Kapitel 16

Knut und ich kehrten in sein Büro zurück und ließen uns wieder an seinem Schreibtisch nieder.

«Können Sie das beweisen?«fragte er.

«Wir können beweisen, daß er ins Grand Hotel gegangen ist, den Schlüssel geholt und das Schließfach geöffnet hat.«

«Was noch?«

Ich sagte finster:»Es sind Indizien. Ein guter Verteidiger kann das alles auf den Kopf stellen.«

Knut kaute auf seinem Bleistift herum.

«Der Skandal wird ihn ruinieren«, sagte er.

Ich nickte.»Aber ich wette, er hat irgendwo ein Vermögen in Sicherheit gebracht.«

«Ihm muß aber«, meinte Knut,»auch viel an seinem Ruf und nicht bloß am Geld liegen, denn sonst wäre er doch einfach außer Landes gegangen und hätte nicht Bob Sherman umbringen lassen.«

«Ja.«

Wir saßen uns eine Weile schweigend gegenüber.

«Sie sind müde«, sagte Knut schließlich.

«Ja, und Sie auch.«

Er grinste und sah plötzlich Erik sehr ähnlich.

Ich sagte:»Ihr Bruder hat mir erzählt, daß Per Bj0rn Sandvik während des Krieges dem Widerstand angehört hat.«

«Ja, das stimmt.«

«An Mut fehlt’s also nicht«, sagte ich.»Hat’s nicht gefehlt und fehlt’s auch heute nicht.«

«Und wir sind nicht die Gestapo«, sagte Knut.»Er weiß, daß

wir ihn nicht foltern werden. Wir müssen ihm nach all dem, was er in seinen jungen Jahren riskiert hat, recht lahm vorkommen. Er wird sich nicht geschlagen geben und ein Geständnis ablegen. Niemals.«

Dieser Ansicht war ich auch.

«Die beiden Männer«, sagte ich,»Gelbauge und Braunauge. Die sind zu jung, um in der Widerstandsbewegung gewesen zu sein. Aber. wäre es denkbar, daß ihre Väter dabeiwaren? Arnes Vater war Widerstandskämpfer. Könnten Sie nicht mal die Gruppe überprüfen, der Per Bj0rn damals angehört hat, und feststellen, ob einer von ihnen Gelbauges Vater ist?«

«Sie verlangen die unmöglichsten Dinge.«

«Es ist wirklich nur eine höchst vage Vermutung«, seufzte ich.

«Ich mache mich gleich morgen dran«, sagte er.

Wir bekamen einen Kaffee, einen sehr milchigen. Ich hätte gut einen dreifachen Scotch und einen Schub von Emmas Scones gebrauchen können.

«Wissen Sie«, sagte ich nach einem neuerlichen Schweigen,»da ist noch etwas. Eine andere Möglichkeit. Es muß einfach eine geben.«

«Das verstehe ich nicht.«

«Ich meine. es war das schiere Glück, daß ich diesen Schlüssel gefunden habe. Wenn Paddy die Helme nicht getauscht hätte, hätten wir das Papier in Fornebu nie und nimmer gefunden. «Ich trank einen Schluck Kaffee. So schwach wie er war, half er bloß gegen den Durst.»Aber. die haben doch schon versucht, mich umzubringen, bevor sie wußten, daß dieses Papier nicht bei Bob Sherman im Teich lag. Es mußte also noch etwas anderes geben, was ich nicht finden durfte.«

Ich stellte die Tasse ab und zog eine Grimasse.

«Aber was?«fragte Knut.

«Weiß der Himmel.«»Irgend etwas, was mir entgangen ist«, sagte er gedrückt.

«Warum sollten die annehmen, daß ich etwas sehe, was Sie nicht sehen?«

«Weil es so ist«, erwiderte er.»Und Arne weiß es.«

Arne, mein Freund Arne.

«Warum hat er Sie da draußen auf dem Fjord eigentlich nicht selber umgebracht?«fragte Knut.»Warum hat er Ihnen nicht einfach eins auf den Schädel gegeben und Sie dann über Bord geschmissen?«

«Es ist nicht so leicht, jemandem eins auf den Schädel zu geben, wenn man, der eine vorn, der andere hinten, in einem kleinen Dinghi sitzt. Und außerdem. ein Tier zum Schlachthof zu bringen und es zu schlachten, das sind zwei verschiedene Dinge.«

«Das verstehe ich nicht.«

«Arne war zwar sehr an meinem Tod gelegen, aber er wollte es nicht selber tun.«

«Woher wissen Sie das?«

«Weil er es nicht getan hat. In den vergangenen Wochen hätte er mehr Gelegenheiten gehabt als jeder andere, aber er hat es nicht getan.«

«Sie konnten aber nicht sicher sein, daß er es nicht tun würde.«

«Er ist zwar ein schwieriger Mensch, aber seine Einstellungen liegen alle fest. wenn er es beim ersten Mal nicht getan hatte, dann würde er es später auch nicht tun.«

Wieder vergingen ein paar Minuten des Schweigens, während derer ich mich auf das zu konzentrieren versuchte, was ich nicht gefunden hatte.

Es hat keinen Zweck, dachte ich.

Gestern, dachte ich, wußte ich noch nicht, wer Interpetro Oil manipuliert hat. Heute weiß ich es. Macht das einen Unterschied?

«Mein Gott!«sagte ich und wäre fast vom Stuhl gekippt.

«Was ist?«fragte Knut.

«Ich bin vielleicht ein Trottel!«

«Wie das denn?«

«Sie erinnern sich doch noch an diese Bombe.«

«Natürlich erinnere ich mich noch daran.«

«So ein verdammt schlampig durchgeführter Mordversuch«, sagte ich.»Sie hätte auch schon eher hochgehen können, vor unserer Rückkehr zum Auto. Sie hat uns nicht getötet, und deshalb haben wir die ganze Sache als Fehlschlag verbucht. Aber es war gar kein Fehlschlag. Ganz und gar nicht, es war ein Riesenerfolg. Die Bombe hat genau das erreicht, was sie erreichen sollte.«

«David.«

«Wissen Sie noch, wo ich an jenem Nachmittag hin wollte? Ich bin nicht hingefahren, weil mich die Bombe daran gehindert hat. Ich bin ja so was von blöd. es geht nicht darum, was ich nicht gesehen habe, sondern wen.«

Er starrte mich bloß an.

«Mikkel Sandvik!«

Ich rief im Internat in Gol an und ließ mich mit dem Direktor verbinden.

«Oh, aber Mikkel Sandvik ist gar nicht da«, sagte er.»Sein Vater hat am Sonntagmorgen hier angerufen und gesagt, Mikkel müsse seine Tante besuchen, die im Sterben liege und nach ihm gefragt habe.«

«Wo wohnt diese Tante?«

«Das weiß ich auch nicht. Herr Sandvik hat selbst mit Mikkel geredet.«

Ich hörte im Hintergrund jemanden sprechen, und dann fuhr der Direktor fort:»Meine Frau sagt, Mikkel habe ihr erzählt, seine Tante Berit liege im Sterben und er wolle den nächsten Zug nach Bergen nehmen. Wohin er dann gefahren ist, wissen wir nicht. Warum fragen Sie nicht seinen Vater?«

«Gute Idee«, sagte ich.

«Was jetzt?«fragte Knut, als ich ihm den Inhalt des Telefongesprächs wiedergegeben hatte.

«Ich glaube. ich werde mal Mrs. Sandvik aufsuchen und sehen, ob sie mir vielleicht sagen kann, wo Mikkel steckt.«

«Gut. Und ich werde tun, was erforderlich ist, um Mr. Sandvik die Nacht über hierbehalten zu können. «Er seufzte.»Ein Mann wie er. irgendwie kommt es einem nicht richtig vor, ihn in eine Zelle zu sperren.«

«Lassen Sie ihn bloß nicht laufen.«

«Aber nein!«

Erik war schon längst nach Hause gefahren, aber Knut meinte, ich sei ja schließlich mit polizeilichen Aufgaben betraut, und stellte mir für die Fahrt zum Hause der Sandviks einen Polizeiwagen zur Verfügung. Ich ging durch den Torbogen in den Innenhof, wandte mich dann nach rechts und klingelte an der gut beleuchteten, eindrucksvollen Haustür.

Eine korpulente Frau mittleren Alters öffnete. Sie war bieder angezogen, trug kein Make-up und hatte eine sehr bestimmte, ziemlich abweisende Art.

«Bitte?«fragte sie.

Ich erklärte ihr, wer ich war, und bat um ein Gespräch mit Mrs. Sandvik.

«Ich bin Mrs. Sandvik. Wir haben vor ein paar Tagen miteinander telefoniert.«

«Das ist richtig«, sagte ich und ließ mir meine Überraschung nicht anmerken. Ich hatte angenommen, sie wüßte bereits, daß ihr Mann auf dem Polizeirevier saß, aber offensichtlich hatte er seine beiden Anrufe noch nicht erledigt. Als wir ihn im Vernehmungszimmer zurückließen, hatte Knut gesagt, er werde veranlassen, daß Sandvik dort ein Telefon bekäme, was aber wohl seine Zeit brauchte. Schließlich riß sich niemand ein Bein aus, um einem Tatverdächtigen die Wünsche von den Augen abzulesen, auch dann nicht, wenn der Betreffende Per Bj0rn Sandvik hieß.

Das machte es mir jedoch leichter, Fragen zu stellen.

«Kommen Sie herein«, sagte Mrs. Sandvik.»Es wird kalt, wenn die Tür offensteht.«

Ich trat in die Diele. Sie forderte mich nicht auf, noch weiter hereinzukommen.

«Mikkel?«fragte sie überrascht.»Der ist in der Schule. Das habe ich Ihnen doch gesagt.«

Ich erklärte ihr die Sache mit der Tante Berit.

«Er hat keine Tante Berit.«

Hast du Töne!

«Äh. kennt er jemand, der den Namen Berit trägt?«

Sie zog die Augenbrauen hoch.»Ist das wichtig?«

«Ich kann nicht nach Hause zurückfliegen, bevor ich nicht mit Mikkel gesprochen habe. Tut mir leid.«

Sie zuckte die Achseln. Nach einer langen Pause des Nachdenkens sagte sie:»Berit ist der Name einer alten Kinderfrau meines Mannes. Ich weiß nicht, ob Mikkel noch jemand anderen kennt, der Berit heißt. Wahrscheinlich.«

«Wo wohnte denn diese alte Kinderfrau Ihres Mannes?«

«Das weiß ich nicht.«

Sie konnte sich nicht an den Familiennamen der Kinderfrau erinnern und war überhaupt nicht sicher, ob sie noch lebte. Sie meinte abschließend, ihr Mann würde mir das sicher sagen können, wenn er nach Hause komme, und öffnete unmißverständlich die Tür. Mit dem ausgesprochenen Gefühl, ein Feigling zu sein, ging ich. Per Bj0rn hatte ihre gesicherte Welt in Stücke geschlagen, aber das würde er ihr selbst sagen müssen.

«Er könnte bei der alten Kinderfrau seines Vaters sein«, sagte ich zu Knut.»Oder auch nicht.«

Er überlegte.»Wenn er den Zug nach Bergen genommen hat, erinnert sich vielleicht noch der Beamte am Fahrkartenschalter an ihn.«

«Ist einen Versuch wert. Inzwischen könnte er aber schon überall sein. Überall auf der weiten Welt.«

«Er ist mal gerade siebzehn«, meinte Knut.

«Das ist für heutige Verhältnisse schon alt.«

«Wie hat Mrs. Sandvik die Nachricht von der Inhaftierung ihres Mannes aufgenommen?«

«Ich hab’s ihr nicht gesagt. Ich dachte, das sollte Per Bj0rn selbst tun.«

«Aber das hat er doch!«

«Sie wußte von nichts«, sagte ich verständnislos.

Knut sagte:»Ich bin sicher, daß er seine beiden Anrufe vor etwa einer halben Stunde getätigt hat.«

«O Scheiße«, sagte ich.

Er schoß mit vierzig Stundenkilometern aus seinem Büro und schrie ein paar unglückliche Untergebene an. Als er wieder hereinkam, hatte er ein Stück Papier in der Hand und sah grimmig, beunruhigt und reumütig zugleich aus.

«Sie haben halt Schwierigkeiten damit, einem Mann wie Sandvik den Gehorsam zu verweigern«, sagte er.»Er hat ihnen gesagt, sie sollten draußen warten, weil er mit seinem Anwalt und seiner Frau telefonieren müsse und beide Gespräche privater Natur seien. Und sie haben seiner Aufforderung Folge geleistet. «Er sah auf das Blatt Papier in seiner Hand.»Wenigstens hatten sie Verstand genug, die Nummern für ihn anzuwählen und sie aufzuschreiben. Es sind beides Osloer Nummern.«

Er gab mir den Zettel. Die eine Nummer sagte mir nichts, die andere zuviel.

«Er hat mit Arne telefoniert«, sagte ich.

Ich klingelte an Arnes Wohnungstür, und nach einiger Zeit machte mir Kari auf.

«David. «Sie schien weder überrascht noch erfreut, mich zu sehen. Sie machte einen vollkommen erschöpften Eindruck.

«Komm herein«, sagte sie.

Die Wohnung erschien mir irgendwie kälter, weniger lebendig, sehr viel stiller als beim letzten Mal.

«Wo ist Arne?«fragte ich.

«Er ist weg.«

«Wohin?«

«Das weiß ich nicht.«

«Erzähl mir genau, was er gemacht hat, nachdem er nach Hause gekommen war.«

Sie sah mich mit leerem Blick an, wandte sich dann ab und ging durchs Wohnzimmer. Ich folgte ihr. Sie setzte sich auf das cremefarbene Sofa und zitterte. Der Ofen brannte nicht mehr warm und anheimelnd, und der Plattenspieler war abgestellt.

«Er kam nach Hause und war ganz durcheinander. Nun ja, er ist eigentlich schon durcheinander, seit diese Geschichte mit Bob Sherman angefangen hat. Aber heute war er sehr beunruhigt, verwirrt und aus dem Gleichgewicht. Er hörte sich zwei Langspielplatten an und lief umher. er konnte einfach nicht stillsitzen.«

Ihre Stimme war so ruhig wie die eines Menschen, der einen

Schock erlitten hat. Die Wirklichkeit dessen, was geschehen war, hatte sie noch nicht eingeholt und in Wut, Angst oder Verzweiflung versetzt — aber morgen, dachte ich, morgen könnten diese Gefühle alle auf einmal über sie hereinbrechen.

«Er rief zweimal bei Per Bj0rn Sandvik zu Hause an, aber dort sagte man ihm, er sei nicht da. Das schien ihn sehr zu beunruhigen.«

Auf dem Couchtisch stand ein Tablett mit einem Teller belegter Brote. Bei ihrem Anblick überfiel mich ein wahnsinniger Hunger, denn ich hatte seit meinem winzigen Frühstück nichts mehr gegessen, aber Kari warf nur einen gleichgültigen Blick darauf und sagte:»Er hat sie liegenlassen. Er meinte, er könnte keinen Bissen.«

Versuch’s mal bei mir, dachte ich — aber sie hatte anderes im Kopf, als mich gastlich zu bewirten.

«Dann rief Per Bj0rn Sandvik hier an. Erst vor einer kleinen Weile. aber es scheint schon viele Stunden her zu sein. Zunächst war Arne erleichtert, aber dann. wurde er so still. ich wußte, da stimmt etwas nicht.«

«Was hat er zu Per Bj0rn gesagt? Kannst du dich noch daran erinnern?«

«Er sagte ja und nein. Er hörte lange zu. Er sagte. ich glaube, er sagte. >Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde ihn finden.««

«War das alles?«

Sie nickte.»Dann ging er ins Schlafzimmer und war ganz still. da ging ich zu ihm, um zu sehen, was los war. Er saß auf dem Bett und sah zu Boden. Als ich hereinkam, blickte er zu mir auf. Seine Augen waren. ich weiß nicht. tot.«

«Und dann?«

«Er stand auf und fing an, einen Koffer zu packen. Ich fragte ihn. er sagte, >stör mich nicht«.. deshalb stand ich einfach nur da. Er packte. warf Sachen in den Koffer. und die ganze Zeit murmelte er vor sich hin, meistens ging es um dich.«

Sie sah mich durchdringend an, aber in ihren Augen zeigte sich noch immer keinerlei Gefühlsregung.

«Er sagte. >Ich hab’s ihm gesagt, ich hab’s ihm gesagt, David würde ihn schlagen. ich hab’s ihm von Anfang an gesagt. er meint noch immer, David hätte ihn nicht besiegt, aber das hat er, das hat er.< Ich fragte Arne, von was er da rede, aber ich glaube, er hat mich gar nicht gehört. «Sie preßte die Finger gegen die Stirn, rieb die glatte Haut.»Arne sagte: >David. David hat die ganze Zeit gewußt. er hat die Falle aufgestellt und sich selbst als Köder reingetan. er hat’s den ganzen Tag gewußt. < Dann sagte er so etwas wie daß du zwei Mädchen und einen alten Mann benutzt hättest, und irgendwas von Orangensaft. und von einer Vorahnung, die du erfunden hättest. Er sage, er hätte gewußt, daß Endstation wäre, wenn du herüberkämst. das hätte er schon vor deiner Ankunft gesagt.«

Plötzlich schien es bei ihr zu dämmern, und in ihrem Blick las ich die ersten Anzeichen von Feindseligkeit.

«Was hast du gemacht?«fragte sie.

«Es tut mir leid, Kari. Ich habe Arne und Per Bj0rn Sandvik die Gelegenheit gegeben zu beweisen, daß sie mehr über Bob Shermans Tod wissen, als sie wissen sollten, und sie haben die Gelegenheit wahrgenommen.«

«Mehr als sie wissen sollten.?«wiederholte sie verständnislos — und dann begriff sie plötzlich.»O nein, nein, nicht Arne. «Sie stand abrupt auf.»Das glaube ich nicht. «Aber sie tat es schon.

«Ich weiß noch immer nicht, wer Bob Sherman umgebracht hat«, sagte ich.»Ich glaube, Arne weiß es. Ich möchte mit ihm sprechen.«

«Er kommt nicht zurück. Er sagte. er würde mir schreiben und mich nachkommen lassen. In ein paar Wochen. «Sie sah sehr unglücklich aus.»Er hat das Auto genommen. «Sie schwieg eine Weile.»Er hat mich geküßt.«

«Ich wünschte.«, sagte ich unsinnigerweise, und sie verstand mich, auch ohne daß ich den Satz beendete.

«Ja«, sagte sie.»Trotz allem. mag er dich auch.«

Als ich zum Polizeirevier zurückkam, war es noch nicht acht, und Per Bj0rn saß noch im Vernehmungszimmer.

«Sein Anwalt ist bei ihm«, sagte Knut mürrisch.»Jetzt kriegen wir kein Wort mehr aus ihm raus.«

«Allzuviel haben wir bis jetzt noch nicht von ihm zu hören bekommen«, sagte ich.

«Nein. «Er tippte auf den Zettel mit den Telefonnummern, der vor ihm auf dem Tisch lag.»Diese andere Nummer. das ist nicht die seines Anwalts.«

«Wessen denn?«

«Das ist ein großes zweitklassiges Hotel in der Nähe der Docks. Dutzende ankommender Gespräche, sie konnten sich an nichts erinnern. Ich habe einen Beamten mit einer Beschreibung des Mannes mit den gelben Augen hingeschickt.«

«Hm. Und der, mit dem er da telefoniert hat, wer immer es war, hat anschließend den Anwalt angerufen.«

«Ja«, sagte Knut.»So muß es sein. Wenn es Arne nicht getan hat.«

«Nach allem, was ich von seiner Frau gehört habe, glaube ich das nicht.«

«War er fort?«

Ich nickte.»Mit dem Auto.«

Er griff wieder nach dem Telefon.»Wir werden die Zulassungsnummer feststellen und eine Fahndung herausgeben. Und auch den Flughafen und die Posten an der schwedischen Grenze alarmieren.«»Ich weiß die Nummer. «Ich sagte sie ihm. Er sah mich überrascht an, weshalb ich es ihm erklärte.»Ich bin schon in seinem Auto mitgefahren. und ich habe ein Gedächtnis für Zulassungsnummern. Ich weiß auch nicht, warum.«

Er gab seine Fahndungsmeldung heraus und saß dann da und klopfte mit dem Bleistift gegen seine Zähne.

«Und jetzt warten wir«, sagte er.

Wir warteten genau fünf Sekunden, dann kam der erste Anruf. Knut nahm den Hörer mit einer Geschwindigkeit auf, die seine innere Anspannung verriet, und horchte aufmerksam in die Muschel.

«Ja«, sagte er schließlich.»Ja. danke. Ich danke Ihnen.«

Er legte auf und gab die Neuigkeiten an mich weiter.

«Das war der Beamte, den ich zum Hotel geschickt habe. Er sagt, der Mann mit den gelben Augen habe eine Woche lang dort gewohnt, aber er habe heute seine Rechnung bezahlt und sei abgereist. Er habe keine Adresse angegeben. Im Hotel sei er als L. Horgen bekannt. Mein Beamter sagt, unglücklicherweise sei Horgens Zimmer schon saubergemacht worden, weil das’ Hotel gut besucht sei, aber er habe veranlaßt, daß es unbelegt bleibt, bis wir es uns angesehen und auf Fingerabdrücke hin untersucht haben. Entschuldigen Sie mich kurz, ich schicke nur mal ein entsprechendes Team hin.«

Er ging hinaus und blieb ziemlich lange weg, aber als er endlich wiederkam, konnte er mir Weiteres berichten.

«Wir haben Arnes Wagen gefunden. Er steht nicht weit vom Kai der Nansen Line, und eines ihrer Schiffe ist vor einer Stunde nach Kopenhagen ausgelaufen. Wir haben an das Schiff und nach Kopenhagen gefunkt, daß sie ihn festnehmen sollen.«

«Erlauben Sie denen in Fornebu aber nicht, daß sie in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen.«

Er sah mich fragend an.

Ich grinste schwach.»Na ja. wenn ich mich mit dem Flugzeug absetzen wollte, dann würde ich mein Auto bei einer Schifffahrtsgesellschaft stehenlassen und mit dem Taxi zum Flughafen fahren. Arne und ich haben uns mal über eine ganze Reihe derartiger Möglichkeiten unterhalten.«

«Dann weiß er aber auch, daß Sie’s durchschauen würden.«

«Ich würde mehr Hoffnung auf das Schiff setzen, wenn er sein Auto am Flughafen stehengelassen hätte.«

Er schüttelte den Kopf und seufzte.»Wie gut, daß Sie kein Gangster sind.«

Ein junger Polizist klopfte, kam herein und sprach mit Knut.

Er übersetzte für mich.»Mr. Sandviks Anwalt möchte mich sprechen, in Anwesenheit seines Mandanten. Ich gehe mal ins Vernehmungszimmer rüber. Wollen Sie mitkommen?«

«Sehr gern«, sagte ich.

Als Per Bj0rn und sein Anwalt, Knut, ich sowie ein Beamter, der Notizen machen sollte, in dem kleinen Vernehmungszimmer versammelt waren und die Tür geschlossen wurde, wirkte der Raum mit dunklen Anzügen und feierlichem Ernst überfrachtet. Während alle anderen auf den harten Stühlen um den Tisch herum saßen, lehnte ich am Türrahmen und hörte einer langen Unterredung zu, von der ich nicht ein Wort verstand.

Per Bj0rn schob seinen Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und steckte sich in gewohnter Manier eine Zigarette an. Sein Anwalt, ein massiger, beherrschter Mann von offensichtlicher weltlicher Macht, sprach mit gebieterischer Stimme und machte Knut spürbar immer nervöser. Aber Knut ließ sich nicht kleinkriegen, und als er dem Anwalt antwortete, klang er zwar freundlich und entschuldigend, aber der Sinn seiner Worte war ein eindeutiges Nein.

Das ärgerte den Rechtsanwalt mehr als seinen Mandanten. Er erhob sich, stand drohend über Knut und sprach eine scharfe

Warnung aus. Knut sah besorgt drein, stand ebenfalls auf und schüttelte den Kopf. Danach wurde der junge Polizist mit einem Auftrag losgeschickt und kehrte schon bald mit einem Sergeanten plus Eskorte zurück.

Knut sagte:»Herr Sandvik.«, und wartete.

Per Bj0rn stand langsam auf und drückte seinen Zigarettenfilter in den Aschenbecher. Er blickte die Eskorte ungerührt an und ging ruhig auf sie zu. Als er an der Tür und bei mir angekommen war, blieb er stehen, drehte den Kopf und starrte mir mit voller Absicht direkt ins Gesicht.

Aber was immer er dachte, in seinen Augen wurde nichts davon sichtbar, und er sagte kein Wort.

Knut ging nach Hause, während ich die Nacht über in seinem Büro blieb und mit Decken und Kissen, die wir aus den Zellen entliehen hatten, auf dem Fußboden schlief — wahrscheinlich hatte ich es weniger bequem als der offizielle Gast unten im Haus.

«Was gefällt Ihnen denn nicht am Grand Hotel?«hatte Knut gefragt, als ich ihn bat, in seinem Büro übernachten zu dürfen.

«Gelbauge ist auf freiem Fuß«, hatte ich ihm geantwortet,»und wer weiß, was für Instruktionen ihm Per Bj0rn gegeben hat?«

Knut hatte mich nachdenklich angesehen.»Sie meinen, da kommt noch mehr?«

«Per Bj0rn hat den Kampf noch nicht aufgegeben.«

«Ja«, hatte er geseufzt,»das glaube ich auch.«

Er hatte einen Beamten mit dem Auftrag losgeschickt, mir in einem nahegelegenen Restaurant etwas zu essen zu besorgen, und am nächsten Morgen um acht erschien er selbst wieder und brachte mir einen Rasierapparat mit. Er sah in seiner Uniform sauber und ordentlich aus und so, als hätte er den gestrigen Tag wie eine Haut abgestreift — jedenfalls erschien er mit munter funkelnden Augen und für den neuen Tag gerüstet. Ich dagegen bibberte in meinen zerknautschten Klamotten und fühlte mich wie ein Pennbruder.

Um Viertel vor neun klingelte das Telefon. Knut nahm den Hörer ab, hörte zu und schien erfreut über das, was er hörte.

«Ja, ja. Danke«, sagte er.

«Was ist?«

Er legte auf.»Wir haben eine Nachricht aus Gol. Der Beamte, der am Sonntag am Fahrkartenschalter Dienst hatte, erinnert sich, daß ein Junge aus dem Internat eine Fahrkarte nach Finse gekauft hat.«

«Finse. «Ich dachte an meine Fahrpläne zurück.»An der Strecke nach Bergen?«

«Ja. Finse ist der höchstgelegene Ort an dieser Strecke. Oben in den Bergen. Ich werde nachfragen, ob man sich auf dem Bahnhof dort an den Jungen erinnern kann. Ich werde auch Nachforschungen anstellen lassen, ob ihn im Ort jemand auf der Straße gesehen hat oder weiß, ob er sich dort länger aufhält.«

«Wie lange wird das dauern?«

«Das läßt sich nicht sagen.«

«Hm. «Ich überlegte.»Passen Sie auf. der Zug nach Bergen fährt um zehn, wenn ich mich richtig erinnere. Ich werde selbst hinfahren. Und wenn Sie hören, daß Mikkel in Finse ist beziehungsweise nicht ist, dann können Sie mir ja vielleicht eine entsprechende Nachricht an eine der Haltestellen des Zuges schicken.«

«Haben Sie Gelbauge vergessen?«

«Unseligerweise nicht«, sagte ich.

Er lächelte.»Gut. Ich lasse Sie in einem Polizeiauto zum Bahnhof bringen. Möchten Sie, daß ein Beamter mitfährt?«

Ich überlegte.»Es könnte sein, daß ich mehr bei Mikkel erreiche, wenn ich allein fahre.«

Im Zug saß ich neben einem mir vollkommen fremden Reisenden, einem fröhlichen jungen Mann, der kaum englisch sprach, und verbrachte die ereignislose Fahrt damit, daß ich hinausschaute auf friedliche Felder und bunte Puppenhäuschen, die willkürlich über die Berghänge verstreut waren.

In Gol erreichte mich eine schriftliche Nachricht:

Junger Mann Ankunft den Sonntag in Finse. Man weiß nicht bis wohin er gegangen. Die Fragen ist fortgesetzt.

«Herzlichen Dank«, sagte ich.

Der Zug kroch langsam über die Baumgrenze hinauf in eine Landschaft aus blaugrauen Felsen und grüngrauem Wasser. Der Schnee bedeckte zunächst nur kleine Flecken, dann größere, bis er schließlich als dünner weißer Teppich auf allen abfallenden Flächen lag, und scharfe Felskanten wie Beile aus ihm hervorstachen.

«Ist kleiner Schnee«, sagte mein Reisegefährte.»In Winter in Finse ist zwei Meter.«

«Zwei Meter hoch?«fragte ich.

Er nickte.»Ja. Ist gut für Ski.«

Der Zug fuhr eine Zeitlang an einem eiskalt aussehenden, windgekräuselten graugrünen See entlang und lief dann mit einem Seufzer der Erleichterung langsam in den Bahnhof von Finse ein.

«Ist heißer Sommer«, bemerkte mein Freund und sah sich erstaunt um.»Ist Schnee weg.«

Das mochte für ihn ja so sein, für mich sah es nicht so aus. Noch immer lag auf allem, was der Erwähnung wert war, Schnee, ob der heiße Sommer nun vorüber war oder nicht — und von allen Dächern hingen Eiszapfen als steife, glitzernde Fransen herab. Im Gegensatz zur Wärme des Zuges umfing mich draußen sofort beißende Kälte, und obwohl meine Mütze die Ohren bedeckte und meine Jacke gefüttert war, schlang ich in dem vergeblichen Versuch, meine Körperwärme zu halten, die Arme um meine Brust.

Der größte Anteil der Polizeikräfte von Finse war in Gestalt eines breit grinsenden Beamten von drehkreuzblockierenden Ausmaßen zu meiner Begrüßung am Bahnhof erschienen.

«Mr. Cleveland. «Er schüttelte mir die Hand.»Wir nicht wissen, wo dieser Junge, Mikkel Sandvik, ist. Wir haben ihn im Ort nicht gesehen. Es sind jetzt nicht viele Fremde hier. Im Sommer und im Winter wir haben sehr viele Fremde hier. Wir haben das große Hotel, für das Skilaufen. Aber jetzt nicht viele. Wir haben gesucht nach der alten Frau, die Berit heißt. Es gibt zwei. Es ist nicht eine, weil sie im Bett liegt im Haus von ihrem Sohn, und sie ist. äh. sie ist. alt.«

«Senil?«schlug ich vor.

Er kannte das Wort nicht.»Sehr alt«, wiederholte er.

«Und die andere Berit?«

«Sie wohnt in einem Haus neben dem See. Einen und einen halben Kilometer von Finse entfernt. Sie fährt im Winter immer weg. Jetzt bald. Sie ist eine starke alte Frau. Im Sommer nimmt sie Leute auf, die zum Angeln kommen, aber sie sind alle weg jetzt. Für gewöhnlich kommt sie am Mittwoch, um Essen einzukaufen, deshalb sind wir nicht zu ihr gegangen. Aber heute sie ist spät. Sie kommt immer am Morgen.«

«Ich werde zu ihr gehen«, sagte ich, und er beschrieb mir den Weg.

Der Weg zum Haus der >Berit am See< entpuppte sich als schmaler Pfad, der zwischen den Bahngleisen und dem Seeufer entlangführte — es war eher eine sich zwischen Felsblöcken hindurchschlängelnde Spur aus kleinen Steinen und Kieseln als ein erkennbarer, ausgetretener Weg. Da seine Unebenheiten auch noch mit Harsch bedeckt waren, fiel es nicht schwer, sich vorzustellen, wie er, wenn es erst einmal richtig schneite, vollkommen verschwand.

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