in den Augenblicken, als er ihr am stärksten seine unaufrichtige Liebe gezeigt hatte, und er fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen schoß, so daß er wieder aufstehen, sich bewegen und alles, was ihm unter die Hände geriet, zerbrechen und zerreißen mußte. Warum habe ich zu ihr gesagt: »Je vous aime?« wiederholte er immer und immer wieder. Doch als er sich diese Frage ein dutzendmal vorgelegt hatte, fiel ihm ein Satz aus einem Molièreschen Lustspiel ein: »Mais que diable allait-il faire dans cette galère?« und er mußte über sich selber lachen.

Mitten in der Nacht rief er seinen Kammerdiener und befahl ihm zu packen, er wolle morgen nach Petersburg fahren. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er jetzt mit ihr sprechen sollte.

So beschloß er, am Morgen abzureisen und ihr einen Brief zu hinterlassen, in dem er ihr seine Absicht, sich auf immer von ihr zu trennen, mitteilen wollte.

Als am Morgen der Kammerdiener ins Zimmer trat und den Kaffee brachte, lag Pierre mit geschlossenen Augen, ein Buch in der Hand, auf dem Diwan und schlief.

Er kam zu sich, sah sich erschrocken um und konnte lange nicht begreifen, wo er sich befand.

»Die Frau Gräfin haben fragen lassen, ob Euer Erlaucht zu Hause seien«, meldete der Diener.

Aber Pierre hatte noch nicht Zeit gehabt, die Antwort zu finden, die er ihr geben wollte, als die Gräfin selber in einem Morgengewand von weißem, mit Silber besticktem Atlas und einfacher Frisur – sie hatte das Haar nur in zwei prächtigen Zöpfen wie ein Diadem zweimal um den Kopf geschlungen – ruhig und majestätisch ins Zimmer trat. Nur auf ihrer marmornen, etwas gewölbten Stirn lag eine Zornesfalte. In ihrer unerschütterlichen Ruhe sagte sie kein Wort, weil der Kammerdiener anwesend war. Sie wußte von dem Duell und wollte mit Pierre darüber sprechen. Aber sie wartete, bis der Kammerdiener den Kaffee serviert hatte und hinausgegangen war. Pierre sah sie durch seine Brille schüchtern an und versuchte, liegenzubleiben und weiterzulesen, wie ein Hase, der, von Hunden umringt, die Ohren zurücklegt und geduckt angesichts seiner Feinde liegenbleibt. Aber er fühlte, daß dies unsinnig und unmöglich war, und warf wieder einen schüchternen Blick auf sie. Sie sah ihn mit einem verächtlichen Lächeln an und wartete, ohne sich hinzusetzen, bis der Kammerdiener hinausgegangen sein würde.

»Was soll denn das nun wieder heißen? Was haben Sie da angestellt, frage ich Sie?« fing sie in strengem Ton an.

»Ich? Was ist denn mit mir?« erwiderte Pierre.

»Sie haben sich ja auf einmal als Held entpuppt! Aber so geben Sie mir doch eine Antwort, was war das für ein Duell? Was hat das zu bedeuten? Was, frage ich Sie!«

Pierre drehte sich schwerfällig auf dem Diwan um, machte den Mund auf, konnte aber kein Wort herausbringen.

»Wenn Sie mir keine Antwort geben, werde ich selber es Ihnen sagen«, fuhr Helene fort. »Sie haben all dem, was man Ihnen hinterbracht hat, Glauben geschenkt. Man hat Ihnen gesagt« – Helene fing an zu lachen –, »daß Dolochow mein Geliebter sei.« Sie sagte das auf französisch in der ihr eignen groben, unverblümten Redeweise, wobei sie das Wort »Geliebter« ebenso ungeniert aussprach wie alles übrige. »Und das haben Sie geglaubt! Aber was haben Sie nun dadurch bewiesen? Was haben Sie durch dieses Duell bewiesen? Nur das eine, daß Sie ein Dummkopf sind, que vous êtes un sot, was doch alle bereits wußten! Und was kommt bei alledem heraus? Weiter nichts, als daß sich ganz Moskau über mich lustig machen und jedermann sagen wird, daß Sie in sinnlos betrunkenem Zustand einen Menschen zum Duell herausgefordert haben, auf den Sie ohne jeden Grund eifersüchtig gewesen sind« – Helene hob ihre Stimme immer mehr und mehr und wurde immer lebhafter –, »einen Menschen, der in jeder Beziehung viel besser ist als Sie …«

»Hm … hm …« brummte Pierre mit finsterer Stirn, sah sie nicht an und rührte kein Glied.

»Und wie konnten Sie nur glauben, daß er mein Geliebter sei? … Warum? Weil ich seine Gesellschaft liebe? Wenn Sie klüger und angenehmer wären, zöge ich die Ihrige vor.«

»Sprechen Sie nicht mehr zu mir … ich bitte Sie …« stieß Pierre heiser hervor.

»Warum soll ich nicht reden? Ich habe das Recht dazu und kann wohl kühn behaupten, daß selten eine Frau zu finden sein wird, die sich bei einem solchen Mann, wie Sie sind, keine Liebhaber hielte. Ich aber habe es nicht getan!« setzte sie hinzu.

Pierre wollte etwas erwidern, sah sie mit sonderbaren Augen an, deren Ausdruck sie nicht verstand, legte sich aber wieder hin. Er litt in diesem Augenblicke physisch: seine Brust war ihm wie zusammengepreßt, er konnte kaum Atem holen. Er wußte, daß er etwas tun mußte, um diesem Leiden ein Ende zu machen, aber das, was er versucht war zu tun, war zu entsetzlich.

»Es ist das beste … wenn wir uns trennen«, stieß er abgerissen hervor.

»Uns trennen, meinetwegen, aber nur, wenn Sie für meinen Unterhalt aufkommen«, sagte Helene. »Uns trennen! Also damit wollen Sie mich ins Bockshorn jagen!«

Pierre sprang vom Diwan auf und stürzte taumelnd auf sie zu.

»Ich schlage dich tot!« schrie er, riß mit einer ihm bisher unbekannten Kraft die Marmorplatte vom Tisch, trat einen Schritt auf sie zu und holte gegen sie aus.

Helenes Gesicht verzerrte sich vor Entsetzen, sie kreischte auf und sprang beiseite. Die Natur seines Vaters trat bei ihm zutage. Pierre ließ sich von seiner rasenden Wut hinreißen und empfand ihren Reiz. Er schleuderte die Marmorplatte zu Boden, daß sie zerbrach, stürzte mit vorgestreckten Armen auf seine Frau zu und schrie: »Hinaus!« mit einer so furchtbaren Stimme, daß alle im Hause voller Entsetzen sein Schreien hörten. Gott mag wissen, was Pierre in diesem Augenblick noch getan hätte, wenn Helene nicht aus dem Zimmer geflohen wäre.

Acht Tage später erteilte Pierre seiner Frau eine Vollmacht für die Nutzung aller seiner Güter in Großrußland, welche die größere Hälfte seines Vermögens ausmachten, und reiste allein nach Petersburg ab.

7

Zwei Monate waren vergangen, seit man in Lysyja-Gory die Nachricht erhalten hatte, daß die Schlacht bei Austerlitz verloren und Fürst Andrej vermißt war, doch trotz aller Erkundigungsbriefe durch die Gesandtschaft und trotz aller Nachforschungen war es weder gelungen, seinen Leichnam aufzufinden, noch seinen Namen in den Gefangenenlisten zu ermitteln. Diese Ungewißheit war für die Angehörigen schlimmer als alles, denn es blieb ihnen doch nur noch die einzige Hoffnung, daß Fürst Andrej von Einwohnern auf dem Schlachtfeld aufgelesen worden war und nun genesend oder sterbend irgendwo allein, mitten unter Fremden, lag und nicht imstande war, ihnen Nachricht zu geben.

In den Zeitungen, aus denen der alte Fürst zuerst etwas über die Niederlage bei Austerlitz erfahren hatte, war nur, wie immer, kurz und unbestimmt mitgeteilt worden, daß die Russen nach einer glänzenden Schlacht gezwungen gewesen seien, sich zurückzuziehen, und sich dieser Rückzug völlig ordnungsgemäß vollzogen habe. Dieser offiziellen Nachricht entnahm der alte Fürst, daß unsere Truppen geschlagen waren. Acht Tage später als die Zeitung, die ihm die Nachricht von der Schlacht bei Austerlitz gebracht hatte, kam ein Brief von Kutusow, der dem Fürsten über das Schicksal, das seinen Sohn betroffen hatte, Mitteilung machte.

»Ihr Sohn ist vor meinen Augen«, schrieb Kutusow, »an der Spitze des Regiments mit der Fahne in der Hand wie ein Held zu Boden gesunken, würdig seines Vaters und seines Heimatlandes. Zu meinem Leidwesen und zum Bedauern des ganzen Heeres ist bis auf den heutigen Tag nicht in Erfahrung zu bringen gewesen, ob er noch am Leben ist oder nicht. Dennoch möchte ich, Ihnen und mir zur Hoffnung, an dem Glauben festhalten, daß Ihr Sohn noch lebt, denn im anderen Fall müßte er doch in der Liste der auf dem Schlachtfeld gefundenen Offiziere, die mir durch Parlamentäre überreicht worden ist, genannt sein.«

Diese Nachricht erhielt der alte Fürst spät abends, als er in seinem Arbeitszimmer saß. Am nächsten Tag machte er früh wie gewöhnlich seinen Morgenspaziergang, aber er verhielt sich dem Verwalter, dem Gärtner und dem Architekten gegenüber schweigsam und sagte, obgleich er grimmig aussah, keinem ein Wort.

Als Prinzessin Marja zur gewohnten Stunde zu ihm kam, stand er an der Drehbank und drechselte, sah aber wie gewöhnlich nicht zu ihr auf.

»Ah, Prinzessin Marja!« sagte er plötzlich in gezwungenem Ton und warf den Meißel fort. Das Rad drehte sich im Schwung noch eine Weile weiter. Prinzessin Marja behielt dieses immer schwächer werdende Ächzen des Rades noch lang im Gedächtnis, weil es in ihr mit dem, was nun folgte, zu einem Eindruck zusammenfloß.

Sie trat auf den Vater zu, sah ihm ins Gesicht und hatte plötzlich das Gefühl, als ob etwas Schweres auf sie herniedersänke. Es legte sich wie ein Schleier über ihre Augen. An seinem Gesicht, das nicht traurig und niedergeschlagen, sondern grimmig, unnatürlich und gewaltsam beherrscht erschien, merkte sie, daß in diesem Augenblick ein entsetzliches Unglück über ihrem Haupt schwebte und sie zu erdrücken drohte, ein Unglück, wie es kein schlimmeres im Leben gibt und wie sie es noch nie erfahren hatte, ein unfaßbares Unglück, das nie wieder gutzumachen ist: der Tod eines Menschen, den man lieb hat.

»Mon père! André!« stammelte die Prinzessin in ihrer unbeholfenen, linkischen Art, aber ihr unaussprechlicher Kummer und ihre Selbstvergessenheit verliehen ihr einen so rührenden Reiz, daß der Vater ihren Blick nicht ertragen konnte, aufschluchzte und sich abwandte.

»Ich habe Nachricht erhalten. Er ist nicht unter den Gefangenen und auch nicht unter den Toten. Kutusow schreibt: ›zu Boden gesunken!‹« Er schrie diese Worte so durchdringend, als wolle er Prinzessin Marja damit verjagen.

Die Prinzessin sank nicht um und wurde auch nicht ohnmächtig. Bleich war sie schon vorher gewesen, aber als sie diese Worte hörte, ging eine Veränderung auf ihrem Gesicht vor, und aus ihren schönen, glänzenden Augen strahlte ein leuchtendes Licht. Es war, als wenn ein Glück, ein überirdisches Glück, unabhängig von den Freuden und Leiden dieser Welt, all den tiefen Kummer, der in ihr war, überflutete. Sie vergaß ihre Furcht vor dem Vater, trat auf ihn zu, ergriff seine Hand, zog ihn zu sich heran und umschlang seinen dürren, sehnigen Hals.

»Mon père«, sagte sie, »wenden Sie sich nicht von mir. Wir wollen zusammen weinen.«

»Diese Hunde! Diese Schufte!« schrie der Alte und wandte sein Gesicht von ihr ab. »Richten eine ganze Armee zugrunde, Tausende von Menschen! Und warum? Wozu? Geh, geh, und sage es Lisa!«

Die Prinzessin ließ sich kraftlos auf einen Sessel neben ihrem Vater sinken und fing an zu weinen. Sie sah den Bruder vor sich, wie er mit zärtlichem und zugleich hochmütigem Gesicht von ihr und Lisa Abschied genommen hatte, sah ihn vor sich, wie er gerührt und spöttisch zugleich das Heiligenbildchen umgehängt hatte. War er gläubig geworden? Hatte er seinen Unglauben bereut? Ist er jetzt dort, dort in den Gefilden des ewigen Friedens, der ewigen Seligkeit? dachte sie.

»Mon père, sagen Sie mir, wie es gewesen ist«, bat sie unter Tränen.

»Geh, geh! Er ist in jener Schlacht gefallen, in der man Rußlands beste Söhne und Rußlands Ruhm zum Opfer gebracht hat. Gehen Sie, Prinzessin Marja. Geh, und sage es Lisa. Ich komme nach.«

Als die Prinzessin von ihrem Vater zu der kleinen Fürstin zurückkehrte, saß diese mit einer Handarbeit in ihrem Zimmer und sah sie mit einem so innigen, stillglücklichen Blick an, wie er nur schwangeren Frauen eigen ist. Ihre Augen nahmen sichtlich Prinzessin Marja gar nicht wahr, sondern schauten tief in ihr eignes Sein hinein, in das glückliche und geheimnisvolle Wunder, das sich in ihrem Inneren vollzog.

»Marie«, sagte sie, indem sie vom Stickrahmen beiseiterückte und sich zurücklehnte, »gib mir mal deine Hand.«

Sie ergriff Prinzessin Marjas Hand und legte sie auf ihren Leib. Ihre Augen lächelten in der Erwartung, die Oberlippe mit dem Bärtchen hatte sich ganz in die Höhe gezogen und senkte sich nicht wieder herab, was ihr einen kindlich glücklichen Ausdruck verlieh.

Prinzessin Marja kniete vor ihr nieder und verbarg ihr Gesicht in den Falten des Kleides ihrer Schwägerin.

»Da! da! Fühlst du es? Das kommt mir so merkwürdig vor.

Weißt du, Marja, ich werde es sehr, sehr liebhaben«, sagte Lisa und sah die Schwägerin mit glücklich strahlenden Augen an.

Prinzessin Marja konnte den Kopf nicht aufheben: sie weinte.

»Was hast du, Mascha?«

»Nichts … mir ist nur so schwer ums Herz … wegen Andrej«, sagte sie und trocknete sich auf dem Schöße der Schwägerin die Tränen ab.

Noch einige Male versuchte Prinzessin Marja an diesem Morgen, ihre Schwägerin vorzubereiten, aber jedesmal brach sie in Tränen aus. Obgleich die kleine Fürstin nichts argwöhnte, so wurde sie doch durch diese Tränen, deren Grund sie nicht verstand, in Aufregung und Unruhe versetzt. Sie sagte nichts, sah sich aber immer erregt um, als suche sie etwas. Vor dem Mittagessen kam der alte Fürst, vor dem sie sich stets fürchtete, mit ganz besonders erregtem, bösem Gesicht zu ihr aufs Zimmer, sagte aber kein Wort und ging gleich wieder hinaus. Sie sah Prinzessin Marja an, schaute dann mit jenem Ausdruck nach innen gelenkter Aufmerksamkeit, wie er schwangeren Frauen eigen ist, sinnend vor sich hin und fing plötzlich an zu weinen.

»Habt ihr von Andrej Nachricht erhalten?« fragte sie.

»Nein, du weißt, daß noch gar keine Nachricht da sein kann. Aber mon père ist sehr in Sorge und auch ich ängstige mich.«

»Also noch nichts da?«

»Nichts«, sagte Prinzessin Marja und sah mit ihren glänzenden Augen die Schwägerin fest an.

Sie war zu dem Entschluß gekommen, ihr nichts zu sagen und auch den Vater zu überreden, daß er die furchtbare Nachricht bis nach ihrer Entbindung, die in den nächsten Tagen bevorstand, vor ihr geheimhielt. Und so trugen denn beide, Prinzessin Marja und der alte Fürst, ihren Kummer im geheimen, jedes nach seiner Art. Der alte Fürst wollte keine Hoffnung aufkommen lassen, er glaubte entschieden, Fürst Andrej sei tot, und wenn er auch einen Beauftragten nach Österreich schickte, um nach Spuren von seinem Sohn suchen zu lassen, so bestellte er doch gleichzeitig für ihn in Moskau ein Denkmal, das er ihm in seinem Park zu errichten gedachte, und sagte zu allen, sein Sohn sei gefallen. Er gab sich alle Mühe, derselbe zu bleiben, führte sein früheres Leben ebenso weiter, aber seine Kräfte waren nicht mehr dieselben: er konnte weniger laufen, weniger essen, weniger schlafen und wurde mit jedem Tag schwächer. Prinzessin Marja aber hoffte. Sie betete für ihren Bruder wie für einen Lebenden und erwartete jeden Augenblick die Nachricht von seiner Heimkehr.

8

»Ma bonne amie«, sagte die kleine Fürstin am Morgen des neunzehnten März nach dem Frühstück zu Prinzessin Marja, und ihre Oberlippe mit dem Bärtchen hob sich wieder nach alter Gewohnheit; aber wie jedes Lächeln, jeder Tonfall, ja sogar jeder Schritt in diesem Hause seit dem Eintreffen der furchtbaren Nachricht Kummer ausdrückte, so paßte sich auch jetzt dieses Lächeln der kleinen Fürstin der allgemeinen Stimmung, deren Ursache sie nicht kannte, an und war somit eher danach angetan, an den allgemeinen Kummer zu erinnern. »Ma bonne amie, ich fürchte, daß das ›Fruhschtik‹ von heute morgen, wie euer Koch Foka es nennt, mir nicht gut bekommen ist.«

»Was hast du denn, mein Seelchen? Du bist blaß. Ach, du siehst ja ganz weiß aus«, rief Prinzessin Marja erschrocken und eilte mit ihren schweren Schritten auf die Schwägerin zu.

»Euer Durchlaucht, soll nicht nach Marja Bogdanowna geschickt werden?« fragte eine der gerade anwesenden Zofen. Marja Bogdanowna war die Hebamme aus der Kreisstadt, die sich schon seit vierzehn Tagen in Lysyja-Gory aufhielt.

»Wirklich, du hast recht«, stimmte Prinzessin Marja bei. »Vielleicht ist das das Richtige. Ich werde selber zu ihr gehen. Courage, mon ange!« Sie küßte Lisa und wollte hinausgehen.

»Ach, nein, nein!« Auf dem Gesicht der kleinen Fürstin zeigte sich außer der durch den physischen Schmerz hervorgerufenen Blässe noch eine kindliche Furcht vor den Leiden, denen sie nicht entrinnen konnte. »Non, c’est l’estomac … Nicht wahr, es ist doch der Magen, Marie, sag doch, daß es der Magen ist, sag doch …« und die kleine Fürstin brach, eigensinnig und etwas übertrieben jammernd wie ein kleines Kind, in Tränen aus und rang die kleinen Hände.

Prinzessin Marja verließ eilig das Zimmer und lief zu Marja Bogdanowna.

»Mon Dieu! Mon Dieu! Oh!« hörte sie hinter sich.

Sich die derben, kleinen, weißen Hände reibend, kam ihr die Hebamme schon mit vielsagend ruhigem Gesichtsausdruck entgegen.

»Marja Bogdanowna! Ich glaube, es geht los«, sagte Prinzessin Marja und sah die alte Frau mit großen, erschrockenen Augen an.

»Na, Gott sei Dank, Prinzessin«, erwiderte Marja Bogdanowna, ohne ihre Schritte zu beschleunigen. »Aber Sie als junges Mädchen dürfen doch davon gar nichts wissen.«

»Ist denn der Arzt aus Moskau noch nicht gekommen?« fragte die Prinzessin.

Auf Lisas und Andrejs Wunsch hatte man für den angenommenen Termin einen Geburtshelfer aus Moskau bestellt, der jeden Augenblick erwartet wurde.

»Machen Sie sich keine Sorge, Prinzessin«, entgegnete Marja Bogdanowna. »Es wird auch ohne Doktor alles gut gehen.«

Fünf Minuten später hörte Prinzessin Marja in ihrem Zimmer, wie etwas Schweres über den Korridor getragen wurde. Sie sah hinaus: ein paar Diener trugen das Ledersofa, das sonst immer in Fürst Andrejs Arbeitszimmer gestanden hatte, in das Schlafzimmer der kleinen Fürstin. Die Gesichter der Träger sahen ernst und feierlich aus.

Prinzessin Marja saß allein in ihrem Zimmer, horchte auf jedes Geräusch im Hause, machte ab und zu die Tür auf, wenn jemand vorbeiging, und beobachtete, was auf dem Korridor vor sich ging. Ein paar Frauen aus der Dienerschaft huschten mit leisen Schritten hin und her, sahen Prinzessin Marja an und wandten sich ab. Sie wagte es nicht, sie zu fragen, machte die Tür wieder zu und kehrte in ihr Zimmer zurück. Sie setzte sich in den Lehnstuhl, nahm ein Gebetbuch zur Hand und kniete dann vor dem Heiligenschrein nieder. Aber zu ihrem Kummer und ihrer Verwunderung fühlte sie, daß das Gebet ihrem erregten Herzen diesmal keine Ruhe brachte. Plötzlich ging die Tür ihres Zimmers leise auf und auf der Schwelle erschien ihre alte Kindermuhme Praskowja Sawischna, ein Tuch um den Kopf, die, nachdem es der Fürst einmal verboten hatte, fast nie mehr zu ihr aufs Zimmer zu kommen wagte.

»Ich wollte mich ein bißchen zu dir setzen, Maschenka«, sagte die Kindermuhme, »und hier habe ich die Traukerzen von Fürst Andrej und Fürstin Lisa mitgebracht, die wollen wir vor ihrem Schutzheiligen anzünden, mein Engelchen«, fügte sie seufzend hinzu.

»Ach, wie freue ich mich, daß du gekommen bist, Muhme.«

»Gott ist gnädig, mein Täubchen.«

Die Alte zündete die goldumsponnenen Kerzen vor dem Heiligenschrein an und setzte sich mit ihrem Strickstrumpf neben die Tür. Prinzessin Marja nahm ein Buch zur Hand und fing an zu lesen. Und nur wenn sie Stimmen oder Schritte hörten, sahen sie einander an, die Prinzessin ängstlich und fragend, die Alte still und beruhigend.

Dasselbe Gefühl, das Prinzessin Marja empfand, während sie in ihrem Zimmer saß, hatte sich über das ganze Haus verbreitet und aller bemächtigt. Dem alten Aberglauben gemäß, daß eine Gebärende um so weniger zu erdulden habe, je weniger Leute von ihren Leiden wüßten, gaben sich alle die größte Mühe, zu tun, als wüßten sie von nichts, und kein Mensch sprach davon. Und doch merkte man bei all der gewohnten Zurückhaltung und Ehrfurcht und den guten Manieren, die immer im Hause des Fürsten herrschten, der gesamten Dienerschaft an, daß eine gemeinsame, sie besonders weich stimmende Sorge sie bedrückte und sie sich bewußt waren, daß etwas Großes, Unbegreifliches in diesem Augenblick vor sich ging.

Aus dem geräumigen Zimmer der Zofen war kein Lachen zu hören. In der Gesindestube saßen alle schweigend da und hielten sich bereit. In den Wirtschaftsgebäuden brannten Kerzen und Kienspäne. Niemand schlief. Der alte Fürst ging, mit den Hacken aufstampfend, in seinem Zimmer auf und ab und schickte Tichon zu Marja Bogdanowna, um fragen zu lassen, wie es gehe.

»Sage nur, der Fürst lasse fragen, wie es gehe, und berichte mir dann, was sie gesagt hat.«

»Melde dem Fürsten, daß die Wehen begonnen haben«, sagte Marja Bogdanowna und sah den Boten bedeutsam an.

Tichon ging und meldete es dem Fürsten.

»Gut«, sagte der Fürst und machte die Tür hinter sich zu. Und Tichon hörte aus seinem Zimmer nicht den geringsten Laut mehr.

Tichon wartete eine Weile und ging dann in das Zimmer seines Herrn hinein, wie wenn er nach den Kerzen sehen wollte. Als er den Fürsten auf dem Sofa liegen sah, betrachtete er dessen verstörtes Gesicht, schüttelte den Kopf, näherte sich ihm stumm, küßte ihm die Schulter und ging dann wieder hinaus, ohne nach den Kerzen gesehen oder gesagt zu haben, warum er gekommen sei.

Das feierliche Geheimnis der Natur ging indessen seiner Vollendung immer weiter entgegen. Der Abend kam, die Nacht sank hernieder. Und das Gefühl der Erwartung und Rührung vor dem Unbegreiflichen verminderte sich nicht, sondern wurde immer stärker und stärker. Niemand tat ein Auge zu.

Es war eine jener Nächte im März, in denen der Winter noch einmal die Gewalt an sich zu reißen versucht und in grimmiger Verzweiflung seine letzten Schneestürme aussendet. Dem deutschen Arzt aus Moskau, der jeden Augenblick erwartet wurde, hatte man frische Pferde und Reiter mit Laternen bis an die große Landstraße entgegengeschickt, um ihn den ausgefahrenen Feldweg an den Wassergräben vorbeizuleiten.

Prinzessin Marja hatte das Buch schon lange beiseite gelegt. Stumm saß sie da und heftete die leuchtenden Augen starr auf das runzlige, ihr bis auf den kleinsten Zug bekannte Gesicht der Kindermuhme, auf die graue Haarsträhne, die unter dem Tuch hervorlugte, und auf den unter ihrem Kinn herabhängenden Kropf.

Die Muhme Sawischna erzählte ihr, den Strickstrumpf in der Hand, mit leiser Stimme, ohne selber ihre Worte zu hören und zu verstehen, zum hundertstenmal, wie die verstorbene Fürstin in Kischinew Prinzessin Marja zur Welt gebracht habe, ohne eine Hebamme, nur mit Hilfe einer Moldauer Bäuerin.

»Gott ist gnädig, da braucht’s keinen Doktor«, sagte sie.

Plötzlich fuhr ein Windstoß gegen das eine Fenster des Zimmers, aus dem man den Doppelrahmen herausgenommen hatte – immer wenn die Lerchen kamen, wurde auf Befehl des Fürsten in jedem Zimmer ein Doppelfenster herausgenommen –, riß den schlecht geschlossenen Riegel auf, blähte die Stoffgardine weit auf und fuhr mit einem Schauer von Kälte und Schnee durchs ganze Zimmer. Die Trankerze erlosch. Prinzessin Marja erschrak. Die Alte legte den Strumpf beiseite, ging ans Fenster, beugte sich hinaus und haschte nach dem aufgerissenen Flügel. Der eisige Wind ließ die Enden ihres Kopftuches und die darunter hervorschauenden grauen Haarsträhnen flattern.

»Prinzessin, mein Goldkindchen, da kommt jemand die Allee heraufgefahren«, rief sie, hielt den Fensterflügel in der Hand, machte ihn aber nicht zu. »Mit Laternen kommen sie, das muß der Doktor sein …«

»Ach, ihr Heiligen! Gott sei Dank!« sagte Prinzessin Marja. »Ich muß ihm entgegen gehen. Er kann nicht Russisch.«

Prinzessin Marja warf einen Schal um und lief dem Ankommenden entgegen. Als sie durchs Vorzimmer eilte, sah sie durch das Fenster einen Wagen und Laternen vor der Einfahrt stehen. Sie lief auf die Treppe hinaus. Auf dem Geländerpfeiler stand ein Talglicht und tropfte im Wind. Etwas tiefer, auf dem ersten Treppenabsatz, stand der Diener Philipp mit einem anderen Licht in der Hand. Er sah ganz erschrocken aus. Von ganz unten, unterhalb der Biegung, hörte man Schritte in weichen Stiefeln die Treppe heraufschallen. Und eine Stimme, die Prinzessin Marja merkwürdig bekannt vorkam, sagte etwas.

»Gott sei Dank!« sagte die Stimme. »Und der Vater?«

»Haben sich schlafen gelegt«, erwiderte die Stimme des Hausmeisters Demian, der schon unten war.

Dann sagte die Stimme noch irgend etwas, worauf Demian wieder eine Antwort gab, und die Schritte in den weichen Stiefeln näherten sich nun auf der unteren Hälfte der Treppe, die man der Biegung wegen nicht übersehen konnte, immer eiliger.

Das ist Andrej, dachte Prinzessin Marja. Nein, das kann nicht sein, das wäre zu wunderbar.

Aber im selben Augenblick, als ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoß, erschien auf dem Treppenabsatz, wo der Diener mit dem Licht stand, das Gesicht und die Gestalt des Fürsten Andrej im Pelzmantel mit dicht beschneitem Kragen. Ja, er war es, aber sein Gesicht war bleich und abgezehrt und zeigte einen ganz veränderten, merkwürdig weichen und erregten Ausdruck. Er eilte die Treppe hinauf und schloß die Schwester in seine Arme.

»Habt ihr meinen Brief nicht erhalten?« fragte er und lief, ohne eine Antwort abzuwarten, die er auch gar nicht hätte erhalten können, da Prinzessin Marja außerstande war, ein Wort hervorzubringen, wieder hinunter und stieg gleich darauf mit dem Geburtshelfer, der ihm auf dem Fuße folgte – sie waren von der letzten Station an zusammen gefahren –, hastigen Schrittes die Treppe wieder hinauf und umarmte abermals die Schwester.

»Welch eine Fügung des Schicksals!« stieß er hervor. »Mascha, meine liebe Mascha!« Und er warf Pelz und Stiefel ab und eilte nach den Gemächern der Fürstin.

9

Die kleine Fürstin lag, ein weißes Häubchen auf dem Kopf, still in den Kissen. Die Wehen hatten soeben etwas nachgelassen. Ein paar losgelöste Strähnen ihres schwarzen Haares ringelten sich auf ihren erhitzten, schweißbedeckten Wangen, das reizende rote Mündchen mit der Oberlippe und dem schwarzen Schnurrbärtchen war halb geöffnet, sie lächelte glücklich. Fürst Andrej trat ins Zimmer und blieb zu Füßen des Sofas, auf dem sie lag, vor ihr stehen. Ihre glänzenden Augen mit dem erschrockenen, erregten Kinderblick blieben, ohne ihren Ausdruck zu verändern, auf ihm ruhen. Ich habe euch alle liebgehabt und keinem etwas Böses getan, warum muß ich nun so leiden? So helft mir doch! sagte ihr Blick. Sie sah ihren Mann an, verstand aber die Bedeutung seines Kommens nicht. Fürst Andrej trat auf das Sofa zu und küßte sie auf die Stirn.

»Mein Liebling«, sagte er, wie er sie früher nie genannt hatte, »Gott ist gnädig …«

Sie sah ihn mit fragenden, kindlich vorwurfsvollen Blicken an.

Ich habe von dir Hilfe erwartet, und auch du, auch du hilfst mir nicht, sagte ihr Blick.

Sie wunderte sich nicht, daß er da war, begriff nicht, daß er gekommen war. Sein Kommen stand zu ihren Leiden und deren Linderung in keiner Beziehung.

Da setzten die Qualen von neuem ein, und Marja Bogdanowna riet dem Fürsten Andrej, das Zimmer zu verlassen.

Der Geburtshelfer trat ein. Fürst Andrej ging hinaus, traf im Korridor Prinzessin Marja und eilte auf sie zu. Sie sprachen flüsternd miteinander, doch ihr Gespräch verstummte alle Augenblicke. Sie warteten und horchten.

»Allez, mon ami«, sagte Prinzessin Marja.

Fürst Andrej ging wieder zu seiner Frau hinein, setzte sich ins Nebenzimmer und wartete. Eine Frau kam mit verängstigtem Gesicht aus dem Zimmer der Fürstin herübergelaufen und wurde verlegen, als sie den Fürsten Andrej erblickte. Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und blieb so eine Zeitlang sitzen. Durch die Tür drang ein klägliches, hilfloses, tierisches Stöhnen. Fürst Andrej sprang auf, trat an die Tür und wollte sie aufreißen. Aber jemand hielt die Tür zu.

»Es geht jetzt nicht, es ist unmöglich«, flüsterte eine ängstliche Stimme.

Er fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Das Stöhnen verstummte. Wieder vergingen einige Sekunden. Da plötzlich ertönte ein entsetzlicher Schrei aus dem Nebenzimmer. Das war nicht ihre Stimme, so konnte sie unmöglich schreien. Fürst Andrej stürzte nach der Tür. Alles war wieder still. Man hörte nur das Weinen eines kleinen Kindes.

Wozu hat man denn ein Kind zu ihr gebracht? dachte Fürst Andrej im ersten Augenblick. Ein Kind? Was denn für ein Kind? Was soll denn das Kind dort? Oder ist das etwa das neugeborene Kind?

Da endlich begriff er die glückliche Bedeutung dieses Weinens, und Tränen schnürten ihm die Kehle zu. Aufschluchzend stützte er sich mit beiden Armen auf das Fensterbrett und weinte. Da ging die Tür auf. Der Arzt, ohne Überrock, mit aufgestreiften Hemdärmeln, trat bleich und mit zuckendem Gesicht aus dem Zimmer. Fürst Andrej wandte sich nach ihm um, aber der Arzt warf nur einen verstörten Blick auf ihn und ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihm vorüber. Eine Frau wollte herauslaufen, blieb aber, als sie Fürst Andrej sah, zögernd auf der Schwelle stehen. Da ging er in das Zimmer seiner Frau hinüber. Sie lag genauso da, wie er sie vor fünf Minuten gesehen hatte, aber sie war tot. Obgleich ihre Wangen bleich und ihre Augen starr geworden waren, lag noch derselbe Ausdruck auf ihrem reizenden Kindergesichtchen mit der kurzen Oberlippe und dem Bärtchen.

Ich habe euch alle liebgehabt und niemandem etwas Böses zugefügt, was aber habt ihr mir angetan? fragte ihr liebes, rührendes, totes Gesicht.

In der Ecke des Zimmers aber gluckste und wimmerte etwas Winziges und Rotes in Marja Bogdanownas weißen, zitternden Händen.

Zwei Stunden später trat Fürst Andrej mit leisen Schritten in das Zimmer seines Vaters. Der Alte wußte bereits alles. Er stand dicht an der Tür, und als sie sich nur öffnete, schlang er stumm seine hageren, greisen Arme um den Hals seines Sohnes und schluchzte wie ein Kind.

Nach drei Tagen wurde für die kleine Fürstin die Totenmesse gelesen, und Fürst Andrej stieg die Stufen zu ihrem Sarg hinauf, um von ihr Abschied zu nehmen. Auch im Sarg zeigte ihr Gesicht noch denselben Ausdruck, obgleich ihre Augen nun geschlossen waren. Ach, was habt ihr mir angetan? schien ihr Gesicht noch immer zu fragen, und Fürst Andrej fühlte, daß in seiner Seele ein Riß entstanden war, daß er eine Schuld auf dem Gewissen hatte, die er nie wieder gutmachen und vergessen konnte. Aber er konnte nicht weinen. Auch der Alte trat an den Sarg und küßte das wachsfarbene Händchen der Toten, das hoch über der Brust gekreuzt starr dalag, und auch zu ihm schien ihr Gesicht zu sagen: Ach, was habt ihr mir angetan, und warum? Und der Alte wandte sich grimmig weg, nachdem er ihr ins Gesicht gesehen hatte.

Nach weiteren fünf Tagen wurde der kleine Fürst Nikolaj Andrejewitsch getauft. Die Amme hielt mit dem Kinn die Windeln fest, während der Priester mit einer Gänsefeder die runzligen roten Handflächen und Fußsohlen des Täuflings salbte.

Der Großvater als Taufpate trug den Kleinen zitternd vor Angst, ihn hinfallen zu lassen, um das verbeulte blecherne Taufbecken herum und übergab ihn dann der anderen Pate, Prinzessin Marja. Fürst Andrej, halbtot vor Angst, daß man das Kind ertrinken lassen könne, saß im Nebenzimmer und wartete auf die Beendigung des heiligen Sakramentes. Als ihm die Amme endlich den Kleinen brachte, sah er das Kindchen glücklich an und nickte beifällig, als sie ihm mitteilte, daß das Wachsklümpchen mit den Härchen des Kleinen, das man ins Taufbecken geworfen habe, dort nicht untergesunken, sondern obenauf gekommen sei.

10

Rostows Teilnahme an dem Duell zwischen Dolochow und Besuchow war durch Bemühungen des alten Grafen vertuscht worden, und Nikoluschka wurde, statt degradiert zu werden, wie er erwartet hatte, zum Adjutanten des Generalgouverneurs von Moskau ernannt. Infolgedessen konnte er im Frühjahr nicht mit der ganzen Familie aufs Land übersiedeln, sondern mußte seines neuen Kommandos wegen den ganzen Sommer in Moskau bleiben. Dolochow erholte sich langsam wieder, und Rostow freundete sich während der Zeit seiner Genesung ganz besonders mit ihm an. Er lag während seiner Krankheit bei seiner Mutter, die ihn zärtlich und leidenschaftlich liebte. Die alte Marja Iwanowna gewann auch Rostow lieb, weil er ihrem Fedja so viel Freundschaft entgegenbrachte, und sprach mit ihm oft über ihren Sohn.

»Ja, Graf«, pflegte sie zu sagen, »er hat ein zu edles und reines Herz für unsere heutige, verderbte Welt. Die Tugend liebt niemand, sie ist jedem ein Dorn im Auge. Das müssen Sie doch auch sagen, Graf, war das etwa richtig, war das ehrenhaft von Besuchow gehandelt? Mein Fedja mit seinem edlen Charakter hat ihn immer so gern gehabt, und auch jetzt sagt er nichts Schlechtes von ihm. Haben sie in Petersburg ihre tollen Streiche, diesen Scherz da mit dem Revieraufseher, nicht immer zusammen ausgeführt? Und was war das Ende davon? Besuchow hat man laufen lassen, mein Fedja aber hat alles auf seine Schultern genommen. Und was hat er erdulden müssen! Gewiß, er ist rehabilitiert worden; wie hätte es auch anders kommen können? Ich glaube, solcher tapferen Söhne, wie er einer ist, hat das Vaterland im Felde nicht allzu viele gehabt. Und jetzt nun – dieses Duell. Haben denn diese Leute nicht einen Funken Gefühl und Ehre im Leib? Zu wissen, daß er der einzige Sohn ist, und ihn zum Duell herauszufordern und direkt auf ihn zu schießen! Nur ein Glück, daß Gott uns gnädig gewesen ist. Und warum das alles? Wer hat denn heutzutage keine Liebeshändel? Was kann Fedja dafür, wenn dieser Mensch so eifersüchtig ist? Ich meine, das hätte er ihm schon eher zu verstehen geben können, und dabei spielt die Geschichte doch schon über Jahr und Tag. Wahrscheinlich hat er ihn in der Annahme gefordert, Fedja werde sich nicht mit ihm schlagen, weil er ihm Geld schuldig ist. Wie gemein! Wie ekelhaft! Sie verstehen meinen Fedja, mein lieber Graf, das weiß ich, und darum habe ich Sie auch von ganzem Herzen lieb. Glauben Sie mir, es gibt nicht viele, die ihn verstehen. Er hat ein so edles, ein so himmlisches Gemüt!«

Auch Dolochow tat während der Zeit seiner Genesung oft Aussprüche, die man nie von ihm erwartet hätte.

»Man hält mich für einen schlechten Menschen, das weiß ich«, pflegte er zu sagen, »aber mögen sie das ruhig von mir denken. Ich will von niemandem etwas wissen, außer von denen, die ich gern habe. Wen ich aber einmal liebe, den liebe ich so, daß ich mein Leben für ihn hinzugeben bereit bin; die übrigen aber dränge ich beiseite, wenn sie mir im Weg stehen. Ich habe meine unvergleichliche, vergötterte Mutter und zwei, drei Freunde, zu denen auch du zählst, alle übrigen interessieren mich nur, insofern sie mir nützlich oder schädlich sind. Und schädlich sind sie fast alle, ganz besonders die Frauen. Ja, mein Lieber«, fuhr er fort, »Männer habe ich getroffen, die hilfreich, edel und hochgesinnt waren, aber Frauen außer dieser feilen Ware noch niemals – ob das nun Gräfinnen oder Köchinnen sind, ist ganz gleich. Jene himmlische Reinheit und Hingebung, die ich im Weibe suche, habe ich noch niemals gefunden. Fände ich eine solche Frau, so würde ich mein Leben für sie hingeben. Aber diese da …!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und weißt du, wenn ich das Leben noch liebe, so tue ich es nur deshalb, weil ich noch immer die Hoffnung habe, einmal solch ein himmlisches Wesen zu finden, das mich zu neuem Leben erwecken, rein und heilig machen kann und zu sich emporziehen würde. Aber vielleicht kannst du das nicht verstehen.«

»Doch, ich verstehe dich sehr gut«, erwiderte Rostow, der ganz unter dem Einfluß seines neuen Freundes stand.

Im Herbst kehrte die Familie Rostow nach Moskau zurück. Anfang des Winters kam auch Denissow und wohnte wieder bei ihnen. Diese ersten Wintermonate des Jahres 1806, die Nikolaj Rostow in Moskau verlebte, waren für ihn und die ganze Familie eine besonders glückliche und heitere Zeit. Nikolaj führte eine Menge junger Leute ins Elternhaus ein. Wera war jetzt eine zwanzigjährige Schönheit, Sonja ein sechzehnjähriges Mädchen mit all den Reizen einer sich eben erschließenden Knospe, und Natascha ein Backfisch, halb Kind, halb junge Dame, bald kindlich komisch, bald mädchenhaft bezaubernd.

Während dieser Zeit war das Rostowsche Haus in einen ganz besonderen Dunstkreis von Verliebtheit gehüllt, wie das immer zu sein pflegt, wenn viele hübsche junge Mädchen beieinander sind. Jeder junge Mann, der ins Rostowsche Haus kam und diese jungen frischen, immer über irgend etwas – wahrscheinlich über das eigne Glück – lächelnden kindlichen Gesichter und das lustige Leben und Treiben sah, der das nicht gerade tiefsinnige, aber gegen jedermann freundliche, zu allem bereite und hoffnungsfrohe Schwatzen der jungen Mädchen mit anhörte und bald ihrem schlichten Gesang, bald ihrem anspruchslosen Klavierspiel lauschte, fühlte sich sogleich von demselben Gefühl der Liebesbereitschaft und Erwartung irgendeines Glückes angesteckt, das alle jungen Leute im Rostowschen Hause selber empfanden.

Unter den jungen Männern, die Rostow ins Elternhaus einführte, befand sich als erster auch Dolochow, der allen im Hause sehr gut gefiel, nur Natascha nicht. Seinetwegen hatte sie sich beinahe mit dem Bruder gezankt. Sie behauptete steif und fest, er habe einen schlechten Charakter, in der Duellangelegenheit sei Pierre im Recht und er im Unrecht gewesen, und außerdem sei er ein unangenehmer, affektierter Mensch.

»Ich kann dich einfach nicht begreifen«, rief Natascha in starrem Eigensinn, »er ist schlecht und gefühllos. Ja, deinen Denissow, den mag ich gern, er ist zwar auch ein Zechbruder und so weiter, aber das kann ich verstehen, habe ihn trotzdem gern. Ich weiß nur nicht, wie ich dir das erklären soll … Bei Dolochow ist alles Berechnung, und das kann ich nicht ausstehen, während bei Denissow …«

»Na, mit Denissow ist das doch etwas ganz anderes«, erwiderte Nikolaj, und ließ durchfühlen, daß selbst Denissow einen Vergleich mit Dolochow nicht aushalte. »Man darf nicht vergessen, was für einen Charakter Dolochow hat, du solltest nur sehen, wie er sich gegen seine Mutter benimmt, was er für ein gutes Herz hat!«

»Das weiß ich nicht, aber ich fühle mich in seiner Gegenwart nicht wohl. Weißt du auch, daß er in Sonja verliebt ist?«

»Dummes Zeug!«

»Ich glaube es ganz sicher. Du wirst schon sehen.«

Nataschas Voraussage sollte zur Wahrheit werden. Dolochow, der sich sonst nichts aus Damengesellschaft machte, kam jetzt immer häufiger ins Haus, und die Frage, wem zuliebe er dies tat, war bald dahin gelöst, daß er Sonjas wegen kam, obgleich kein Mensch darüber sprach. Und auch Sonja selbst wußte dies, obgleich sie niemals gewagt hätte, es sich einzugestehen, und wurde jedesmal, wenn Dolochow kam, rot wie ein Mohnröschen.

Dolochow speiste oft bei den Rostows zu Mittag, versäumte keine Theatervorstellung, der sie beiwohnten, und kam sogar zu den Jugendbällen bei Jogel, die die Rostows regelmäßig besuchten. Er bewies Sonja so vorzugsweise seine Aufmerksamkeit und sah sie mit solchen Augen an, daß nicht nur sie selber unter diesem Blick errötete, sondern sogar die Gräfin und auch Natascha rot wurden, wenn sie diese Blicke bemerkten.

Man sah, wie sich dieser sonderbare, starke Mann ganz unter dem unwiderstehlichen Einfluß befand, den dieses schwarze, anmutige Mädchen, das einen anderen liebte, auf ihn ausübte.

Rostow merkte wohl, daß etwas Neues zwischen Dolochow und Sonja vorging, machte sich aber weiter keine bestimmten Vorstellungen darüber, welcher Art diese neuen Beziehungen waren. In irgendeinen müssen die immer verliebt sein, dachte er in bezug auf Sonja und Natascha. Aber er fühlte sich in Anwesenheit Sonjas und Dolochows nicht mehr so wohl wie früher und blieb seltener zu Hause.

Im Herbst des Jahres 1806 fingen alle an, mit noch größerem Eifer vom Krieg mit Napoleon zu reden als im vergangenen Jahr. Nach einem Erlaß mußten nicht nur zehn Rekruten, sondern überdies noch neun Landwehrleute von jedem Tausend gestellt werden. Überall verfluchte man Bonaparte, und ganz Moskau sprach von nichts anderem als von dem bevorstehenden Krieg. Für die Rostows hatten diese Kriegsvorbereitungen nur deshalb Interesse, weil Nikoluschka erklärt hatte, unter diesen Umständen keinesfalls in Moskau zu bleiben und nur noch das Ende von Denissows Urlaub abzuwarten, um sich dann nach den Feiertagen mit ihm zusammen wieder zu seinem Regiment zu begeben. Seine bevorstehende Abreise hinderte ihn jedoch nicht daran, sich zu amüsieren, sondern trieb ihn im Gegenteil noch dazu an. So war er meist nicht zu Hause und besuchte Diners, Abendgesellschaften und Bälle.

11

Am dritten Weihnachtsfeiertag aß Nikolaj mittags zu Hause, was in der letzten Zeit selten vorgekommen war. Es war dies ein offizielles Abschiedsessen, da er sich ja mit Denissow gleich nach dem Dreikönigsfest wieder zum Regiment begeben wollte. Ungefähr zwanzig Personen waren geladen, unter ihnen auch Dolochow und Denissow.

Noch nie hatte sich im Rostowschen Hause die Liebesluft und der Dunstkreis der Verliebtheit so fühlbar gemacht wie in diesen Feiertagen. Ergreife das Glück beim Schopf, mach andere in dich verliebt und verliebe dich selber! Das ist das einzig Wahre in der Welt, alles andere ist – Unsinn. Und damit beschäftigen wir uns hier auch nur, schien dieser Dunstkreis sagen zu wollen.

Nikolaj hatte wie immer zwei Paar Pferde müde gejagt, ohne daß es ihm gelungen wäre, überallhin zu fahren, wo er hätte Besuch machen müssen und eingeladen war, und kam so erst kurz vor dem Essen nach Hause. Gleich als er eintrat, merkte und fühlte er eine gewisse Spannung in diesem Dunstkreis der Verliebtheit im Hause und beobachtete außerdem noch eine gewisse Verlegenheit, die sich einiger Mitglieder der Gesellschaft bemächtigt hatte. Besonders erregt schienen Sonja, Dolochow und die alte Gräfin zu sein, auch Natascha merkte man etwas an. Nikolaj begriff sofort, daß zwischen Sonja und Dolochow vor dem Mittagessen etwas vorgefallen sein mußte, und behandelte sie in der Feinfühligkeit seines Herzens beide während des Essens besonders liebevoll und vorsichtig. Am Abend dieses dritten Weihnachtsfeiertages sollte bei dem Tanzlehrer Jogel wieder einer jener Jugendbälle stattfinden, die er immer an den Feiertagen für seine Schüler und Schülerinnen veranstaltete.

»Nikolenka, kommst du heute mit zu Jogel? Bitte, bitte, komm doch bitte mit«, bettelte Natascha. »Er läßt dich ganz besonders einladen. Wassilij Dimitritsch« – das war Denissow – »kommt auch mit.«

»Wohin gehe ich nicht, wenn die Komtesse es befiehlt!« sagte Denissow, der im Rostowschen Hause aus Spaß die Rolle von Nataschas Ritter spielte, »bin sogar bereit, einen Pas de châle zu tanzen.«

»Wenn ich irgend kann, komme ich. Ich habe zwar bei den Archarows zugesagt, die geben heute eine Abendgesellschaft«, erwiderte Nikolaj. »Und du?« wandte er sich an Dolochow.

Aber kaum hatte er es ausgesprochen, als er auch schon merkte, daß er diese Frage nicht hätte stellen dürfen.

»Ja, vielleicht …«, gab Dolochow kalt und ungehalten zur Antwort und warf Sonja einen Blick zu. Dann zog er finster die Brauen zusammen und blickte Rostow ebenso an, wie er bei dem Festessen im Klub Pierre angesehen hatte.

Da ist irgend etwas geschehen, dachte Nikolaj und wurde in dieser Annahme noch bestärkt, als sich Dolochow gleich nach dem Mittagessen empfahl. Er rief Natascha und fragte sie, was los sei.

»Ich suchte dich schon«, sagte Natascha und lief auf ihn zu. »Ich habe es dir doch immer gesagt, du aber wolltest es nicht glauben«, fügte sie triumphierend hinzu. »Er hat Sonja einen Antrag gemacht.«

Obgleich sich Nikolaj in letzter Zeit nur wenig mit Sonja beschäftigt hatte, so war es doch, als risse in seinem Innern etwas entzwei, als er dies hörte. Für Sonja als mittellose Waise war Dolochow eine anständige, in mancher Hinsicht sogar glänzende Partie. Wenn man die Sache mit den Augen der alten Gräfin und der ganzen Gesellschaft ansah, so war es unmöglich, ihn abzuweisen. Deshalb war auch das erste, was Nikolaj empfand, als er dies hörte, ein gewisses Gefühl der Erbitterung gegen Sonja. Er wollte eben sagen: Nun, das ist ja herrlich! Selbstverständlich muß sie ihr kindliches Versprechen vergessen und den Antrag annehmen, aber er kam nicht dazu, es auszusprechen …

»Und kannst du dir vorstellen?« fuhr Natascha fort. »Sie hat ihn abgewiesen, kurzweg abgewiesen. Sie hat ihm gesagt, sie liebe einen anderen …«, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu.

Ja, anders konnte meine Sonja auch nicht handeln! dachte Nikolaj.

»Und wie sehr Mama sie auch bestürmt hat, sie hat ihn abgewiesen, und ich weiß auch, daß sie ihren Sinn nicht ändern wird, wenn sie einmal etwas gesagt hat …«

»Also Mama hat sie bestürmt?« fragte Nikolaj vorwurfsvoll.

»Ja«, sagte Natascha. »Weißt du, Nikolenka, sei nicht böse, aber ich weiß, du wirst sie ja doch niemals heiraten. Ich weiß – Gott mag wissen woher –, weiß ganz gewiß, daß du sie nicht heiraten wirst.«

»Das kannst du gar nicht wissen«, entgegnete Nikolaj. »Aber ich muß mit ihr reden. Was für ein reizender Kerl doch diese Sonja ist!« fügte er lächelnd hinzu.

»Ja, sie ist reizend! Ich werde sie dir gleich schicken.«

Natascha gab dem Bruder einen Kuß und lief davon.

Gleich darauf erschien Sonja mit ängstlicher, verwirrter und schuldbewußter Miene. Nikolaj trat auf sie zu und küßte ihr die Hand. Das war das erstemal, seit er wieder in Moskau war, daß sie unter vier Augen von ihrer Liebe miteinander sprachen.

»Sonja«, sagte er anfänglich schüchtern, wurde aber dann immer kühner und kühner, »wenn Sie diese vorteilhafte, diese glänzende Partie ausschlagen wollen, er ist ein prächtiger, ein edler Mensch, er ist mein Freund, so …«

Sonja unterbrach ihn.

»Ich habe ihm bereits eine abschlägige Antwort gegeben«, sagte sie hastig.

»Wenn Sie ihn meinetwegen abgewiesen haben, so fürchte ich, daß Sie auf mich …«

Wieder unterbrach ihn Sonja. Sie sah ihn mit einem flehenden, erschrockenen Blick an.

»Nicolas, sprechen Sie nicht davon!« bat sie.

»Doch es ist meine Pflicht. Vielleicht ist es Eigendünkel meinerseits, aber es ist besser, alles auszusprechen. Wenn Sie ihn meinetwegen abgewiesen haben, muß ich Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Ich liebe Sie, glaube ich, mehr als alle anderen …«

»Das ist mir genug«, sagte Sonja und wurde rot.

»Nein, ich habe mich schon tausendmal verliebt und werde mich auch immer wieder verlieben, obschon ich für niemanden ein solches Gefühl der Freundschaft, des Vertrauens und der Zuneigung empfinde wie für Sie. Und dann bin ich noch jung. Und maman will es nicht. Nun, kurz und gut, ich kann mich durch kein Versprechen binden. Deshalb bitte ich Sie, den Antrag Dolochows in Erwägung zu ziehen«, sagte er; es kostete ihn Mühe, den Namen seines Freundes auszusprechen.

»Sprechen Sie nicht so zu mir! Ich verlange nichts. Ich liebe Sie wie einen Bruder und werde Sie immer lieben, und weiter brauche ich nichts.«

»Sie sind ein Engel, und ich bin Ihrer nicht wert, ich fürchte nur, Sie zu enttäuschen.«

Nikolaj küßte ihr noch einmal die Hand.

12

Die Bälle bei Jogel waren die lustigsten in ganz Moskau. Das sagten nicht nur die Mütter, die zuzusehen kamen, wie ihre Jüngsten die eben erst erlernten Pas in Anwendung brachten, das sagten auch die Backfische und die sehr jungen Herren selber, die bis zum Umfallen tanzten, ja, das sagten sogar die der Tanzstunde bereits entwachsenen jungen Damen und Herrn, die mit etwas herablassender Miene auf diesen Bällen erschienen, sich aber immer glänzend auf ihnen amüsierten. In diesem Jahr waren auf diesen Bällen zwei Verlobungen zustande gekommen. Die beiden hübschen Prinzessinnen Gortschakow hatten dort ihre Männer kennen gelernt und sich jetzt verheiratet, was den Ruhm dieser Bälle noch erhöhte. Das Besondere bei diesen Bällen bestand eben darin, daß weder ein Hausherr noch eine Hausfrau da war, sondern nur der gutmütige Herr Jogel, der wie eine Feder durch den Saal flog, nach allen Regeln der Kunst seine Kratzfüße machte und das Geld für die Tanzstunden und Bälle bei allen seinen Gästen einsammelte, und ferner darin, daß nur diejenigen hierher kamen, die wirklich tanzen und sich amüsieren wollten, wie das eben dreizehn- und vierzehnjährige Mädchen, die zum erstenmal lange Kleider tragen, verlangen.

Alle, mit wenigen Ausnahmen, schienen hübsch zu sein: so begeistert lächelten sie und so glänzend strahlten ihre Augen. Manchmal wurde sogar von den besten Schülerinnen, zu denen Natascha gehörte, die sich besonders durch ihre Anmut auszeichnete, ein pas de châle getanzt. Auf diesem letzten Ball aber heute kamen nur Ekossaisen, Anglaisen und die eben erst Mode gewordene Masurka an die Reihe. Der Saal war Jogel im Hause des Grafen Besuchow zur Verfügung gestellt worden, und der Ball war, wie alle behaupteten, vorzüglich gelungen. Es waren eine Menge hübscher junger Mädchen da, unter denen die Rostows die reizendsten waren. Sie waren auch beide ganz besonders glücklich und heiter. Sonja, stolz auf den Antrag Dolochows, ihre Absage und ihre Auseinandersetzung mit Nikolaj, war schon zu Hause den ganzen Abend wie ein Kreisel herumgewirbelt, so daß die Zofe ihr nur mit Mühe hatte die Zöpfe zu Ende flechten können; jetzt strahlte ihr Gesicht in überfließendem Glück.

Natascha, nicht weniger stolz darauf, daß sie zum ersten Male ein langes Kleid anhatte und sich auf einem richtigen Ball befand, war noch glückseliger. Sie trugen beide die gleichen weißen Mullkleider mit rosa Bändern.

Natascha verliebte sich im selben Augenblick, als sie den Saal betrat. Und zwar verliebte sie sich nicht in einen einzelnen, sondern in alle miteinander. Und wen sie gerade ansah, in den war sie auch schon verliebt, sobald sie ihn nur angesehen hatte.

»Ach, wie herrlich!« rief sie immer wieder und lief zu Sonja hin.

Nikolaj und Denissow gingen im Saale auf und ab und sahen freundlich und gönnerhaft den Tanzenden zu.

»Wie reizend sie ist, sie wird einmal eine Schönheit werden«, sagte Denissow.

»Wer?«

»Komtesse Natascha«, erwiderte Denissow.

»Und wie sie tanzt! Wie graziös!« fügte er, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, hinzu.

»Ja, von wem redest du denn eigentlich?«

»Von deiner Schwester«, brüllte Denissow ärgerlich.

Rostow lachte.

»mon cher comte, Sie sind einer meiner besten Schüler, Sie müssen unbedingt tanzen«, sagte der zierliche Herr Jogel und trat auf Rostow zu. »Voyez combien de jolies demoiselles!«

Dann wandte er sich mit derselben Bitte an Denissow, der ebenfalls ein früherer Schüler von ihm war.

»Non, mon cher, je ferai tapisserie«, erwiderte Denissow. »Wissen Sie denn nicht, wie wenig mir Ihre Stunden genützt haben?«

»O nein, nein!« beeilte sich Jogel, ihn zu trösten. »Sie haben nur nicht immer achtgegeben, aber Sie haben Anlagen, ja, sehr gute Anlagen.«

Man spielte die neu aufgekommene Masurka. Nikolaj wollte Jogel keine abschlägige Antwort geben und forderte Sonja auf. Denissow setzte sich zu den älteren Herrschaften, stützte sich mit der Hand auf den Säbel, trat mit dem Fuß den Takt, erzählte den alten Damen lustige Geschichten und brachte sie zum Lachen, wobei er immer die tanzende Jugend beobachtete. Jogel tanzte mit Natascha, die seine beste Schülerin und sein Stolz war, als erstes Paar. Weich und zart mit seinen in zierlichen Schuhen steckenden Füßchen auftretend, flog Jogel mit der etwas schüchternen, aber eifrig ihre Pas ausführenden Natascha durch den Saal. Denissow verwandte kein Auge von ihr, klopfte mit dem Säbel den Takt und machte ein Gesicht, das deutlich besagte, er tanze nicht, weil er nicht wolle, und nicht etwa, weil er nicht könne. Mitten in einer Figur rief er den vorübergehenden Rostow zu sich heran.

»Das ist doch nicht richtig«, sagte er. »Soll das etwa eine polnische Masurka sein? Aber sie tanzt ausgezeichnet.«

Da Nikolaj wußte, daß Denissow sogar in Polen als Meister im Tanzen der polnischen Masurka berühmt war, lief er auf Natascha zu.

»Geh und fordere Denissow auf. Der kann Masurka tanzen! Einfach wunderbar!« sagte er.

Als die Reihe wieder an Natascha kam, stand sie auf und eilte mit ihren bandgeschmückten Schuhen schüchtern und ganz allein quer durch den Saal auf die Ecke zu, wo Denissow saß. Sie merkte, daß alle Blicke erwartungsvoll auf ihr ruhten. Nikolaj sah, daß Denissow und Natascha lachend miteinander stritten, daß Denissow zwar Ausflüchte machte, aber doch glücklich lächelte. Er lief hinzu.

»Ach bitte, Wassilij Dimitritsch«, sagte Natascha, »bitte kommen Sie doch!«

»Aber verehrteste Komtesse, erlassen Sie es mir doch in Gnaden«, erwiderte Denissow.

»Aber, Waska, zier dich doch nicht so!« rief Nikolaj.

»Gerade wie ein Kater wird man hier mit ›Waska[*]‹ gelockt« scherzte Denissow.

»Einen ganzen Abend werde ich Ihnen dafür vorsingen«, bettelte Natascha.

»Diese kleine Fee macht doch mit mir, was sie will«, brummtet Denissow und schnallte den Säbel ab.

Er trat aus den Stuhlreihen heraus, nahm seine Dame fest bei der Hand, hob den Kopf hoch, setzte das Bein vor und wartete so auf den Takt. Nur wenn er zu Pferde saß oder, wie eben jetzt, Masurka tanzte, sah man nicht, wie klein eigentlich Denissow war, dann erschien er als der forsche junge Mann, als der er sich selber auch fühlte. Während er auf den Takt wartete, blickte er seine Dame scherzend und siegesgewiß von der Seite an, stampfte dann plötzlich mit dem einen Fuß, sprang leicht wie ein Ball vom Boden auf und flog den Kreis entlang, indem er seine Dame nach sich zog. So chassierte er lautlos auf einem Bein durch die Hälfte des Saales, schien die vor ihm stehende Stuhlreihe gar nicht zu sehen und schoß geradewegs auf sie los, hielt aber plötzlich, die Beine spreizend und mit den Sporen einhakend, auf den Absätzen an, blieb einen Augenblick stehen, stampfte dann sporenklirrend mit beiden Füßen an einem Fleck auf, drehte sich ein paarmal wirbelnd im Kreis herum und flog dann, mit dem linken Bein gegen das rechte schlagend, abermals durch den Saal. Natascha erriet immer, was er gerade tun wollte, und folgte ihm, selber nicht wissend wie, indem sie sich ihm ganz überließ. Bald schwenkte er sie mit der rechten, bald mit der linken Hand im Kreise, bald fiel er vor ihr auf die Knie und führte sie um sich herum, sprang dann wieder auf und stürmte mit solch wildem Eifer vorwärts, als wolle er, ohne Atem zu schöpfen, durch alle Zimmer jagen, bald machte er jäh wieder halt und fing eine neue, unerwartete Tour an. Als er dann seine Dame mit einer letzten, schneidigen Schwenkung wieder auf ihren Platz gebracht und sich sporenklirrend vor ihr verbeugt hatte, war Natascha so verwirrt, daß sie ihm nicht einmal mit einem Knicks dankte. Sie sah ihn nur voller Verwunderung starr an und lächelte, als kenne sie ihn gar nicht wieder.

»Was war denn das?« stammelte sie.

Obgleich Jogel diese Masurka nicht als vorschriftsmäßig gelten lassen wollte, waren doch alle von Denissows Meisterschaft entzückt; die Jüngeren forderten ihn immer wieder auf, und die Älteren fingen an, sich lächelnd über Polen und die gute alte Zeit zu unterhalten. Denissow, ganz rot von der Masurka, wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, setzte sich neben Natascha und wich den ganzen Abend nicht mehr von ihrer Seite.

13

Während der nächsten zwei Tage sah Rostow Dolochow weder bei den Seinen noch traf er ihn zu Hause an. Am dritten Tage erhielt er folgenden Brief:

»Da ich aus Dir bekannten Gründen Euer Haus nicht mehr zu betreten beabsichtige und wieder zur Armee zurückkehre, gebe ich heute abend meinen Freunden ein Abschiedsessen und bitte auch dich, in den Englischen Hof zu kommen.«

So fuhr Rostow um zehn Uhr abends vom Theater aus, wo er mit den Seinen und Denissow gewesen war, in den Englischen Hof. Er wurde sogleich in den vornehmsten Raum dieses Hotels geführt, den Dolochow für diesen Abend gemietet hatte. Gegen zwanzig Herren drängten sich um einen Tisch, an dem Dolochow zwischen zwei Kerzen saß. Auf dem Tisch lagen Goldstücke und Banknoten: Dolochow hielt die Bank. Nach seinem Antrag und Sonjas abschlägiger Antwort hatte ihn Nikolaj noch nicht wiedergesehen und empfand bei dem Gedanken, wie sich dieses Wiedersehen zwischen ihnen gestalten würde, ein etwas peinliches Gefühl.

Dolochows klarer, kalter Blick traf Rostow schon an der Tür, als hätte er ihn bereits lange erwartet.

»Lange nicht gesehen«, sagte er zu ihm. »Schön, daß du gekommen bist. Wir haben inzwischen ein kleines Spielchen gemacht, gleich wird der Zigeuner Iljuscha mit seinen Sängern kommen.«

»Ich war einmal bei dir«, sagte Rostow und wurde rot.

Dolochow gab keine Antwort.

»Du kannst setzen«, sagte er dann.

Rostow fiel in diesem Augenblick das eigenartige Gespräch ein, das er einmal mit Dolochow geführt hatte. »Sich auf Glücksspiele einlassen können nur Dummköpfe«, hatte Dolochow damals gesagt.

»Oder hast du vielleicht Angst, mit mir zu spielen?« fuhr Dolochow fort, als hätte er Rostows Gedanken erraten, und lächelte.

Aus diesem Lächeln ersah Rostow, daß sich Dolochow in derselben Gemütsverfassung befand wie bei dem Festessen im Klub und überhaupt immer zu den Zeiten, in denen er, als würde ihm das Alltagsleben zu langweilig, das unwiderstehliche Bedürfnis empfand, durch eine sonderbare, meist grausame Tat dieser Langenweile ein Ende zu machen.

Rostow empfand ein Gefühl des Unbehagens. Er suchte nach einem Scherz, mit dem er die Worte Dolochows hätte beantworten können, fand aber keinen. Doch ehe er noch irgend etwas sagen konnte, sah ihm Dolochow gerade ins Gesicht und sagte langsam und gedehnt, so daß es alle hören konnten, zu ihm: »Weißt du noch, wir sprachen einmal zusammen vom Spiel … Ein Dummkopf, wer auf gut Glück Karten spielt; man muß sichergehen. Aber ich will es doch einmal versuchen.«

Das Glücksspiel oder das Sichergehen? dachte Rostow.

»Besser ist schon, man spielt nicht«, fügte Dolochow hinzu, schlug ein neu aufgerissenes Spiel Karten auseinander und rief: »Bank, meine Herren.«

Dolochow schob das Geld vor und fing an, die Karten abzuziehen. Rostow saß neben ihm und spielte anfänglich nicht mit. Dolochow sah ihn an.

»Warum spielst du nicht?« fragte Dolochow.

Und merkwürdig, Nikolaj fühlte den unwiderstehlichen Drang, eine Karte zu nehmen, eine unbedeutende Summe darauf zu setzen und sich am Spiel zu beteiligen.

»Ich habe kein Geld bei mir«, sagte Rostow.

»Ich borge dir.«

Rostow setzte fünf Rubel auf die Karte und verlor, setzte noch einmal und verlor wieder.

Dolochow schlug, das heißt, gewann zehn Karten hintereinander von Rostow.

»Meine Herren«, sagte Dolochow, nachdem sie eine Weile gespielt hatten, »ich bitte, das Geld auf die Karten zu legen, sonst kann ich mich beim Auszahlen irren.«

Einer der Spieler bemerkte scherzhaft, daß er doch hoffe, ihm trauen zu können.

»Trauen schon, aber ich fürchte, mich zu irren. Ich bitte also, das Geld auf die Karten zu legen«, erwiderte Dolochow. »Du aber geniere dich nicht, wir rechnen dann zusammen ab«, fügte er zu Rostow gewandt hinzu.

Das Spiel ging weiter; indessen reichte ein Diener ununterbrochen Champagner herum.

Alle Karten Rostows wurden geschlagen, und es waren ihm schon achthundert Rubel angekreidet worden. Eben hatte er die ganzen achthundert Rubel als Einsatz auf eine Karte notiert, als ihm der Diener Champagner präsentierte, und während er das Glas nahm, überlegte er es sich noch anders und änderte die Zahl in seinen gewöhnlichen Einsatz von zwanzig Rubeln um.

»Laß es doch so«, sagte Dolochow, obgleich er anscheinend gar nicht nach Rostow hingesehen hatte, »um so schneller gewinnst du deinen Verlust zurück. Zwar schlage ich dich immer, während ich anderen auszahlen muß. Oder hast du vielleicht Angst vor mir?« wiederholte er.

Rostow gehorchte, ließ die achthundert Rubel stehen und setzte auf eine Herz-Sieben mit abgerissener Ecke, die er von der Erde aufgehoben hatte. An all das erinnerte er sich später ganz genau. Er legte die Herz-Sieben auf den Tisch, schrieb mit einem Stück Kreide eine Achthundert in runden, steilen Zahlen darauf, trank das ihm gereichte Glas Champagner, der inzwischen schon abgestanden war, auf einen Zug aus, lächelte zu Dolochows Worten und sah mit Herzklopfen auf dessen Hände, die die Karten hielten, in der Erwartung, daß er eine Sieben abziehen möge. Ob ihm die Herz-Sieben Gewinn oder Verlust brachte, war für Rostow von größter Bedeutung. Am Sonntag voriger Woche hatte der Graf Ilja Andrejewitsch seinem Sohn zweitausend Rubel gegeben und ihm gesagt, obgleich er nie gern davon sprach, wenn er in Geldverlegenheit war, daß dies die letzte Summe sei, die er ihm vor Mai geben könne, und daß er deshalb seinen Sohn bitte, diesmal etwas sparsamer zu sein. Nikolaj hatte erwidert, das sei mehr als genug und er gebe sein Ehrenwort, bis zum Frühjahr kein Geld weiter zu verlangen. Von diesem Geld hatte er jetzt noch zwölfhundert Rubel übrig. Verlor die Herz-Sieben, so bedeutete das für ihn nicht nur einen Verlust von sechzehnhundert Rubel, sondern auch die Notwendigkeit, sein Wort zu brechen. Bangen Herzens sah er auf Dolochows Hände und dachte: Schnell, schnell, laß mich nur auf diese eine Karte gewinnen. Dann nehme ich meine Mütze, fahre nach Hause und esse mit Denissow, Natascha und Sonja zu Abend und rühre niemals wieder eine Karte an. In diesem Augenblick stieg die Erinnerung an sein Leben zu Hause, das Scherzen mit Petja, die Gespräche mit Sonja, die Duette mit Natascha, das Pikett mit dem Vater, ja, sogar sein friedliches Bett in dem Haus in der Powarskaja mit solcher Macht und so klar und verführerisch vor seiner Seele auf, als wäre es ein vergangenes, unschätzbares Glück, das er schon lange verloren habe. Er konnte es nicht für möglich halten, daß solch ein dummer Zufall, ob eine Sieben mehr nach rechts als nach links zu liegen kam, ihn eines Glückes, das er soeben in neuem Licht gesehen und neu verstanden hatte, berauben und ihn in die Tiefen eines Unglücks versenken konnte, das er noch nie erfahren und ergründet hatte. Das konnte nicht sein, und doch wartete er mit Herzklopfen auf jede Handbewegung Dolochows. Diese derbknochigen, roten, stark behaarten Hände, die aus den Hemdärmeln heraussahen, legten jetzt das Kartenspiel hin und griffen nach einem dargebotenen Glas und einer Pfeife.

»Also du hast keine Angst, mit mir zu spielen?« wiederholte Dolochow, legte, als wenn er eine lustige Geschichte erzählen wollte, die Karten hin, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fing langsam und lächelnd an: »Ja, meine Herren, man hat mir erzählt, in Moskau sei das Gerücht verbreitet, daß ich ein Falschspieler sei, deshalb rate ich Ihnen, mir gegenüber vorsichtiger zu sein.«

»Na, so zieh doch die Karten ab!« rief Rostow.

»Ach, diese Moskauer Klatschbasen!« fuhr Dolochow fort und nahm lächelnd die Karten wieder auf.

»Oooh«, rief Rostow ziemlich laut und fuhr sich mit beiden Händen in die Haare. Die Sieben, die er brauchte, war schon heraus, als erste Karte in dem neuen Spiel. Er hatte mehr verloren, als er bezahlen konnte.

»Na, deshalb brauchst du dir nicht den Kopf abzureißen«, sagte Dolochow, warf einen flüchtigen Blick auf Rostow und spielte weiter.

14

Nach anderthalb Stunden betrachteten die meisten Herren ihr eigenes Spiel nur noch als einen Scherz, Rostow war es allein, der spielte. Statt der sechzehnhundert Rubel war ihm eine lange Reihe Zahlen angekreidet worden, die er bis zehntausend mitgerechnet hatte, die aber jetzt, wie ihm dunkel vorschwebte, bereits auf fünfzehntausend gestiegen sein mochte. In Wirklichkeit aber betrug seine Schuld bereits über zwanzigtausend Rubel. Dolochow hörte nicht mehr auf die Gespräche der anderen und erzählte auch selber keine Geschichten mehr, er verfolgte jede Handbewegung Rostows und warf ab und zu einen flüchtigen Blick auf die vor ihm angeschriebene Zahlenreihe. Er hatte sich vorgenommen, so lange weiterzuspielen, bis dessen Schuld auf dreiundvierzigtausend Rubel gestiegen sein würde. Diese Zahl hatte er deshalb gewählt, weil dreiundvierzig die Summe war, die herauskam, wenn er seine und Sonjas Lebensjahre zusammenzählte. Rostow saß, den Kopf auf beide Hände gestützt, vor dem vollgeschriebenen, mit Karten bedeckten Tisch, der ganz mit Wein begossen war. Die eine qualvolle Empfindung wurde er nicht los: diese derbknochigen, roten, behaarten Hände, die aus den Hemdärmeln hervorguckten, diese Hände, die er gleichzeitig liebte und haßte, hatten ihn ganz in ihrer Gewalt.

Sechshundert Rubel, As, Paroli, Neun … unmöglich, etwas wiederzugewinnen! … und wie lustig wäre es jetzt zu Hause … nun der Bube vor … aber das kann doch nicht sein … Warum tut er mir das nur an? dachte Rostow und versuchte sich zu erinnern. Manchmal belegte er eine Karte mit einem Rieseneinsatz, aber Dolochow nahm das nicht an und setzte selber die Summe fest. Nikolaj fügte sich ihm und betete bald zu Gott, wie er es in der Schlacht an der Ennsbrücke getan hatte, bald wahrsagte er sich selber, daß diejenige Karte, die ihm aus einem Haufen verbogener, unter den Tisch geworfener Karten als erste in die Hände geraten werde, ihn retten würde, bald zählte er die Schnüre an seinem Uniformrock und suchte dann auf eine Karte, welche die so gewonnene Augenzahl hatte, seinen ganzen Verlust zu setzen, bald sah er sich hilfesuchend nach den anderen Spielern um, bald blickte er in das jetzt kalte Gesicht Dolochows und suchte zu ergründen, was in ihm vorging.

Aber er weiß doch, was dieser Verlust für mich zu bedeuten hat. Er kann doch nicht mein Verderben wollen? Er war doch mein Freund. Ich habe ihn liebgehabt … Aber er ist doch nicht schuld, was kann er denn dafür, wenn das Glück ihm hold ist? Doch auch ich bin nicht schuld, sagte er zu sich selber. Ich habe nichts Unrechtes getan. Habe ich etwa jemanden erschlagen, beleidigt oder auch nur Böses gewünscht? Warum nun dieses furchtbare Unglück? Und wann hat es eigentlich angefangen? Eben noch trat ich an diesen Tisch in der Absicht, hundert Rubel zu gewinnen, um Mama zum Namenstag jene Schatulle zu kaufen, und dann nach Hause zu fahren. Ich war so glücklich, so frei und so froh! Und wußte es gar nicht, wie glücklich ich war. Wann war das zu Ende, und wann fing dieser neue, furchtbare Zustand an? Woran kann man den Umschwung erkennen? Ich habe ebenso auf diesem Platz, an diesem Tisch hier gesessen und ebenso Karten gezogen und ausgewählt und ebenso diesen derbknochigen, geschickten Händen zugesehen. Wann ist das geschehen? Und was ist eigentlich geschehen? Ich bin noch stark und gesund und immer noch derselbe auf demselben Platz. Nein, das kann nicht sein. Sicherlich verläuft sich das alles im Sande.

Er sah rot aus und war ganz in Schweiß gebadet, obgleich es im Zimmer nicht allzu heiß war. Sein Gesicht zeigte, besonders durch das ohnmächtige Bestreben, ruhig zu scheinen, einen furchtbaren, jämmerlichen Ausdruck.

Seine Schuld war jetzt bis auf die verhängnisvolle Zahl von Dreiundvierzigtausend gestiegen. Rostow hielt schon eine Karte bereit, auf die er noch einmal die soeben gewonnenen dreitausend Rubel setzen wollte, als Dolochow mit den Karten auf den Tisch klopfte, sie beiseite legte, die Kreide zur Hand nahm und flink mit seiner klaren, festen Handschrift die Schuldsumme zu addieren begann, daß die Kreide bröckelte.

»Bitte zum Souper! Es ist Zeit. Da sind auch schon die Zigeuner.«

Wirklich traten jetzt Männer und Frauen mit dunklen Gesichtern aus der Kälte herein und sagten etwas mit zigeunerhafter Betonung. Rostow begriff, daß alles zu Ende war, und sagte in gleichmütigem Ton: »Was, du willst nicht weiterspielen? Und ich hatte gerade eine so famose Karte in Bereitschaft.« Er gab sich den Anschein, als dächte er nur an die Lust des Spielens.

Alles zu Ende, ich bin verloren. Eine Kugel durch den Kopf – das ist das einzige, was mir noch bleibt, dachte er, sagte dabei aber mit lustiger Stimme: »Na, nur noch eine einzige Karte, eine ganz kleine!«

»Schön«, sagte Dolochow, der seine Aufrechnung beendet hatte, »schön! Um diese einundzwanzig Rubel.« Und er zeigte auf die Zahl einundzwanzig, die er über die runde Summe von dreiundvierzigtausend hinaus gewonnen hatte, nahm ein Spiel Karten in die Hand und schickte sich an, sie abzuziehen. Rostow bog bereitwillig die Ecke um und schrieb statt der Sechstausend, die er erst in Absicht gehabt hatte, sorgsam eine Einundzwanzig hin.

»Das ist mir ganz einerlei«, sagte er, »mich interessiert nur, ob diese Zehn gewinnt oder verliert.«

Dolochow zog ernsthaft die Karten ab. Oh, wie haßte Rostow in diesem Augenblick jene roten, behaarten Hände mit den kurzen Fingern, die unter den Hemdärmeln hervorguckten und ihn doch so ganz in ihrer Gewalt hatten …

Die Zehn gewann.

»Sie schulden mir dreiundvierzigtausend Rubel, Graf«, sagte Dolochow, dehnte sich und stand vom Tisch auf. »Man wird müde, wenn man so lange sitzt«, fügte er hinzu.

»Ja, ich bin auch ganz müde geworden«, stimmte Rostow bei.

Aber Dolochow, wie um ihn daran zu erinnern, daß es ihm jetzt nicht anstehe, Scherze zu machen, unterbrach ihn: »Wann befehlen Sie, Graf, daß ich das Geld in Empfang nehme?«

Rostow wurde über und über rot und rief Dolochow auf einen Augenblick ins Nebenzimmer.

»Ich kann dir nicht alles auf einmal zahlen«, sagte er, »du nimmst doch einen Wechsel an.«

»Hör mal, Rostow« sagte Dolochow, lächelte unverblümt und sah Nikolaj gerade ins Gesicht, »du kennst doch das Sprichwort: Wer Glück in der Liebe hat, hat kein Glück im Spiel. Deine Cousine ist in dich verliebt. Das weiß ich.«

Oh, wie entsetzlich ist es, sich in der Gewalt dieses Menschen zu wissen, dachte Rostow. Er wußte, was für ein Schlag das für seinen Vater und seine Mutter sein werde, wenn er ihnen diesen Verlust eingestand, wußte, was für ein Glück es wäre, alldem enthoben zu sein, wußte, daß sich Dolochow darüber klar war, wie er ihm diese Schande und diesen Kummer ersparen könne, und daß er jetzt mit ihm spielen wollte wie die Katze mit der Maus.

»Deine Cousine …« wollte Dolochow fortfahren, aber Rostow unterbrach ihn.

»Meine Cousine hat hiermit nichts zu tun, ich verbitte mir, von ihr zu reden!« schrie er Dolochow wütend an.

»Wann kann ich also das Geld haben?« fragte dieser.

»Morgen«, erwiderte Rostow und ging aus dem Zimmer.

15

Zu sagen: »Morgen« und den schicklichen Ton zu wahren, das war nicht weiter schwer gewesen, aber nun allein nach Hause zu fahren, Schwester, Bruder, Mutter, Vater ins Gesicht zu sehen, es einzugestehen und um Geld zu bitten, das er nach dem gegebenen Ehrenwort nicht verlangen durfte, das war entsetzlich.

Zu Hause waren noch alle auf. Die Jugend des Hauses Rostow hatte sich, nachdem sie aus dem Theater gekommen war und zu Abend gegessen hatte, um das Klavier versammelt. Kaum war Nikolaj in den Salon eingetreten, so umfing ihn schon jene poetische, verliebte Luft, die den ganzen Winter über dem Hause lagerte und sich jetzt, nach Dolochows Antrag und dem Ball bei Jogel, wie vor einem Gewitter noch dichter um Sonja und Natascha zusammenzuziehen schien. Sonja und Natascha sahen in ihren blauen Kleidern, in denen sie im Theater gewesen waren, allerliebst aus und wußten das auch. Glücklich lächelnd standen sie beide am Klavier. Wera spielte mit Schinschin im Nebenzimmer Schach. Dort saß auch die alte Gräfin, die auf ihren Sohn und ihren Mann wartete, und legte Patiencen, zusammen mit einer alten adligen Dame, die bei ihnen im Hause wohnte. Denissow saß mit leuchtenden Augen und wirrem Haar am Klavier, hatte das eine Bein nach hinten gestreckt, griff mit seinen kurzen Fingern in die Tasten, schlug ein paar Akkorde an und sang unter stetem Verdrehen der Augen mit seiner kleinen, heiseren, aber sicheren Stimme ein von ihm selbst verfaßtes Lied: »Die Fee«, zu dem er eine Melodie zu finden suchte.

Du holde Fee, o sag mir, welche Macht

Drückt die vergeßne Leier in die Hand mir wieder?

Was für ein Feuer hast im Herzen mir entfacht,

Daß die Begeist’rung strömt in meine Lieder?

sang er mit leidenschaftlicher Stimme und blitzte die verwirrte, aber glückselige Natascha mit seinen schwarzen Achataugen an.

»Herrlich! Ausgezeichnet!« rief Natascha. »Nun noch die andere Strophe!« sagte sie, ohne Nikolaj zu bemerken.

Bei ihnen ist alles beim alten, dachte Nikolaj und warf einen Blick ins Nebenzimmer, wo er Wera und seine Mutter mit der alten Dame sitzen sah.

»Ah, da ist ja auch Nikolenka!«

Natascha lief auf ihn zu.

»Ist Papa zu Hause?« fragte er.

»Wie freue ich mich, daß du kommst!« rief Natascha, ohne auf seine Frage zu antworten. »Wir sind so lustig. Wassilij Dimitritsch bleibt meinetwegen noch einen Tag länger, weißt du schon?«

»Nein, Papa ist noch nicht zurückgekommen«, antwortete ihm Sonja.

»Koko, du bist da? Komm doch zu mir, mein Junge!« hörte man die Stimme der Gräfin aus dem Nebenzimmer.

Nikolaj ging zu seiner Mutter hinüber, küßte ihr die Hand, setzte sich zu ihr an den Tisch und sah auf ihre Hände, die die Karten legten. Aus dem Salon hörte man immer noch Lachen und lustige Stimmen, die auf Natascha einredeten.

»Na schön, schön!« rief Denissow. »Jetzt haben Sie aber keine Ausrede mehr. Sie sind uns noch die Barkarole schuldig. Ich bitte Sie flehentlich darum.«

Die alte Gräfin sah ihren schweigsamen Sohn an.

»Was hast du denn?« fragte sie Nikolaj.

»Ach, nichts«, sagte er, als wäre es ihm bereits langweilig, daß man ihn immer wieder dasselbe fragte. »Kommt Papa noch nicht bald?«

»Ich denke doch.«

Bei ihnen ist alles beim alten. Sie wissen es noch nicht. Wo soll ich nur hingehen? dachte Nikolaj und ging wieder in den Salon hinüber, wo das Klavier stand.

Sonja saß am Klavier und wollte eben die Einleitung zu jener Barkarole spielen, die Denissow so besonders liebte. Natascha schickte sich an zu singen. Denissow sah sie mit entzückten Augen an.

Nikolaj fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen.

Was er nur davon hat, sie zum Singen zu nötigen! Was kann sie denn groß? Und warum sie dabei nur so lustig sind? dachte er.

Sonja schlug die ersten Akkorde der Einleitung an.

Großer Gott, ich bin verloren, ein ehrloser Mensch! Eine Kugel in den Kopf, das ist das einzige, was mir noch bleibt. Ich kann sie nicht singen hören, dachte Rostow. Soll ich fortgehen? Aber wohin? Es ist ja alles gleich, mögen sie nur singen.

Er fuhr fort, im Zimmer auf und ab zu gehen, und sah Denissow und die Mädchen finster an, wich aber ihren Blicken aus.

Nikolenka, was fehlt Ihnen? fragte Sonjas Blick, der auf ihn gerichtet war. Sie hatte sogleich gesehen, daß etwas mit ihm geschehen war.

Nikolaj wandte sich von ihr ab. Natascha in ihrer Feinfühligkeit hatte ebenfalls sofort den Seelenzustand ihres Bruders erkannt. Sie fühlte es, aber sie war in diesem Augenblick selber so lustig, so fern von Kummer, Gram und Not, daß sie sich absichtlich darüber hinwegtäuschte, wie das junge Leute häufig zu tun pflegen. Nein, ich bin jetzt zu froh, um mir mein Glück durch die Teilnahme an fremdem Kummer zu trüben, sagte ihr ein inneres Gefühl, und sie redete sich ein: Nein, ich täusche mich ganz sicher, er muß ja ebenso vergnügt sein wie ich.

»Na los, Sonja!« sagte sie und trat bis in die Mitte des Salons, wo ihrer Meinung nach die Schallwirkung am besten war.

Sie hob den Kopf hoch, ließ beide Arme leblos herabsinken, wie es Tänzerinnen tun, hob sich mit einem energischen Ruck von den Hacken auf die Zehenspitzen, trippelte so ein paar Schritte vor und zurück und blieb dann stehen.

Schau, was ich für ein Kerl bin! schien sie als Antwort auf den entzückten Blick Denissows, der sie nicht aus den Augen ließ, sagen zu wollen.

Worüber ist sie nur so glücklich? dachte Nikolaj und sah die Schwester an. Ob ihr das nicht einmal langweilig wird, ob sie sich dessen nicht schämt?

Natascha setzte mit der ersten Note ein, ihre Kehle dehnte sich aus, ihre Brust straffte sich, ihr Gesicht nahm einen ernsthaften Ausdruck an. Sie dachte in diesem Augenblick an niemanden und an nichts, und aus ihrem auf ein Lächeln eingestellten Munde drangen Töne, wie sie in den gleichen Abständen und Folgen jeder hervorzubringen vermag, Töne, die einen tausendundeinmal kalt lassen, aber das tausendundzweitemal erbeben machen und Tränen entlocken.

Natascha hatte in diesem Winter erstmalig ernstlich mit Singen angefangen, und hauptsächlich deshalb, weil Denissow so von ihrer Stimme entzückt war. Sie sang jetzt nicht mehr auf jene kindliche Weise, in ihrem Ausdruck lag nicht mehr dieses komische, schulmädchenhafte Sichmühegeben, aber sie sang auch noch nicht gut, wie alle Kenner und Kritiker, die sie gehört hatten, sagten. »Eine schöne Stimme, aber noch ungeschult, sie muß erst ausgebildet werden«, sagten alle. Doch diesen Ausspruch taten sie gewöhnlich erst lange, nachdem ihre Stimme verklungen war. Denn während diese ungeschulte Stimme mit dem unvorschriftsmäßigen Atemholen und den gewaltsamen Übergängen ertönte, waren auch die Kenner und Kritiker ganz still, gaben sich nur dem Genuß dieser ungeschulten Stimme hin und wünschten weiter nichts, als sie noch weiterzuhören. In ihrer Stimme lag jene mädchenhafte Unberührtheit, jene unbewußte Kraft, jener noch durch keine Schulung beeinflußte Schmelz, und das alles war so eng mit den Mängeln ihrer Sangeskunst verschmolzen, daß es unmöglich schien, an dieser Stimme etwas zu ändern, ohne sie zu schädigen.

Was ist das? dachte Nikolaj, hörte auf ihre Stimme und sah sie mit großen Augen an. Was ist mit ihr geschehen? Wie singt sie denn heute? dachte er. Und plötzlich versank alles um ihn her, und sein ganzes Interesse, seine ganze Erwartung galt nur noch den folgenden Noten, den folgenden Worten, und die ganze Welt zerfiel für ihn nur in die drei Taktteile: Oh, mio crudele affetto … Eins, zwei, drei … eins, zwei … drei … eins … Oh, mio crudele affetto … Eins, zwei, drei … eins. Ach, was ist unser Leben doch für ein Possenspiel! dachte Nikolaj. Alles das: Unglück, Geld, Dolochow, Bosheit, Ehre – das ist ja alles nur Unsinn … Nur dies allein ist das Wahre … Gut, Natascha, gut, mein Täubchen, mein Liebling! … Wie wird sie das H herausbringen? Sie hat es getroffen! Gott sei Dank! und um dieses H zu verstärken, hatte er selber diese hohe Note eine Terz tiefer in zweiter Stimme mitgesungen, ohne es selber zu merken. Gott, wie schön! Habe ich wirklich richtig eingesetzt? Welch ein Glück! dachte er.

Bebend verhallte diese Terz, aber etwas, das noch besser war, sang und klang in Rostows Seele. Und dieses Etwas war unabhängig von der ganzen Welt und höher als die ganze Welt. Was ist ein Spielverlust, ein Dolochow, ein Ehrenwort! … Nichtigkeiten! Man kann morden und stehlen und dennoch glücklich sein …!

16

Es war seit langer Zeit das erstemal, daß Rostow die Musik wieder als Hochgenuß empfand. Aber kaum hatte Natascha ihre Barkarole zu Ende gesungen, als ihm die Wirklichkeit wieder schwer auf die Seele fiel. Er ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus und begab sich nach unten, auf sein Zimmer. Eine Viertelstunde später kam der alte Graf, lustig und zufrieden, aus seinem Klub nach Hause. Nikolaj, der ihn hatte kommen hören, ging zu ihm hinein.

»Na, gut amüsiert?« fragte Ilja Andrejewitsch und sah seinen Sohn mit frohem, stolzem Lächeln an,

Nikolaj wollte ja sagen, brachte es aber nicht heraus, da ihm ein Schluchzen in der Kehle aufstieg. Der Graf steckte sich eine Pfeife an und bemerkte deshalb den Zustand seines Sohnes nicht.

Ach, es hilft doch alles nichts! dachte Nikolaj zum ersten- und letztenmal. Und plötzlich sagte er zu seinem Vater, so daß er sich selber ekelhaft vorkam, in höchst nachlässigem Ton, als bäte er ihn um einen Wagen, um in die Stadt zu fahren: »Papa, ich komme in geschäftlichen Angelegenheiten zu dir. Beinahe hätte ich’s vergessen. Ich brauche Geld.«

»Siehst du«, sagte der Vater, der bei besonders guter Laune war, »das habe ich dir doch gleich gesagt, daß du nicht auskommen würdest. Ist es viel?«

»Sehr viel«, erwiderte Nikolaj errötend und mit einem dummen, nachlässigen Lächeln, das er sich lange nachher nicht verzeihen konnte. »Ich habe ein bißchen verspielt, das heißt viel, sehr viel sogar, dreiundvierzigtausend Rubel.«

»Was? An wen? … Das ist doch nicht dein Ernst?« schrie der Graf, und sein Hals und sein Nacken wurden plötzlich wie bei einem Schlaganfall ganz rot, wie das bei alten Leuten vorzukommen pflegt.

»Ich habe versprochen, es morgen zu bezahlen«, fuhr Nikolaj fort.

»Auch das noch«, stöhnte der Graf, spreizte die Arme auseinander und sank kraftlos auf das Sofa nieder.

»Was soll man da machen? Das passiert doch jedem einmal!« sagte der Sohn in ungeniertem, dreistem Ton, während er sich innerlich für einen Taugenichts, einen Schurken hielt, der niemals im Leben sein Verbrechen wiedergutmachen könne. Er hätte seinem Vater die Hand küssen, ihn kniefällig um Verzeihung bitten mögen, und dabei sagte er in lässigem, ja sogar unhöflichem Ton, daß das jedem einmal passieren könne.

Graf Ilja Andrejewitsch schlug die Augen nieder, als er diese Worte seines Sohnes hörte, und geriet in eine nervöse Unruhe, als suche er etwas.

»Ja, ja«, murmelte er, »aber es wird schwer sein, fürchte ich, sehr schwer sein, das Geld zu beschaffen … Das passiert ja jedem einmal! Ja, gewiß, jedem einmal …«

Und der Graf warf einen kurzen Blick auf das Gesicht seines Sohnes und ging aus dem Zimmer. Nikolaj war auf einen harten Kampf gefaßt gewesen, dies aber hatte er keinesfalls erwartet.

»Papa, lieber, guter Papa!« rief er ihm nach und brach in Schluchzen aus. »Verzeihen Sie mir!«

Und er ergriff die Hand seines Vaters, drückte sie an seine Lippen und weinte laut auf.

Zur selben Zeit, als Vater und Sohn diese Auseinandersetzung hatten, fand eine nicht minder ernste Aussprache zwischen Mutter und Tochter statt. Natascha kam ganz außer sich zur Mutter hereingelaufen.

»Mama … Mama! … Er hat mir …«

»Was hat er dir denn?«

»Einen Heiratsantrag gemacht, Mama! Einen Heiratsantrag!« rief Natascha atemlos.

Die Gräfin traute ihren Ohren kaum. Denissow hatte einen Antrag gemacht? Und wem? Diesem kleinen Gör Natascha, das vor kurzem noch mit der Puppe gespielt hatte und jetzt noch in die Tanzstunde ging.

»Hör doch auf, Natascha, mit diesen Dummheiten!« sagte sie, immer noch in der Hoffnung, daß es nur ein Scherz sei.

»Aber ich bitte Sie, Dummheiten! Was ich sage, ist Tatsache!« erwiderte Natascha ärgerlich. »Ich komme, um zu fragen, was ich tun soll, und Sie nennen das ›Dummheiten‹ …«

Die Gräfin zuckte mit den Achseln.

»Nun, wenn das wahr ist, daß Monsieur Denissow dir einen Antrag gemacht hat, so sage ihm nur, daß er ein Narr ist, und damit Schluß!«

»Nein, er ist gar kein Narr«, erwiderte Natascha ernst und gekränkt.

»Na, was willst du denn sonst? Ihr seid ja ewig verliebt. Wenn du ihn also liebst, so heirate ihn doch!« sagte die Gräfin, ärgerlich lachend. »In Gottes Namen!«

»Nein, Mama, ich bin nicht verliebt in ihn, das kann doch wohl nicht die Liebe sein.«

»Nun, so geh doch hin und sage ihm das.«

»Mama, sind Sie mir böse? Seien Sie mir nicht böse, liebste, beste Mama! Habe ich denn etwas Unrechtes getan?«

»Nein, aber was willst du denn, mein Liebling? Willst du, daß ich zu ihm gehen und es ihm sagen soll?« fragte die Gräfin lächelnd.

»Nein, ich will es ihm selber sagen, Mama, sagen Sie mir nur, wie. Sie nehmen das alles so leicht«, fügte sie als Entgegnung auf das Lächeln ihrer Mutter hinzu. »Wenn Sie ihn nur gesehen hätten, wie er es mir sagte! Ich weiß doch, daß er es mir nicht sagen wollte, und nun hat er es doch plötzlich ausgesprochen.«

»Nun ja, aber trotzdem mußt du ihn abweisen.«

»Nein, das muß ich doch nicht. Er tut mir ja so furchtbar leid. Er ist ein so lieber Mensch.«

»Na, dann mußt du eben seinen Antrag annehmen. Es wird ja auch Zeit, daß du endlich einen Mann bekommst«, sagte die Mutter ärgerlich spottend.

»Nein, Mama, er tut mir ja so furchtbar leid! Ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll.«

»Du brauchst ihm auch gar nichts zu sagen, ich werde selber mit ihm reden«, sagte die Gräfin, empört darüber, daß jemand sich unterstanden hatte, dieses Kind Natascha wie eine erwachsene junge Dame zu behandeln.

»Nein, nicht um alles in der Welt! Ich werde es ihm selber sagen. Aber hören Sie bitte an der Tür zu«, und Natascha lief durch das Zimmer in den Salon hinüber, wo Denissow immer noch auf demselben Platz vor dem Klavier saß und das Gesicht in beide Hände vergraben hatte.

Bei dem Geräusch ihrer leichten Schritte sprang er vom Stuhle auf.

»Natalie«, sagte er und ging mit schnellen Schritten auf sie zu. »Entscheiden Sie mein Schicksal! Es liegt in Ihren Händen.«

»Wassilij Dimitritsch, Sie tun mir so leid! … Sie sind ein so famoser Mensch … aber es geht nicht … das, was Sie wollen … doch ich werde Sie ewig lieben!«

Denissow neigte sich über ihre Hand, und sie hörte sonderbare, ihr unverständliche Töne.

Sie küßte ihn auf das schwarze, wirre, krause Haar, aber schon hörte man das Kleid der Gräfin eilig rauschen. Sie trat auf die beiden zu.

»Wassilij Dimitritsch, ich danke Ihnen für die Ehre«, sagte sie mit etwas verlegener Stimme, die Denissow streng erschien, »aber meine Tochter ist noch zu jung. Auch hätte ich gedacht, daß Sie als Freund meines Sohnes sich zuerst an mich wenden würden, dann hätten Sie mir die Notwendigkeit einer offiziellen Absage erspart.«

»Gräfin«, erwiderte Denissow mit niedergeschlagenen Augen und schuldbewußter Miene. Er wollte noch etwas hinzufügen, kam aber ins Stocken.

Natascha konnte seine klägliche Miene nicht ruhig mit ansehen. Sie schluchzte laut auf.

»Gräfin, ich bin schuldig in Ihren Augen«, fuhr Denissow mit stockender Stimme fort, »aber wenn Sie wüßten, wie ich Ihre Tochter und Ihre ganze Familie vergöttere, wie ich zweimal mein Leben für sie hingeben würde …« Er blickte auf und sah in das strenge Gesicht der Gräfin … »Leben Sie wohl, Gräfin«, sagte er dann, küßte ihr die Hand und ging, ohne Natascha noch einmal anzusehen, mit schnellen, entschlossenen Schritten aus dem Zimmer.

Am nächsten Tag nahmen Rostow und Denissow, der nicht einen Tag länger in Moskau bleiben wollte, voneinander Abschied. Denissows sämtliche Moskauer Freunde hatten für ihn eine Abschiedsfeier bei den Zigeunern veranstaltet, und er wußte später nicht mehr, wie man ihn in den Schlitten gebracht und er die ersten drei Stationen zurückgelegt hatte.

Nach Denissows Abreise blieb Rostow noch vierzehn Tage in Moskau, weil er auf das Geld warten mußte, das der alte Graf nicht so schnell zusammenbringen konnte. Er ging während dieser Zeit kaum aus dem Hause und verbrachte diese Tage vorzugsweise im Zimmer der jungen Mädchen.

Sonja war zärtlicher und hingebender gegen ihn als früher. Sie schien ihm dadurch zeigen zu wollen, daß sein Spielverlust in ihren Augen eine Heldentat war, für die sie ihn jetzt noch mehr lieben müsse, aber Nikolaj hielt sich nun ihrer nicht mehr für wert.

Er schrieb Verse über Verse und Noten in die Poesiealbums der jungen Mädchen und reiste dann Ende November, nachdem er endlich die ganzen dreiundvierzigtausend Rubel an Dolochow abgeschickt und dessen Quittung erhalten hatte, ohne sich von irgendeinem seiner Bekannten zu verabschieden, von Moskau ab, um sein Regiment einzuholen, das schon in Polen lag.

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