Kapitel 2

Sie warteten, bis ich mich im Grand Hotel umgezogen hatte, damit sie die mir geliehenen Sachen wieder mitnehmen konnten. Wir trennten uns mit einem warmen Händedruck und in großer Kameradschaftlichkeit, und erst als sie fort waren, fiel mir ein, daß ich sie gar nicht nach ihren Namen gefragt hatte.

Nur zu gerne wäre ich sofort ins Bett gegangen und hätte ein halbes Jahrhundert geschlafen, aber der Gedanke an Arnes Frau, die zu Hause saß und auf seine Heimkehr wartete, schob dem

einen Riegel vor. Ich brachte also die folgenden Stunden bei

verschiedenen norwegischen Behörden zu, denen ich berichtete, was sich ereignet hatte.

Als die Polizei damit fertig war, sich Notizen zu machen, und man mir sagte, sie würden jemanden schicken, um Mrs. Kristiansen zu verständigen, bot ich an, den Beamten zu begleiten. Man war damit einverstanden. Wir fuhren mit einem Polizeiwagen in eine wohlhabende, nicht weit vom

Stadtzentrum entfernte Straße und klingelten im ersten Stock eines großen Holzhauses an der Tür zur Wohnung C. Die junge Frau, die uns öffnete, hatte ein festes, freundliches, etwa dreißigjähriges Gesicht und sah uns aus klaren grauen Augen fragend an. Die Wohnung hinter ihr wirkte warm und

farbenfroh, und die Luft war voller Beethoven.

«Ist Mrs. Kristiansen zu Hause?«fragte ich.

«Ja«, antwortete sie.»Ich bin Mrs. Kristiansen.«

Ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Sonderbare Käuze wie Arne konnten eigentlich nicht mit schlanken, jungen Frauen, denen das dichte hellblonde Haar in leichten Locken auf die Schulter fiel, verheiratet sein. Ihr Blick wanderte von meinem weit weniger auffallenden Gesicht zu dem Polizisten

hinter mir, und ihre Augen weiteten sich.

«Mein Name ist David Cleveland«, sagte ich.»Ich war heute nachmittag mit Arne zusammen.«

«Ah, Sie sind das«, rief sie aus.»Kommen Sie doch herein. ich bin ja so froh.«

Sie hielt die Tür auf, drehte sich um und rief:»Arne! Arne, sieh mal, wer da ist.«

Er trat in den Flur. Sehr lebendig.

Wir starrten uns bestürzt an. Mein Gesicht muß die Überraschung und den Schock widergespiegelt haben, die ich auf seinem sah. Dann kam er mit ausgestreckter Hand auf mich zu, wobei sich sein Gesicht zum breitesten Lächeln aller Zeiten verzog.

«David! Ich kann es gar nicht glauben! Ich habe dich als ertrunken gemeldet. «Er umfaßte meine beiden Hände und schüttelte sie herzlich.»Komm herein, komm herein, mein Lieber, und erzähl mir, wie du gerettet worden bist. Ich war so traurig. ich habe Kari gerade.«

Seine Frau nickte, war so glücklich wie er.

Der Polizeibeamte hinter mir sagte:»Allem Anschein nach ist Mr. Kristiansen also doch nicht ertrunken«, eine Äußerung, die uns in unserem Zustand größter Erleichterung ungeheuer komisch vorkam. Wir brachen alle in Lachen aus. Selbst der Polizist lächelte.

«Mich hat ein Fischer in der Nähe von Nesodden aufgesammelt«, erklärte ihm Arne.»Ich habe den Unfall der Polizei dort gemeldet. Sie sagten mir, sie würden ein Boot rausschicken und nach Mr. Cleveland suchen, hatten aber keine große Hoffnung, ihn noch zu finden. Ich rufe besser gleich mal dort an.«

«Danke«, sagte der Polizist,»das wäre gut. «Und dann lächelte er uns alle noch einmal an und ging.

Kari Kristiansen schloß die Wohnungstür, sagte, mich nun ebenfalls duzend:»Komm herein, das müssen wir feiern«, und führte mich ins Wohnzimmer. Dort dröhnte Beethoven vor sich hin, und sie stellte den Apparat ab.»Arne macht immer laute Musik, wenn er aus dem Gleichgewicht geraten ist«, sagte sie.

Arne telefonierte draußen im Flur, und aus dem erklärenden Strom norwegischer Worte konnte ich meinen mit Erstaunen und Erleichterung ausgesprochenen Namen heraushören.

«Es ist wunderbar«, sagte er, als er, sich die Hände reibend, zu uns hereinkam.»Wunderbar. «Er bedeutete mir, ich solle mich auf das tiefe, bequeme Sofa vor dem fröhlich im Kamin brennenden Holzfeuer setzen.»Die Polizei in Nesodden meint, sie hätten ein Boot rausgeschickt und nach dir gesucht, aber es sei so dunkel und regnerisch gewesen, daß sie nichts mehr hätten sehen können.«

«Es tut mir leid, daß ich ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe«, sagte ich.

«Mein lieber Freund…«: Er spreizte die Finger.»Das ist doch nicht der Rede wert. Und jetzt trinken wir einen Schluck, was? Zur Feier des Tages!«

Er schenkte aus einer Flasche, die bereits geöffnet auf einem kleinen Beistelltischchen gestanden hatte, Rotwein ein.

«Arne war den ganzen Abend so deprimiert«, sagte Kari.»Es ist wirklich ein Wunder, daß ihr beiden gerettet worden seid.«

Wir tauschten unsere Geschichten aus. Arne hatte sich seine roten Klamotten vom Leib gerissen und die Gummistiefel sofort von den Füßen gestreift (ich hätte wahrscheinlich wissen können, daß ein Mann, der auf dem Meer zu Hause ist, sehr lose sitzende Gummistiefel trägt). Er hatte dann ein paar Minuten lang meinen Namen gerufen und nach mir gesucht, aber keine Spur von mir entdecken können.

«Als ich dich zum letzten Mal sah«, sagte er entschuldigend,»warst du noch im Boot, und da nahm ich an, daß dich die

Motorjacht erwischt haben mußte, und als ich dich dann nicht finden konnte, dachte ich, daß du bestimmt schon tot wärst.«

Er sei daraufhin losgeschwommen, berichtete er. Und da er sehr viel mehr als ich über Gezeiten und Winde wußte, hatte er fast genau die entgegengesetzte Richtung gewählt. Er war schließlich in der Nähe der Küste von einem kleinen heimfahrenden Fischerboot aufgenommen worden, das aber nicht mehr genug Treibstoff hatte, um noch in den Fjord hinauszufahren und nach mir zu suchen. Es hatte ihn jedoch in die kleine Stadt gebracht, wo er der Polizei mein Verschwinden gemeldet hatte. Schließlich war er mit einem Mietboot nach Oslo weitergefahren.

Meine Geschichte war der seinen derart ähnlich, daß sie in zwei Sätzen erzählt war: Ich hatte schwimmend eine Insel erreicht. Zwei Männer hatten mich in ihrem Boot in die Stadt zurückgebracht.

Arne wühlte in einem unordentlichen Haufen Papier und zog triumphierend eine Karte daraus hervor. Er entfaltete sie, deutete auf den Teil des Fjords, wo er am breitesten war, und zeigte Kari und mir die Stelle, an der unser Boot gesunken war.

«Ausgerechnet da!«rief Kari aus.»Warum seid ihr denn so weit rausgefahren?«

«Du kennst mich doch«, sagte Arne und faltete die Karte wieder zusammen.»Ich bin eben gern in Bewegung.«

Sie sah ihn nachsichtig an.»Du meinst, du hast es nicht gern, wenn man dir folgt.«

Arne machte ein erschrockenes Gesicht, aber daß er unter Verfolgungswahn litt, war so unübersehbar wie Gulliver in Liliput.

Ich sagte:»Die Polizei hat mich gefragt, ob ich den Namen der Motorjacht erkennen konnte.«

«Konntest du?«fragte Arne.

Ich schüttelte den Kopf.»Nein. Und du?«

Er blinzelte sich durch eine dieser irritierenden Schweigephasen, in die er schon bei der allereinfachsten Frage zu verfallen schien, und sagte am Ende nur:»Nein.«

«Ich glaube, es war überhaupt kein Name da«, sagte ich.

Beide sahen mich überrascht an.

«Da muß aber doch einer gewesen sein«, meinte Kari.

«Also. mir hat sich nichts eingeprägt. kein Name, keine Zulassungsnummer, kein Heimathafen. Vielleicht gibt’s das ja bei euch in Norwegen nicht.«

«Aber natürlich«, sagte Kari verwirrt.»Natürlich sind diese Angaben auch bei uns üblich.«

Arne dachte gründlich nach und sagte dann:»Sie fuhr zu schnell. und direkt auf uns zu. Sie muß einen Namen gehabt haben. Wir konnten ihn bloß nicht sehen. «Er sagte das mit einer solchen Bestimmtheit, als ob das Thema damit erschöpfend behandelt worden wäre. Ich nickte kurz und ließ es dabei bewenden, war aber sicher, daß auf dem heranbrausenden schwarzen Schiffsrumpf nichts anderes zu sehen gewesen war als schwarze Farbe. Wie, so fragte ich mich, stand es wohl in dieser Meerenge mit Schmugglern?

«Schade«, sagte ich.»Du hättest sonst vielleicht Schadensersatz für dein Dinghi bekommen.«

«Es ist versichert«, erwiderte er.»Mach dir da mal keine Sorgen.«

Kari meinte:»Es ist eine Schande, daß das Boot nicht gestoppt hat. Die müssen den Stoß doch gespürt haben. selbst eine so große und schnelle Motorjacht, wie es nach Arnes Bericht eine war, kann doch wohl kein Dinghi rammen, ohne daß irgend jemand an Bord etwas merkt.«

Unfall mit Fahrerflucht, dachte ich unernst. Passiert auf den Straßen, warum soll’s nicht auch auf dem Wasser vorkommen?

«Arne hatte schon Angst, du könntest nicht schwimmen.«

«Ich schaffe ein paar Bahnen im Becken«, sagte ich.»Aber an solche Langstrecken habe ich mich noch nie gewagt.«

«Du hattest Glück«, sagte sie ernst.

«Arne auch. «Ich sah ihn nachdenklich an, denn ich war gute zehn Jahre jünger als er und der totalen Erschöpfung sehr nahe gewesen.

«O nein. Arne ist ein hervorragender Schwimmer. Überhaupt ein großer Sportler. Sehr fit und ausdauernd. «Sie lächelte ironisch, aber der Stolz der Ehefrau war doch spürbar.»Er hat früher oft bei Langlaufrennen gewonnen.«

Es war mir nicht entgangen, daß in einer Nische im Flur mehrere Paare Skier, Squash-Schläger, Angelruten, Wanderschuhe und ein halbes Dutzend Anoraks in der Art des verlorengegangenen roten zusammengewürfelt waren. Einem Mann wie Arne, der gern in Bewegung war, stand durchaus die entsprechende Ausrüstung zur Verfügung.

«Hast du eigentlich schon etwas gegessen?«fragte Kari plötzlich.»Ich meine, seit deinem Schwimmausflug? Hast du überhaupt ans Essen gedacht?«

Ich schüttelte den Kopf.»Ich glaube, ich habe mir nur Sorgen um Arne gemacht.«

Sie stand lächelnd auf.»Arne hatte auch keinen Appetit aufs Abendessen. «Sie sah auf die Uhr. Zehn Minuten vor zehn.»Ich werde euch beiden mal was holen«, sagte sie.

Arne blickte ihr liebevoll nach, als sie in die Küche entschwand.

«Wie findest du sie? Ist sie nicht hübsch?«

Normalerweise mochte ich Männer nicht, die einen dazu aufforderten, ihre Frauen zu bewundern, als ob es sich um Besitztümer wie Autos oder dergleichen handelte, aber an diesem Abend war ich bereit, Arne eine ganze Menge nachzusehen.

«Ja«, antwortete ich mit größerer Aufrichtigkeit als bei vielen anderen Anlässen dieser Art — und Arne grinste erfreut.

«Noch etwas Wein?«, fragte er, stand unruhig auf und schenkte uns beiden nach.

«Eure Wohnung ist ebenfalls sehr hübsch«, bemerkte ich.

Er warf mir über die Schulter einen überraschten Blick zu.

«Das ist auch Kari. Sie. es ist ihr Job. Für Leute Räume auszustatten. Büros, Hotels, in der Richtung.«

Ihr eigenes Wohnzimmer war ein Raum, in dem Naturholz und weiße Farbe den Charakter bestimmten, in dem Tischlampen mit pergamentartigen Schirmen ein warmes, gelbliches Licht auf jutefarbene Polstermöbel und überall verstreute Kissen in leuchtenden Farben warfen. Eine Mischung aus sorgfältigem Arrangement und Zufälligkeit, überzogen vom anheimelnden Müll eines erfüllten Lebens. Überordentliche Zimmer bedrückten mich immer — das der Kristiansens war gerade richtig.

Arne brachte mir mein Glas und setzte sich mir gegenüber nahe ans Feuer. Sein Haar, nun nicht mehr verborgen, war eher grau als blond, länger als früher und wirkte auf alle Fälle distinguierter.

«Morgen«, sagte ich,»würde ich gern mal mit dem Vorsitzenden der Rennbahn von 0vrevoll sprechen.«

Er sah überrascht aus, als hätte er den eigentlichen Grund meines Besuches vergessen.

«Ja. «Er blinzelte ein wenig.»Morgen ist Samstag. Am Sonntag ist das Grand National. Er wird am Sonntag auf der Rennbahn sein.«

Ein diebischer Jockey soll dem guten Mann nicht seinen freien Tag verderben, wollte Arne damit zum Ausdruck bringen, und deshalb zuckte ich die Achseln und sagte, der Sonntag wäre mir auch recht.

«Vielleicht besuche ich morgen dann mal Gunnar Holth.«

Aus irgendeinem Grund erfüllte Arne auch dieser Gedanke nicht mit Freude. Nach einem längeren Schweigen seinerseits fand ich heraus, daß er vorhatte, den ganzen Tag angeln zu gehen, und fürchtete, ich würde ihn bei meinem Besuch dabeihaben wollen.

«Spricht Gunnar Holth Englisch?«fragte ich ihn.

«O ja.«

«Dann gehe ich allein zu ihm.«

Er bedachte mich mit einem herzlichen Lächeln und sprang auf, um Kari zu helfen, die mit einem vollen Tablett aus der Küche zurückkehrte. Sie hatte Kaffee gemacht und mit Krabben, Käse und Ananas belegte Brote, die wir restlos aufaßen.

«Du mußt mal einen Abend herkommen«, sagte Kari.»Dann koche ich dir was Ordentliches.«

Arne pflichtete ihr wärmstens bei und machte noch eine Flasche Wein auf.

«Sie ist eine großartige kleine Köchin«, sagte er voll Besitzerstolz.

Die großartige kleine Köchin warf ihr dichtes blondes Haar zurück und streckte ihren schönen Hals. Ihr Profil hatte die gleiche Klasse, und auf einem Wangenknochen waren drei kleine braune Male, die wie sandfarbene Sommersprossen aussahen.

«Du bist uns jederzeit willkommen«, sagte sie.

Gegen ein Uhr brachte mich ein Taxi zurück ins Grand Hotel. Ich schlief schlecht, wachte um sieben auf und fühlte mich wie Henry Coopers Punchingball.

Eine Befragung des Badezimmerspiegels ergab, daß ich auf meinem linken Schulterblatt einen tellergroßen, unregelmäßig roten Fleck hatte — eine Erinnerung an zusammengestoßene

Boote. Hinzu kam, daß jede Muskelfaser unter den Qualen litt, die einem allzu große Anstrengungen am folgenden Morgen bescheren. David Cleveland war allem Anschein nach doch kein Matthew Webb.

Die Sache wurde durch Bad, Anziehen und Frühstück nicht wesentlich besser, auch nicht durch ein Telefongespräch mit Gunnar Holth.

«Wenn Sie unbedingt wollen, dann kommen Sie halt«, meinte er.»Aber ich kann Ihnen nichts sagen. Sie vergeuden nur Ihre Zeit.«

Da alle Ermittler eine Menge Zeit damit vergeuden, daß sie Leuten zuhören, die nichts zu sagen haben, fuhr ich natürlich hin. Er besaß einen an die Rennbahn angrenzenden Stallhof und hatte eine aggressive Art.

«Fragen, nichts als Fragen«, sagte er.»Da gibt’s nichts zu erzählen.«

Ich bezahlte den Taxifahrer.

«Sie hätten ihn nicht wegschicken sollen«, sagte Gunnar Holth.»Sie werden schon bald wieder gehen.«

Ich lächelte.»Ich kann auch mit der Straßenbahn zurückfahren.«

Er würdigte mich voller Widerwillen eines kurzen Blicks.

«Sie sehen nicht wie ein Funktionär des Jockey Club aus.«

«Ich würde es sehr zu schätzen wissen«, entgegnete ich,»wenn Sie mir Ihre Pferde zeigten. Arne Kristiansen meint, daß Sie sehr gute in Ihrem Stall stehen haben. die in diesem Jahr schon wichtige Preise gewonnen haben.«

Da taute er natürlich etwas auf. Er deutete auf ein großes Stallgebäude jenseits eines weiten, matschigen Platzes. Auf dem Weg dorthin zeigte er mir in seinen Stiefeln, daß ich nicht in gewienerten Halbschuhen hätte kommen sollen. Er war klein, drahtig, von mittlerem Alter und ein typischer Stallmensch, den

Pferden, so nahm ich an, näher als deren Besitzern. Und sein Englisch hatte einen irischen Akzent.

Im Stall gab es zwei lange Boxenreihen mit einem breiten Gang dazwischen. Über den meisten der Halbtüren waren Pferdeköpfe zu sehen, und drei oder vier junge Burschen schleppten Eimer mit Wasser oder Heubündel zu den Boxen.

«Sie sind gerade erst vom Training zurück«, sagte Holth.»Wir trainieren auf der Sandbahn des Platzes. «Er wandte sich nach links und öffnete die Tür der ersten Box.»Dieser Knabe läuft morgen beim Grand National. Sehen Sie sich nur mal seine Schultern an. Ist das nicht ein prachtvolles Pferd?«

«Bob Sherman hat mit ihm ein Rennen gewonnen, und zwar an dem Tag, an dem er dann verschwunden ist«, sagte ich.

Holth warf mir wortlos einen scharfen Blick zu und ging in die Box, um ein kräftig aussehendes Pferd zu tätscheln, das mehr Masse als Rasse hatte. Er betastete die Beine des Pferdes, schien zufrieden und kam zu mir zurück.

«Woher wissen Sie das?«fragte er.

Ich konnte es ihm ruhig erzählen.»Arne Kristiansen hat mir eine Liste der Rennen gegeben, bei denen Bob Sherman hier in Norwegen zuletzt geritten ist. Er meinte, daß Ihr Pferd hier wahrscheinlich das Grand National gewinnen wird. Und wenn Bob Sherman nur ein bißchen Grips hätte, dann wäre er zu diesem Rennen hergekommen und hätte danach die Tageseinnahmen geklaut, was alles in allem ein sehr viel besserer Fang gewesen wäre.«

Holth gestattete sich einen Anflug von Belustigung.»Da hat er recht.«

Wir setzten unseren Rundgang fort und bewunderten jeden einzelnen Stallbewohner. Es waren insgesamt etwa zwanzig Pferde, von denen drei Viertel bei Flachrennen liefen. Obwohl es brauchbare Tiere zu sein schienen, sah keines so aus, als könnte es Epsom im Sturm erobern. Aber nach ihrem Fell und allgemeinen Zustand zu urteilen, verstand Holth sein Handwerk.

Ein Teil des Stalles war abgetrennt worden und diente den Stallburschen als Unterkunft. Holth zeigte mir auch diese Räumlichkeiten. Schlafraum, Waschraum und Küche.

«Bob wohnte meistens hier«, sagte er.

Ich sah mich in aller Ruhe in dem großen Hauptraum mit seinem halben Dutzend Doppelstockbetten, dem nackten Bretterfußboden, dem Holztisch und den Holzstühlen um. Ein großer brauner Kachelofen und Doppelfenster mit Vorhängen, so dick wie Decken, verhießen behaglichen Schutz vor künftigem Schnee, und ein paar Kalender mit spärlich bekleideten Mädchen schmückten die Wände — aber das alles war doch himmelweit vom Grand Hotel entfernt.

«Immer?«fragte ich.

Holth zuckte die Achseln.»Er meinte, das hier sei gut genug, und er sparte die Ausgabe für das Hotel. Da ist doch wohl nichts Verkehrtes dran, oder?«

«Ganz und gar nicht«, erwiderte ich.

Er schwieg eine Weile und sagte dann:»Ein paarmal hat er auch bei einem Besitzer gewohnt.«

«Bei welchem?«

«Oh. bei dem, dem Whitefire gehört. Per Bj0rn Sandvik.«

«Wie oft?«

Holth antwortete leicht irritiert:»Was spielt das für ’ne Rolle? Zweimal, glaube ich. Ja, zweimal. Nicht beim letzten Mal, sondern die beiden Male davor.«

«Wie oft ist er insgesamt herübergekommen?«

«Vielleicht sechsmal. Oder sieben. oder achtmal.«

«Den ganzen Sommer über?«

«Im vergangenen Jahr war er nicht hier, wenn es das ist, was Sie meinen.«»Aber er kam gern?«

«Natürlich kam er gern. Alle britischen Jockeys, die eingeladen werden, kommen gern her. Gute Bezahlung, verstehen Sie?«

«Wie gut?«

«Na ja, sie bekommen die Reise bezahlt und einen Teil der Aufenthaltskosten. Dann die Teilnahmegebühren. Und die zusätzlichen Rennpreise.«

«Die zusätzlichen Rennpreise zahlt der Rennverein?«

«Nicht ganz. Also. der Rennverein zahlt den Jockeys das Geld, holt es sich aber von den Besitzern wieder, für die die einzelnen Jockeys geritten sind.«

«Demnach zahlt der Besitzer im Endeffekt so gut wie alles, die Gebühren, den Gewinnanteil, einen Teil der Reise- und Aufenthaltskosten und einen Teil der zusätzlichen Rennpreise?«

«So ist es.«

«Was geschieht, wenn nach alledem ein Jockey ein miserables Rennen reitet?«

Holth antwortete mit tödlichem Ernst:»Der Besitzer bittet den Jockey nicht noch einmal, für ihn zu reiten.«

Wir traten aus dem Stall hinaus wieder in den Schlamm. Es hatte zwar an diesem Tag nicht geregnet, aber die Drohung hing noch in der kalten, nebligen Luft.

«Kommen Sie mit rüber zu mir«, schlug Holth vor.»Trinken Sie noch einen Kaffee, bevor Sie zur Straßenbahn gehen.«

«Großartig!«sagte ich.

Er bewohnte einen kleinen Holzbungalow mit Spitzengardinen an den Fenstern und Geranientöpfen auf jedem Fensterbrett. Der Ofen im Wohnzimmer brannte schon, und darauf war in einer orangefarbenen Kanne Kaffee warmgestellt. Gunnar holte aus einem Schrank zwei Becher und eine Tüte mit Zucker.

«Hätten die Besitzer Bob Sherman gebeten, wieder für sie zu reiten?«Er schenkte den Kaffee ein, tat Zucker hinein und rührte mit einem weißen Plastiklöffel um.

«Per Bj0rn Sandvik schon. Und Sven Wangen. Das ist der Besitzer des Apfelschimmels ganz hinten im Stall. «Er dachte nach.

«Rolf Torp… na ja. Bob verlor am Tag seiner Abreise ein Rennen, und Rolf Torp war der Ansicht, daß er es mit Leichtigkeit hätte gewinnen können.«

«Und, hätte er?«

Holth zuckte die Achseln.»Pferde sind keine Maschinen«, sagte er.»Aber ich trainiere die Pferde von Rolf Torp auch nicht und kann mir deshalb kein Urteil erlauben.«

«Wer trainiert sie?«

«Paul Sundby.«

«Kommt Rolf Torp morgen zum Rennen?«

«Selbstverständlich«, erwiderte Holth.»Ihm gehört doch der Favorit des Grand National.«

«Und Sie?«fragte ich weiter.»Würden Sie ihn gebeten haben, wieder für Sie zu reiten?«

«Aber sicher«, antwortete er ohne Zögern.»Bob ist ein guter Jockey. Er beachtet, was man ihm über ein Pferd sagt. Er reitet mit dem Kopf. Man hätte ihn nicht so oft eingeladen, wenn er nicht gut wäre.«

Die Tür, die auf den Hof hinausführte, öffnete sich ganz plötzlich, und einer der Stallburschen streckte den Kopf herein. Er war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, fröhlich und trug eine Wollmütze mit Troddel.

«Würden Sie mal ’nen Blick auf diese verdammte Mähre werfen, Gunny?«fragte er.»Das ist vielleicht ’ne blöde Kuh.«

Der Trainer sagte, er werde gleich kommen, und der Kopf verschwand.

«Der ist ja Ire«, sagte ich überrascht.

«Sicher. Ich habe drei irische Stallburschen und einen aus Yorkshire. Und drei sind von hier. Im norwegischen Rennsport gibt’s viele Jungs aus Großbritannien.«

«Warum das?«

«Sie haben hier die Chance, an Rennen teilzunehmen. Eher als zu Hause.«

Wir tranken unseren Kaffee, der gut und stark war.

Ich fragte:»Wie ist Bob eigentlich zu den Rennen hingekommen? Hat er sich je einen Wagen geliehen?«

«Nein, ich glaube nicht. Wenn er hier bei mir war, ist er immer mit mir zur Rennbahn rübergefahren.«

«Hat er sich Ihr Auto mal ausgeliehen? Oder das eines anderen?«

«Meins nie. Ich glaube nicht, daß er jemals selbst gefahren ist, wenn er hier war.«

«Haben Sie ihn am Tag seines Verschwindens außer zum Rennen sonst noch irgendwohin gefahren?«

«Nein.«

Ich wußte aus den Unterlagen, die bei meiner Ankunft im Hotel auf mich gewartet hatten, daß man hier davon ausgegangen war, daß Bob mit dem Taxi zum Flugplatz fahren würde, um den letzten Flug nach Heathrow noch zu kriegen. Das hatte er aber nicht getan. Der bestellte Taxifahrer hatte, als Bob nicht erschien, nur die Achseln gezuckt und statt seiner ein paar andere Rennplatzbesucher in die Stadt zurückgebracht.

Damit blieben nur noch die öffentlichen Verkehrsmittel, die Taxifahrer, die Bob nicht vom Sehen kannten, sowie die Autos anderer Leute. Und außerdem noch, wie ich annahm, seine eigenen Füße. Es wäre ein Kinderspiel gewesen, die Rennbahn zu verlassen, ohne von jemandem, der ihn kannte, gesehen zu werden, vor allem, wenn das letzte Rennen, wie ich aus den

Unterlagen schließen konnte, erst nach Einbruch der Dunkelheit stattgefunden hatte.

Ich setzte meinen leeren Kaffeebecher ab, und Gunnar Holth sagte unvermittelt:»Könnten Sie sich nicht mal um Bobs Frau kümmern?«

«Seine Frau? Ich könnte mich mit ihr in Verbindung setzen, wenn ich wieder in England bin und irgend etwas Brauchbares herausgefunden habe.«

«Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf,»sie ist hier.«

«Hier?«

Er nickte.»In Oslo. Sie will partout nicht nach Hause fahren.«

«Davon hat Arne gar nichts gesagt.«

Holth lachte.»Sie folgt ihm überallhin wie ein Hund. Stellt Fragen wie Sie. Wer hat Bob gehen sehen? Mit wem ist er fortgegangen? Warum findet ihn keiner? Sie erscheint bei jedem Rennen und fragt den Leuten Löcher in den Bauch. Das wird inzwischen allen etwas viel.«

«Wissen Sie, wo sie wohnt?«

Er nickte eifrig und holte ein Stück Papier aus dem Regal.

«Im Norsland Hotel. Zweitklassig, nicht im Stadtzentrum. Hier ist ihre Telefonnummer. Sie hat sie mir gegeben, falls mir irgend etwas zu der Geschichte einfallen sollte, was weiterhelfen könnte. «Er zuckte die Achseln.»Sie tut uns allen leid, aber ich wünschte, sie würde endlich abreisen.«

«Seien Sie doch so gut und rufen Sie sie an«, sagte ich.»Sagen Sie ihr, ich würde ihr gern ein paar Fragen zu Bob stellen. Schlagen Sie ihr heute nachmittag vor.«

«Ich habe Ihren Namen vergessen«, sagte er, ohne sich zu entschuldigen.

Ich lächelte und gab ihm meine Karte. Er warf einen ungläubigen Blick erst auf sie, dann auf mich, rief aber im Norsland Hotel an. Mrs. Emma Sherman wurde an den Apparat geholt.

Holth sagte in die Sprechmuschel:»Ein Mr. David

Cleveland. ist aus England herübergekommen, um nach Ihrem Mann zu suchen. «Er las von der Karte ab:»Chefermittler, Ermittlungsabteilung des Jockey Club, Portman Square, London. Er würde Sie gern heute nachmittag aufsuchen.«

Holth hörte sich ihre Antwort an, sah dann zu mir herüber und fragte:»Wo?«

«In ihrem Hotel. Drei Uhr.«

Er gab die Auskunft weiter.

«Sie erwartet Sie«, sagte er und legte auf.

«Gut.«

«Sagen Sie ihr, sie soll nach Hause fahren«, meinte er.

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