Kapitel 7

Am Dienstagmorgen verbrachte ich die Zeit zwischen neun und zehn Uhr im Büro und stellte fest, daß alle in meiner Abwesenheit großartig zurechtgekommen waren und dies zweifellos auch weiterhin tun würden, selbst wenn ich gänzlich verschwände. Auf meinem Schreibtisch lagen sorgfältig ausgearbeitete Berichte über abgeschlossene Untersuchungen — der Mann, den wir verdächtigt hatten, einen in die Zucht genommenen, hochklassigen Steepler, als Jagdpferd getarnt, bei einem Geländejagdrennen laufen gelassen zu haben, hatte dies tatsächlich getan, so daß ihn jetzt ein Betrugsverfahren erwartete, und bei einem Anwärter auf die Trainerlizenz war festgestellt worden, daß seine Trainingseinrichtungen in den Midlands gänzlich unzureichend waren.

Nichts Haarsträubendes. Nichts, das mit beschwerten Leichen in den Teichen Norwegens vergleichbar gewesen wäre.

Den Rest des Tages füllten Gespräche mit zwei Kollegen von der New York Racing Commission, die herübergekommen waren, um die Möglichkeiten eines weltweiten Ermittlungsnetzes für den Pferderennsport (nach Art der Interpol) zu erörtern. Das war Teil einer ganzen Serie von Gesprächen, die ich mit Funktionären aus vielen Ländern geführt hatte, und es sah so aus, als schleppte sich die Idee langsam und schwankend ihrer Verwirklichung entgegen. Wie üblich schien auch hier das Haupthindernis auf dem Weg zu schnellen Fortschritten meine scheinbare Jugend zu sein — ich war inzwischen überzeugt, daß alle zu dem, was ich zu sagen hatte, erst dann zustimmend nicken würden, wenn ich sechzig und mir die Puste ausgegangen war.

Ich redete mir wieder den Mund fusselig, überreichte stapelweise Literatur, die für den Plan warb, lud die Herren zu

Inigo Jones zum Essen ein und hoffte, daß die Saat nicht auf steinigen Boden gefallen war. Beim Abschied stellte mir der ältere der beiden eine Frage, die ich inzwischen nur allzugut kannte.

«Wenn Sie es schaffen, dieses Unternehmen zum Laufen zu bringen, werden Sie dann selbst die Leitung übernehmen wollen?«

Ich lächelte. Ich wußte nur zu gut, daß sich, hatte das Baby erst einmal das Licht der Welt erblickt, sehr rasch herausstellen würde, daß es gar nicht meines war.

«Wenn die Sache steht«, sagte ich,»fange ich etwas anderes an.«

Er sah mich neugierig an.»Und was?«

«Das weiß ich noch nicht.«

Sie schüttelten die Köpfe und gaben ein leises» Tsss «von sich, packten aber meine Hände voller Herzlichkeit, als wir uns endlich trennten und in unsere jeweiligen Taxis einstiegen. Es war nach Mitternacht, als ich das Haus hinter der Brompton Road, in dem ich wohnte, schließlich erreichte, aber wie üblich brannte in der Wohnung unter der meinen noch Licht. Wenn man die Haustür einfach losließ, schlug sie mit einem lauten Knall zu, der im ganzen Haus widerhallte. Wie ich vermutete, als ich sie jetzt sanft schloß, erklärte dies die

Überempfindlichkeit des Mieters im Erdgeschoß. Er war ein verschlossener Mann, grauhaarig, um die Fünfzig, sehr ordentlich und genau. Nach den sechs Monaten, die wir nun einer über dem anderen hausten, beschränkte sich unsere Bekanntschaft auf seine Vorstöße bis zu meiner Wohnungstür, wo er dann die sofortige Verringerung der von meinem Fernseher erzeugten Dezibel forderte. Einmal hatte ich ihn auf einen Drink hereingebeten, aber er hatte dankend abgelehnt — offensichtlich zog er die Einsamkeit bei sich unten vor. Kaum die große Entente cordiale des Jahrhunderts.

Ich ging hinauf, öffnete die Wohnungstür und schloß auch diese leise hinter mir. Plötzlich klingelte das Telefon in die vornehme Stille hinein und ließ mich zusammenfahren.

«Mr. Cleveland?«Die Stimme klang gehetzt, war praktisch kaum zu verstehen.»Gott sei Dank, da sind Sie ja endlich. Hier ist William Romney. Emmas Großvater. Sie wollte nicht, daß ich Sie so spät noch anrufe, aber ich muß. Als sie ihr Haus betrat, waren gerade zwei Männer dabei, es zu durchsuchen, und die haben sie geschlagen. Mr. Cleveland. sie braucht Ihre Hilfe.«

«Einen Augenblick«, sagte ich.»Zunächst einmal brauchen Sie die Polizei.«

Er beruhigte sich ein ganz klein wenig.»Die war da. Ist gerade wieder weg. Ich habe sie geholt.«

«Und einen Arzt für Emma?«

«Ja, ja, der ist auch schon wieder gegangen.«

«Um welche Zeit ist das alles passiert?«

«Heute abend gegen sieben. Wir sind von meinem Haus aus kurz hergefahren, um noch ein paar Sachen für sie zu holen. und da brannte ein Licht. und Emma ging als erste rein, und sie fielen über sie her. sie haben uns beide geschlagen. könnten Sie nicht. ja. also, um ehrlich zu sein. ich glaube, wir beide haben immer noch Angst.«

Ich unterdrückte einen Seufzer.»Wo sind Sie jetzt?«

«Noch bei Emma.«

«Ja, aber.«

«Oh, ich verstehe. Das ist in der Nähe von Newbury. Sie fahren auf der M4. «Er beschrieb mir den Weg, vollkommen überzeugt davon, daß ich sofort zu ihrer Hilfe herbeieilen würde. Er machte es mir gänzlich unmöglich, ihnen zur Einnahme einer Beruhigungstablette zu raten und zu sagen, ich würde morgen früh zu ihnen rauskommen. Und sowieso hätte ihn, nach seiner

Stimme zu urteilen, wohl nur eine Vollnarkose zur Ruhe gebracht.

Bei Nacht ging die Fahrt wenigstens schnell und ungehindert vonstatten, und ich brauchte mit meinem MGB genau fünfzig Minuten bis dorthin. Bei dem Haus der Shermans handelte es sich, wie ich bei meiner Ankunft feststellen konnte, um ein modernisiertes Landarbeiterhaus, das an einem sonst unbewohnten Weg lag — im günstigsten Fall hätte man diese Isolation noch als Nervenkitzel beschreiben können.

Alle Fenster waren hell erleuchtet, und beim Geräusch meines Wagens erschien die verängstigte Gestalt William Romneys in der Haustür.

«Gott sei Dank, Gott sei Dank«, sagte er erregt und kam mir zur Begrüßung auf dem kurzen Weg zum Haus entgegen.»Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten. wenn Sie nicht gekommen wären.«

Ich verkniff es mir, meine Gedanken offen auszusprechen, nämlich daß sie zu ihm hätten zurückfahren oder in ein Hotel gehen sollen. Nachdem ich dann das Haus betreten hatte, war ich froh, daß ich geschwiegen hatte, denn meine Äußerung wäre wohl nicht gerade sehr hilfreich gewesen. Der Schock hindert Menschen ja oft daran, den Ort der Katastrophe, die sie getroffen, hat, von sich aus zu verlassen, und an der Größe und Tiefe ihres Schocks konnte kein Zweifel bestehen.

Das Haus bot ein Bild der Verwüstung. Bilder waren von den Wänden, Gardinen von den Fenstern, Teppiche vom Fußboden gerissen worden. Möbelstücke waren nicht nur entleert, sondern auch kaputtgeschlagen worden. Von Lampen, Vasen und Ziergegenständen waren nur noch Scherben übrig. Papiere und Bücher lagen in den Trümmern herum wie herbstliches Laub.

«Es sieht hier überall so aus«, sagte William Romney.»Im ganzen Haus. Überall, bis auf das Gästezimmer. Dort waren sie gerade zu Gange, als wir sie gestört haben. Die Polizei sagt.«

Emma war im Gästezimmer, lag wach auf dem Bett, hatte Augen so dunkel wie Rußflecken. Ihre Wangen waren angeschwollen und aufgedunsen, und da, wo die Schläge sie getroffen hatten, waren rote Stellen zu sehen. Ihre Unterlippe war aufgesprungen, und eine Augenbraue endete in einer Hautabschürfung.

«Hallo«, sagte ich unpassenderweise und zog einen Stuhl heran, um mich neben sie ans Bett zu setzen. Ihr Großvater stand unschlüssig herum und gab besorgte Laute von sich, weil er offensichtlich über die dunkler werdenden Flecken neu beunruhigt war, wodurch er Emma aber nur noch mehr ermüdete. Er sah noch viel verstörter aus, als ich ihn bat, allein mit Emma sprechen zu dürfen, kehrte aber schließlich zögernd in die Wüstenei des Erdgeschosses zurück.

Ich nahm Emmas Hand in die meine.

«David.«

«Warten Sie noch ein bißchen«, sagte ich.»Und dann erzählen Sie.«

Sie nickte kaum merklich. Sie lag auf den Decken des ungemachten Bettes, trug noch das braunweiß karierte Kleid und hatte zwei unbezogene Kissen unter dem Kopf und eine geblümte Steppdecke über den Beinen.

Im Zimmer brannte ein voll aufgedrehter Gasofen, und es war sehr warm, doch Emmas Hand fühlte sich kalt an.

«Ich hab alles der Polizei gesagt«, begann sie schließlich.»Ich glaube, es waren Norweger.«

«Die beiden Männer?«

Sie nickte.»Sie waren groß. sie hatten dicke Pullover an und Gummihandschuhe. sprachen mit Akzent.«

«Fangen Sie doch von vorne an«, sagte ich.

«Wir sind hergekommen, um ein paar Sachen zum Umziehen für mich zu holen. Ich fühlte mich langsam etwas besser. Im

Erdgeschoß brannte ein Licht, und ich dachte, Mrs. Street, die nach dem Haus sieht, hätte es brennen lassen. aber als ich die Haustür aufschloß und den Flur betrat, da fielen sie über mich her. Sie knipsten alle Lampen an. Ich sah das Chaos. Einer von ihnen schlug mir ins Gesicht, und ich schrie nach Großvater. als er hereinkam, stießen sie ihn nieder. so leicht, es war schrecklich. und sie traten ihn. Einer von den beiden fragte mich, wo Bob seine Papiere versteckt hielte. und als ich nicht sofort antwortete, schlug er einfach weiter. mir ins Gesicht. mit den Fäusten. ich antwortete ihm nicht, weil ich es nicht wußte. Bob versteckte nie etwas. versteckte. o Gott.«

Ihre Finger schlossen sich um die meinen.

«Schon gut, schon gut, Emma«, sagte ich und wollte ihr damit nur zu verstehen geben, daß ich sie verstand.»Machen Sie eine kleine Pause.«

Wir warteten, bis ihre Anspannung etwas nachgelassen hatte — dann schluckte sie und versuchte es von neuem.

«Dann klingelte das Telefon, und das schien sie zu beunruhigen. Sie sprachen miteinander, stießen mich in einen Sessel. und gingen weg. durch die Haustür hinaus. Großvater stand vom Boden auf, aber das Klingeln hörte auf, bevor er an den Apparat kam. Dann hat er jedenfalls die Polizei angerufen.«

Die müde Stimme verstummte. Ich fragte:»Hatten die beiden Männer Masken auf?«

«Nein.«

«Würden Sie sie wiedererkennen?«

«Die Polizei hat das auch schon gefragt. sie wollen, daß ich mir ein paar Fotos anschaue. aber ich weiß nicht. ich wollte verhindern, daß sie mir weh taten. ich habe versucht, die Hände vors Gesicht zu halten. und die Augen zugemacht.«

«Wie steht’s mit Ihrem Großvater?«

«Er meint, er würde sie wiedererkennen. aber es ging ja alles so schnell.«

«Ich nehme an, die Männer haben nicht gesagt, nach welchen Papieren sie suchten?«

Sie schüttelte bekümmert den Kopf.»Auch das hat mich die Polizei schon gefragt. Immer wieder.«

«Ist schon gut«, sagte ich.»Wie fühlt sich Ihr Gesicht jetzt an?«

«Fürchterlich steif. Aber Dr. West hat mir ein paar Pillen gegeben. Er will morgen wieder nach mir sehen.«

«Hier?«

«Ja. ich wollte nicht zu Großvater zurück. Hier. mein Zuhause ist hier.«

«Sollen wir mal ein ordentliches Bett bauen?«

«Nein, danke. Es ist sehr angenehm so. bin zu müde, um mich noch bewegen zu können.«

«Dann werde ich mal runtergehen und Ihrem Großvater helfen.«

«Gut. «Plötzlich überfiel die Angst sie wieder.»Aber Sie fahren doch nicht wieder weg, nicht wahr?«

Ich versprach ihr zu bleiben und legte mich später in Hemd und Hose auf dem freigeräumten Sofa im Wohnzimmer schlafen, einer Oase in dieser Trümmerwüste. William Romney, der mit allem fast überfordert war, hatte ein starkes Beruhigungsmittel genommen und schnarchte leise auf dem Doppelbett im Schlafzimmer der Shermans. Und so war es zwischen drei und fünf Uhr morgens still und dunkel im Haus.

Dann wachte ich plötzlich von einem leisen Wimmern wieder auf, das wie das Klagen eines Tieres im Schneesturm klang.

«David.«

Es war Emma, die mit drängender und zittriger Stimme von oben herabrief.

Ich schob die Wolldecke beiseite, sprang auf und rannte schnell hinauf. Ich hatte die Tür offen und den Gasofen angelassen, und als ich ins Zimmer kam, konnte ich in ihren großen, dunklen Augen lesen, daß die letzte und schrecklichste Katastrophe über sie hereingebrochen war.

«David. «Die Trostlosigkeit in ihrer Stimme war unermeßlich.»David. ich blute.«

Sie verlor das Baby und beinahe auch das Leben. Drei Tage nachdem sie ein Krankenwagen mit Blaulicht abgeholt hatte, besuchte ich sie (erst nach drei Tagen, weil man nicht früher zu ihr durfte) und war überrascht, daß sie sogar noch blasser als in Oslo aussah, sofern dies überhaupt noch möglich war. Die Schwellungen in ihrem Gesicht waren abgeklungen, aber die blauen Flecken waren noch da. Ihr Blick war teilnahmslos, was mir ein Segen zu sein schien.

Der Fünfminutenbesuch blieb oberflächlich.

«Nett, daß Sie gekommen sind.«

«Ich habe Ihnen ein paar Weintrauben mitgebracht.«

«Wie lieb.«

«Das mit dem Baby tut mir leid.«

Sie nickte vage, aber irgendeine Droge linderte sicher auch diesen Schmerz.

«Hoffentlich geht es Ihnen bald wieder besser.«

«O ja. Ja, das wird es schon.«

William Romney zitterte vor Wut, stapfte empört in meinem Büro auf und ab.

«Ist Ihnen klar, daß es morgen schon eine Woche her ist, daß wir überfallen worden sind, und keiner irgendwas unternommen hat? Leute können sich doch nicht einfach in Luft auflösen. irgendwo müssen diese Männer ja stecken. warum kann die

Polizei sie nicht ausfindig machen? Es geht doch nicht an, daß solche Gangster einfach in das Haus einer schutzlosen jungen Frau eindringen, alles kurz und klein schlagen und sie so schwer verletzen, daß sie fast stirbt. Es ist eine Schande, daß die Polizei diese elenden Mistkerle noch nicht.«

Für ihn ein starkes Wort — er schien selber fast überrascht zu sein, daß er es benutzt hatte, und nichts hätte die Heftigkeit seiner Empfindungen besser zum Ausdruck bringen können.

«Wie ich höre, konnten weder Sie noch Emma die Männer nach den Polizeifotos identifizieren«, sagte ich — ich hatte das mit Hilfe eines freundlichen Kontakts zur Polizei überprüft.

«Sie waren nicht dabei. Es gab keine Fotos von ihnen. Das überrascht mich auch nicht. warum beschafft denn die Polizei keine Bilder von norwegischen Gaunern, damit wir uns die mal anschauen können?«

«Das würde wohl eher darauf hinauslaufen, daß Sie beide nach Norwegen reisen«, sagte ich.»Aber Emma ist dazu weder physisch noch psychisch in der Lage.«

«Dann fahre eben ich«, sagte er streitlustig.»Ich fahre auf meine eigenen Kosten. Ich mache alles. alles, damit diese Männer ihre Strafe für das bekommen, was sie Emma angetan haben.«

Sein schmales Gesicht war ganz rot, so ärgerlich war er. Ich fragte mich, ob nicht ein Teil seines Zorns einem unnötigen Schuldgefühl entsprang, weil er nicht jung und kräftig genug war, um Emma vor zwei aggressiven Schlägertypen zu schützen oder sie aus deren Fängen zu befreien. Er bot Wiedergutmachung in Form von Mühen und Kosten an, und ich sah keinen Grund, ihm eine Reise auszureden, die ihm, wenn schon keine konkret hilfreichen Resultate, so doch wenigstens inneren Frieden bringen würde.

«Wenn Sie wollen, arrangiere ich das für Sie«, sagte ich.

«Was.?«»Die Reise nach Norwegen, damit Sie sich dort die Bilder im Verbrecheralbum ansehen können.«

Sein Vorsatz nahm Gestalt an. Er straffte die krummen Schultern und hörte auf, den Teppich des Jockey Club zu verschleißen.

«Ja, bitte tun Sie das. Ich fliege sobald wie möglich.«

Ich nickte.»Setzen Sie sich doch«, sagte ich.»Rauchen Sie? Und wie geht es Emma?«

Er setzte sich, lehnte die angebotene Zigarette dankend ab und sagte, Emma sei, als er sie am vergangenen Abend besucht habe, wieder sehr viel kräftiger gewesen.

«Sie meint, sie würden sie in zwei oder drei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen.«

«Gut.«

Er sah nicht so aus, als ob er das auch gut fände. Er sagte mit neu aufsteigender Wut:»Was, um Himmels willen, soll das arme Mädchen jetzt machen? Der Mann ermordet. das Haus verwüstet. sie könnte bei mir wohnen, aber.«

«Ich bin sicher, sie wird in ihren eigenen vier Wänden wohnen wollen«, sagte ich.»Zumindest eine Zeitlang. Ist auch besser für sie. Dort kann sie ihren Schmerz am besten verarbeiten.«

«Klingt schon merkwürdig, was Sie da sagen.«

«Wann können Sie fahren?«fragte ich und griff nach dem Telefonhörer.

«Sofort.«

«Gut.«

Es meldete sich der Manager der Pferderennbahn von 0vrevoll, der mir die Privat- und die Büronummer Lars Baltzersens gab. Ich erreichte diesen in seinem Büro und erklärte ihm die Situation. Natürlich, sagte er bestürzt, natürlich könne er das mit der Polizei arrangieren. Für den morgigen Tag? Gewiß doch. Arme Mrs. Sherman, sagte er und bat, ihr sein herzliches Beileid zu übermitteln. Ich antwortete, das wolle ich gern tun, und fragte, ob es schon irgendwelche Fortschritte gegeben habe.

«Leider überhaupt keine«, sagte er. Er zögerte ein paar Sekunden und fuhr dann fort:»Ich habe noch mal darüber nachgedacht. ich meine. wenn die Polizei dieses Verbrechen nicht klären kann. würden Sie dann wohl noch einmal herkommen wollen und sehen, was Sie tun können?«

Ich entgegnete:»Ich habe, was die Untersuchung von Mordfällen angeht, keinerlei Erfahrung.«

«Im wesentlichen muß das doch dasselbe sein wie jede andere Form der Untersuchung.«

«Hm. Meine Brötchengeber hier könnten etwas dagegen haben, daß ich mich damit befasse.«

«Und wenn ich sie fragen würde, sie um einen Gefallen auf internationaler Ebene bäte? Schließlich war Bob Sherman ja auch ein britischer Jockey.«

«Würde Norwegen es nicht vorziehen, ihn nach Hause zu schicken und den ganzen häßlichen Vorfall zu vergessen?«

«Nein, Mr. Cleveland«, sagte er streng.»Es ist ein Mord begangen worden, und da sollte der Gerechtigkeit Genüge getan werden.«

«Ich bin ganz Ihrer Meinung.«

«Dann. würden Sie also kommen?«

Ich überlegte.»Warten Sie noch eine Woche. Wenn dann weder Ihre Polizei noch die unsere irgendwelche neuen Hinweise gefunden hat und Sie immer noch wollen, daß ich komme, nun gut, dann läßt es sich vielleicht einrichten. Aber. erwarten Sie nicht zuviel, ja?«

«Nicht mehr als bisher«, erwiderte er trocken und legte auf.

William Romney hatte sich inzwischen mit der Aussicht vertraut gemacht, bereits am folgenden Tag reisen zu sollen, und fing an, wegen Ticket, Geld und Hotel einigen Wirbel zu veranstalten. Ich scheuchte ihn hinaus, denn das alles konnte er ebensogut auch selber erledigen. Ich hatte schließlich eine ganze Menge zu tun — und sogar noch mehr, wenn ich Zeit für eine weitere Reise nach Oslo rausschlagen mußte. Ich hoffte jedoch sehr, die Polizei würde den Fall schnell aufklären und es mir ersparen, aller Welt beweisen zu müssen, daß ich es nicht konnte.

William Romney flog nach Norwegen und kehrte nach zwei vollen Tagen deprimiert nach Hause zurück. Die norwegische Polizei verfügte über keine Fotos von den Eindringlingen — und wenn doch, dann hatte Romney sie darauf nicht erkannt.

Emma wurde aus dem Krankenhaus entlassen und machte sich daran, ihr Haus aufzuräumen. Ein Angebot meinerseits, ihr dabei behilflich zu sein, wurde abgelehnt, eine Einladung zum Mittagessen jedoch angenommen.

«Sonntag?«schlug ich vor.

«Schön.«

Am Sonntag lagen die Teppiche wieder auf dem Fußboden, hingen die Bilder wieder an den Wänden, waren alle zerschlagenen Dinge beseitigt und die Fenstervorhänge für die Reinigung zusammengeschnürt. Das Haus sah nackt und unbewohnt aus, aber seine Herrin war endlich ins Leben zurückgekehrt. Zum ersten Mal, seit ich sie kennengelernt hatte, trug sie Lippenstift. Sie hatte sich die Haare gewaschen, ihre Kleidung war adrett, sie selbst gelassen. Die Ahnung einer hübschen jungen Frau war jetzt stärker spürbar, war unmittelbar unter der noch immer allzu blassen Haut, hinter den noch immer unglücklich blickenden Augen verborgen.

«Am Donnerstag wird er beerdigt«, sagte sie.

«Hier?«

Sie nickte.»Auf dem Dorffriedhof. Vielen Dank, daß Sie sich um seine Heimkehr gekümmert haben.«

Ich hatte diese Aufgabe delegiert.»Ich habe das alles nur veranlaßt«, sagte ich.

«Wie auch immer. herzlichen Dank.«

Der Oktobertag war still, sonnig und mit einem Hauch von Kühle unterlegt. Wir gingen zu einem an der Themse gelegenen Pub, wo spitze gelbe Weidenblätter langsam auf dem grauen Wasser vorbeitrieben und Angler gewitzte Fische mit aufgespießten Würmern zu ködern versuchten. Wir wanderten am Ufer entlang — langsam, weil Emma vom Blutverlust noch immer geschwächt war.

«Haben Sie schon Pläne?«erkundigte ich mich.

«Ich weiß nicht. Ich habe während der Zeit im Krankenhaus natürlich viel darüber nachgedacht. Ich glaube, ich werde noch eine Weile in unserem Haus wohnen bleiben. Irgendwie scheint mir das das Richtige zu sein. Schließlich werde ich es wohl verkaufen, denke ich, aber jetzt noch nicht.«

«Wie steht’s mit den Finanzen?«

Sie brachte die Andeutung eines Lächelns zustande.»Alle sind so rührend. Wirklich wunderbar. Wußten Sie, daß die Besitzer, für die Bob in Norwegen geritten ist, zusammengelegt und mir einen Scheck geschickt haben? Wie nett die Menschen sind.«

Die kaufen sich nur frei, dachte ich bitter, sprach es aber nicht aus.

«Diese beiden Männer, die in Ihr Haus eingedrungen sind. macht es Ihnen etwas aus, wenn wir über sie sprechen?«

Sie seufzte.»Nein.«

«Beschreiben Sie sie.«

«Aber.«

«Ja, ich habe gelesen, was Sie der Polizei gesagt haben. Sie haben sich die beiden nicht angeschaut, die Augen zugemacht, nur die Pullover und Gummihandschuhe gesehen.«

«Das stimmt.«»Nein. Was Sie der Polizei erzählt haben, das war nur das, was Sie an Erinnerung ertragen konnten, und selbst das hätten Sie gern verdrängt, wenn die Polizei nicht auf einer Beantwortung der Frage bestanden hätte.«

«Das ist doch Unsinn.«

«Versuchen wir es mal anders. Welcher von den beiden hat Sie geschlagen?«

Sie antwortete sofort:»Der größere mit dem. «Sie hielt unsicher inne.

«Mit dem was?«

«Ich wollte sagen: mit dem rötlichen Haar. Wie seltsam. Bis eben konnte ich mich nicht daran erinnern, daß einer rötliches Haar hatte.«

«Und der andere?«

«Braun. Braunes Haar. Er hat Großvater getreten.«

«Der, der Sie geschlagen hat. was hat der gesagt?«

«>Wo hebt Ihr Mann geheime Papiere auf? Wo versteckt er Sachen? Sagen Sie uns, wo er solche Sachen versteckt.««

«In gutem Englisch?«

«J. a. Ziemlich gut. Er hatte aber einen Akzent.«

«Wie sahen seine Augen aus, als er Sie schlug?«

«Wild. schrecklich. wie die eines Adlers. irgendwie schwarz und gelb. sehr böse.«

Es trat eine kleine Pause ein. Dann sagte sie:»Ja, ich erinnere mich. Es ist, wie Sie sagen. Ich hab’s verdrängt.«

Nach ein paar Sekunden:»Er war noch ziemlich jung, ungefähr Ihr Alter. Sein Mund war schmal. seine Lippen waren fest. sein Gesicht sah hart aus. sehr zornig.«

«Wie groß?«

«Wie Sie, ungefähr. Aber breiter. Sehr viel schwerer. Breite, dick verpackte Schultern.«»Breite Schultern in einem dicken Pullover. Was für eine Art von dickem Pullover? Hatte er ein Muster?«

«Aber ja, deshalb. «Sie verstummte wieder.

«Deshalb was?«

«Deshalb dachte ich doch sofort, daß er Norweger sein müßte. noch bevor er irgend etwas gesagt hatte. Wegen des Musters auf seinem Pullover. Das war etwas Weißes. obwohl. da waren zwei Farben, glaube ich. der Pullover selbst war braun. In Oslo habe ich in den Läden viele solche Pullover gesehen. «Ihr Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an.»Warum habe ich bloß nicht eher daran gedacht?«

«Die Erinnerung funktioniert oft so. Mit Verzögerung.«

Sie lächelte.»Ich muß gestehen, daß es hier in der Stille am Fluß sehr viel leichter ist, sich zu erinnern, als in dem ganzen Chaos des Hauses und mit schmerzendem Gesicht und Polizisten, die alle auf einmal fragen und herumwuseln.«

Wir gingen in den Pub, tranken etwas, aßen gut, und beim Kaffee stellte ich ihr weitere Fragen.

«Sie sagten, Bob hätte nie irgendwelche Papiere versteckt. Sind Sie sicher?«

«O ja. Er war kein Geheimniskrämer. Nie. Eigentlich war er eher sorglos, wenn es um Papiere, Dokumente und so etwas ging.«

«Es ist doch höchst sonderbar, daß zwei Leute extra aus Norwegen angereist kommen, um Ihr Haus nach Papieren zu durchsuchen.«

Sie runzelte die Stirn.»Ja, das ist es.«

«Und daß sie es so gewaltsam, zerstörerisch und gründlich durchsuchen.«

«Und dabei auch noch derart wütend waren.«

«Wahrscheinlich wütend, weil sie das, wonach sie suchten, trotz aller Mühen nicht finden konnten.«»Aber was haben sie denn nun gesucht?«

«Nun.«, sagte ich langsam.»Irgend etwas, was mit Norwegen zusammenhängt. Was für Papiere besaß Bob denn, die etwas mit Norwegen zu tun hatten?«

Sie schüttelte den Kopf.»Nicht viele. Ein paar Quittungen für die Abrechnung. Rennprogramme, manchmal. Ein Ausschnitt aus einer norwegischen Zeitung mit einem Bild von ihm, wie er ein Rennen gewinnt. Wirklich nichts, woran einem anderen gelegen sein könnte.«

Ich trank meinen Kaffee und überlegte. Dann sagte ich:»Sehen Sie die Sache mal anders herum. Hat er jemals irgendwelche Papiere nach Norwegen mitgenommen?«

«Nein. Wozu?«

«Ich weiß es nicht. Ich frage mich das bloß. Denn diese beiden Männer könnten ja auch nach etwas gesucht haben, was von ihm nicht nach Norwegen gebracht worden war, das heißt, sie suchten nicht nach etwas, was er von dort mitgebracht hatte.«

«Sie kommen schon auf seltsame Gedanken.«

«Hm. «Ich bezahlte die Rechnung und fuhr sie nach Hause. Sie schwieg die meiste Zeit, war in Gedanken versunken — und diese Nachdenklichkeit erbrachte unverhofften Gewinn.

«Sagen Sie. na ja, es ist vielleicht dumm. aber könnte es irgend etwas mit Pornobildern zu tun haben?«

«Was für Pornobilder?«

«Ich weiß nicht. Ich habe sie nie gesehen. Bob hat nur mal davon gesprochen.«

Ich hielt vor ihrer Gartenpforte an, blieb jedoch im Wagen sitzen.»Hatte er die aus Norwegen?«

Sie war überrascht.»Nein. Es war so, wie Sie gesagt haben. Er hat sie mit rübergenommen. In einem braunen Umschlag. Der wurde ihm am Abend vor seiner Abreise gebracht. Er sagte, das seien Pornobilder und ein Mann in Oslo wolle, daß er sie ihm mitbringe.«

«Hat er gesagt, was für ein Mann?«

Sie schüttelte den Kopf.»Nein. Ich habe ihm allerdings auch kaum zugehört. Ich hatte das alles vergessen, bis Sie sagten.«

«Haben Sie den Umschlag gesehen? Wie groß war er?«

«Ich muß ihn gesehen haben. Ich meine, ich weiß doch, daß er braun war. «Sie zog die Stirn in Falten, konzentrierte sich.

«Ziemlich groß. Kein gewöhnlicher Briefumschlag. Etwa die Größe einer Zeitschrift.«

«Stand >Fotografien< oder etwas in der Art darauf?«

«Ich glaube nicht. Daran kann ich mich nicht erinnern. Es ist ja auch schon mehr als sechs Wochen her. «Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen.»Er hat ihn sofort in seine Reisetasche getan, um ihn nicht zu vergessen. «Sie schniefte zweimal und fand ein Taschentuch.»Er hat ihn also nach Norwegen mitgenommen. Er war jedenfalls nicht mehr im Haus, und deshalb konnten ihn diese Männer dort auch nicht finden. Wenn es das war, wonach sie gesucht haben. dann war alles, was sie hier angerichtet haben, umsonst. «Sie preßte das Taschentuch gegen den Mund und unterdrückte ein Schluchzen.

«War Bob an Pornobildern interessiert?«fragte ich.

«Wie jeder andere Mann auch, nehme ich an«, sagte sie durch das Taschentuch.»Er sah sie sich halt an.«

«Aber er selbst sammelte keine?«

Sie schüttelte den Kopf.

Ich stieg aus, öffnete ihr den Wagenschlag und ging mit ihr ins Haus. Sie sah auf die Rennfotos von Bob, die im Flur hingen.

«Sie haben diese Fotos alle aus den Rahmen gerissen«, sagte sie.»Ein paar waren hin.«

Viele der Abzüge waren fünfundzwanzig mal zwanzig Zentimeter groß. Sie hätten gut in einen Umschlag von der

Größe einer Zeitschrift hineingepaßt.

Ich blieb eine Stunde, einfach, um ihr noch etwas Gesellschaft zu leisten, aber dann versicherte sie mir, daß sie, was den vor ihr liegenden Abend angehe, schon zurechtkommen werde. Sie sah sich in dem kahlen Wohnzimmer um und lächelte in sich hinein. Offensichtlich fand sie den Raum ganz hübsch, und vielleicht war ja auch Bob da.

Als ich ging, gab sie mir einen herzlichen Kuß auf die Wange und sagte:»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«, brach dann ab und riß die Augen weit auf.

«O je«, sagte sie.»Das war ja schon die zweite Lieferung.«

«Wovon?«

«Von Pornobildern. Er hatte auch davor schon einmal welche mitgenommen. Das ist. viele Monate her. Im Sommer. «Sie schüttelte wieder frustriert den Kopf.»Ich kann mich nicht genau erinnern. Ich entsinne mich nur, daß er. von Pornobildern gesprochen hatte.«

Ich erwiderte ihren Kuß.

«Geben Sie auf sich acht«, sagte ich.

«Und Sie auch.«

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