Ich fuhr bei Emma vorbei.
Das Haus wirkte warm und einladend an diesem kalten Nachmittag, ein Feuer im Kamin und eine riesige Vase mit bronzefarbenen Chrysanthemen sorgten für Behaglichkeit und Leben. Die Möbel waren noch nicht wieder ersetzt worden, und die Vorhänge befanden sich noch in der Reinigung, aber Emma selbst hatte in der vergangenen Woche gewaltige Fortschritte gemacht. Auf ihren Wangen lag wieder ein Hauch von Farbe, und ihre Augen zeigten die Andeutung eines Glänzens. Die hübsche junge Frau war wieder zum Vorschein gekommen.
«David! Wie schön, Sie zu sehen. Wie wär’s mit warmen Scones, sie kommen frisch aus dem Ofen.«
Wir saßen vor dem Kamin und aßen die Scones mit Butter, Marmelade und großer Hingabe.
«O Mann, Sie müssen aber hungrig gewesen sein«, sagte sie anschließend mit einem Blick auf das fast leere Körbchen.
«Eigentlich hatte ich sie Großvater hinüberbringen wollen.«
Sie lachte.»Ich backe wohl besser noch ein paar.«
«Sie waren herrlich. «Bei all den Bombengeschichten und der Herumjagerei hatte ich eine ganze Reihe von Mahlzeiten auslassen müssen und nur hier und da ein paar Bissen gegessen. Bei Emma fühlten sich meine Magennerven zum ersten Mal seit Tagen sicher genug, um mich zur Nahrungsaufnahme zu ermutigen.
«Ich weiß nicht, ob ich das fragen soll«, sagte sie,»aber haben Sie schon etwas über Bob herausgefunden?«
«Nicht genug. «Ich sah auf die Uhr.»Darf ich mal telefonieren?«
«Natürlich.«
Ich rief einen Börsenmakler an, den ich kannte, weil er einige Rennpferde besaß, und fragte ihn, wie sich bei der Gesellschaft, die die Analyse des Bohrkerns in Auftrag gegeben hatte, der Aktienkurs entwickelt habe.
«Das ist einfach zu beantworten«, meinte er.»Vor ungefähr zwei Monaten ist der Kurs ganz plötzlich hochgeschnellt. Da hatte wohl jemand einen heißen Tip bekommen und gekauft, solange der Preis niedrig war. Und ein Schweinegeld verdient.«
«Wer?«fragte ich.
«Kann ich nicht sagen, aber bei den Riesensummen, die da im Spiel waren, wahrscheinlich ein Syndikat. Lief alles über Beauftragte und wurde im wesentlichen auf den ausländischen Märkten abgewickelt.«
Ich dankte ihm und legte auf. Dann rief ich bei der SAS an, die freundlich säuselte und sagte, selbstverständlich sei beim Flug um sechs Uhr dreißig noch ein Sitz für mich frei. Eine innere Stimme wollte mir unbedingt einreden, daß es auch am folgenden Morgen noch einen Flug gebe und Witwen dazu da seien, getröstet zu werden. Gut. Das mochte ja sein. Aber nicht diese, noch nicht.
Ich gab ihr einen Abschiedskuß.
«Besuchen Sie mich wieder«, sagte sie, und ich antwortete:
«Das werde ich.«
In Heathrow gab ich den Wagen ab, den ich am Morgen in Cambridge geliehen hatte, und zwängte mich beim letzten Aufruf in die Sechs-Uhr-dreißig-Maschine. Ich war ganz offensichtlich nicht in der Lage, etwas gegen die nervöse Spannung zu tun, die sich in mir aufbaute, als wir zur Landung in Oslo ansetzten, aber dann brachte mich ein harmloses Taxi in ereignisloser Fahrt zum Hotel, wo mich ein resignierter Empfangschef mein Zimmer selbst auswählen ließ.
Ich rief Erik an.
«Wo stecken Sie denn?«verlangte er zu wissen.
«Im Grand Hotel.«
«Du liebe Güte, sind Sie gar nicht geflogen?«
«Hin und wieder zurück.«
«Haben Sie herausbekommen.«
«Zum Teil. Ich weiß, was es ist, aber nicht, wem es gehört. Hören Sie. könnten Sie mir mal Knuts Privatnummer geben?«
Er sagte sie mir.»Wollen Sie wieder gefahren werden?«:
«Ich fürchte, ja. Wenn Sie’s über sich bringen?«
«Sie können auf mich zählen«, sagte er.
Ich rief Knut an, der gähnte und meinte, er sei gerade vom Dienst gekommen und müsse erst am nächsten Tag um zwei Uhr wieder hin.
«Kennen Sie Lillehammer?«fragte ich.
«Ja, natürlich.«
«Was ist das für ein Ort?«
«Wie meinen Sie das? Es ist eine große Stadt. Im Sommer Touristen- und im Winter Skiort. Im Oktober und November fährt da niemand hin.«
«Wenn Sie sich heimlich mit jemandem in Lillehammer treffen wollten, irgendwo nicht zu weit vom Bahnhof entfernt, wo man einigermaßen leicht zu Fuß hinkommt, wo würden Sie dann hingehen?«
«Kein öffentlicher Ort?«
«Nein, irgendein stilles Plätzchen.«
Es war eine Weile still. Dann sagte er:»Es wäre vielleicht besser, die Stadt zu verlassen. In Richtung See. Da gibt es eine Straße, die zu der Brücke über diesen See führt. Es ist die Hauptstraße nach Gj0vik, aber da herrscht nicht viel Verkehr, und es gibt ein paar kleine Nebenstraßen, die zu den Häusern am
Seeufer hinführen. Suchen Sie so etwas?«
«Klingt sehr gut.«
«Mit wem wollen Sie sich denn treffen?«
Ich erzählte es ihm mit einiger Ausführlichkeit, und mitten in meiner Erklärung mußte er seine Müdigkeit abgeschüttelt haben, denn als er wieder sprach, klang seine Stimme wach, ja geradezu eifrig.
«Ah, ich verstehe. Ja, ich werde alles arrangieren.«
«Dann sehen wir uns morgen früh.«
«Ja. Einverstanden. Und. äh. passen Sie gut auf sich auf, David.«
«Worauf Sie sich verlassen können«, sagte ich.
Ich rief noch einmal Erik an, der natürlich sehr gern zum Frühstück ins Hotel kommen, mich zu Knuts Büro bringen und so rechtzeitig zum Bahnhof fahren wollte, daß ich den ZehnUhr-Zug nach Liliehammer nicht verpassen würde.
«Ist das alles?«
«Nein. Würden Sie mich auch wieder vom Bahnhof abholen, wenn ich zurückkomme? Halb fünf, glaube ich.«
«Wird gemacht. «Er klang fast enttäuscht.
«Bringen Sie einen Schlagring mit«, sagte ich, und das munterte ihn wieder auf.
Als nächstes Lars Baltzersen.
«Selbstverständlich habe ich schon von dieser Gesellschaft gehört«, sagte er.»Ihre Aktien boomen. Ich habe selbst ein paar gekauft, und sie zeigen schon einen ordentlichen Gewinn.«
«Kennen Sie sonst noch jemanden, der welche gekauft hat, solange der Preis niedrig war?«
Er schwieg einen Moment, dann sagte er:»Rolf Torp hat gekauft. Ich glaube, es war Rolf, der mich auf sie aufmerksam gemacht hat, aber ich bin nicht ganz sicher. «Er räusperte sich.
«Mir sind jedoch beunruhigende Gerüchte zu Ohren gekommen, daß die wirklich großen Käufer irgendwo im Nahen Osten sitzen. Man weiß nichts Genaues. Da ist viel Geheimniskrämerei im Spiel, aber es scheint nicht ausgeschlossen.«
«Warum ist das beunruhigend?«fragte ich, und er sagte es mir.
Zum Schluß rief ich noch bei Arne an. Kari war am Apparat, und ihre Stimme klang warm, belustigt und voller Erinnerung an unser letztes Zusammensein.
«Hab dich seit Freitag nicht mehr gesehen«, sagte sie.»Warum kommst du nicht morgen zum Abendessen zu uns?«
«Würde ich gern, aber ich kann wahrscheinlich nicht.«
«Oh. Tja. was macht der Fall?«
«Darüber hatte ich eigentlich mit Arne sprechen wollen.«
Sie sagte, sie werde ihn holen, und wenig später meldete er sich. Er klang, als freute er sich über meinen Anruf.
«David. ich hab dich ja schon seit Tagen nicht mehr gesehen«, sagte er.»Was hast du getrieben?«
«Herumgestöbert«, antwortete ich.»Hör mal, Arne, ich hab dabei ein bißchen Glück gehabt. Ein Mann in Lillehammer hat bei mir angerufen und gesagt, er könne mir etwas über den Mord an Bob Sherman mitteilen. Er meinte, er hätte den Mord so gut wie mit eigenen Augen gesehen. Er wollte am Telefon nicht mehr sagen, aber ich will mich morgen mit ihm treffen. Die Sache ist die. ich habe mich gefragt, ob du nicht Lust hättest mitzukommen. Deine Begleitung wäre mir lieb, wenn du die Zeit erübrigen kannst. Das Englisch dieses Mannes war nicht allzugut. du könntest also für mich dolmetschen, wenn’s dir recht wäre.«
«Morgen?«
«Ja. Ich fahre mit dem Zug um zehn.«
«Wo willst du dich denn in Lillehammer mit dem Mann treffen?«
«Auf der Straße nach Gj0vik, unten bei der Brücke über den See. Er will zur Mittagszeit dort sein.«
Arne meinte zögernd:»Na ja, ich könnte schon.«
«Bitte, komm doch mit, Arne«, sagte ich.
Er faßte einen Entschluß.»Gut, ich komme mit. Wohnst du noch im Grand Hotel?«
«Ja«, antwortete ich.»Aber von dir aus hast du’s zum Bahnhof näher. Wir treffen uns dort.«
«Gut. «Er zögerte wieder.»Ich hoffe nur, das ist nicht irgend so ein Verrückter, der sich Geschichten aus den Fingern saugt.«
«Das hoffe ich auch.«
Bevor ich schlafen ging, schob ich mein Bett direkt vor die Zimmertür, aber niemand versuchte hereinzukommen.
Erik hatte wieder Odin mitgebracht, auf daß er ihm bei seinen Bewachungspflichten helfe, obwohl ich inzwischen dank unserer längeren Bekanntschaft wußte, daß das wilde Aussehen der Dogge nur Fassade war. In dem sandfarbenen Fell steckte ein richtig großer Softy.
Aber die beiden brachten mich sicher zum Polizeipräsidium, wo uns Knut erwartete, der schon fünf Stunden vor Beginn seiner nächsten Schicht putzmunter war. Ich übergab ihm oben in seinem Büro die geologische >Karte< des Bohrkerns, die er neugierig betrachtete.
«Verlieren Sie die bloß nicht«, sagte ich.
Er lächelte.»Dann schon eher mein Leben, was?«
«Lassen Sie sie fotokopieren?«
Er nickte.»Jetzt gleich.«
«Also dann bis heute abend.«
Wir gaben uns die Hand.
«Seien Sie vorsichtig«, sagte er.
Als ich mir die Fahrkarten kaufte und zur Sperre ging, blieben Erik und Odin an meiner Seite. Es war der schlimmste Vormittag, den meine Nerven bis jetzt zu überstehen hatten, und ich übertraf Arne schon im Über-die-Schulter-Schauen. Heute abend, dachte ich grimmig, werde ich entweder in Sicherheit oder tot sein. Bis dahin schien es noch schrecklich lange hin zu sein.
Arne war schon auf dem Bahnsteig und begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln.»Welche Nummer hat deine Fahrkarte?«fragte er.
Ich hatte noch gar nicht registriert, daß auf jeder Fahrkarte eine Sitzplatznummer des entsprechenden Zuges stand, aber so war es.
«Ich werde mal sehen, ob ich meine nicht tauschen kann, damit ich neben dir sitze«, sagte er und sauste los. Während er fort war, fand ich meine Nummer, einen Fensterplatz in Fahrtrichtung, ungefähr in der Mitte eines der großen, luftigen Wagen. Ein paar Minuten vor der Abfahrtszeit war etwa die Hälfte aller Plätze mit seriös aussehenden Reisenden besetzt, und es gelang mir, nur zweimal über die Schulter zu sehen.
Arne kehrte mit zufriedenem Gesichtsausdruck und der Fahrkarte für den Platz neben mir zurück.
«So ist’s besser«, sagte er und sah sich, bevor er sich setzte, alle ehrenwerten Mitreisenden sehr genau an.»Ich hätte am Fahrkartenschalter auf dich warten sollen. hab leider nicht rechtzeitig dran gedacht.«
Draußen vor dem Abteilfenster erschien plötzlich — immer noch in Begleitung Odins — Erik auf dem Bahnsteig, klopfte an die Scheibe, um meine Aufmerksamkeit zu erregen, und bedeutete mir mit heftigen Bewegungen, daß er mir etwas sagen müsse. Ich zeigte in Richtung hintere Wagenhälfte, schob mich unter Entschuldigungen an Arne vorbei und ging zur Tür, um zu hören, was Erik mir zu sagen hatte.
«Ich habe ihn gesehen«, sagte er und stotterte fast vor Dringlichkeit.»Steigen Sie aus und kommen Sie mit.«
«Wen gesehen?«
«Er fährt ab, wenn Sie nicht schnell aussteigen. Den Mann, der die Bombe gelegt hat. Groß, mit schmetterlingsförmigem Muttermal. Ich hab’s gesehen. Er hat eine Fahrkarte gekauft. da ist ihm Wechselgeld runtergefallen, und er hat sich gebückt, um es aufzuheben. Da hab ich seinen Hals gesehen. seine Augen auch. Sie sind wirklich irgendwie gelblich. Sehr hell, leuchtend und eigenartig. Beeilen Sie sich, David. Er hatte auch noch einen zweiten Mann bei sich. Sie sind in diesen Zug hier eingestiegen, hinten in den letzten Wagen.«
Ein Pfiff ertönte. Vor lauter Frustration tanzte Erik schon herum.
«Steigen Sie aus, so steigen Sie doch aus.«
Ich schüttelte den Kopf.»Ich werde denen schon irgendwie ausweichen. «Der Zug setzte sich langsam in Bewegung.»Vielen Dank. Wir sehen uns heute nachmittag. Daß Sie mir auch kommen!«
«Selbstverständlich komme ich.«
Der Zug wurde immer schneller und meine Beschützer mit jeder Sekunde kleiner, bis ich die Verwirrung auf Eriks Gesicht und den geduldigen Mangel an Verständnis auf dem Odins nicht mehr erkennen konnte.
«Wer war denn das?«fragte Arne, als ich mich wieder neben ihn setzte.
«Jemand, den ich angeheuert habe, damit er mich in Oslo fährt.«
«Sieht für einen Chauffeur etwas ungewöhnlich aus, nicht wahr?«
Ich lächelte.»Sein Fahrstil ist auch ganz schön haarsträubend.«»Erzähl mir etwas über den Mann, mit dem wir uns treffen wollen.«
«Ich weiß eigentlich nicht sehr viel über ihn. Er sagte, er heiße Johan Petersen.«
Arne knurrte:»Johan Petersens gibt es jede Menge.«
«Er sagte, er sei an dem Tag, an dem Bob Sherman verschwand, bei den Rennen gewesen und würde mir dazu gern etwas mitteilen. Er wohne in Lillehammer und arbeite auf dem dortigen Holzplatz. Ich bat ihn, nach Oslo zu kommen, aber er meinte, er könne den Tag nicht frei kriegen. Er könne sich jedoch heute während seiner Mittagspause mit mir treffen. Es war äußerst schwer, ihn zu verstehen, denn er sprach nur sehr wenig Englisch. Wenn du dabei bist, wird’s besser gehen.«
Arne nickte, blinzelte wie immer. Der Zug nahm die Dinge leicht, glitt ruhig in typisch norwegischer, gemächlicher Manier durch die äußeren Vororte Oslos.
«Wie wirst du ihn erkennen?«
«Er sagte, er würde mich erkennen. Ich solle nur in Richtung Brücke gehen und eine englische Zeitung dabeihaben.«
«Hast du eine mitgebracht?«
Ich nickte.»Steckt in der Manteltasche.«
Der Zug war gut geheizt. Es wurde damit gerechnet, daß die Reisenden ihre Mäntel ablegten, denn es gab hinten im Wagen eine Metallschiene mit Kleiderbügeln — und dort hingen Arnes und mein Mantel nebeneinander.
Die Strecke führte nach Norden durch Ackerland und Wälder und an einem großen See entlang. An jedem anderen Tag hätte mir diese Fahrt großen Spaß gemacht, aber es war eigentümlich, wie schon ein bißchen Angst ausreichte, um die Aufmerksamkeit nicht über die allernächste Umgebung hinausgelangen zu lassen. Das alte Gelbauge und sein Kumpel waren ungemütlich nahe, und mein zwanghaftes Über-die-
Schulter-Blicken wurde durch Mitreisende, die im Gang hin und her liefen, sogar noch schlimmer. Bei jedem Knallen der Türen zwischen den Wagen mußte ich hinsehen und mich vergewissern.
Eine Frau in blauem Overall schob einen Servierwagen herein und bot heiße Getränke, Kekse und Süßigkeiten an. Arne erstand einen Kaffee für mich. Der Servierwagen rollte weiter, und die Tür knallte hinter der Frau zu.
In einer größeren Stadt, in Hamar, hatten wir einen längeren Aufenthalt. Hamar war ein Eisenbahnknotenpunkt mit vielen offenen, zugigen Bahnsteigen, und nichts deutete auf das Rangieren von Waggons oder irgendeine anders geartete Geschäftigkeit hin. Schließlich ging es weiter, jetzt in schnellerem Tempo in Richtung Lillehammer. Die Bahnfahrt sollte insgesamt zweieinhalb Stunden dauern.
«Ich habe dich am Sonntag bei den Rennen vermißt«, sagte Arne.
«Ja, eigentlich wollte ich auch rauskommen, aber dann war es so kalt.«
Er warf mir einen Blick freundlicher Verachtung zu.
«Könnte sein, daß ich bald nach Hause zurückfliege«, sagte ich.
«Wirklich?«Er war überrascht.»Ich dachte. du würdest hierbleiben, bis du herausbekommen hast.«
«Sicher, aber nach unserer heutigen Reise müßten wir eigentlich mehr wissen. Mit ein bißchen Glück. Und dann ist da der Schlüssel.«
«Was für ein Schlüssel?«
«Ich habe in Bob Shermans Sturzhelm den Schlüssel zu einem Gepäckschließfach gefunden.«
«Nein!«
Ich nickte und erzählte ihm von der Fährte, der ich bis zu
Paddy O’Flaherty gefolgt war.»Du siehst also, daß wir, auch wenn ich bald nach Hause fliege, die meisten Antworten bis dahin gefunden haben müßten.«
Arne war begeistert.»Das ist ja großartig«, sagte er.»Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was in dem Schließfach ist, zu dem der Schlüssel gehört. «Er hatte eine Idee.»Vielleicht ist es ja das Geld. In den Segeltuchtaschen. du weißt doch, dieses Geld, das gestohlen worden ist.«
«Das ist ein Gedanke«, sagte ich. Aber ich unterließ es, ihm zu erklären, was tatsächlich in dem Schließfach gewesen war — dazu war auch später noch Zeit. Nach der Art zu schließen, wie die Mitreisenden auf standen und sich die Mäntel anzogen, mußten wir unser Ziel bald erreicht haben. Der Zug fuhr am Mj0sa-See entlang, und in der Ferne konnte ich den Holzplatz erkennen — eine riesige Fläche von Baumstämmen, die im Wasser schwammen.
Arne half mir in den Mantel, und ich ihm. Er lächelte ein bißchen traurig.
«Du wirst Kari und mir fehlen.«
«Ich werde eines Tages wiederkommen. Ich mag Norwegen sehr.«
Er nickte. Der Zug passierte das Ende der Brücke nach Gj0vik, fuhr langsam bergan, lief noch langsamer in den Bahnhof von Lillehammer ein und kam mit einem Seufzer zum Stehen. Als wir ausstiegen, umfing uns ein eisiger Wind, der Himmel war grau und wolkenverhangen. Soviel, dachte ich, zu diesen Ferienpostern voller Sonne, Schnee und glücklichen Menschen auf Skiern, die ihre Sonnenbräune und ihre Zähne zeigen. Es war auch seltsam, daß keiner dieser weit im Norden liegenden, eisigen Bahnhöfe schützende Dächer über den Bahnsteigen hatte. Aber vielleicht stand ja kein Mensch wartend draußen herum, so daß Dächer überflüssig waren. Dadurch erinnerten diese Bahnhöfe noch immer an die letzte Szene der Anna-
Karenina-Verfilmung.
«Kommst du, David?«fragte Arne.
«Ja doch. «Ich hörte auf, mich immer wieder umzudrehen, und folgte ihm in die Schalterhalle. Ganz hinten auf dem Bahnsteig hatten sich zwei Männer schnell am Bahnhofsgebäude vorbei und in Richtung der zur Brücke hinunterführenden Straße in Bewegung gesetzt. Der eine war groß. Der andere von gleicher Statur wie der Mann, der in meiner Wohnung über mich hergefallen war. Sie waren allerdings zu weit entfernt, als daß ich es hätte beschwören können.
Trotzdem war ich meiner Sache sicher.
In der kleinen Bahnhofshalle standen überall Reisende herum, die mit leerem Gesichtsausdruck darauf warteten, daß die Zeit verging. An den Seiten befanden sich Sitzgelegenheiten, Türen zu Toiletten, ein Fahrkartenschalter — alle Serviceangebote in einem zentralen Bereich. Arne sagte, er würde gerne nochmal schnell telefonieren, bevor wir uns zu dem Treffen mit unserem Informanten aufmachten.
«Nur zu«, sagte ich.
Ich beobachtete ihn durch die Glaswand der Telefonzelle, wie er ein Geldstück in den Schlitz steckte und dann ernsthaft in die Muschel sprach. Er redete eine ganze Weile und kam dann lächelnd wieder heraus.
«Alles erledigt. Gehen wir«, sagte er.
«Arne. «Ich zögerte.»Ich weiß, es klingt albern, aber ich möchte nicht gehen.«
Er sah aus, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. Dann sagte er jedoch:»Aber warum denn nicht? Dieser Mann hat vielleicht gesehen, wer Bob Sherman umgebracht hat.«
«Ich weiß. Aber. ich kann es nicht erklären. Ich habe. so ein ganz irres, unheimliches Gefühl, eine Art Vorahnung. Ich kenne das von früher. ich kann. ich kann mich nicht darüber hinwegsetzen. Irgend etwas sagt mir, daß ich nicht hingehen soll. Und deshalb gehe ich auch nicht hin.«
«Aber David«, sagte er,»das ist doch verrückt.«
«Ich kann’s nicht ändern. Aber ich gehe nicht hin.«
«Und was wird mit dem Mann?«
Ich sagte hilflos:»Ich weiß es nicht.«
Arne wurde ungeduldig. Er versuchte es mit Beleidigungen, er versuchte es mit Schmeicheleien — ich gab nicht nach.
Zuletzt sagte er:»Gib mir die Zeitung. Ich spreche mit ihm.«
«Aber wenn mir meine Vorahnung sagt, daß auf der Straße dort eine Gefahr lauert«, wandte ich ein,»dann muß es auch für dich gefährlich sein. Ich hatte schon einmal im Zusammenhang mit einer Straße so ein Vorgefühl. ich wollte nicht weitergehen, und ein paar Sekunden später krachten ein paar Tonnen Baugerüst genau auf die Stelle herunter, an der ich sonst gerade angelangt wäre. Wenn mir seitdem ein starkes Gefühl sagt, daß ich etwas nicht tun soll, dann tue ich es auch nicht.«
Er blinzelte mich ernst an.»Wenn ich irgendein Baugerüst sehe, dann werde ich mich davon fernhalten. Aber wir müssen zu dem Treffen mit diesem Johan Petersen und uns seine Geschichte anhören. Gib mir die Zeitung.«
Widerwillig übergab ich ihm den Express vom Vortag.
«Ich warte hier auf dich«, sagte ich.
Er nickte, noch immer nicht zufriedengestellt, und machte sich allein auf den Weg. Ich suchte mir als Sitzplatz das Ende einer der Bänke aus, wo ich eine solide Wand im Rücken und eine neben mir hatte. Auf meiner anderen Seite saß ein pummeliges junges Mädchen in einem zottigen Schaffellmantel und aß geräuschvoll ein Fischbrötchen.
Ein paar Leute betraten die Halle. Ein Zug kam an und nahm die meisten von ihnen mit, meine Banknachbarin eingeschlossen. Die Zeit verging sehr langsam.
Anderthalb Stunden Zeit zwischen unserer Ankunft und der Abfahrt des Zuges zurück nach Oslo. Anderthalb Stunden, die totgeschlagen werden mußten. Berichtigung, dachte ich gequält. Anderthalb Stunden, die es zu überleben galt. Ich wünschte, ich würde rauchen, Fingernägel kauen oder Yoga betreiben, dachte ich. Ich wünschte, mein Herz würde nicht jedesmal einen Satz machen, wenn draußen vor dem Fenster zwei Leute nebeneinander vorbeigehen. Ich wünschte, ich wüßte, was Gelbauge und Braunauge über einen Mord in aller
Öffentlichkeit denken! Denn wenn ich sicher sein könnte, daß sie ein solches Risiko nicht eingehen würden, könnte ich mir eine Menge Sorgen sparen. So aber saß ich da, wartete, geriet langsam ins Schwitzen und hoffte, daß ich richtig eingeschätzt hatte, wie weit sie gehen würden.
Als die ersten Reisenden, die den Zug nach Oslo nehmen wollten, auf dem Bahnhof eintrafen und sich ihre Fahrkarten kauften, löste ich für Arne und mich auch welche. Ich verlangte gezielt nach den beiden sichtbarsten Plätzen im Wagen, die ich mir auf der Herfahrt eingeprägt hatte, und obwohl es
einigermaßen schwierig war, dem Bahnbeamten, der nur wenig Englisch konnte, klarzumachen, was ich wollte, bekam ich die gewünschten Plätze.
Als ich mich wieder in meine schützende Ecke zurückzog, kam ich neben einen älteren Herrn zu sitzen, dessen längliches, gelbliches Gesicht von einer Mütze mit Ohrenklappen gekrönt wurde. Er hatte mich am Fahrkartenschalter englisch sprechen hören und brannte nun darauf, mir zu erzählen, daß er im vergangenen Jahr mit Sohn und Schwiegertochter in England gewesen war. Ich ermutigte ihn ein bißchen und erhielt dafür eine ins einzelne gehende Führung vom Tower Hill über
Westminster Abbey bis zur National Gallery. Als Arne eine
Viertelstunde vor Abfahrt des Zuges zurückkehrte, plauderten mein Banknachbar und ich schon wie alte Bekannte.
Arne sah beunruhigt aus. Ich stand auf und ging ihm entgegen, wobei ich auf den älteren Herrn deutete.»Wir haben uns gerade über London unterhalten.«
Arne sah den Mann an, ohne ihn richtig wahrzunehmen, und unterbrach mich abrupt:»Er ist nicht gekommen.«
«O nein!«sagte ich.
Arne schüttelte den Kopf.»Ich habe gewartet. Ich bin zweimal bis zur Brücke hinuntergegangen. Ich hab die Zeitung deutlich sichtbar gehalten. Aber niemand hat mich angesprochen. Da ist nicht einmal jemand vorbeigekommen, der so aussah, als suchte er jemanden.«
Ich äußerte mich enttäuscht:»So ein verdammter Mist. Es tut mir leid, Arne, daß ich dir einen ganzen Tag gestohlen habe. aber er klang so bestimmt. Vielleicht ist er ja ohne eigenes Verschulden aufgehalten worden, und wir sollten mal beim Holzplatz anrufen.«
«Das habe ich schon getan«, sagte er.»Dort arbeitet kein Johan Petersen.«
Wir starrten uns an.
Ich sagte niedergeschlagen:»Und ich habe so fest damit gerechnet, daß er uns eine wirklich wichtige Mitteilung macht.«
Er sah mich unsicher an.
«Meine Vorahnung war also vollkommen unzutreffend«, sagte ich.
«Ich hab’s dir ja gesagt.«
Er wollte seine Brieftasche herausholen.
«Ich hab die Fahrkarten schon besorgt«, sagte ich und zeigte sie ihm.»Zwei Plätze nebeneinander.«
«Oh. gut.«
Der Zug lief ein, dunkelrot und silbern, und wir stiegen ein. Die Plätze waren genau das, was ich mir erhofft hatte — ganz am Ende des Wagens, mit der Rückenlehne zur Garderobe, aber allen anderen Plätzen gegenüber. Das Glück wollte es, daß mein ältlicher Freund, der mit dem London-Urlaub, drei Reihen weiter am Gang saß. Er hatte Arne und mich voll im Blick und winkte uns lächelnd zu. Ich erzählte Arne, wie freundlich der Mann gewesen war.»Wie alle Norweger«, fügte ich hinzu.
Arne warf einen schnellen Blick über die Schulter. Nur eine Reihe Kleiderbügel, auf denen Mäntel hingen — trotzdem sah er nicht glücklich aus.
Zwei junge Mädchen mit strahlenden Augen kamen herein und setzten sich uns direkt gegenüber. Ich nahm meine Füße aus dem Weg und lächelte sie an. Sie lächelten zurück und sagten etwas in ihrer Muttersprache.
«Ich bin Engländer«, sagte ich, und sie wiederholten» Engländer«, nickten und lächelten wieder.»Und das ist mein Freund Arne Kristiansen. «Sie schrieben diese Vorstellung der Exzentrizität von Ausländern zu und sagten kichernd» Hallo «zu ihm. Arne erwiderte ihren Gruß, aber er hätte ihr Vater sein können und war an ihrem Jungmädchengeplauder nicht interessiert.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Wir sprachen eine Weile über das Nicht-Erscheinen von Johan Petersen, und ich meinte, wir müßten eben einfach darauf hoffen, daß er sich noch einmal melden werde.
«Sagst du mir Bescheid, wenn er noch mal anruft?«
«Natürlich«, entgegnete ich.
Die Frau im blauen Overall schob wieder ihren Wagen mit Erfrischungen durch den Gang. Ich sagte, jetzt sei ich mal an der Reihe, und erstand trotz Arnes Protest zwei Becher Kaffee. Ich bot auch den Mädchen etwas zu trinken an, die das ungeheuer aufregend fanden und ganz rot wurden. Sie fragten bei Arne nach, ob sie wohl statt eines Kaffees, den sie nicht mochten, Orangensaft haben könnten. Die Frau im blauen Overall hörte sich geduldig an, was Arne ihr übersetzte, und händigte ihm schließlich mit einem Lächeln mein Wechselgeld aus.
In Arnes Augen kam allmählich jener gehetzte Blick, den er oft hatte, wenn er sich von einer Menschenmenge umgeben sah.
«Laß uns irgendwo hingehen, wo es ruhiger ist«, sagte er.
«Geh nur«, gab ich zurück.»Mir gefällt es hier sehr gut.«
Er schüttelte den Kopf, blieb aber.
Zu seiner Erleichterung und meinem Bedauern mußten die beiden Mädchen in Hamar aussteigen. Einen Abschiedsgruß kichernd und sich immer wieder nach uns umdrehend, gingen sie davon. Niemand stieg zu und nahm die frei gewordenen Plätze ein, aber nachdem der Zug angefahren war, stand mein ältlicher Freund auf und kam zu uns.
«Darf ich mich wohl zu Ihnen setzen?«fragte er.»Es ist so interessant, sich über England zu unterhalten.«
Das war zuviel für Arne. Er erhob sich abrupt und verschwand eiligst im nächsten Wagen. Hinter ihm knallte die Tür zu.
«Habe ich Ihren Freund verstimmt?«erkundigte sich der ältere Herr besorgt.»Das täte mir leid.«
«Er hat Probleme«, erwiderte ich.»Aber für die können Sie nichts.«
Erleichtert ließ mein Gegenüber daraufhin weitere Erinnerungen vom Stapel, die mich zu Tode langweilten, aber möglicherweise am Leben erhielten. Er saß noch immer da und redete ohne Punkt und Komma, als wir in den Bahnhof von Oslo einfuhren. Und auf dem Bahnsteig stand, wie versprochen, Erik. Er hatte Odin neben sich und hielt besorgt nach mir Ausschau.
Es blieb nicht mehr viel Zeit. Wenn sie jetzt noch einen Versuch machen wollten, dann mußten sie es ganz offen tun.
Ich stieg aus dem Zug und drehte mich zu Erik um. Und da, zwischen uns, standen die beiden Männer, die ich am wenigsten zu sehen wünschte, und wirkten so entschlossen, daß einem ganz schlecht werden konnte.