Erik kam zum Frühstück und wirkte fast so deprimiert, wie es draußen kalt und naß war. Er brachte vom Büfett zwei matterhornhoch beladene Teller mit, setzte sich mir gegenüber und stocherte in den Vorgebirgen herum.
«Haben Sie gut geschlafen?«erkundigte er sich.
«Nein.«
«Ich auch nicht. Hab dauernd den Knall dieser blöden Bombe gehört.«
Er schaute auf den geräucherten Fisch, den ich mir vor seiner Ankunft geholt hatte.»Mögen Sie nicht essen?«
«Ich bin nicht übermäßig hungrig.«
Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen.»Das Todeskandidaten-Syndrom? «
«Herzlichen Dank.«
Er seufzte, wandte sich der vor ihm stehenden Aufgabe zu und begann den Beweis anzutreten, daß sein Magen so groß war wie seine Augen. Als beide Teller bis auf eine Spur Speiseöl und sechs Gräten geleert waren, tupfte er seinen Mund mit der Serviette ab und kehrte in den gefahrvollen Sonntag zurück.
«Wollen Sie wirklich zu den Rennen gehen?«fragte er.
«Ich weiß es noch nicht.«
«Ich habe Odin heute nicht mitgebracht, sondern bei einem Nachbarn gelassen. «Er trank einen Schluck Kaffee.»Ich habe einen größeren Volvo gemietet. Hier ist die Rechnung. «Er kramte in seiner Tasche und zog eine Quittung hervor.
Ich holte meine Brieftasche heraus und ersetzte ihm den Betrag. Er sagte nicht, das habe auch bis später Zeit.
Eine Gruppe englischer Rennsportleute kam ins Restaurant,
einzeln oder zu zweit, und alle setzten sich an einen Tisch in der Nähe des Fensters. Ich kannte die meisten von ihnen — einen sehr guten Amateurspringreiter, einen Galopprennprofi, einen Trainerassistenten, einen Besitzer und seine Frau. Als sie bestellt hatten und zu essen anfingen, schlenderte ich zu ihnen hinüber und zog mir einen Stuhl heran.
«Hi«, sagten sie.»Was tut sich so?«
Damit waren vor allem ihre Aussichten am Nachmittag gemeint, über die wir uns ein wenig unterhielten. Dann stellte ich die Frage, die mein eigentliches Anliegen war.
«Erinnern Sie sich noch an das Wochenende, an dem Bob Sherman verschwunden ist? Ist jemand von Ihnen zufällig mit dem gleichen Flug herübergekommen wie er?«
Der Amateurspringreiter sagte, ja, das sei er — Gott sei Dank.
«Haben Sie nebeneinander gesessen?«
Er erklärte taktvoll, daß er erster Klasse geflogen sei und Bob Touristenklasse.
«Aber«, sagte er,»ich habe ihn in meinem Taxi in die Stadt mitgenommen.«
«Wo haben Sie ihn abgesetzt?«
«Ja. äh, hier. Ich habe hier gewohnt, und er wollte weiter zu diesem Trainer, für den er geritten ist. Er dankte mir fürs Mitnehmen. sagte, glaube ich, er wolle die Lijordet-Straßenbahn nehmen, wenn eine käme. Jedenfalls sehe ich ihn noch vor mir, wie er da mit Tasche, Sattel und allem Kram auf dem Bürgersteig stand. Aber ist das wichtig? Schließlich ist er am folgenden Tag ja noch geritten.«
«War der Flug pünktlich?«
«Soweit ich mich erinnern kann, ja.«
Ich stellte noch ein paar weitere Fragen, aber der Amateur konnte sich an nichts mehr erinnern, was sonst noch von Belang gewesen wäre.
«Trotzdem vielen Dank«, sagte ich.
«Hoffe, Sie erwischen den Täter«, sagte er. Er lächelte.»Na, Sie werden schon.«
Wenn er man nicht mich erwischt, durchfuhr es mich, und ich ging an meinen Tisch zurück, um Erik abzuholen.
«Wohin zuerst?«
«Zu allen Bahnhöfen.«
«Zu allen was?«
«Zum nächstgelegenen Bahnhof«, verbesserte ich mich.
«Wieso das denn?«
«Ich möchte mir einen Fahrplan holen.«
«Den kriegen Sie auch hier an der Rezeption.«
Ich grinste ihn an.»Welcher Bahnhof liegt am nächsten?«
Er erwiderte skeptisch:»Die 0stbanen, denke ich.«
«Dann mal los.«
Er schüttelte frustriert den Kopf, aber wir setzten uns doch in Bewegung.
Wie sich herausstellte, fuhren vom Bahnhof 0stbanen die Züge über Gol nach Bergen ab. Ferner gab es Züge nach Lillehammer, Trondheim und zum Polarkreis. 0stbanen war der Hauptbahnhof Oslos, von dem alle Fernzüge abgingen.
Es gab dort auch Schließfächer und sogar ein Fach C14, aber es war leer, der Schlüssel steckte in der offenen Klappe und hatte eine andere Plastikmarkierung.
Ich nahm mir Fahrpläne mit, in denen auch die Züge nach Gol standen, wo sich die Schule von Mikkel Sandvik befand.
Man konnte ja nie wissen.
«Was jetzt?«fragte Erik.
«Die anderen Bahnhöfe«, antwortete ich, und wir klapperten sie ab, fanden aber keine entsprechenden Plastikmarkierungen.
«Wo könnte man sonst noch solche Schließfächer finden?«
«Außer auf Bahnhöfen? Auf dem Flugplatz. In Fabriken, Bürogebäuden, Schulen. An vielen Orten.«
«Für einen ausländischen Reisenden an einem Samstagabend um halb neun zugänglich.«
«Ah. Fornebu. Wo sonst?«Genau, wo sonst.»Wollen wir mal hinfahren?«
«Später«, sagte ich.»Erst zu Sven Wangen.«
Erik erhob Einwände.»Das ist doch genau in der entgegengesetzten Richtung, noch weiter draußen als die Rennbahn.«
«Trotzdem«, erwiderte ich.»Zuerst Sven Wangen.«
«Bitte, Sie sind der Chef.«
Als wir losfuhren, schaute er ein paarmal aufmerksam in den Rückspiegel, meinte aber, er sei sicher, daß uns niemand folge.
Ich glaubte ihm. Nichts und niemand hätte an Erik dranbleiben können, wenn der sich ins Zeug legte.
«Erzählen Sie mir was über Sven Wangen«, sagte ich.
Er spitzte den Mund auf die gleiche mißbilligende Art und Weise, wie Arne es getan hatte.
«Sein Vater war ein Kollaborateur«, sagte er.
«Und das vergißt niemand?«
Er schnaubte leise.»Wir haben offiziell mit der Vergangenheit abgeschlossen. Aber nach dem Krieg, da kamen die Kollaborateure auf keinen grünen Zweig. Wenn zum Beispiel eine Stadt eine Brücke oder eine Schule bauen wollte, dann war es so, daß kein Architekt oder Bauunternehmer, der mit den Nazis gut zusammengearbeitet hatte, so einen Auftrag bekam.«
«Sven Wangens Vater war aber schon reich. dank der Schiffahrt.«
Er warf mir einen Seitenblick zu, während er eine scharfe
Linkskurve nahm und einen Laternenpfahl nur um Millimeter verfehlte.
«Das hat mir Arne Kristiansen erzählt«, sagte ich.
«Ererbtes Vermögen ist unmoralisch«, meinte Erik.»Solcher Besitz sollte an die Massen verteilt werden.«
«Vor allem der Besitz der Kollaborateure?«
Er grinste.»Ich denke schon.«
«War der Vater wie der Sohn?«fragte ich.
Erik schüttelte den Kopf.»Er war ein hartgesottener, habgieriger Geschäftsmann. Hat die Nazis über den Tisch gezogen.«
«War das nicht sehr patriotisch von ihm?«
Davon wollte Erik nichts hören.»Er hat nichts für seine Landsleute getan. Das ganze Geld hat er nur für sich selbst gescheffelt.«
«Der Vater hat den Sohn kaputtgemacht«, sagte ich.
«Kaputtgemacht?«Er schüttelte den Kopf.»Sven Wangen ist ein geradezu überwältigender Riesenflegel, der immer seinen Kopf durchsetzt. Von kaputt kann gar keine Rede sein.«
«Er ist innerlich hohl. Wegen seines Vaters hatte er, glaube ich, keine Chance, normal gemocht zu werden, und Leute, die ohne eigenes Verschulden unbeliebt sind, können schrecklich aggressiv werden.«
Er dachte darüber nach.»Sie haben vielleicht recht. Aber ich mag ihn trotzdem nicht.«
Sven Wangen lebte — in überkommenem Stil — in einem riesigen, im wesentlichen aus Holz und nur zum Teil aus Stein gebauten Landhaus. Selbst an einem kalten, nassen und frühen Wintermorgen sah es gepflegt, sauber und wohlhabend aus. Alles, was da wuchs, war zu geometrischer Präzision zurückgeschnitten, eine Reglementierung, die Eriks ungezwungenem, großzügigem und unordentlichem Wesen so gar nicht entsprach. Er sah sich angewidert um und hatte sein typisches Verteilt-alles-an-die-Massen-Gesicht aufgesetzt.
«Das alles für zwei Menschen«, sagte er.»Das ist verkehrt.«
Der Ort bedrückte auch mich, aber aus einem anderen Grund. Es gab da zu viele Fenster, die alle mit dunklen Augen auf unser Auto blickten. Sobald ich ausstieg und mich aus seinem Schutz entfernte, war ich für jeden im Haus, der ein Gewehr hatte, ein leichtes Ziel.
Erik stieg aus. Ich mußte mich dazu zwingen, seinem Beispiel zu folgen.
Und natürlich schoß niemand auf uns. Hätte ich das wirklich geglaubt, wäre ich niemals gekommen. Aber mir selbst zu sagen, daß mich Sven Wangen wohl kaum vor der eigenen Haustür umlegen würde, war eine Sache, und meine Nerven dazu zu bringen, das auch zu glauben, war eine andere. Irgend etwas, dachte ich grimmig, mußte bezüglich dieser blöden Nerven unternommen werden, oder ich würde diese Runde niemals bis zum Ende durchstehen.
Eine Frau mittleren Alters öffnete mir die Haustür und führte mich durch den Flur in ein kleines Wohnzimmer, dessen Fenster auf die Auffahrt hinausgingen. Ich konnte Erik im Regen auf und ab gehen sehen. Er strahlte marxistische Mißbilligung aus und stampfte mit jedem knirschenden Schritt die unwürdige Bourgeoisie in den Kies.
Sven Wangen kam hereingeschlendert, aß ein süßes Plunderteilchen und eröffnete das Gespräch mit kalten Augen und sehr von oben herab.
«Ich hatte ganz vergessen, daß Sie kommen wollten«, sagte er.
«Haben Sie schon alles aufgeklärt?«Der Anflug eines spöttischen Lächelns. Keinerlei Freundlichkeit.
«Nicht alles.«
Ein kurzer, übellauniger Blick aus hochmütigen Augen.
«Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Sie vergeuden nur Ihre Zeit.«
Das hatten mir alle gesagt, und alle hatten sich geirrt.
Ohne Hut zeigte sich, daß Sven Wangen vorzeitig kahl wurde
— das rostbraune Haar war an den Seiten und hinten durchaus noch sehr dicht, aber oben auf dem Kopf fast so dünn wie Eriks. Er biß von seinem Kuchen ab, ein großes, klebriges Stück, schluckte es hinunter und fügte seinem Übergewicht wieder ein paar Gramm hinzu.
«An dem Tag, an dem Bob Sherman zum letzten Mal für Sie geritten ist, hat er da irgend etwas Unerwartetes zu Ihnen gesagt?«
«Nein, das hat er nicht.«
Sven Wangen hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht zu überlegen.
«Haben Sie ihn zu einem Drink eingeladen, um den Sieg zu feiern, den er für Sie heraus geritten hat?«
«Ganz bestimmt nicht. «Noch ein Bissen.
«Haben Sie überhaupt mit ihm gesprochen. entweder vor oder nach dem Rennen?«
Er kaute. Schluckte hinunter. Besah sich sein Plunderteilchen sehr genau, erkundete das als nächstes abzubeißende Stück.
«Ich habe ihm meine Anweisungen gegeben, als er im Führring war. Ich habe ihm gesagt, ich erwartete Besseres als das, was er gerade für Rolf Torp geleistet habe. Er sagte, er habe verstanden.«
Abbeißen. Kauen. Schlucken.
«Nach dem Rennen sattelte er das Pferd ab und ließ sich zurückwiegen. Ich habe ihn nicht noch mal gesehen.«
«Als er beim Absatteln war, hat er Ihnen da berichtet, wie die Stute beim Rennen gegangen war?«
«Nein. Zu Holth habe ich gesagt, sie brauche zur Beruhigung eine ordentliche Tracht Prügel. Holth war nicht dieser Ansicht. Mit Sherman habe ich nicht gesprochen.«
«Haben Sie ihm gar nicht gratuliert?«fragte ich neugierig.
«Nein.«
«Wünschten Sie, Sie hätten?«
«Wieso sollte ich?«
Vielleicht solltest du mal weniger fressen, dachte ich, sprach es aber nicht aus. In diesem Fall waren seine psychologischen Probleme nicht meine Sache.
«Hat er ein Päckchen erwähnt, das er aus England mitgebracht hat?«
«Nein. «Er stopfte sich den Rest des klebrig-süßen Gebäcks in den Mund und hatte Mühe, ihn zuzukriegen.
«Sollte er die Stute bei seinem nächsten Aufenthalt wieder reiten?«
Er glotzte mich an und sagte dann durch Teig und Rosinen hindurch:»Es gab keinen nächsten Aufenthalt.«
«Ich meine, haben Sie ihn an jenem letzten Tag gebeten, wieder für Sie zu reiten?«
«Oh. Nein. «Er zuckte die Achseln.»Die Jockeys heuert immer Holth an. Ich sage nur, wen ich haben will.«
«Sie haben Sherman nie in England angerufen, um die nächsten Rennen, die er für Sie ritt, mit ihm zu besprechen?«
«Wie käme ich denn dazu?«
«Manche Besitzer sprechen mit ihren Jockeys«, sagte ich.
«Ich bezahle Holth dafür, daß er diese Dinge erledigt.«
Wieviel dir doch entgeht, dachte ich. Armer fetter, ungeliebter, depressiver, reicher junger Mann. Ich dankte ihm für das Gespräch und kehrte zu Erik zurück. Sven Wangen beobachtete uns durchs Fenster, wobei er sich den Zucker von den Fingern leckte.
«Nun?«fragte Erik.
«Er könnte den Befehl gegeben haben, aber selbst hat er niemanden umgebracht.«
Als er mit dem gemieteten Volvo auf das Tor zufuhr, knurrte Erik:»Wohin jetzt?«
«Sie sind ganz naß«, sagte ich.»Warum sind Sie draußen im Regen geblieben?«
Er wurde fast verlegen.»Na ja. ich dachte, ich könnte Sie dann besser hören, falls Sie schreien.«
Schweigend fuhren wir ein paar Kilometer, dann hielt er an einer Straßengabelung an.
«Hier müssen Sie sich entscheiden«, meinte er.»Dort geht’s nach 0vrevoll und da zum Flughafen. Die Rennbahn ist wesentlich näher.«
«Zum Flughafen.«
«Schön.«
Er bretterte mit einer Geschwindigkeit los, als wolle er nach Fornebu fliegen.
«Passen Sie auf, daß uns keiner folgt«, sagte ich.
«Sie machen Scherze.«
Wir brauchten für die knapp fünfzig Kilometer von der einen Seite Oslos bis zur anderen etwas über eine halbe Stunde.
Niemand folgte uns.
C14 war verschlossen, und daneben, bei C13, steckte ein Schlüssel mit einer schwarzen Plastikmarkierung im Schloß. Beides waren große Schließfächer in der untersten von insgesamt drei übereinanderliegenden Reihen.
Erik, der sich selbst den Posten eines Leibwächters zugewiesen hatte, stand neben mir und besah sich die Reihen der Metalltüren.
«Sind das die, nach denen Sie suchen?«
Ich nickte.»Ich glaube, ja.«
«Und was machen wir jetzt?«
«Wir gehen ein bißchen umher und vergewissern uns, daß niemand da ist, den wir kennen.«
«Eine gute Idee.«
Wir gingen umher und standen in Ecken, um Ausschau zu halten, aber soweit ich sehen konnte, waren mir alle Menschen im Flughafengebäude vollkommen fremd. Nachdem wir langsam zu den Schließfächern zurückgeschlendert waren, baute sich Erik tapfer vor C13 auf und sah aus, als wäre er bereit, alle enternden Piraten abzuwehren, während ich unauffällig den Schlüssel aus seinem Versteck hervorholte und beim benachbarten Fach ausprobierte.
Es war der richtige Schlüssel, kein Zweifel. Die Schließfachtür ging auf, dahinter befand sich ein Stauraum, der für zwei große Koffer ausgereicht hätte. Aber auf dem zerkratzten Metallboden lag, verloren und unpassend, nur ein zusammengefaltetes Stück Papier.
Ich bückte mich, hob es auf und steckte es in die Innentasche meines Jacketts.
«Hat uns jemand gesehen?«fragte ich Erik und richtete mich wieder auf.
«Keine Menschenseele, die uns bekannt wäre.«
«Los, dann gehen wir jetzt einen Kaffee trinken.«
«Und was ist mit dem Schließfach?«
Ich sah auf das Fach C14 hinunter, dessen Schlüssel im Schloß steckte und dessen Tür offenstand.
«Wir brauchen es nicht mehr.«
Erik dirigierte mich zur Airport-Cafeteria und erstand für uns beide je eine Tasse Kaffee und für sich ein paar belegte Brote. Wir saßen an einem Tisch mit Kunststoffplatte, umgeben von Reisenden, unordentlich herumstehendem Handgepäck und
Kindern, die umherrannten und taten, was sie nicht tun sollten, und fast flatterig vor Aufregung zog ich das Stück Papier aus der Tasche, das Bob Sherman im Schließfach hinterlegt hatte.
Ich hatte angenommen, es würde sich um Material handeln, mit dem man jemanden erpressen konnte — belastende Briefe oder Fotos, die niemand seiner Frau zu zeigen gewagt hätte. Es stellte sich jedoch heraus, daß es nichts von alledem war. Vielmehr war es etwas, mit dem ich überhaupt nichts anfangen konnte.
Zunächst einmal war das Papier dünner, als ich angenommen hatte — es hatte nur deshalb Volumen, weil es mehrfach zusammengefaltet war. Auseinandergefaltet war es ein Papierstreifen, der nur fünfzehn Zentimeter breit, aber fast neunzig Zentimeter lang war und der drei Spalten aufwies, die von oben nach unten gelesen werden sollten. Man konnte sie jedoch nicht eigentlich lesen, weil die drei, vier Zentimeter breiten Spalten keine Buchstaben und Zahlen enthielten, sondern Blöcke und Quadrate in abgestuften Grautönen. Am langen linken Rand des Papiers waren in regelmäßigen Abständen Zahlen vermerkt, mit drei beginnend und bei vierzehn endend. Über allem stand oben in handgeschriebenen Großbuchstaben nur die Überschrift: Datenübersicht.
Ich faltete den Papierstreifen wieder zusammen und steckte ihn in die Tasche.
«Was ist das?«fragte Erik.
Ich schüttelte den Kopf.»Ich weiß es nicht.«
Er rührte in seinem Kaffee.»Knut wird es herausfinden.«
Ich dachte darüber nach, und der Gedanke gefiel mir nicht sonderlich.
«Nein«, sagte ich,»dieses Stück Papier stammt aus England. Ich denke, ich werde es mit nach Hause nehmen und dort versuchen herauszubekommen, was es zu bedeuten hat.«»Das ist aber Knuts Fall«, sagte er mit einer gewissen unaufgeregten Starrköpfigkeit.
«Meiner aber auch. «Ich zögerte.»Sagen Sie Knut, wenn Sie denn unbedingt müssen, daß ich dieses Papier gefunden habe. Lieber wäre mir allerdings, wenn Sie noch zu niemandem davon sprächen. Ich möchte nicht, daß es hier in Oslo überall die Runde macht, und wenn Sie es Knut erzählen, dann muß er es zu den Akten geben, und wenn Knut die Sache in seinem Bericht festhält, weiß man nie, wer den zu Gesicht bekommt. Ich würde es ihm lieber selber sagen, wenn ich wieder zurück bin. Wir können unser weiteres Vorgehen sowieso erst planen, wenn wir wissen, womit wir es hier zu tun haben, und deshalb ist gar nichts gewonnen, wenn er schon jetzt von unserem Fund erfährt.«
Er sah nicht überzeugt aus, aber nach einer Weile fragte er nur:
«Wo haben Sie eigentlich den Schlüssel zu diesem Schließfach gefunden?«
«In Bob Shermans Sturzhelm.«
Seine Starrköpfigkeit löste sich in Resignation auf.
«Also gut«, sagte er,»ich werde es Knut nicht sagen. Er hätte den Schlüssel als erster finden sollen.«
Das hatte mit Logik kaum etwas zu tun, aber ich war ihm dankbar. Ich sah auf die Uhr und sagte:»Ich kann den Flug um zwei Uhr fünf nach Heathrow noch kriegen.«
«Jetzt gleich?«Er klang überrascht.
Ich nickte.»Sagen Sie niemandem, daß ich fort bin. Ich möchte nicht, daß drüben schon irgendein Freund von Gelbauge auf mich wartet.«
Er grinste.»David Cleveland? Wer ist das denn?«Dann stand er auf und verabschiedete sich.»Ich werde Odin von Ihnen grüßen.«
Ich sah ihm nach, sah seinen unordentlichen Rücken schnell zwischen den Menschen in Richtung des fernen Ausgangs verschwinden und fühlte mich ohne ihn überraschend verwundbar. Aber es passierte nichts Schreckliches. Ich bekam den Flug noch, landete sicher in Heathrow, ließ — nach einigem Überlegen — mein Auto dort auf dem Parkplatz stehen und fuhr mit dem Zug nach Cambridge.
Ein Sonntagabend mitten im Semester war ein günstiger Zeitpunkt, um sich in die Höhlen der Professoren zu wagen, aber der erste, auf den ich setzte, war kein Volltreffer. Er lehrte zwar Computerwissenschaft, meinte aber, meine Datenübersicht habe nichts mit Computern zu tun. Warum versuchte ich es nicht mal bei den Wirtschaftswissenschaften? Ich versuchte es bei den Wirtschaftswissenschaften, aber die meinten, warum ich es nicht lieber mal bei der Geologie versuchte.
Obwohl es inzwischen schon auf zehn zuging, versuchte ich es auch noch bei der Geologie, die nur einen kurzen Blick auf den Papierstreifen warf und dann sagte:»Du lieber Gott, wo haben Sie denn das her? Diese Sachen werden wie ein Goldschatz bewacht.«
«Was ist es denn?«fragte ich.
«Ein Kern. Die Darstellung eines Kerns. Von einer Bohrung. Sehen Sie diese Zahlen am linken Rand? Ich würde sagen, die geben die Tiefe der einzelnen Bohrabschnitte an. Könnte sein in hundert Fuß. Oder auch in tausend.«
«Können Sie sagen, wo diese Bohrung niedergebracht wurde?«
Er schüttelte den Kopf — er war ein noch jüngerer, ernster Mann mit dichtem rötlichem Haar, das in einen wuchernden Bart überging.
«Könnte überall auf der Erde sein. Man müßte auch erst die Legende zu den Farbschattierungen haben, um sagen zu können, wonach da gesucht worden ist.«
Ich hakte deprimiert nach:»Gibt es gar keine Möglichkeit herauszufinden, wo das herstammt?«
«Du liebe Güte, ja doch«, sagte er fröhlich.»Kommt ganz darauf an, wie wichtig es ist.«
«Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich mit einem skeptischen Blick auf seine Uhr.
«Schlaf ist Zeitverschwendung«, meinte er als echter Gelehrter, und so erklärte ich ihm einigermaßen genau, warum ich es wissen wollte.
«Ein Bier?«schlug er vor, als ich fertig war.
«Danke, ja.«
Er fand unter einem Haufen unkorrigierter Seminararbeiten zwei Dosen und öffnete sie.
«Prost!«sagte er und verzichtete auf ein Glas.»Also gut. Sie haben mich überzeugt. Ich werde Sie mit den Leuten in Verbindung bringen, die dieses Blatt gezeichnet haben.«
Ich war erstaunt.»Woher wissen Sie, wer das gezeichnet hat?«
Er lachte.»Das ist so, als würde man die Handschrift eines Kollegen erkennen. Wahrscheinlich kann Ihnen jeder in der Forschung tätige Geologe sagen, woher diese schematische Darstellung stammt. Es ist die Arbeit eines Forschungslabors. Ich werde morgen früh dessen Direktor anrufen, ihm die Sache erklären und sehen, ob er gewillt ist, Ihnen zu helfen. Die Leutchen sind, was diese Graphiken angeht, schrecklich empfindlich. «Er betrachtete sie nachdenklich.»Es sollte mich nicht wundern, wenn es einen Riesenkrach gäbe, denn nach allem, was Sie gesagt haben, muß man wohl davon ausgehen, daß das Ding gestohlen worden ist.«
Die ersten Anzeichen des Riesenkrachs waren am folgenden Tag deutlich vom Gesicht Dr. William Leeds’, Direktor des Wessex-Wells Research Laboratory, abzulesen. Er war ein eindrucksvoller Mann, klein, ruhig und entschieden, sah aber angesichts dessen, was ich ihm mitgebracht hatte, zutiefst
beunruhigt aus.
«Setzen Sie sich, Mr. Cleveland«, forderte er mich auf.
Dann saßen wir uns an seinem Manager schreibti sch gegenüber.
«Jetzt sagen Sie mir mal, woher Sie das haben.«
Ich sagte es ihm. Er hörte aufmerksam zu, unterbrach mich nicht. Dann fragte er:»Was möchten Sie denn nun wissen?«
«Worum es bei dieser Darstellung geht. Wer hätte einen Nutzen davon, wenn er sie in die Hände bekäme, und in welcher Weise.«
Er lächelte.»Ziemlich umfassend. «Er sah eine Weile aus dem Fenster seines in der ersten Etage gelegenen Büros auf eine Reihe fast kahler Weidenbäume, die auf der anderen Seite der Rasenfläche standen. Das Laboratorium befand sich tief im Herzen Dorsets, in einem alten Park — ein viktorianisches Herrenhaus, das gelassen neben neuerbauten, alltäglichen Werkstätten mit Flachdach stand. Von Dr. Leeds’ Fenster aus überblickte man das Adernetz der wichtigsten, die einzelnen Gebäude des Komplexes verbindenden Wege — man war hier wirklich am Puls des Geschehens.
«So gut wie jeder hätte etwas davon, wenn er das da in die Hand bekäme«, sagte er schließlich.»Wenn er skrupellos genug ist. Diese Datenübersicht hat ungefähr eine halbe Million Pfund gekostet.«
Mir fiel der Unterkiefer runter, und er lachte.
«Sie müssen schließlich bedenken, daß Bohranlagen hochkompliziert und sehr teuer sind. Einen Bohrkern erhält man nicht, indem man mit einem Spaten ein Loch in die Erde gräbt. Dieser hier«- er tippte auf das Papier —»hat nur einen Durchmesser von dreizehn Zentimetern, reicht aber bis in eine Tiefe von vierzehntausend Fuß, das sind über viereinhalbtausend Meter. Eine Bohrung bis in diese Tiefe
kostet einen Haufen Geld.«
«Das kann ich nachvollziehen«, sagte ich.
«Natürlich könnten Sie dieses Blatt nicht für eine halbe Million verkaufen, aber ich schätze, daß diese spezielle Graphik ihre hunderttausend Pfund wert sein könnte, vorausgesetzt, daß Sie einen Interessenten dafür hätten.«
Ich bat ihn, mir das genauer zu erklären.
«Eine graphische Darstellung wie diese hier stellt eine Information dar. Man kann Informationen immer auf illegalem Wege verkaufen, wenn man jemanden kennt, der sie gern erwerben möchte. Also, nehmen wir mal an, dieser Kern zeigte eine Ablagerung von Nickel, was er übrigens nicht tut, und Sie wüßten genau, von welcher speziellen Bohrung er stammt. Dann wüßten Sie auch, ob es sich lohnt, in die Bohrgesellschaft zu investieren oder nicht. Zum Beispiel hätten Sie während des Poseidon-Nickelbooms in Australien buchstäblich Millionen an der Börse machen können, wenn Ihnen vorher genau bekannt gewesen wäre, welche der vielen dort nach Bodenschätzen suchenden Gesellschaften auf das reichste Erzlager gestoßen war.«
«Donnerwetter«, sagte ich.
«Das Ganze kann natürlich auch andersherum funktionieren«, fuhr er fort.»Wenn Sie wissen, daß eine Konzession, von der sich alle einen hohen Ertrag erwarten, in Wirklichkeit nichts bringen wird, dann können Sie Ihre Anteile verkaufen, solange sie noch etwas wert sind.«
«Am Kauf solcher Blätter wären also nicht nur Leute interessiert, die mit dem Abbau von Bodenschätzen zu tun haben.«
«So ist es. Die Leute, die den größten Profit aus solchen Sachen herausholen, wissen wahrscheinlich gar nicht, wie ein Bohrer aussieht.«
Ich fragte weiter:»Warum die Karten an einen anderen weiterverkaufen? Warum nicht an der Börse die Millionen selber machen?«
Er lächelte.»Es ist sehr viel sicherer, eine hübsche Pauschale auf ein anonymes Schweizer Konto überwiesen zu bekommen, als mit dem Aktienhandel anzufangen. Und ein Geologe, der in größerem Stil mit Aktien handelt, würde sofort auffallen.«
«Kommt es vor, daß Geologen um solche Informationen angegangen werden?«
«Aber ja. Wir versuchen, unsere Leute hier dadurch zu schützen, daß wir ihnen nicht sagen, wo genau das von ihnen jeweils bearbeitete Material herstammt. Aber offensichtlich war uns kein hundertprozentiger Erfolg beschieden. «Seine Miene verdüsterte sich.»Wir wissen aus Erfahrung, daß ein Geologe normalerweise von einem Mittelsmann angesprochen wird, also von einem Zwischenhändler, der von einer Forschungsstelle Informationen erwirbt und diese dann an einen Größeren, der auf dem Weltmarkt operiert, weiterverkauft.«
«Habe ich es mit dem Mittelsmann oder mit dem Größeren zu tun?«
Er lächelte und schüttelte den Kopf.»Kann ich nicht sagen. Aber ich nehme an, eher mit dem Mittelsmann, weil Sie die Datenübersicht so nahe bei der Quelle gefunden haben.«
«Was genau bedeuten diese Spalten?«
Er nahm den Papierstreifen auf und zeigte es mir.»Bei der ersten Spalte geht es um Lithologisches. also die Zusammensetzung der Gesteinsschichten. Die zweite zeigt den Typus der ursprünglichen Partikel. will sagen die Mikro- und die Makroleitfossilien sowie sonstige Sedimente. Die dritte. «Er preßte die Lippen zusammen, denn diese Spalte machte ihm ganz offensichtlich am meisten zu schaffen.»Die dritte bezieht sich auf ein neues und streng geheimes Verfahren, die Elektronenmikroskopie. Daß diese Befunde nach draußen gelangt sind, darüber werden unsere Kunden besonders ungehalten sein. Sie haben schließlich ein Vermögen dafür bezahlt. Wir hier können uns nur so lange im Geschäft halten, solange der Kunde davon überzeugt ist, daß die Analyse, für die er bezahlt, niemandem außer ihm zu Gesicht kommt.«
Ich sagte:»Diese Darstellung ist aber doch ohne eine Erläuterung der verschiedenen Farbschattierungen wertlos.«
«Nein. «Er überlegte.»Wenn ich raten müßte, würde ich sagen, daß dies eine Art Appetitanreger sein soll oder ein Beweis dafür, daß der Zwischenhändler hochwertige Ware anzubieten hat. Normalerweise stellen wir keine Übersichten in dieser Form her. Dies ist gleichsam eine Verkürzung. Eine verkürzte, zusammengesetzte Ausgabe, eine
Spezialanfertigung.«
«Aber hat der Rest von Bob Shermans Päckchen ohne diese Zusammenfassung irgendeinen Wert?«
«O ja. Es hängt ganz davon ab, was da sonst noch drin war. Eine schriftliche Analyse wäre ebensoviel wert wie so eine graphische Darstellung. Wenn Sie eine schriftliche Analyse vorliegen hätten, wäre das Fehlen dieses Blattes kein gar so großer Verlust.«
Ich dankte ihm für seine Hilfe.»Können Sie mir noch sagen, wo diese Bohrung niedergebracht worden ist? Und zu welchem Zweck?«
Er warf einen Blick auf das Papier.»Nach dem, was ich hier sehe, könnte ich es Ihnen so ungefähr sagen. Aber Sie wollen es sicher ganz genau wissen, auf den Kilometer?«
«Ja«, sagte ich.
«Dann kommen Sie mit.«
Er führte mich einen breiten Flur hinunter, durch eine Schwingtür und in einen neuen Flügel, der an die Rückseite des alten Gebäudes angebaut worden war. Wir waren allem
Anschein nach auf dem Weg ins Archiv. Aber um dort hineinzukommen, mußte sich selbst der Direktor den dort beschäftigten Mitarbeitern ankündigen — erst dann wurde die Tür elektronisch von innen geöffnet.
Dr. Leeds lächelte ironisch, als er meine Überraschung bemerkte.
«Im allgemeinen sind wir sehr stolz auf unsere Sicherheitsvorkehrungen. Es wird einen großen Aufstand geben, wenn wir versuchen werden dahinterzukommen, wer von unseren Leuten dieses Blatt mitsamt den Informationen verkauft hat. «Ihm kam ein Gedanke.»Sie würden wohl nicht wieder herkommen wollen und die Ermittlungen selbst übernehmen?«
Ich hätte nichts dagegen gehabt, mußte ihn jedoch auf meine Arbeit beim Jockey Club hinweisen.
«Schade«, sagte er.
Mit nachtwandlerischer Sicherheit zog er aus den Tausenden der in Wandschränken verwahrten Aktenordner den gesuchten heraus. Er wußte genau, welche Gesellschaft die Analyse in Auftrag gegeben hatte, und er wußte so ungefähr, wo der Bohrkern herstammte.
Er blätterte ein paar Seiten um, verglich die graphische Darstellung mit den schriftlichen Ausführungen.
«Da«, sagte er schließlich und zeigte mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle.»Das sind die Koordinaten, die Sie suchen.«
Ich sah über seinen Arm hinweg. Las die Koordinaten.
Las den Namen der Gesellschaft.
Ich hatte noch nie etwas von ihr gehört.
«Herzlichen Dank«, sagte ich.