Kapitel 11

Die Leute am Empfang des Grand Hotels hielten mich schon für vollkommen verrückt, weil ich auf einem täglichen Zimmerwechsel bestanden hatte, aber sie hätten mich für noch viel verrückter gehalten, wenn ich ihnen den Grund genannt hätte. Ich hatte darum gebeten, mir jeweils das letzte noch freie Zimmer zu geben, oder, sollten mehrere freie zur Verfügung stehen, mich zur Schlafenszeit eine willkürliche Auswahl treffen zu lassen. Die Hotelangestellten entsprachen mit höflichglasigem Blick meiner Bitte, während ich voller Dankbarkeit ganz auf die Unvorhersehbarkeit vertraute.

Als Erik mich am Hoteleingang abgesetzt hatte und mit seinem großen Freund heimgefahren war, rief ich Arne und Kari an und lud sie zum Abendessen ein.

«Komm zu uns«, forderte mich Kari herzlich auf, aber ich sagte, es sei an der Zeit, ihnen ihre Freundlichkeit zu vergelten, und nach vielen weiteren Einwänden waren sie schließlich mit dem Grand Hotel einverstanden. Ich setzte mich bis zu ihrer Ankunft in die Bar, las die Zeitung und dachte über das Altwerden nach.

Es war seltsam, aber außerhalb des von ihr gewählten Rahmens sah Kari ganz anders aus. Nicht mehr so jung, nicht mehr so häuslich, nicht mehr so ruhig. Die Kari, die da in einem langen schwarzen Rock und in weißer Rüschenbluse selbstsicher die Bar betrat, war die Frau, die als Raumausstatterin arbeitete. Diese Kari, die ein perfektes Make-up, Diamanten im Ohr und ihre glatten Haare hochgesteckt trug, wirkte kühler und gleichzeitig reifer als das zwanglose häusliche Wesen, als das ich sie kennengelernt hatte. Als sie mir eine weiche, süß duftende Wange zum Kuß hinhielt und mir unter ihren dichten Wimpern hervor einen bezaubernden Blick schenkte, stellte ich

fest, daß ich sie weniger mochte, aber stärker begehrte — beides Reaktionen, die verwirrend und nicht recht waren.

Arne war immer noch Arne, das Gegenteil eines Chamäleons — seine Persönlichkeit war so festgefügt, daß sie stets ihre Gestalt behielt, wie immer das Umfeld auch aussehen mochte. Er kam festen Schritts in die Bar marschiert und unterzog sie einer schnellen, argwöhnischen Überprüfung, um sicherzugehen, daß niemand ihn belauschen konnte.

«Hallo, David«, sagte er und schüttelte kräftig meine Hand.

«Was hast du denn den ganzen Tag getrieben?«

«Zeit verschwendet«, antwortete ich lächelnd.»Und mich gefragt, was ich als nächstes tun soll.«

Wir saßen in einer gemütlichen Nische und tranken (endlich einmal war es die richtige Zeit am richtigen Tag) Whisky.

Arne wollte wissen, was für Fortschritte ich gemacht hatte.

«Keine großen«, sagte ich.»Man könnte auch sagen: gar keine.«

«Es muß sehr schwer sein«, meinte Kari mitfühlend, und Arne pflichtete ihr kopfnickend bei.»Woher weißt du, wonach du suchen sollst?«

«Meistens suche ich nichts. Ich sehe mir an, was da ist.«

«Alle Detektive suchen nach etwas. Nach Hinweisen. Sie verfolgen Spuren. Erzähl mir doch nichts.«

«Und geraten in Sackgassen und auf falsche Fährten«, entgegnete ich.

Sie sah mich mit gerunzelter Stirn an, blieb aber bei ihrer Frage:»Wie klärst du ein Verbrechen auf?«

«Hm. man stellt sich vor, was man selbst getan hätte, wenn man der Verbrecher gewesen wäre, und dann versucht man herauszufinden, ob er’s so gemacht hat. Und manchmal liegt man richtig.«»Niemand sonst klärt Verbrechen so auf wie David«, meinte Arne.

«Da irrst du dich gewaltig«, widersprach ich.

«Was hat denn deiner Meinung nach der Gangster diesmal gemacht?«wollte Kari wissen.

Ich sah ihr in die klaren grauen Augen, die jene Frage stellten, die ich nicht beantworten konnte, ohne uns diesen Abend gründlich zu verderben.

«Diesmal waren es mehr als einer«, antwortete ich neutral.

«Emma Sherman hat zwei gesehen.«

Wir unterhielten uns eine Weile über Emma. Arne hatte ihren Großvater während seines Kurzbesuches in Oslo kennengelernt und wußte, daß er die beiden Eindringlinge nicht hatte identifizieren können.

«Und niemand hat eine Ahnung, was sie gesucht haben«, sagte Kari nachdenklich.

«Die beiden Männer wußten es«, gab ich zurück.

Arne riß plötzlich die Augen weit auf, was mal etwas anderes war als seine sonstige Blinzelei.»Ja, das stimmt«, sagte er.

«Natürlich wußten sie es«, sagte Kari.»Ich sehe den Sinn deiner Bemerkung nicht.«

«So tiefsinnig war sie auch nicht. Ich wollte nur sagen, daß es irgendwo irgend jemanden gibt, der weiß, was fehlt. Oder fehlte, denn vielleicht ist es ja inzwischen gefunden worden.«

Kari dachte darüber nach.»Warum, glaubst du, haben sie Shermans Haus nicht sofort durchsucht, also gleich, nachdem sie Bob Sherman umgebracht hatten? Warum haben sie einen ganzen Monat gewartet?«

Arne fing wieder an wie wild zu blinzeln, überließ es aber mir, Karis Frage zu beantworten.

«Ich glaube«, sagte ich,»der Grund war, daß Bob Sherman gefunden wurde, aber nicht mehr das bei sich hatte, hinter dem jemand her war, was immer es auch sein mag. «Ich machte eine kleine Pause und fuhr dann fort:»Also: Mr. X bringt Bob um und versenkt ihn im Teich, und zwar aus einem Grund, der uns noch unbekannt ist. Nehmen wir an, daß dies geschah, nachdem Bob ein aus England mitgebrachtes Päckchen übergeben hatte. Nehmen wir weiter an, daß Bob das Päckchen aufgemacht und einen Teil seines Inhalts herausgenommen hatte, was Mr. X aber erst entdeckte, nachdem er Bob getötet und im Teich versenkt hatte. Soweit alles klar? Mr. X kann also nur raten, ob Bob den fehlenden Inhalt in seinen Taschen oder in seiner Reisetasche hatte — in welchem Falle das Fehlende sicher bei ihm im Teich ruhen würde — oder ob er das, was er dem Päckchen entnommen hatte, an einen anderen weitergegeben oder vielleicht sogar an die eigene Adresse nach England geschickt hatte, bevor er getötet worden war. Mr. X könnte das erst endgültig klären, wenn er Bob aus dem Teich holte. Je länger der fehlende Inhalt nicht auftaucht, desto sicherer glaubt Mr. X, daß er bei Bob sein muß. Gut. Aber dann wird Bob gefunden, und das Fehlende fehlt immer noch. Deshalb wird ein Suchtrupp losgeschickt, der herausfinden soll, ob Bob das Fehlende schon zu Hause, also vor seiner Abreise aus England, aus dem Päckchen herausgenommen hat. Emmas Pech war es nun, daß sie genau zu diesem Zeitpunkt nach Hause fuhr, um sich ein paar frische Sachen zu holen.«

Karis Mund hatte sich langsam geöffnet.»Puuuh!«sagte sie.

«Und es schien eine so simple kleine Frage zu sein.«

«Habe ich dir doch gesagt«, meinte Arne.»Gib ihm eine Tatsache, und er errät den Rest.«

«Das ist alles nur geraten. «Ich lächelte.»Ich weiß nicht, warum sie einen Monat gebraucht haben, bis sie mit der Suche begannen. Habt ihr eine Idee?«

Kari sagte:»Aber es muß so sein, wie du sagst. Es klingt so einleuchtend.«

«. wie, daß die Erde flach ist.«

«Bitte?«

«Alles klingt einleuchtend, bis man es besser weiß.«

Wir gingen zum Essen. Eine Kapelle spielte, und es wurde getanzt, und später, als wir unseren Kaffee tranken, trat auch eine Sängerin auf. Das alles war für Arne schließlich zuviel — er stand ganz plötzlich auf, sagte, er brauche dringend frische Luft, und stürzte wie zwanghaft zur Tür.

Wir sahen ihm nach.

«Hat er das schon lange?«fragte ich.

«Schon seit ich ihn kenne. Obwohl es in letzter Zeit etwas schlimmer geworden zu sein scheint. Abhörgeräte haben ihm früher keinen Kummer bereitet.«

«Er hat nur nicht gewußt, daß es sie gibt.«

«Hm, ja. das stimmt.«

«Wie hat es denn angefangen? Ich meine, dieser Verfolgungswahn.«

«Tja. ich weiß nicht, durch den Krieg, nehme ich an. Als er noch ein Kind war. Ich bin ja erst danach geboren, aber Arne hat ihn als Kind miterlebt. Sein Großvater wurde als Geisel erschossen, und sein Vater war in der Widerstandsbewegung. Arne sagt, er hätte als Kind immer Angst gehabt, hätte dabei aber nicht immer so genau gewußt, wovor eigentlich. Manchmal hat ihn sein Vater als Boten losgeschickt und gesagt, er solle sich immer vergewissern, daß ihm niemand folgt. Arne sagt, er habe immer schreckliche Angst gehabt, daß er sich umdreht und hinter sich einen großen Mann sieht, der ihn verfolgt.«

«Armer Arne«, sagte ich.

«Er ist schon bei Psychiatern gewesen«, sagte Kari.»Er weiß es. kann aber trotzdem nichts dagegen machen. «Sie sah von mir fort zu den Paaren, die sich langsam auf dem glatten

Viereck des Tanzparketts im Kreise drehten.»Er kann Tanzen nicht ausstehen.«

Nach ein paar Sekunden fragte ich sie:»Möchtest du?«

«Er hätte sicher nichts dagegen.«

Sie stand ohne zu zögern auf und tanzte mit einem natürlichen Gefühl für Rhythmus. Sie wußte durchaus, daß ich sie gern so dicht bei mir hatte — das konnte ich in ihren Augen lesen. Ich fragte mich, ob sie Arne wohl schon jemals untreu gewesen war oder werden würde. Ich fragte mich die uralten Fragen. Dagegen ist man machtlos.

Sie lächelte und schob sich an mich heran, bis sich unsere Körper mehr als nur flüchtig berührten — und das tut keine Frau, wenn sie es nicht möchte. Was wir von diesem Augenblick an vollzogen, war ein Geschlechtsakt, in aufrechter Haltung, tanzend, in aller Öffentlichkeit und voll bekleidet, aber nichtsdestoweniger war es ein Geschlechtsakt. Ich wußte theoretisch durchaus, daß eine Frau ohne eigentlichen Geschlechtsverkehr zu einem heftigen Orgasmus kommen kann, ja daß einige das schon schaffen, wenn sie mit sich allein sind und sich nur erotischen Phantasien hingeben, aber ich hatte es noch nie miterlebt.

Bei Kari kam es dazu, weil sie es wollte. Weil sie sich, eng an mich geschmiegt, bei jedem Tanzschritt an mir rieb. Weil ich es nicht erwartete. Weil ich sie nicht von mir wegschob.

Ihre Atemzüge wurden langsamer und tiefer, und ihre Augen verloren ihr Strahlen. Ihr Mund war jetzt geschlossen, zeigte ein schwaches Lächeln. Sie hatte den Kopf hoch erhoben und hielt sich sehr gerade, sah eher in sich gekehrt und geistesabwesend als leidenschaftlich erregt aus. Dann, ganz plötzlich, wurde sie glühendheiß, und ich spürte, wie ihr Körper von den Augen bis tief hinab fast zwanzig Sekunden lang sanft, aber intensiv pulsierte.

Danach holte sie einmal ganz tief Luft, als wenn ihr kurzzeitig der Atem weggeblieben wäre. Ihr Mund öffnete sich wieder, ihr Lächeln wurde wieder strahlend, und sie löste sich von mir.

Ihre Augen wurden so hell wie Sterne und lachten in die meinen.

«Danke«, sagte sie.

Sie hatte genug getanzt. Sie blieb stehen, ging dann zum Tisch zurück und nahm ungezwungen Platz, als wenn nichts geschehen wäre. Herzlichen Dank auch, dachte ich, und was ist mit mir? Mir blieb dieses durch kein Kratzen zu beruhigende Jucken, dieses Verlangen, das ich auch später nicht selbst zu stillen vermochte wie sie eben, denn das hatte mir noch nie allzu großen Spaß gemacht.

«Noch Kaffee?«fragte ich, weil ich annahm, daß man etwas sagen mußte. Oder hätte ich sagen sollen: Hol dich der Geier, du selbstsüchtiges kleines Biest!

«Danke, ja«, antwortete sie.

Der Ober brachte den Kaffee. Die Zivilisation trug den Sieg davon.

Arne kam wieder herein, sah zerzaust und ein bißchen glücklicher aus. Kari legte warm und verständnisvoll ihre Hand auf seine, und ironischerweise mußte ich daran denken, daß ich mich gefragt hatte, ob sie ihm wohl schon jemals untreu gewesen war. Die Antwort war ja und nein. Sie war es und war es auch wieder nicht — sie hatte eine perfekte Methode, untreu und treu zugleich zu sein.

Wenig später gingen sie — nicht ohne mich gedrängt zu haben, noch einen Abend bei ihnen zu verbringen, bevor ich wieder nach Hause flog.

«Wir sehen uns am Sonntag in 0vrevoll«, sagte Arne.»Wenn nicht schon vorher.«

Als sie gegangen waren, holte ich mir meinen Koffer beim Hausdiener ab und ging zum Empfang. Es gab fünf freie

Zimmer, unter denen ich wählen konnte, und ich ergriff aufs Geratewohl einen Schlüssel. Er öffnete mir ein geräumiges Doppelzimmer mit Balkon und Blick auf das Parlamentsgebäude. Ich machte die festverschlossene Balkontür auf und ließ einen von der Arktis kommenden Windstoß herein, der sich übel auf die Zentralheizung auswirkte. Dann schloß ich die Tür wieder, ging fröstelnd zu Bett, lag lange wach und dachte über vieles nach, aber kaum über Kari.

Am folgenden Morgen kam Erik zum Frühstück ins Hotel. Er setzte sich mit breitem Lächeln zu mir, holte sich dann eine halbe Tonne gemischten marinierten Fisch vom Büfett und aß, als gäbe es kein Morgen.

«Wohin?«fragte er nach zwei weiteren Brötchen, vier Scheiben Käse und einigen Tassen Kaffee.

«0vrevoll«, sagte ich.

«Aber da sind heute gar keine Rennen.«

«Ich weiß.«

«Na schön, wenn Sie es denn so wollen, dann mal los.«

Odin war freundlich gestimmt und saß genau in der Mitte, hatte seinen Rumpf zwischen Vorder- und Rücksitz geklemmt und die Handbremse unter seinen Vorderpfoten und seinem riesigen Schädel begraben. Wenn ihm Erik mit dem Ellbogen einen kleinen Stoß versetzte, hob der Hund die Schnauze gerade so lange, daß sein Herr die Bremse lösen konnte. Ein eingespieltes Duo, wie es schien.

Die Fahrt bedeutete eine unausgesetzte direkte Konfrontation mit dem Tod, aber wir gelangten trotzdem ans Ziel. Der Haupteingang der Rennbahn war geöffnet, und verschiedene Lieferwagen standen auf dem Asphaltplatz im Inneren, weshalb wir einfach hineinfuhren und in der Nähe des Wiegeraums hielten. Erik und Odin falteten sich auseinander und streckten ihre Beine, während ich meine kurze und vergebliche Mission unternahm.

Im Gebäude des Wiegeraums war man beim Saubermachen — genauer ein Mann und zwei Frauen, die alle drei kein Englisch sprachen. Ich ging wieder hinaus und beschwatzte Erik (was mehr als leicht war), das Reden für mich zu besorgen.

Er fragte, hörte zu und gab die schlechte Nachricht weiter.

«Sie sagen, Bob Shermans Sattel hätte lange hier gehangen, im Umkleideraum, am Haken in der Ecke.«

Ich hatte mich gerade erst im Umkleideraum umgesehen. Keine Sättel an irgendwelchen Haken, keine Spur von Bobs Sattel.

«Sie sagen, er sei ungefähr zu der Zeit verschwunden, als man die Leiche im Teich gefunden habe. Sie wissen aber nicht, wer ihn weggeholt hat.«

«Das war’s dann wohl.«

Wir verließen das Gebäude wieder und schlenderten die wenigen Schritte zum Geländer an der Rennbahn hinüber. Der Morgen war eisig, der Wind frisch, die Bäume seufzten. Der Winter stand vor der Tür, Schnee war im Anmarsch.

Hinten auf der Sandbahn ging Gunnar Holths Lot gerade in einen Kanter über, und wir beobachteten die Pferde, wie sie auf uns zukamen, in leichtem Galopp den Zielpfosten erreichten und oben, wo der Teich lag, den Bogen durchliefen. Ganz vorn ritt Paddy O’Flaherty mit seiner hellen Wollmütze — er führte das Feld an und bestimmte das Tempo. Da das Rennen am nächsten Tag stattfand, war dies nur eine Aufwärmübung, und die Pferde gingen auch schon wieder im Schritt und kehrten zum Stall zurück.

«Die nächste Haltestelle«, sagte ich,»ist Gunnar Holths Stall.«

Wir hielten gerade in dem Augenblick im Hof, als die Pferde von der Rennbahn zurückkamen und unter ihren Decken wie kochende Wasserkessel dampften. Gunnar Holth selbst sprang von Per Bj0rn Sandviks Whitefire, tätschelte dem Pferd kräftig

den Hals und wartete darauf, daß ich das Spiel eröffnete.

«Morgen«, sagte ich.

«Morgen.«

«Kann ich Sie mal sprechen?«

Er nickte resigniert, führte Whitefire in den Stall, kam zurück, machte eine Kopfbewegung in Richtung seines Bungalows und öffnete die Haustür. Erik zog es diesmal vor, im Auto sitzen zu bleiben, wofür ihm Gunnar Holth, der inzwischen Odin entdeckt hatte, dankbar zu sein schien.

«Kaffee?«

Die gleiche orangefarbene Kanne auf dem Ofen und wahrscheinlich auch der gleiche Kaffee.

«Ich suche Bob Shermans Sattel«, sagte ich.

«Seinen Sattel? Hat er ihn denn nicht dagelassen? Soweit ich gehört habe.«

«Ich dachte, Sie wüßten vielleicht, wer ihn hat. Ich möchte ihn gern wiederfinden. er gehört ja jetzt seiner Frau.«

«Und Sättel sind einiges wert«, sagte er mit einem Kopfnicken.

«Ich habe den Sattel aber nicht gesehen und weiß auch nicht, wer ihn hat.«

Ich fragte ihn noch zweimal in verdeckter Form und war schließlich überzeugt, daß er wirklich nichts wußte.

«Ich werde mal Paddy fragen«, sagte ich. Aber auch Paddy wußte nur wenig zum Thema beizutragen.

«Er war da, ganz bestimmt, bis sie den armen Teufel aus dem Wasser gezogen haben. Ich hab ihn mit Sicherheit noch am Tag des Grand National dort gesehen. Aber beim nächsten Meeting, also am Donnerstag danach, da war er weg.«

«Sind Sie ganz sicher?«

«So sicher wie ich hier stehe.«

Ich sagte milde:»Warum? Warum sind Sie so sicher?«

Seine Augenlider zuckten.»Also, was das angeht, ja.«

«Paddy«, sagte ich,»spucken Sie’s aus.«

«Äh.«

«Haben Sie ihn an sich genommen?«

«Nein«, sagte er entschieden,»das habe ich nicht. «Der Gedanke empörte ihn offensichtlich.

«Was ist denn mit ihm passiert?«

«Also gut. Sie müssen verstehen, der Bob, das war ’n echter Kumpel. und. na ja, ich war ganz sicher, daß er’s so gewollt hätte. «Er wurde langsamer und hörte ganz auf.

«Was gewollt hätte?«

«Hören Sie, das war kein Diebstahl oder irgend so was.«

«Paddy, was haben Sie gemacht?«

«Also. da war mein Helm, verstehen Sie, und da war sein Helm, da bei seinem Sattel. Na ja, und bei meinem Helm war ein Riemen gerissen, und Bobs hing da und war noch so gut wie neu, da hab ich sie einfach ausgetauscht.«

«Und das war am Tag des Grand National?«

«Genau. Und am nächsten Renntag, nachdem Bob gefunden worden war, da war sein Sattel weg. Und mein Helm auch.«

«Dann ist Bobs Helm also. hier?«

«So ist es. In der Kiste unter meiner Koje.«

«Würden Sie ihn mir für eine Weile ausleihen?«

«Ausleihen?«Er war überrascht.»Ich dachte, Sie würden ihn mir ganz wegnehmen wollen, wo er doch jetzt eigentlich seiner Alten gehört.«

«Ich denke, sie wäre froh, wenn Sie ihn behielten.«

«Das ist nämlich ein guter Helm, wirklich.«

Paddy ging, holte den Helm und übergab ihn mir — es war ein ganz gewöhnlicher, den Bestimmungen entsprechender, mit einem Kinnriemen versehener Sturzhelm für Jockeys. Ich dankte Paddy, sagte, er werde ihn zurückbekommen, winkte Gunnar Holth zum Abschied zu und begab mich auf die gefahrvolle Rückreise in die Stadtmitte von Oslo.

Zwischen Schwüngen und Stößen zog ich das Innenpolster aus dem Helm heraus und sah darunter nach. Keine Fotos, Papiere oder andere fehlende Objekte. Nur die schwarze, der Norm entsprechende Polsterung. Ich schob sie wieder hinein.

«Kein Erfolg?«erkundigte sich Erik mitfühlend, wobei er um Odin herum zu mir herübersah.

«Man muß alle Steine umdrehen.«

«Welcher Stein kommt jetzt?«

«Lars Baltzersen.«

Der Weg zu seiner Bank führte am Grand Hotel vorbei, weshalb ich dort kurz ausstieg und Bob Shermans Helm beim Hausdiener abgab, der schon meinen erneut gepackten Koffer in seine Obhut genommen hatte. Er meinte, er wolle auf alles, was ich ihm anvertraute, gut aufpassen. Ich gab ihm drei Zehnkronenscheine, und er nahm sich ihrer mit einem Lächeln an.

Lars hatte schon fast aufgegeben.

«Dachte schon, Sie hätten Ihre Meinung geändert«, sagte er und führte mich in sein Büro.

«Ich mußte einen Umweg machen«, sagte ich entschuldigend.

«Gut, jetzt, wo Sie da sind. «Er holte eine Flasche Rotwein und zwei Gläser aus einem diskreten Schrank und schenkte uns ein.

Sein Büro wies — wie das Sandviks und Torps — die typische skandinavische Einrichtung moderner Machart auf. Die Geschäftswelt mußte vermutlich zeigen, daß sie auf der Höhe der Zeit war, aber was die persönlichen Aspekte anbetraf, so waren diese Inneneinrichtungen als Informationsquelle denkbar unergiebig.

An Baltzersens Wänden gab es keine Karten. Statt dessen Bilder von Häusern, Fabriken, Bürogebäuden, fernen Häfen. Als ich ihn fragte, erklärte er mir, daß seine Bank hauptsächlich mit der Finanzierung von Industrieprojekten befaßt sei.

«Eine Handelsbank«, sagte er.»Wir betreiben außerdem eine Bausparkasse nach dem Muster der englischen Building Societies. Nur ist hier natürlich das Zinsniveau niedriger, so daß die Darlehen billiger kommen.«

«Beklagen sich da die Investoren nicht?«

«Sie erzielen fast denselben Gewinn wie britische Investoren. Das kommt daher, daß norwegische Bausparkassen keine hohen Steuern zahlen müssen. Es sind die Steuern, die die britischen Baudarlehen so teuer machen.«

Er erzählte mir, daß es in Norwegen sehr viele kleine Privatbanken gebe, die auch Bausparkassen betrieben, daß seine aber eine der größten sei.

«Um Oslo herum ist Bauland entsetzlich knapp«, sagte er.

«Für junge Paare ist es sehr schwer, ein Haus zu finden. Aber draußen auf dem Land, da stehen ganze Gehöfte leer und verfallen allmählich. Die alten Leute sind gestorben oder nicht mehr kräftig genug, um die Felder zu bestellen, und die jungen Leute haben dem harten Leben draußen den Rücken gekehrt und sind in die Stadt gezogen.«

«Überall dasselbe«, sagte ich.

Ihm seien die Holzhäuser die liebsten, sagte er.»Sie atmen.«

«Und wie steht’s mit Bränden?«

«Das war immer eine schreckliche Gefahr. Früher sind manchmal ganze Städte abgebrannt. Aber heute ist unsere Feuerwehr so schnell und so gut, daß man, wie ich höre, sein Haus schon unter Benzin setzen muß, wenn man es abbrennen will, um an die Versicherungssumme zu kommen. Andernfalls wird das Feuer schon beim Aufsteigen des ersten Rauchwölkchens gelöscht.«

Wir tranken unseren Wein, und Lars rauchte eine Zigarette. Ich fragte ihn nach seiner Zeit in London und nach seinen Autorennen in Schweden, aber er schien sich für das alles nicht mehr zu interessieren.

«Das ist Vergangenheit und vorbei«, sagte er.»Heute denke ich nur noch ans Bankgeschäft und an 0vrevoll.«

Er erkundigte sich, ob ich schon wisse, wer Bob Sherman umgebracht habe. In der Art, wie er die Frage formulierte, lag ein großes Zutrauen.

«Noch nicht«, antwortete ich.»Welche Höhe dürfen denn die Unkosten erreichen?«

Ich konnte ihn nicht auf einen bestimmten Betrag festnageln.

Es sah so aus, als gäbe es im Erfolgsfall keinerlei Begrenzung. Wenn ich keinen Erfolg hatte, dann war das Konto schon jetzt überzogen.

«Haben Sie schon irgendeine Idee?«fragte er.

«Ideen sind nicht genug.«

«Sie brauchen auch Beweise, nehme ich an.«

«Hm. ich muß es halt wie die Wilddiebe machen.«

«Wie meinen Sie das?«

«Fallen stellen«, antwortete ich.»Und nicht in die Fallen anderer Wilddiebe reinlaufen.«

Ich stand auf und verabschiedete mich. Auch er meinte, mein Besuch sei Zeitverschwendung gewesen, weil er mir schließlich nichts Brauchbares habe mitteilen können.

«Man kann nie wissen«, sagte ich.

Erik und ich aßen in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Polizeipräsidiums zu Mittag, weil ich vorhatte, nach dem Essen seinen Bruder aufzusuchen. Er habe ab zwei Uhr dienstfrei, hatte er mir am Telefon gesagt. Wenn das ausreiche, könnten wir uns treffen, bevor er nach Hause gehe.

Erik verbrachte den größten Teil der Mahlzeit damit, mir in allen Einzelheiten darzulegen, warum alle Revolutionen in Trübsal endeten — weil nämlich kein Revolutionär Sinn für Humor habe.

«Wenn die Aktivisten etwas von Komik verstünden«, meinte er,»würden die Arbeiter schon längst die Welt beherrschen.«

«Witzeerzählen sollte zum Schulfach gemacht werden«, schlug ich vor.

Er sah mich mißtrauisch an.»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

«Ich dachte, darum ginge es.«

«O Gott, ja«. Er lachte.»Sie haben recht. Warum nur verbringen Sie Ihr Leben mit der Schnüffelei?«

«Neugier.«

«Kann zu einem schlimmen Ende führen.«

«Seien Sie ruhig.«

«Pardon«, sagte er grinsend.»Jedenfalls sind Sie ja noch heil. Wie haben Sie sich eigentlich auf Ihre Tätigkeit vorbereitet? Gibt es so was wie eine Schule für Detektive?«

«Ich glaube nicht. Ich habe studiert und es dann in der Wirtschaft versucht. Gefiel mir aber nicht. Unterrichten mochte ich auch nicht. Zu Pferderennen gehen mochte ich. also hab ich das zu meinem Job gemacht.«

«Das ist ja die schärfste Karrierestory, die mir je zu Ohren gekommen ist, und als Klatschkolumnist habe ich schon so einiges zu hören gekriegt. Was haben Sie wo studiert?«

«Psychologie. In Cambridge.«

«Aha«, meinte er.»Das sagt alles.«

Er vertraute seinen Wagen Odin an und begleitete mich zu Knuts Büro hinauf. Knut war nach einer offensichtlich frustrierenden Schicht müde, denn als wir bei ihm eintraten, gähnte er und rieb sich die Augen.

«Tut mir leid«, sagte er,»aber ich bin seit zwei Uhr heute morgen auf den Beinen. «Er schüttelte schnell seinen Kopf, um wieder klar denken zu können.»Aber gut, was kann ich für Sie tun?«

«Im Augenblick nichts Konkretes. Sagen Sie mir nur, ob Ihre Richtlinien es Ihnen gestatten würden, ein Kaninchen zu fangen, wenn ich es aus dem Bau rauslocke. «Ich wandte mich an Erik.

«Erklären Sie’s ihm. Kann er mir, wenn ich eine Falle aufstelle, behilflich sein, wenn ich sie zuschnappen lasse? Wäre ihm das erlaubt, und würde er es gern persönlich tun?«

Die Brüder berieten sich in ihrer Muttersprache — Knut ernst, beherrscht und übermüdet, Erik dagegen mit unbeherrschten Gesten, bohemienhafter Kleidung und wildem, dünnem Haar. Erik war zwar der Ältere, seine Lebenskraft war aber noch völlig ungebrochen.

Zuletzt nickten beide. Knut sagte:»Solange es nicht gegen irgendwelche Bestimmungen verstößt, werde ich helfen.«

«Ich bin Ihnen sehr verbunden.«

Er lächelte matt.»Sie erledigen meine Arbeit.«

Er holte Mantel und Mütze und begleitete uns dann nach unten. Wie sich herausstellte, hatte er sein Auto in der gleichen, an einem kleinen, eingezäunten Park vorbeiführenden Seitenstraße geparkt wie Erik.

Eriks Wagen stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.

Ungefähr drei Meter von ihm entfernt standen ein rundes Dutzend Kinder und ein unsicher dreinblickender Polizist im Halbkreis um ihn herum. Beim Anblick Knuts wechselte der Gesichtsausdruck des Polizisten von Unsicherheit zu

Dankbarkeit — er grüßte und machte sich daran, seine Besorgnis auf jemand anderen abzuwälzen.

Erik übersetzte für mich. Er sah verwirrt aus.

«Eines der kleinen Mädchen sagt, ein Mann habe ihr aufgetragen, auf gar keinen Fall dicht an das Auto heranzugehen, sondern so schnell nach Hause zu rennen, wie sie nur könne.«

Ich besah mir das Auto. Odin schaute nicht wie sonst durch die Frontscheibe nach draußen, sondern hatte sich umgedreht und sah zur Heckscheibe hinaus, beäugte jedoch nicht interessiert die Menge, sondern spähte nach unten. In der Welt des Hundes schien irgend etwas nicht in Ordnung zu sein. Er stand ganz steif da. Viel zu angespannt. Und der Kofferraumdeckel war nicht mehr mit einem Stück Bindfaden zugebunden.

«O Gott«, sagte ich.»Schicken Sie die Kinder weg. Schnell, sie sollen laufen.«

Alle starrten mich nur an und rührten sich nicht von der Stelle. Sie waren auch nicht am 8. März 1973 in London in der Nähe des Old Bailey gewesen.

«Es könnte eine Bombe sein«, sagte ich.

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