Kapitel 12

Die Kinder erkannten das Wort, aber sie glaubten es natürlich nicht. Die Leute in London hatten es auch nicht geglaubt, bis ihnen dann die herumfliegenden Glassplitter die Gesichter zerschnitten.

«Sagen Sie ihnen, sie sollen laufen«, sagte ich zu Knut. Er entschloß sich, die Sache ernst zu nehmen, auch auf die Gefahr hin, daß es sich um einen falschen Alarm handelte. Er sagte etwas Unmißverständliches zu dem Polizeibeamten, und er ergriff Eriks Arm.

Er kannte seinen Bruder und hatte ihn wohl besonders gern. Er packte zu, gerade als Erik leise» Odin «sagte und den ersten Schritt auf das Auto zu tun wollte.

Es war fast ein Ringkampf. Knut wollte Erik nicht loslassen, und dieser geriet außer sich. Knut umklammerte daraufhin den Arm seines Bruders mit einem Griff, der einen besoffenen Schwergewichtsboxer an jeder weiteren Bewegung gehindert hätte, und Eriks Gesicht verzerrte sich vor Verzweiflung. Die beiden zogen sich einen umkämpften Schritt nach dem anderen vom Auto zurück.

Der Polizist hatte die Kinder in eine sichere Entfernung gescheucht und schrie herankommenden Fußgängern zu, sie sollten in Deckung gehen. Niemand beachtete mich. Wie der Blitz sauste ich zum Auto, zerrte die Tür auf und rannte um mein Leben.

Aber selbst jetzt wollte der elende Hund nicht gleich aus dem Auto herauskommen. Dazu bedurfte es erst eines trommelfellzerreißenden Pfiffs von Erik — da endlich kam mir Odin mit großen Sätzen über den Bürgersteig nachgesprungen, als dächte er, wir wollten spielen.

Die Bombe ging genau in dem Augenblick hoch, als Odin mich eingeholt hatte und wir etwa zwanzig Meter vom Auto entfernt waren. Der Explosionsdruck traf uns wie ein schwerer Schlag in den Rücken und warf uns zu Boden — die Wucht war so ungeheuer groß, daß wir keine Luft mehr kriegten und schlaff und schwer mitgenommen auf der Erde lagen.

An irischen Maßstäben gemessen keine große Bombe. Aber diese war wahrscheinlich auch nicht dazu bestimmt gewesen, ein ganzes Viertel zu zerstören. Nur die Insassen eines Autos. Zwei Männer und einen Hund.

Knut half mir auf, während Erik sich Odins Halsband schnappte, niederkniete und ihn tröstend tätschelte. Odin, fast wieder so munter wie immer, sabberte ihn dafür von oben bis unten voll.

«Das war dumm«, sagte Knut.

«Ja«, gab ich zu.

«Sind Sie verletzt?«

«Nein.«

«Sie hätten es verdient.«

«Vielleicht hätte es noch Stunden gedauert, bis sie hochgegangen wäre.«

«Sie hätte aber auch hochgehen können, als Sie noch danebenstanden.«

Eriks Auto war hin. Herausgedrückte Scheiben, zerfetzte Sitze, ein aufgesprengter Kofferraum. Ich zupfte mir kleine Glassplitter aus dem Haar auf meinem Hinterkopf und fragte Erik, ob das Auto versichert sei.

«Ich weiß nicht«, antwortete er zerstreut. Er rieb sich den Arm an der Stelle, wo Knut ihn festgehalten hatte.»Knut wollte, daß ich warte, bis ein Experte nachgesehen hätte, ob es wirklich eine Bombe sei, und sie, wenn ja, entschärft hätte.«

«Damit hatte Knut vollkommen recht.«

«Sie hat er aber nicht zurückgehalten.«

«Ich bin auch nicht sein Bruder. Er hatte mit Ihnen schon genug zu tun, und überhaupt war die Bombe wahrscheinlich für mich bestimmt.«

«Was für eine grausige Todesart. «Er richtete sich wieder auf und grinste plötzlich über das ganze Gesicht» Wie auch immer, herzlichen Dank«, sagte er. Was ganz schön hochherzig war, wenn man an den Zustand seines Volvos dachte.

Jetzt, wo das Feuerwerk vorbei war, kamen auch die Kinder wieder zurück und bestaunten mit großen Augen das Wrack. Ich bat Knut, das kleine Mädchen ausfindig zu machen, dem der Unbekannte gesagt hatte, es solle nach Hause laufen, aber Knut hatte schon den Polizisten nach ihr losgeschickt.

Vom Auto einmal abgesehen, war kaum Schaden entstanden. Bei einem finster aussehenden Gebäude auf der anderen Straßenseite waren ein paar Scheiben zu Bruch gegangen, aber weder der Gitterzaun noch die zitternden Parkbüsche neben dem Volvo schienen gelitten zu haben. Autos, die ein paar Meter entfernt vor und hinter dem Volvo standen, hatten durch herumfliegende Glassplitter ein paar Kratzer abbekommen, waren sonst aber unbeschädigt. Wäre die Bombe während der Fahrt durch eine der geschäftigen Straßen Oslos hochgegangen, so hätte sie weitaus größeren Schaden angerichtet.

Das kleine Mädchen war blond, ernst, in einen roten Anorak mit Kapuze eingepackt und erschien in Begleitung eines größeren, ungefähr dreizehnjährigen, schimpfenden Mädchens, das sich eigentlich um die Kleine hatte kümmern sollen und nun damit beschäftigt war, sich zu rechtfertigen. Knut gewann — wie schon bei dem Jungen auf der Rennbahn — schnell das Zutrauen des kleinen Mädchens, indem er sich vor ihm hinkauerte und in ruhigem Ton mit ihm plauderte.

Ich lehnte am Gitterzaun, und mir war kalt. Ich sah Erik zu, wie er immer wieder über Odins Fell strich, und es entging mir nicht, daß er mit seinen kleinen, beherrschten Gesten langsam eine gewaltige innere Anspannung abbaute. Odin schien das alles großen Spaß zu machen.

Knut stand auf und nahm das kleine Mädchen bei der Hand.

«Sie heißt Liv und ist vier Jahre alt. Sie wohnt ein paar hundert Meter von hier und hat mit ihrer Schwester im Park gespielt. Sie ist aus dem Tor dort hinten gekommen und die Straße hinuntergegangen. Ihre Schwester hatte ihr das zwar verboten, aber Liv meint, sie tue nie, was ihre Schwester ihr sage.«

«Die Schwester ist verdammt diktatorisch«, ließ sich Erik plötzlich hören.»Kleine Faschistin!«

«Liv sagt, da wäre ein Mann gewesen, der hätte hinten am Auto einen Bindfaden durchgeschnitten, und der große Hund hätte ihm durch die Scheibe zugeschaut. Sie wäre stehengeblieben und hätte auch zugesehen. Sie hätte hinter dem Mann gestanden, der sie weder gesehen noch gehört hätte. Sie sagt, er hätte etwas aus seinem Mantel hervorgeholt und in den Kofferraum gelegt, aber sie hätte nicht erkennen können, wie es ausgesehen habe. Der Mann hätte dann versucht, den Kofferraum wieder zuzumachen, aber die Schnur wäre zu kurz gewesen, weil er sie ja durchgeschnitten hatte. Er hätte den Bindfaden wieder in die Tasche gesteckt und im gleichen Augenblick sie, Liv, bemerkt. Er hätte ihr gesagt, sie solle weggehen, aber Liv scheint ein Kind zu sein, das immer das Gegenteil von dem tut, was man ihm sagt. Sie wäre also zum Auto hingegangen und hätte sich durch die Seitenfenster den Hund angesehen, der Hund hätte jedoch immer weiter zum Heckfenster hinausgeschaut. Da hätte der Mann sie geschüttelt und ihr gesagt, sie solle sofort nach Hause laufen und ja nicht in der Nähe des Autos spielen. Dann wäre er weggegangen.«

Knut sah auf die kleine Schar der Kinder hinab, die sich wieder um Liv zu sammeln begann.

«Sie gehört zu den Kindern, die andere anziehen. Wie jetzt. Die anderen Kinder, sagt sie, wären aus dem Part, gekommen, und sie hätte ihnen von dem Mann erzählt und wie er den Bindfaden zerschnitten und dann versucht hätte, damit den Kofferraum wieder zuzubinden. Wie es scheint, hat sie das am meisten interessiert. Dann kam ein Polizist auf seinem Weg zum Nachmittagsdienst vorbei, und er hat die Kinder gefragt, warum sie dort herumstünden.«

«Und dann kamen wir?«

«Ja.«

«Hat Liv auch gesagt, wie der Mann aussah?«

«Groß, sagt sie. Aber für kleine Mädchen sind ja alle Männer groß.«

«Konnte sie sein Haar sehen?«

Knut fragte das Mädchen. Liv antwortete ihm. Knut sagte:

«Sie sagt, er hätte eine Wollmütze aufgehabt, wie ein Seemann.«

«Was hatte er für Augen?«

Knut fragte. Sie hob ihre klare, hohe, feste Stimme, und alle Kinder schienen interessiert.

«Er hätte gelbe Augen gehabt. Scharf wie die eines Vogels.«

«Hatte er Handschuhe an?«

Knut befragte Liv.»Ja«, berichtete er.

«Was für Schuhe?«

Zurück kam die Antwort: große, weiche, wie man sie auf einem Boot trägt.

Kinder waren doch die besten Zeugen, die es auf Erden gab. Ihre Augen sahen klar, ihr Gedächtnis war genau, und ihre Eindrücke wurden nicht auf ihre Wahrscheinlichkeit hin geprüft oder durch Vorurteile interpretiert. Als Liv noch etwas hinzufügte, was Knut, Erik und die anderen Kinder zum Lachen brachte, fragte ich, was sie gesagt hatte.

«Sie muß sich geirrt haben«, sagte Knut.

«Was hat sie denn gesagt?«

«Sie sagte, er hätte einen Schmetterling am Hals gehabt.«

«Fragen Sie sie, was für eine Art von Schmetterling«, sagte ich.

«Es ist zu spät für Schmetterlinge«, meinte Knut geduldig.

«Zu kalt.«

«Fragen Sie sie, wie er aussah«, drängte ich.

Er zuckte die Achseln, fragte das Mädchen aber. Die Antwort überraschte ihn offensichtlich, denn Liv nickte bei ihrer Beschreibung des Schmetterlings immer wieder kurz und entschieden mit dem Kopf. Sie wußte, daß sie einen Schmetterling gesehen hatte.

Knut sagte:»Sie meint, er hätte ihm hinten auf dem Hals gesessen. Sie hätte ihn sehen können, weil er den Kopf runtergebeugt hätte. Der Falter wäre zwischen der Wollmütze und dem Kragen zu sehen gewesen und hätte sich nicht bewegt.«

«Welche Farbe hatte er?«

Knut befragte das Mädchen.»Dunkelrot.«

«Ein Muttermal?«

«Könnte sein«, meinte Knut. Er stellte dem Mädchen noch ein paar weitere Fragen und nickte mir dann zu.»Ich denke, es war eins«, sagte er.»Sie sagt, der Schmetterling hätte zwei Flügel gehabt, die geöffnet und ganz flach gewesen seien, einer aber größer als der andere.«

«Jetzt brauchen wir also nur noch einen großen Mann mit gelben Augen und einem schmetterlingsförmigen Muttermal.«

«Oder einen kleinen Mann«, sagte Erik,»mit der Sonne in den Augen und einem ungewaschenen Hals.«»Keine Sonne«, sagte ich. Der bleigraue Himmel lastete auf allem wie eine Armeedecke, schwer und ohne jede Wärme. Mein inneres Frösteln hatte jedoch nur wenig mit der Kälte zu tun.

Knut schickte jetzt den Polizisten mit dem Auftrag los, die für Fingerabdrücke und Sprengstoffe zuständigen Experten herbeizuholen. Dann notierte er sich die Namen und Anschriften der meisten Kinder. Die Zuschauermenge wurde ein bißchen größer, und Erik fragte Knut unruhig, wann er nach Hause fahren könne.

«Womit denn?«fragte Knut anzüglich, und so stapften wir beinahe noch eine Stunde auf dem Bürgersteig hin und her.

Bei Einbruch der Dunkelheit kehrten wir in Knuts Büro zurück. Er zog den Mantel aus, nahm die Mütze ab und sah noch müder aus als vorher.

Ich fragte ihn, ob ich mal telefonieren dürfe, und rief bei Sandviks an, um mich für mein Ausbleiben zu entschuldigen. Ich bekam schließlich die Frau von Per Bj0rn an den Apparat, die erklärte, ihr Mann sei nicht zu Hause.

«Mikkel hat auf Sie gewartet, Mr. Cleveland«, sagte sie in einem Englisch mit starkem Akzent,»aber nach einer Stunde ist er mit einem Freund fortgegangen.«

«Bitte sagen Sie ihm doch, daß es mir sehr leid tut.«

«Ich werde es ausrichten.«

«Welche Schule besucht er eigentlich?«

«Das College in Gol«, antwortete sie, besann sich dann aber eines Besseren.»Ich glaube nicht, daß mein Mann.«

Ich unterbrach sie.»Ich frage mich gerade, ob es nicht möglich wäre, heute abend mit ihm zu sprechen, bevor er zurückfährt.«

«Oh. Er fährt mit seinen Freunden zurück. Sie sind schon unterwegs.«

«Na, macht nichts.«

Ich legte auf. Knut beschaffte gerade Kaffee.

«Wo ist das College von Gol?«fragte ich.

«Gol liegt in den Bergen, an der Strecke nach Bergen, der Stadt. Im Winter ist es ein Skiort. Das College ist ein Internat für reiche Jungen. Wollen Sie ganz bis dahin fahren, um mit Mikkel zu reden? Er weiß nichts über den Tod von Bob Sherman. Als ich mit ihm gesprochen habe, war er ganz fassungslos, daß sein Freund auf diese Weise umgekommen war. Er hätte mir geholfen, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre.«

«Wie fassungslos? Hat er geweint?«

«Nein, geweint nicht. Er wurde blaß. War sehr schockiert. Zitterte. War eben fassungslos.«

«Aufgebracht?«

«Nein. Warum sollte er aufgebracht gewesen sein?«

«Im allgemeinen werden Menschen ganz wild, wenn ihre Freunde ermordet werden. Sie würden den Mörder nur zu gern erwürgen, oder nicht?«

«Ach, das meinen Sie«, sagte Knut und nickte.»Nein, ich kann mich nicht erinnern, daß Mikkel besonders aufgebracht gewesen wäre.«

«Wie ist er so?«

«Halt ein Junge. Sechzehn. Nein, siebzehn. Intelligent, aber kein Überflieger. Von durchschnittlicher Größe, schlank, hellbraunes Haar, gut erzogen. Hat nichts Ungewöhnliches an sich. Ein netter Junge. Vielleicht ein bißchen nervös.«

Wir saßen herum, tranken unseren Kaffee. Odin bekam auch welchen, in einer Schale und mit einer Menge Zucker. Erik hatte sich von dem Beinahe-Verlust seines Gefährten wieder erholt und fing an, sich Gedanken über sein Auto zu machen.

«Ich werde mir wohl eins leihen müssen«, sagte er.»Um David fahren zu können.«»Du fährst David nicht mehr«, sagte Knut mit Entschiedenheit.

«Selbstverständlich fahre ich ihn.«

«Nein«, sagte Knut,»es ist zu gefährlich.«

Es trat eine kurze, bedeutungsvolle Stille ein. Jeder, der mich in Zukunft fuhr, mußte als gefährdet angesehen werden. Was mich als Mitfahrer in höchstem Maße unpopulär machte.

«Ich werde schon zurechtkommen«, sagte ich.

Erik fragte:»Wo wollen Sie denn als nächstes hin?«

«Morgen will ich zu Sven Wangen, dann nach 0vrevoll. Am Montag. hm, das weiß ich noch nicht.«

«Ich hätte nichts dagegen, noch einmal so ein großartiges Frühstück zu mir zu nehmen«, meinte er.

«Nein«, sagte Knut. Sie stritten eine Weile heftig miteinander, bevor Knut unterlag. Er sah mich mit finsterem Gesicht und zusammengepreßten Lippen an. Dann meinte er:»Erik sagt, wenn er eine Arbeit anfängt, dann bringt er sie auch zu Ende.«

Erik grinste und fuhr sich mit der Hand über sein widerspenstiges blondes Haar.»Nur langweilige nicht.«

Knut sagte ärgerlich:»Ich nehme an, du weißt, daß einer dieser Versuche zum Erfolg führen wird? Zwei sind schiefgegangen, aber.«

«Drei«, warf ich ein.»Schon an meinem ersten Tag in Norwegen hat jemand versucht, mich zu ertränken.«

Ich erzählte von der Motorjacht. Knut runzelte die Stirn und meinte:»Das könnte aber auch ein Unfall gewesen sein.«

Ich nickte.»Das dachte ich zunächst auch, aber jetzt glaube ich es nicht mehr. «Ich stand auf, um mir noch etwas heißen, starken, schwarzen Kaffee einzuschenken.»Ich bin durchaus Ihrer Meinung, daß sie zuletzt Erfolg haben werden, aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.«

«Geben Sie auf und fliegen Sie nach England zurück«, sagte

Knut.

«Würden Sie das tun?«

Er antwortete nicht. Und Erik auch nicht. Es gab keine Antwort auf meine Frage.

Knut schickte mich in einem Polizeiwagen zurück ins Grand Hotel, wo ich, da die Bar wieder geschlossen war (Samstag), früh zu Abend aß, meinen Koffer und Bob Shermans Helm beim Hausdiener abholte, mir aus den nicht belegten Zimmern wahllos eins aussuchte und dann den Abend oben allein verbrachte. In einem Sessel sitzend, dachte ich über ein paar schwer zu verdauende Tatsachen nach.

Zum Beispiel: Das Glück und kleine Mädchen waren nicht immer zur Stelle.

Oder: Beim nächsten Mal konnten sie zum Gewehr greifen, denn ein Schuß aus dem Hinterhalt war die sicherste Methode, jemanden zu töten.

Oder: Wenn ich morgen zu den Rennen ging, würde ich den lieben langen Tag Blut und Wasser schwitzen.

In dem Gedanken, daß das alte Gelbauge mit seinem Muttermal vielleicht ein lausig schlechter Schütze war, lag kein großer Trost.

Es tauchten auch noch verschiedene andere Gedanken auf, vor allem der, daß es eine Möglichkeit geben mußte, herauszufinden, wer Bob Sherman umgebracht hatte und warum. Es mußte sie geben, denn wenn nicht, wäre es ja nicht nötig, mich um die Ecke zu bringen. Knut hatte sie nicht entdeckt. Vielleicht hatte er die Lösung vor sich gehabt, sie aber nicht erkannt, was nur zu leicht passieren konnte. Vielleicht war es mir auch so ergangen, nur daß man mir zutraute, daß ich später doch noch zu deuten wußte, was ich gesehen oder gehört hatte.

Gelbauge muß Eriks Auto gefolgt sein, dachte ich. Eriks halsbrecherischer Fahrstil und seine Angewohnheit, bei Rot über die Kreuzung zu fahren, machten es unwahrscheinlich, daß uns etwas anderes als ein Feuerwehrauto bis nach 0vrevoll auf den Fersen hätte bleiben können — aber dann war ich rücksichtsvollerweise ins Grand Hotel zurückgekehrt, um den Sturzhelm abzuladen, und hatte es dadurch einem Beobachter leicht gemacht, unsere Fährte wieder aufzunehmen.

Weder Erik noch ich hatten einen Verfolger gesehen. Aber die Fahrt zu Baltzersen und von dort zu dem Restaurant, wo wir zu Mittag gegessen hatten, war vergleichsweise kurz gewesen und — rückblickend — fast frei von Verstößen gegen die Verkehrsordnung. Jeder, der das Risiko eines Frontalzusammenstoßes nicht scheute, hätte uns im Auge behalten können.

Gelbauge war der Mann gewesen, der Emma attackiert hatte — und es erschien mir wahrscheinlich, daß der Kerl, der ihren Großvater getreten hatte, der gleiche gewesen war, der versucht hatte, mich zu erdolchen. Beide waren, so vermutete ich, nicht die Initiatoren, sondern Söldner, die dafür bezahlt wurden, daß sie eine Gewalttat ausführten. Sie wirkten nicht wie Hauptakteure.

Nach meiner Überzeugung gab es da noch mindestens zwei weitere Leute, von denen ich einen kannte und einen — oder mehrere — nicht. Um diesen Unbekannten hervorzulocken, mußte ich den Bekannten austricksen. Der große Haken beim Fallenstellen war nur der, daß augenblicklich außer mir selber kein anderer Köder zur Verfügung stand, und dieser Käse konnte schnell erleben, daß er aufgefressen wurde, wenn er nicht äußerst vorsichtig war.

Es lag auf der Hand, daß man, wollte man die großen Jungs dazu bringen, in Erscheinung zu treten, zunächst Gelbauge und Braunauge weglocken und zugleich woanders eine Situation schaffen mußte, die zu sofortigem Handeln verführte. Wie das gehen sollte, war eine ganz andere Frage. Ich starrte eine

Ewigkeit auf den Teppich, aber es wollte mir keine narrensichere Lösung einfallen.

Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe dahinterzukommen, was Bob Sherman nach Norwegen mitgebracht hatte! Daß es sich nur um schlichte Pornographie gehandelt hatte, war unwahrscheinlich, denn Bob hatte ja Paddy O’Flaherty gegenüber geäußert, er sei gelinkt worden. Wenn er das Päckchen geöffnet und festgestellt hatte, daß es keine gewöhnliche Pornographie enthielt, dann lag dieser Schluß nahe.

Nehmen wir einmal an, er hatte das Päckchen geöffnet und festgestellt, daß er für das, was er da mitnehmen sollte, nicht gut genug bezahlt wurde.

Und nehmen wir weiter an, daß er etwas aus dem Päckchen rausgenommen hatte, um seine Auftraggeber damit zu einer Erhöhung ihres Einsatzes zu bewegen.

Aber dazu hätte er das Entnommene ja gar nicht benutzen können, denn in diesem Fall hätte der Feind gewußt, daß er etwas an sich genommen hatte, und hätte ihn nicht umgebracht, bevor nicht das Fehlende wieder in seinem Besitz war.

Nehmen wir also mal an, schon das Öffnen des Päckchens und die Kenntnis seines Inhalts wären einem Todesurteil gleichgekommen.

Schließen wir daraus, der Feind brachte Bob Sherman um, weil dieser den Inhalt des Päckchens kannte, und entdeckte erst später, daß Bob einen Teil davon an sich genommen hatte.

Es lief alles immer wieder auf diese Version hinaus.

Also. was zum Teufel war in dem Päckchen gewesen?

Versuch’s mal mit einer anderen Anordnung.

Wann hatte er das Päckchen geöffnet?

Wahrscheinlich nicht bei sich zu Hause. Emma hatte gesehen, wie er es in seine Reisetasche gesteckt hatte, um die Gefahr auszuschließen, daß er es liegenließ. Gelbauge und Freund hatten dann später auf der Suche nach Dingen aus diesem Päckchen das Shermansche Haus auseinandergenommen, aber nichts gefunden. Also durfte man wohl annehmen, daß der Umschlag noch ungeöffnet gewesen war, als Bob seine Reise angetreten hatte.

Er hatte bei den Rennen in Kempton den ganzen Tag zur Verfügung gehabt. Zeit genug, wenn es ihn gedrängt hätte, das Päckchen zu öffnen — aber wenn es ihm so sehr in den Fingern gejuckt hätte, dann hätte er es ja auch schon in der Nacht davor tun können.

In Heathrow hatte er zwischen der Ankunft aus Kempton und dem Abflug nicht viel Zeit gehabt. Kaum der Augenblick für eine spontane kleine Schnüffelei.

Bei Gunnar Holth war er eine Stunde später erschienen als erwartet. Er hätte seine tödliche Neugier also auch während des Fluges oder in der Stunde nach der Landung befriedigt haben können.

Höchstwahrscheinlich auf dem Flug, dachte ich.

Ein paar Drinks hinter der Binde, etwa eine Stunde, die er sich vertreiben mußte, und ein Paket mit Pornobildern verführerisch griffbereit.

Er öffnet das Päckchen und sieht — was?

Nehmen wir an, ihm war vielleicht so eine halbe Stunde vor der Landung der Gedanke gekommen, eine höhere Frachtgebühr zu fordern, und daraufhin hatte er etwas aus dem Umschlag genommen und versteckt — wo hatte er es dann versteckt?

Nicht in seinen Taschen oder in seiner Reisetasche. Vielleicht in seinem Sattel, aber das war zu bezweifeln, denn zum einen war sein Rennsattel winzig, und zum anderen war er damit am folgenden Tag drei Rennen geritten.

Nicht im Helm — unter dem gepolsterten Kopfband waren keine Papiere oder Fotos versteckt.

Es blieb diese eine Stunde, von der man nichts wußte — in der er irgend etwas an der Rezeption irgendeines Hotels in Oslo mit der Bitte hätte abgeben können, es für ihn zu verwahren.

In einer Stunde hätte er dieses Etwas überall verstecken können. Ich seufzte. Es war hoffnungslos.

Ich stand auf, streckte mich, holte ein paar Sachen aus dem Koffer, zog mich aus und putzte mir die Zähne.

Bobs Helm lag auf meinem Bett. Ich hob ihn am Kinnriemen auf, und während ich die Tagesdecke zurückzog und die Kissen als Rückenstütze hochschob, weil ich vor dem Einschlafen noch etwas lesen wollte, baumelte er an meiner freien Hand. Als ich dann im Bett saß, drehte ich den Helm müßig in den Händen, ohne ihn bewußt wahrzunehmen, und dachte über Bob nach und über den letzten Tag, an dem er ihn getragen hatte.

Ich überlegte auch allen Ernstes, ihn bei der Fahrt nach 0vrevoll selbst aufzusetzen, um meinen Kopf zu schützen, und mir außerdem eine kugelsichere Weste zu besorgen. Ich war Emmas Ehemann gegenüber nicht allzu großmütig gestimmt, denn vielleicht mußte ja auch ich noch für das sterben, was er getan hatte.

Keine Papiere. Keine Fotografien. Noch einmal zog ich die schwarze Polsterung aus dem Helm. Nichts — nach wie vor nichts darunter.

In der Krone des Helms war nur noch das kleine Mittelstück aus schwarzem Polstermaterial, das von Riemen gehalten wurde, die innen am Rand des Helms befestigt waren. Eine wunderbare Konstruktion, die verhindern sollte, daß sich ein Mensch, der bei knapp fünfzig Stundenkilometern von einem galoppierenden Pferd runter und auf die Birne fiel, den Schädel einschlug. Das in der Mitte frei aufgehängte kleine Polster schützte den Scheitel des Kopfes und hinderte diesen außerdem daran, mit gehirnerschütternder Geschwindigkeit in die Helmschale zu krachen.

Unter dem Mittelstück war kein Platz für Papiere, Fotos oder sonst etwas, das man Umschlägen in Zeitschriftenformat entnommen hatte. Ich schob trotzdem meine Hand darunter, nur um mich zu vergewissern.

Und dort, in der Krone des Helms, hatte Bob den Schlüssel versteckt.

Den Schlüssel im buchstäblichen Sinn.

Ich erfühlte ihn dort und konnte es einfach nicht glauben.

Mit zwei Klebebandstreifen kreuzweise an die Helmschale geklebt und dem Auge unsichtbar, solange man das gepolsterte Mittelstück nicht absichtlich zur Seite drückte, war ein Schlüssel.

Ich löste ihn vom Helm und zog das Klebeband ab. Es handelte sich um einen Schlüssel des Yale-Typs, der anstelle des Metallgriffs ein schwarzes Plastikplättchen besaß. Auf der zum Helm zeigenden Seite war in das schwarze Plastikmaterial eine Buchstaben-Zahlen-Kombination eingestanzt — C14. Der

Schlüssel hatte ganz fest gesessen und war auch bei mehrfachem Hinsehen nicht zu entdecken gewesen. Bob hatte also seine Rennen ganz gefahrlos mit ihm reiten können.

Er sah aus wie der Schlüssel zu einem Schließfach, einem dieser Fächer zur Gepäckaufbewahrung, wie sie sich auf allen großen Flughäfen und Bahnhöfen der Welt finden. Aber nichts ließ erkennen, aus welcher Stadt, aus welchem Land oder von welchem Kontinent der Schlüssel stammte.

Ich überlegte.

Wenn der Schlüssel zum Inhalt des Päckchens gehört hatte, dann war anzunehmen, daß er von größter Wichtigkeit war. Jedenfalls wichtig genug, um den Teich nach ihm abzusuchen, als sein Fehlen bemerkt worden war. Oder um das Haus in England seinetwegen auf den Kopf zu stellen.

Die Männer, die bei Emma eingebrochen waren, hatten ganz gezielt nach Papieren gefragt — sie hatten nach Papieren gesucht und nicht nach einem Schlüssel.

Nehmen wir also mal an, dachte ich, Bob hat die Papiere irgendwo in ein Schließfach eingeschlossen, und dies ist der Schlüssel dazu.

Das machte alles erheblich leichter. Damit waren New York, Nairobi und die Äußere Mongolei aus dem Spiel, und die Suche konnte auf den größten Teil Südenglands und auf Oslo beschränkt werden.

Dieser harmlos aussehende Schlüssel schien mir genau das zu sein, was ich brauchte. Ich schloß meine Hand um ihn, folgte dem instinktiven Bedürfnis, ihn zu verstecken und zu sichern.

Bob mußte es ähnlich ergangen sein. Die Sorgfalt, mit der er den Schlüssel versteckt hatte, ließ die Stärke dieses instinktiven Dranges erkennen. Und er hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gewußt, wie berechtigt sein Instinkt war.

Ich lächelte zwar über mich selbst, folgte aber Bobs Beispiel.

In meinem Koffer hatte ich einen noch ungeöffneten Ersatzverband für den Schnitt auf meiner Brust, den mir der vorausschauende Charles Stirling für den Bedarfsfall mitgegeben hatte. Da sich aber die periodisch auftretenden Schmerzen zu einem periodisch auftretenden Jucken abgeschwächt hatten, hatte ich sein ursprüngliches Werk bisher nicht angetastet.

Ich legte den Schlüssel auf den Nachttisch und nahm jetzt den alten Pflasterverband ab, um nach der Wunde zu schauen. Der Schnitt sah dunkel, trocken und komplikationslos aus und verheilte offensichtlich schnell.

Ich holte den neuen Schnellverband hervor und klebte ihn fest

— darunter ruhte, wohlverborgen auf meiner Haut, Bob Shermans kostbarer Schlüssel.

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