Dan Braun Schlittenfahrt

Kapitel 1

Kaltes, graues Wasser schlug glucksend gegen die zerbrechlich aussehenden Seitenwände des Fiberglasdinghis. Ich zitterte vor Kälte und dachte an die hundertfünfzig Meter bis zum Meeresboden unter uns.

Wir trieben mit abgestelltem Außenbordmotor etwa eine Stunde von Oslo entfernt auf dem Wasser des Fjords, und mein Freund Arne Kristiansen brauchte den ganzen Nachmittag, um mir ein paar einfache Fragen zu beantworten.

Ein grauer Tag, feucht, regnerisch. Der Wind war beißend kalt und sang mir in den Ohren. Meine Füße waren Eisklumpen. Hier draußen auf dem Fjord war es sehr viel kälter als an Land — die Oktobertemperatur bewegte sich auf den Gefrierpunkt zu, und nur Arne war entsprechend angezogen.

Während ich lediglich eine Regenjacke über einem ganz normalen Anzug trug und keinen Hut aufhatte, war Arne in der richtigen Ausrüstung erschienen — mit einer gefütterten roten Mütze, deren Ohrenklappen unter dem Kinn zusammengebunden waren, einer gefütterten blauen Hose, deren Beine in kurzen, weitschäftigen Gummistiefeln steckten, und einer gefütterten roten, vorn mit silbernen Druckknöpfen geschlossenen Jacke. Etwas Schwarz-Gelbes im Nacken deutete auf zusätzliche wärmende Schichten darunter hin.

Wir hatten uns telefonisch an der Statue auf dem Radhusplassen verabredet, da er entschieden gegen meinen Vorschlag gewesen war, zu mir ins Grand Hotel zu kommen. Selbst angesichts des großen, offenen Platzes hatte er etwas von Langstrecken-Abhörgeräten (seine Worte) gemurmelt und schließlich auf dem Dinghi bestanden. Da ich aus langer Erfahrung wußte, daß man mit Arnes ständigem leichten

Verfolgungswahn am besten zurechtkam, wenn man einfach darauf einging, zuckte ich die Achseln und folgte ihm den Kai entlang bis zu der Stelle, wo das kleine blaßgrüne Boot am Fuße einer Treppe vertäut lag.

Ich hatte völlig vergessen, daß es draußen auf dem Wasser immer wesentlich kühler ist. Ich ballte meine starr werdenden Hände in den Taschen zur Faust, lockerte sie und wiederholte meine letzte Frage.

«Wie würdest du sechzehntausend Kronen aus dem Land schmuggeln?«

Zum zweiten Mal erhielt ich keine Antwort. Arne ging mit Antworten so verschwenderisch um wie das Finanzamt mit Steuerrückzahlungen.

Er blinzelte langsam, und ich deutete jeden Wimpernschlag als äußeres Zeichen eines geistigen Zuges auf dem Schachbrett seines Verstandes. Zweifellos überdachte er wie immer jede nur denkbare Konsequenz — falls Antwort A eine von fünf möglichen Reaktionen auslöste, und Antwort B zu sechs klärenden Zusatzfragen führte, dann war es vielleicht besser, erst C zu beantworten, wobei… obwohl…

Das machte die Unterhaltung mit ihm etwas mühsam.

Ich versuchte, ihm ein bißchen auf die Sprünge zu helfen.»Du hast gesagt, es seien nur Münzen und gebrauchte kleine Scheine gewesen. Wie dick mag der Packen sein? Würde das Ganze in einen kleinen Koffer reinpassen?«

Er blinzelte.

«Glaubst du, daß er damit einfach so durch den Zoll spaziert ist?«

Er blinzelte.

«Oder daß er sich noch irgendwo in Norwegen aufhält?«

Arne öffnete den Mund und sagte widerstrebend:»Das weiß kein Mensch.«

Ich setzte meine Versuche fort.»Wenn ein Ausländer hier bei euch in ein Hotel geht, dann muß er ein Formular ausfüllen und seinen Paß vorlegen. Die Formulare sind für die Polizei bestimmt. Hat man sie dort mal durchgesehen?«

Pause.

«Ja«, sagte er dann.

«Und?«

«Bob Sherman hat kein Formular ausgefüllt.«

«Überhaupt keins? Aber was war, als er aus England hier ankam?«

«Er hat nicht im Hotel gewohnt.«

Geduld, dachte ich. Hab Geduld!

«Wo dann?«

«Bei Freunden.«

«Was für Freunden?«

Er überlegte. Ich wußte, daß Arne die Antwort kannte, und er wußte, daß er sie mir schließlich geben würde. Wahrscheinlich konnte er nichts dafür, daß sein Verstand auf diese Weise arbeitete, verdammt noch mal, schließlich war er von Beruf Ermittler.

Und ich war auch noch sein Lehrer gewesen!» Bevor Sie eine Frage beantworten, immer erst nachdenken. «Daran hielt er sich jetzt.

In den drei Monaten, die er in England verbracht hatte, um sich über die Arbeitsweise der Ermittlungsabteilung des Jockey Club zu informieren, waren wir allmählich Freunde geworden. Eine Zeitlang hatte er bei mir gewohnt, meistens waren wir zusammen zu den Rennen gefahren, und ständig hatte er Fragen gestellt und zugehört und beim Nachdenken geblinzelt. Das war vor drei Jahren gewesen. Aber zwei Minuten hatten ausgereicht, um die alten, herzlichen Gefühle der Wertschätzung und Nachsicht wieder aufleben zu lassen. Ich mag ihn, dachte ich, mehr wegen als trotz seiner kleinen Macken.

«Er hat bei Gunnar Holth gewohnt«, sagte er.

Ich wartete.

Nach zehn Sekunden fügte er hinzu:»Holth ist Trainer.«

«Ist Bob Sherman für ihn geritten?«

Diese wirklich simple Frage stürzte ihn in ein noch längeres Nachdenken als sonst, und erst nach längerem geistigem Schachspiel erwiderte er schließlich:»Bob Sherman hat diejenigen von Gunnar Holths Pferden geritten, die an Hürdenrennen teilnahmen, als er in Norwegen war. Ja. Diejenigen Pferde Holths, die bei Flachrennen liefen, als Sherman in Norwegen war, hat er nicht geritten.«

Herr, gib mir Kraft!

Arne war noch nicht fertig.»Bob Sherman ritt Pferde für die Rennbahn.«

Ich war verwirrt.»Wie meinst du das?«

Er ging erneut mit sich zu Rate und erhielt offensichtlich grünes Licht für eine erläuternde Antwort.

«Die Rennbahn zahlt ein paar ausländischen Jockeys zusätzliche Rennpreise, damit sie nach Norwegen kommen. Das macht die Rennen für die Zuschauer interessanter. Und so hat die Rennbahn auch Bob Sherman dafür bezahlt, daß er dort ritt.«

«Wieviel haben sie ihm gezahlt?«

Eine aufkommende Brise erzeugte auf der Wasseroberfläche des Fjords richtige kleine Wellen. Der Fjord südlich von Oslo ist keine von diesen schmalen Schluchten, wie man sie von den

>Komm ins schöne Norwegen! <-Plakaten her kennt, sondern eine breite Meeresbucht, die mit Felseninseln gesprenkelt ist und von den ausgedehnten Vororten der Hauptstadt gesäumt wird. Ein Küstendampfer stampfte in einer Entfernung von knapp einem Kilometer an uns vorbei, und sein Kielwasser versetzte unser Boot in ein leichtes Schwanken. Das uns am nächsten gelegene Ufer schien weiter weg denn je.

«Laß uns umkehren«, sagte ich übergangslos.

«Nein, nein. «Er hatte für derart ängstliche Vorschläge nichts übrig.»Sie haben ihm fünfzehnhundert Kronen gezahlt.«

«Mir ist kalt«, sagte ich.

Er sah überrascht auf.»Es ist doch noch nicht Winter.«

Ich gab ein Geräusch von mir, das halb Lachen und halb Zähneklappern war.»Sommer ist es aber auch nicht gerade.«

Er warf einen unbestimmten Blick in die Runde.»Bob Sherman hat hier in Norwegen sechsmal an Rennen teilgenommen«, sagte er.»Dies letzte war sein siebentes.«

«Bitte, Arne, erzähl mir im Hotel davon, ja?«

Er schenkte mir seine volle Aufmerksamkeit.»Was ist los?«

«Ich bin nicht schwindelfrei.«

Er sah mich verständnislos an. Ich nahm meine steifgefrorene Hand aus der Tasche, ließ sie über die Bordwand hängen und zeigte nach unten. Arnes Gesicht entspannte sich, als er begriff, und sein Mund, den er normalerweise argwöhnisch zusammenpreßte, verzog sich zu einem breiten Grinsen.

«Tut mir leid, David. Ich fühle mich halt auf dem Wasser pudelwohl. Wie im Schnee auch. Entschuldige.«

Er drehte sich sofort um und wollte den Außenbordmotor anwerfen, hielt dann aber inne und sagte:»Er könnte auch ganz einfach über die Grenze nach Schweden gefahren sein. Der Zoll dort würde sich für Kronen nicht interessieren.«

«Mit was für einem Auto?«fragte ich.

Arne dachte nach.»Ah, ja!«Er blinzelte ein bißchen.»Vielleicht hat ihn ein Freund gefahren.«

«Wirf den Motor an«, ermunterte ich ihn.

Achselzuckend und kopfschüttelnd wandte er sich dem Außenbordmotor zu und drückte die entsprechenden Knöpfe.

Ich hatte halb erwartet, daß sich der Motor als ebenso leblos wie meine Finger erweisen würde, aber der Funke traf auf das Gas, wie es sich gehörte, und Arne peilte nun heißen Kaffee und wärmende Heizungen an.

Das Dinghi klatschte behende auf den kleinen Wellen dahin, und der Seitenwind sprühte mir Gischt auf die linke Wange. Ich schlug meinen Jackenkragen hoch und zog den Kopf wie eine Schildkröte ein.

Arnes Mund bewegte sich, aber bei dem Tosen der Wellen, dem Motorenlärm und dem Rascheln der Jacke an meinen Ohren konnte ich kein Wort verstehen.

«Was?«brüllte ich.

Er wiederholte, was immer er gesagt hatte, jetzt etwas lauter. Ich schnappte trotzdem nur Wortfetzen wie» undankbares Schwein «und» elender Dieb «auf und dachte mir, daß sie wohl seine Ansichten über den britischen Steeplechase-Jockey Bob Sherman wiedergaben. Arne Kristiansen hatte harte Zeiten durchlebt, seit sich ebendieser Bob Sherman mit den Tageseinnahmen durch das Drehkreuz der Rennbahn von 0vrevoll davongemacht hatte, denn Arne war nicht nur der amtlich bestellte Ermittler des norwegischen Jockey Club, sondern auch für die Sicherheit auf den Rennbahnen verantwortlich.

Der Diebstahl war, wie er mich hatte wissen lassen, als wir auf den Fjord hinaustuckerten, eine Beleidigung nicht nur seiner Person, sondern auch Norwegens. Ausländische Besucher sollten im Gastland nicht stehlen. Die Norweger seien keine Kriminellen, sagte er und führte als Beweis statistische Angaben wie etwa die Gefängnisstrafen pro eine Million Einwohner an. Wenn sich Briten in Norwegen aufhielten, so Arne, dann sollten sie sich nicht als Langfinger betätigen.

Aus Mitgefühl unterließ ich es, ihn auf die Raubzüge aufmerksam zu machen, die seine Landsleute nach Britannien unternommen hatten — schließlich lagen die ja auch tausend Jahre oder so zurück, und die modernen Wikinger fotografierten wohl eher friedlich den Buckingham Palace, als daß sie brandschatzten, vergewaltigten, raubten und plünderten. Hinzu kam, daß ich mich als Brite durchaus ein wenig für Bob Sherman schämte — so hatte ich mich doch tatsächlich für sein Verhalten entschuldigt.

Arne war immer noch nicht fertig — bei diesem Thema brauchte er unglücklicherweise niemanden, der ihm die Stichworte lieferte. Aussprüche wie» Er hat mich in eine ganz unmögliche Lage gebracht!«gingen ihm von den Lippen, als hätte er sie wochenlang geübt — was er, wenn man genau darüber nachdachte, ja auch getan hatte. Seit dem Diebstahl waren immerhin drei Wochen und vier Tage vergangen. Vor achtundvierzig Stunden hatte mich der Vorsitzende der Rennbahn angerufen und gebeten, einen Ermittler des Jockey Club herüberzuschicken, der ihnen bei der Untersuchung helfen sollte. Ich hatte (wie man schon erraten haben wird) mich selbst geschickt.

Bislang hatte ich weder den Vorsitzenden der Rennbahn kennengelernt noch die Rennbahn zu Gesicht bekommen und war überhaupt noch nie zuvor in Norwegen gewesen. Ich hatte Arne auf den Fjord hinausbegleitet, weil Arne der einzige Mensch war, den ich hier kannte.

Vor drei Jahren war Arnes Haar, das jetzt sorgsam unter der gefütterten roten Kappe verborgen war, hellblond gewesen, mit einem Graustich an den Schläfen. Seine Augen waren von einem so strahlenden Blau wie eh und je, die Fältchen nicht tiefer geworden, nur die Tränensäcke sahen sehr viel schwerer aus. Die Gischt wehte auf eine Haut, die wettergegerbt, aber nicht sonnenverbrannt war — eine dick aussehende, unempfindliche, gelblich-weiße Haut, die vierzig Winter oder mehr höckrig und narbig gemacht hatten.

Er stieß noch immer kurze, gekränkte, nur halb zu verstehende

Monologfetzen hervor. Ich gab es auf, ihm zuzuhören. Es war zu kalt.

Abrupt brach er ab und sah mit hochgezogenen Augenbrauen auf einen fernen Punkt irgendwo hinter meiner linken Schulter. Ich drehte mich um. Eine große Motorjacht kam nicht weit von uns entfernt mit hoher Geschwindigkeit quer durch den Fjord auf uns zu, und an ihren Seiten hob sich die Bugwelle zu schweren Silberflügeln.

Ich drehte mich wieder zu Arne um. Er zuckte die Achseln, zeigte kein Interesse. Ausgerechnet in diesem Augenblick entschied sich der Außenbordmotor zu stottern, zu husten und dann abgewürgt zu verstummen.

«Verdammt«, sagte Arne laut, und das war nichts im Vergleich zu dem, was ich dachte.

«Die Leute da werden uns helfen«, verkündete er, deutete auf das herannahende Motorboot und stand ohne zu zögern auf, spreizte die Beine und machte mit seinen scharlachroten Armen weitausholende, winkende Bewegungen.

Ich drehte mich auf meiner Bank und beobachtete die Motorjacht, die schnell näher kam.

«Die werden uns an Bord nehmen«, sagte Arne. Die Motorjacht schien ihre Geschwindigkeit nicht drosseln zu wollen. Ich konnte jetzt den glänzenden schwarzen Rumpf und den scharfen, das Wasser durchschneidenden Bug genau erkennen; die Silberflügel der Bugwelle wirkten so hoch und schwer wie zuvor.

Wenn nicht sogar noch höher und noch schwerer.

Ich wandte mich mit einem ersten Anflug von Besorgnis zu Arne um.

«Die sehen uns nicht«, sagte ich.

«Das müssen sie aber«, erwiderte Arne. Er winkte jetzt heftiger, was unser Dinghi gefährlich ins Schaukeln brachte.

«He!«Arne rief zur Motorjacht hinüber, dann schrie er sie an — auf norwegisch.

Der Wind wehte seine Worte davon. Der Mann am Steuer des Motorbootes hörte und sah nichts. Der scharfe, harte, glänzende schwarze Bug raste mit einer Geschwindigkeit von vierzig Knoten direkt auf uns zu.

«Spring!«schrie Arne, und er sprang. Ein scharlachroter Blitz, der ins Wasser fuhr.

Ich war nicht so schnell, dachte vielleicht, daß das Unvorstellbare nicht geschehen, daß die Bugwelle unser Dinghi zur Seite drücken werde, wie sie etwa einen Schwan zur Seite gedrückt hätte, glaubte, unser zerbrechliches kleines Boot könne so leicht beiseite geschoben werden wie ein Vogel.

Etwa eine Sekunde, bevor der Bug den Fiberglasrumpf wie eine Eierschale zerschlug, ließ ich mich über die Seitenwand ins Wasser plumpsen. Irgend etwas versetzte mir einen gewaltigen Schlag auf die Schulter, und ich ging, nach dem Schock des Eintauchens in das kalte Wasser noch nach Luft schnappend, in einer brüllenden, tobenden Dunkelheit unter.

Menschen, die über Bord gehen, kommen ebensooft durch die Schiffsschrauben ums Leben wie durch Ertrinken, was mir aber erst einfiel, als sich die Doppelschraube schon an mir vorbeigewühlt und mich nicht zerhackt hatte. Ich kam prustend und nach Luft ringend im wild schäumenden Kielwasser der Motorjacht, die unbekümmert den Fjord hinunterraste, wieder hoch.

«Arne!«rief ich, was ungefähr so sinnvoll war wie in der Themse nach Diamanten zu baggern. Eine Welle schlug mir in den offenen Mund, und ich schluckte ein doppeltes Salzwasser pur.

Die See schien in Augenhöhe sehr viel rauher zu sein als von oben gesehen. Ich strampelte in hohen, kabbeligen Wellen mit krausen weißen Kronen herum, deren Schaum mir in die Augen geblasen wurde, und rief immer wieder nach Arne. Schrie seinen Namen mit wachsender Sorge um ihn und aus Angst um mich selbst — aber der Wind riß die Schreie fort und schlug sie in Stücke.

Vom Dinghi keine Spur. Mein letzter Eindruck war gewesen, daß die Motorjacht das kleine Boot säuberlich in zwei Hälften zerschnitten hatte, die jetzt zweifellos langsam kreiselnd auf den weit entfernten Meeresboden hinabsanken.

Diese Vorstellung ließ mich genauso schaudern wie die Kälte.

Von Arne war nirgends etwas zu entdecken. Kein rotbemützter Kopf, keine roten, winkenden Arme, kein fröhliches Lächeln, das mir gesagt hätte, wie pudelwohl er sich im Wasser fühlte, und daß Sicherheit und warme Muffins hier entlang, genau hier, zu finden seien.

Überall um mich herum waren hellgraue, nebelverhangene Höhen zu sehen. Das Ufer war nirgends besonders nahe — nach meiner Schätzung waren es etwa drei Kilometer bis dorthin, in welche Richtung ich auch blickte.

Wassertretend zog ich mir meine Sachen aus, wobei ich mich weiterhin verzweifelt nach Arne umsah und immer noch damit rechnete, daß ich ihn jeden Augenblick zu Gesicht bekommen würde.

Aber da war nichts als das aufgewühlte, klatschende Wasser. Ich dachte an die Schrauben der Motorjacht und an Arnes weitschäftige Gummistiefel, die sich innerhalb weniger Sekunden mit Wasser gefüllt haben mußten. Schließlich ging mir durch den Kopf, daß ich höchstwahrscheinlich an der Stelle, wo ich mich gerade befand, ertrinken würde, wenn ich Arnes Verschwinden nicht als gegeben hinnahm und mich in Richtung Ufer in Bewegung setzte.

Ich streifte die Schuhe von den Füßen und kämpfte mit dem Reißverschluß der Regenjacke. Dann riß ich die Knöpfe meines Jacketts auf und wand mich gleichzeitig aus beiden Jacken. Ich ließ sie los, aber dann fiel mir meine Brieftasche ein, und obwohl es mir verrückt vorkam, zog ich sie aus der Innentasche des Jacketts und schob sie unter mein Hemd.

Die beiden Jacken trieben noch eine Weile auf der Wasseroberfläche dahin und verschwanden dann, vollgesogen, aus meinem Blickfeld. Ich zog meine Hose aus und schickte sie den Jacken hinterher.

Ein Jammer, dachte ich. Das war ein schöner Anzug gewesen.

Das Wasser war wirklich sehr kalt. Ich schwamm los. In den Fjord hinein, Richtung Oslo. Wohin sonst?

Ich war dreiunddreißig Jahre alt und robust und hatte mehr Statistiken im Kopf, als mir lieb war. Ich wußte zum Beispiel, daß ein normaler Mensch in ein Grad kaltem Wasser keine Stunde überleben kann.

Ich versuchte, ohne Hast und mit langen, möglichst wenig kräftezehrenden Zügen zu schwimmen, um den Augenblick der Erschöpfung hinauszuzögern. Die Wassertemperatur im Oslofjord betrug nicht ein Grad über Null, sondern wenigstens fünf. Wahrscheinlich war das Wasser nicht sehr viel kälter als das, was in diesem Augenblick bei Brighton gegen den englischen Strand brandete. In fünf Grad kaltem Wasser konnte man. hm, diese statistische Angabe war mir nun doch nicht gegenwärtig, da mußte ich mich mit vagen Vermutungen begnügen. Aber man konnte wohl lange genug überleben, um etwas mehr als drei Kilometer zu schaffen.

Bruchstücke aus lange zurückliegenden Geographiestunden ergaben keinen Sinn.»Der Golfstrom erwärmt die Küste Norwegens. «Der gute alte Golfstrom. Wo war er nur hin?

Für mich war Kälte noch nie etwas Positives gewesen. Wahrscheinlich hatte ich noch niemals richtig gefroren, sondern immer nur gefröstelt. Diese Kälte hier grub sich tief in jede Muskelfaser und tat mir im Bauch weh. Meine Hände und Füße waren ohne Gefühl, meine Arme und Beine schwer. Die echten

Langstreckenschwimmer hatten eine schöne dicke, isolierende Fettschicht unter der Haut — ich nicht. Sie schmierten sich außerdem noch ordentlich mit wasserabweisender Fettcreme ein und schwammen neben Versorgungsbooten her, die sie auf Anforderung per Schlauch mit heißem Kakao versorgten. Natürlich schwammen echte Langstreckenschwimmer auch dreißig oder mehr Kilometer weiter als ich.

Ich schwamm.

Die Wellen kamen mir erschreckend hoch vor — ich konnte nur dann sehen, wohin ich schwamm, wenn ich Wasser trat und den Kopf hochreckte, was aber Zeit und Kraft kostete. Das Ufer, das am nächsten zu liegen schien, war für meine vom Salz brennenden Augen so weit entfernt wie eh und je. Und angeblich wimmelte doch der Oslofjord nur so von Schiffen und Booten. Ich konnte jedoch kein einziges entdecken.

Verdammt und zugenäht, dachte ich, ich habe nicht die Absicht zu ersaufen. Nein, ganz und gar nicht!

Ich schwamm.

Das Tageslicht schwand langsam dahin. Die See, der Himmel und die fernen Berge zeigten ein dunkleres Grau. Es fing an zu regnen.

Ich kam allem Anschein nach nur sehr langsam voran. Das Land, auf das ich zuhielt, schien mir immer gleich weit entfernt zu sein. Ich fragte mich, ob nicht vielleicht irgendeine Strömung jeden Meter, den ich vorwärtsschwamm, wieder aufhob — aber wenn ich mich umdrehte, konnte ich feststellen, daß das Land hinter mir doch immer weiter zurückblieb.

Ich schwamm ganz mechanisch, wurde langsam müde.

Die Zeit verging.

Plötzlich gingen vor mir, weit entfernt, in der immer tiefer werdenden Spätnachmittagsdämmerung stecknadelkopfgroße Lichter an. Jedesmal, wenn ich wieder hinsah, waren es mehr.

Die Stadt schaltete ihre abendliche Beleuchtung ein.

Zu weit weg, dachte ich. Für mich sind sie viel zu weit weg. Überall um mich herum Land und Leben, und ich kann es nicht erreichen.

Unter mir eine grauenvolle Tiefe. Und das, obwohl ich doch ganz und gar nicht schwindelfrei war!

Ein kalter, einsamer Tod, das Ertrinken.

Ich schwamm. Was sollte ich sonst auch tun.

Als etwas höher und ein Stück weiter links wieder ein Licht anging, dauerte es mindestens eine Minute, bis die dazugehörige Nachricht mein träges Gehirn erreicht hatte. Ich trat Wasser, wischte mir, so gut es gehen wollte, Regen- und Meerwasser aus den Augen und versuchte herauszukriegen, woher das Licht kam — und tatsächlich war sehr viel näher als bei meinem letzten Rundblick der solide, graue Umriß von Land zu erkennen.

Häuser, Lichter und Menschen. Alles da, dort irgendwo auf diesem Felsenbuckel.

Dankbar schwenkte ich fünfzehn Grad nach links und schwamm schneller, gab die sorgfältig aufgesparten Kraftreserven her wie ein reumütiger Geizhals. Und das war dumm von mir, denn vor mir lag kein sanft abfallender Strand. Als ich das kostbare Land erreicht hatte, zeigte sich, daß es ein glatter, senkrecht aus dem Wasser aufragender Felsen war. Nicht ein einziger vorspringender Stein, nicht eine Spalte — nichts, woran man sich festhalten und wenigstens kurz von der Anstrengung des Sich-über-Wasser-Haltens ausruhen konnte.

Der letzte halbe Kilometer war am schlimmsten. Ich konnte das Land zwar berühren, aber es bot nichts, woran ich mich hätte festklammern können. Es mußte irgendwo eine Bresche geben, wenn ich nur weit genug schwamm, aber ich war mit meinen Kräften so gut wie am Ende. Ich kämpfte mich matt durch die Wellen vorwärts und hatte dabei den undeutlichen Wunsch, ich könnte durch warmes, ruhiges Wasser gleiten wie

Mark Spitz, dann anschlagen und mich an einer schönen metallenen Stange festhalten, die Füße sicher auf dem Beckenboden. In Wirklichkeit aber machte ich wenig später eine Art Bauchklatscher auf eine schmale, von großen Felsbrocken gesäumte Bootsrampe.

Ich lag halb im Wasser, halb draußen, und rang nach Atem, der mir ganz ohne mein Wissen abhanden gekommen war. Meine Brust hob und senkte sich schnell. Ich hustete.

Es war nicht richtig dunkel, sondern es herrschte diese langsame nördliche Dämmerung. Es hätte von mir aus auch drei Uhr morgens sein können — der kalte, nasse Beton unter meiner Wange fühlte sich so warm und weich an wie ein Federkissen.

Oben knirschten in gleichmäßigem Rhythmus Schritte den Kai entlang, und dann war es plötzlich still.

Ich bemühte mich, den Kopf ein wenig anzuheben und mit einer abgestorbenen Hand matt zu winken.

«Hvem er der?« fragte eine Männerstimme. Oder so etwas Ähnliches.

Ich ließ eine Art von Krächzen hören, und da kam er, vorsichtig seitwärts gehend, die Bootsrampe herunter auf mich zu, eine gut eingepackte, wenn auch in der regennassen Düsterkeit nur verschwommen erkennbare Gestalt.

Er wiederholte seine Frage, die ich immer noch nicht verstand.

«Ich bin Engländer«, sagte ich.»Können Sie mir bitte helfen?«

Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts. Dann ging der Mann fort.

Was soll’s, dachte ich. Zumindest von der Hüfte an aufwärts war ich sicher in Norwegen angekommen. Ich hatte einfach nicht die Energie, mich hinaufzuziehen, bis meine Füße aus dem Wasser waren, jedenfalls noch nicht gleich. Aber das wird schon noch kommen, dachte ich, nur mit der Ruhe.

Der Mann kehrte zurück und brachte einen Freund mit. Wie undankbar von mir, ihn so zu verkennen!

Der Begleiter spähte durch den Regen und fragte:»Sie sind Engländer? Haben Sie gesagt, daß Sie Engländer sind?«Sein Ton schien auszudrücken, daß die englische Nationalität solche Torheiten wie das oktoberliche Badengehen in Oberhemd und Unterhose oder das Herumliegen auf Bootsrampen automatisch erklärte.

«Ja«, erwiderte ich.

«Sind Sie über Bord gegangen?«

«In gewisser Weise.«

Ich spürte, wie er seine Hand unter meine Achsel schob.

«Kommen Sie. Raus aus dem Wasser!«

Ich quälte mich aus dem Wasser auf die Bootsrampe und kroch dann — mehr oder weniger mit Unterstützung meiner beiden Retter — bis zum Kai hinauf, der mit Pfosten und Geländer eingefaßt war. Ich saß, den Rücken an einen dieser Pfosten gelehnt, auf dem Boden und wünschte, ich hätte genug Kraft aufzustehen.

Die beiden Männer berieten sich auf norwegisch. Dann sagte der, der Englisch sprach:»Wir bringen Sie in mein Haus, damit Sie trocken und warm werden.«

«Danke«, sagte ich, und das kam bei Gott von Herzen.

Einer von ihnen ging wieder fort und kehrte mit einem alten, zerbeulten Lieferwagen zurück. Sie bestanden darauf, daß ich mich auf den Beifahrersitz setzte, obwohl ich anbot, nach hinten zu gehen und den Laderaum naß zu machen, und dann brachten sie mich auf schnellstem Weg zu einem ein paar hundert Meter entfernten Holzhaus, das in der Nähe von ein oder zwei anderen stand. Kein Dorf, keine Geschäfte, kein Telefon.

«Dies ist eine Insel«, erklärte mir mein Retter.»Einen Kilometer lang, dreihundert Meter breit. «Er nannte mir ihren Namen, den ich aber nicht ganz mitbekam.

Das Wohnzimmer war klein und hell. Es wurde von einem riesigen Kachelofen erwärmt, der mindestens ein Sechstel des Raumes einnahm. Im Licht der Stube erwies sich, daß mein Retter ein kleiner, freundlicher Mann mittleren Alters war, der seine Hände zum Arbeiten benutzte. Er schüttelte bei meinem Anblick den Kopf und brachte zuerst eine Decke herbei und dann, nach einigem Herumkramen, ein dickes Baumwollhemd und ein Paar Hosen.

«Sie sind kein Seemann«, sagte er in feststellendem Ton, während er zusah, wie ich mich von Hemd und Unterhose zu befreien suchte.

«Nein«, gab ich ihm recht.

Meine Brieftasche fiel zu Boden. Ich war ganz überrascht, daß sie noch da war — ich hatte sie völlig vergessen. Der nur norwegisch sprechende Retter hob sie höflich auf und reichte sie mir mit einem breiten Grinsen. Er sah seinem Freund sehr ähnlich.

Unterbrochen von nicht zu unterdrückenden Zitteranfällen erzählte ich ihnen, was passiert war, und fragte sie, wie ich in die Stadt zurückkommen könne. Sie besprachen die Sache, während ich mich anzog, wobei sie zuerst häufig den Kopf schüttelten, schließlich aber ein paarmal nickten.

«Wenn Sie sich aufgewärmt haben, bringen wir Sie mit dem Boot hin«, sagte derjenige, der Englisch sprach. Er sah zu der Brieftasche hin, die jetzt auf einem Tisch aus gewachstem Fichtenholz lag.»Wir möchten Sie nur bitten, uns den Sprit zu bezahlen. Wenn Ihnen das möglich ist.«

Wir zogen zusammen das durchweichte Geld heraus und breiteten es auf dem Tisch aus. Ich bat sie, sich soviel davon zu nehmen, wie sie wollten, aber nach einer kurzen Beratung wählten sie nur einen Fünfzigkronenschein. Ich drängte sie, die Summe zu verdoppeln. Es würde nicht soviel kosten, wehrten sie ab, legten aber schließlich doch zwei Scheine beiseite und trockneten den Rest für mich so schnell auf dem Ofen, daß sich die Ecken einrollten. Nach weiteren Beratungen gingen sie an einen Schrank und holten eine Flasche mit einer blaßgelben Flüssigkeit heraus. Der Flasche folgte ein kleines Gläschen, in das ein beschiedenes Schlückchen eingegossen wurde. Dann reichten sie mir das Glas.

«Skol!« sagten sie.

«Skol!« wiederholte ich.

Sie sahen mir interessiert beim Trinken zu. Mildes Brennen in der Kehle, Hitze im Magen, und schon bald breitete sich Wärme in den gefrorenen Adern aus.

Sie lächelten.

«Aquavit«, sagte mein Gastgeber und verstaute die kostbare Flasche wieder, auf daß sie für den nächsten bedürftigen Fremden bereitstehe, der an ihre Tür geschwommen kam.

Sie schlugen vor, ich sollte mich eine Weile auf den einzigen bequem aussehenden Stuhl setzen und mich ausruhen. Da verschiedene Muskeln immer noch vor Schwäche zitterten, schien mir das eine gute Idee zu sein, und so ruhte ich mich aus, während sie damit beschäftigt waren, Ölzeug herbeizuholen. Als sie mit Anziehen fertig waren, hatte meine Haut das häßliche bläulich-purpurne Weiß verloren und wieder ihre übliche Blässe angenommen.

«Fühlen Sie sich jetzt besser?«erkundigte sich mein Gastgeber lächelnd.

«Ganz entschieden.«

Die beiden nickten erfreut und hielten mir ein überzähliges Ölzeug hin, das ich jetzt haben konnte. Sie brachten mich in einem großen, übelriechenden Fischkutter durch den lichtergesäumten Fjord in die Stadt zurück, und es regnete die ganze Zeit. Ich rechnete während der Fahrt aus, daß ich etwa zwei Stunden im Wasser gewesen sein mußte, was nicht viel über die Strömungsverhältnisse im Fjord, die Ineffektivität meines Schwimmens oder die Entfernung, die ich zurückgelegt hatte, aussagte, immerhin aber zuverlässig bewies, daß das Wasser wärmer gewesen war als ein Grad über Null.

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