Kapitel 4

Arne machte sein altes Problem zu schaffen — er sah sich so oft um, daß jede Vorwärtsbewegung zu einem Wagnis wurde. Warum er sich von den fröhlichen, verfroren aussehenden Menschen, die zum Norsk Grand National nach 0vrevoll gekommen waren, bedroht fühlte, ging eigentlich nur ihn und seinen Psychiater was an, aber wie üblich hatten auch alle seine Freunde unter dieser Heimsuchung zu leiden.

So hatte er es beispielsweise abgelehnt, in einem sehr bequemen, uns allein zur Verfügung stehenden Raum, in dem ein großes Feuer im Kamin brannte, ein Glas Wein zu trinken. Statt dessen marschierten wir — das heißt er, ich und Per Bj0rn Sandvik — draußen hin und her, verschlissen das Sohlenleder unserer Schuhe und bekamen blaue Ohren, und das alles nur, weil Arne Angst vor Wanzen hatte. Es war mir unerfindlich, auf welche Weise unsere augenblickliche Unterhaltung irgend jemandem hätte von Nutzen sein können, aber ich war ja auch nicht Arne. Jedenfalls kann uns diesmal, dachte ich mit philosophischer Gelassenheit, keine Motorjacht niedermähen.

Wieder war Arne für das Leben in der freien Natur angemessen ausgestattet — eine gefütterte blaue Kapuze ging nahtlos in den dazugehörigen Anorak über. Per Björn Sandvik trug einen Filzhut. Ich hatte nur meinen Kopf. Vielleicht lernte ich es ja eines Tages noch.

Von Sandvik, der zu den Stewards gehörte, erfuhr ich noch einmal und aus erster Hand, was mir bereits aus den Unterlagen bekannt war, nämlich wie Bob Sherman an das Geld hatte herankommen können.

«Sehen Sie, es wird in das Büro der Stewards gebracht, die es nachzählen und verbuchen. Und dieses Büro befindet sich in demselben Gebäude wie der Umkleideraum der Jockeys. Gut?

An jenem Sonntag nun ging Bob Sherman in das Büro der Stewards, um noch irgendwelche offenen Fragen zu klären, und da lag das ganze Geld gebündelt und verpackt vor ihm. Arne hatte ihn selbst dort gesehen. Sherman muß sich spontan entschlossen haben, das Geld an sich zu nehmen.«

«Worin befand sich das Geld?«fragte ich.

«In Segeltuchtaschen.«

«Welche Farbe?«

Er zog die Augenbrauen hoch.»Braun.«

«Die standen da einfach so hinter der Tür auf dem Fußboden?«

Er grinste.»In Norwegen werden weniger Verbrechen begangen als anderswo.«

«Das habe ich schon gehört«, sagte ich.»Wie viele Taschen waren es?«

«Fünf.«

«Schwer?«

Er zuckte die Achseln.»So schwer, wie Geld eben ist.«

«Wie waren sie verschlossen?«

«Mit Lederriemen und Schlössern.«

Arne rannte in eine Blondine hinein, die ganz eindeutig Vorfahrt hatte. Sie gab etwas von sich, was, nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, nicht gerade damenhaft war, aber das brachte ihn noch keineswegs dazu, auf den Weg zu achten. Irgendein Feind lag hinter uns auf der Lauer und hörte uns ab, da war er sich vollkommen sicher.

Sandvik lächelte ihn nachsichtig an. Per Bj0rn Sandvik war ein großer, angenehm gemächlicher Mann von etwa fünfzig Jahren, der über eine unaufdringliche Autorität verfügte. Arne hatte mir gesagt, daß er jemand >ganz oben im Ölgeschäft< sei, aber Sandvik fehlte die übliche Aura des Topmanagers — es schien ihm ganz im Gegenteil eher Vergnügen zu bereiten, wenn er den

Eindruck erwecken konnte, als ob ihm Macht und Aggressivität vollkommen fremd seien. Wenn dem so war, dann mußte er in einem Aufsichtsrat als Gegner so unangenehm sein wie eine unter Gänseblümchen verborgene Fußangel. Ich sah ihn nachdenklich an, und er erwiderte meinen Blick. Nichts darin, was nicht hätte darin sein dürfen.

«Was wäre mit den Geldtaschen geschehen, wenn Sherman sie nicht geklaut hätte?«fragte ich.

«Sie wären im Büro in den Safe eingeschlossen und dann am Montag früh zur Bank gebracht worden.«

«Bewacht«, sagte Arne, der ausnahmsweise einmal nach vorne sah.»Von einem Nachtwächter.«

Aber als der Nachtwächter seinen Dienst angetreten hatte, da war das Geld schon weg gewesen.

«Wie kam es, daß keiner der Stewards im Büro war und das Geld praktisch auf dem Präsentierteller lag?«fragte ich weiter.

Sandvik hob seine in dicken Handschuhen steckenden Hände.

«Das haben wir uns immer wieder gefragt. Es war wohl Zufall. Der Raum kann nur fünf Minuten leer gewesen sein, vielleicht nicht einmal so lange. Es gab keinen besonderen Grund dafür, daß alle gleichzeitig fort waren. Es hatte sich einfach so ergeben.«

Er hatte eine eher hohe Stimme und eine wunderbar deutliche Aussprache, aber sein fast perfektes Englisch unterschied sich doch stark von der heimischen Variante. Ich kam erst nach einiger Zeit dahinter, daß es sein >l< war. Die Briten sprechen das >l< mit in den Rachenraum zurückgebogener Zunge, während die Norweger die Zunge beim >l< gegen die Rückseite der Zähne drücken. Die Beibehaltung des norwegischen >l< verlieh Sandviks Aussprache etwas Leichtes, Trockenes und Klares, so daß alles, was er sagte, logisch und einleuchtend klang.

«An jenem Abend bemerkte niemand, daß das Geld gestohlen worden war, denn alle Stewards gingen, als sie die Taschen nicht mehr sahen, davon aus, daß einer der anderen sie in den Safe eingeschlossen hatte. Das Fehlen des Geldes wurde erst am folgenden Tag entdeckt, als es zur Bank gebracht werden sollte. Und da erfuhren wir natürlich auch von Gunnar Holth, daß Sherman ebenfalls verschwunden war.«

Ich überlegte kurz.»Hat mir Gunnar Holth nicht erzählt, daß Bob Sherman ein- oder zweimal bei Ihnen gewohnt hat?«

«Ja, das stimmt. «Sandvik schürzte kurz die wohlgeformten Lippen.»Zweimal. Glücklicherweise nicht an dem Wochenende, an dem er das Geld mitgehen ließ.«

«Aber Sie mochten ihn?«

«O ja, doch, ich denke schon. Meine Einladung war reine Höflichkeit. Er hatte schon einige siegreiche Pferde für mich geritten, und ich weiß, wie Gunnars Schlafsaal aussieht. «Er deutete ein Grinsen an.»Wie auch immer, er kam zu uns. Aber abgesehen von den Pferden hatten wir nur wenige gemeinsame Interessen, und ich glaube, letztlich war es ihm doch lieber, wenn er bei Gunnar wohnen konnte.«

«Hätten Sie ihm zugetraut, daß er stiehlt?«

«Niemals. Ich meine, warum sollte ich? Aber ich kannte ihn auch nicht sehr gut.«

Arne konnte die Nähe der vielen Menschen auf den Tribünen nicht ertragen, weshalb wir uns das erste Rennen — ein Hürdenrennen — von einer kleinen Erhöhung unmittelbar hinter dem Ziel aus ansahen. Die Rennbahn, die den flachen Grund eines Tales einnahm, war auf allen Seiten von Hügeln umgeben, auf denen Fichten und Birken wuchsen, junge Bäume, die in den Himmel aufstrebten, als sei das Zeitalter der Gotik wieder lebendig geworden. Die schlanken, dunklen Nadelbäume und die silbrigen Stämme und gelb verfärbten Blätter der Birken bildeten endlose vertikale Streifen, und im Hintergrund trieben unregelmäßig große Fetzen niedriger Nebelwolken über den Himmel.

Das Licht war kalt und grau, die Luft kalt und feucht, die Stimmung der Zuschauer jedoch sonnig und mediterran. Der Favorit, der von einem englischen Jockey geritten wurde, gewann das Rennen, und die Menge spendete zustimmenden Beifall.

Es sei an der Zeit, sagte Sandvik, den Vorsitzenden der Rennbahn aufzusuchen, der uns nicht eher hatte empfangen können, weil er mit einem Botschafter zu Mittag essen mußte. Wir gingen in das neben der Haupttribüne gelegene Sekretariatsgebäude, stiegen eine Treppe hinauf, neben der Kunstdrucke an der Wand hingen, und betraten dann einen großen Raum, in dem nicht nur der Vorsitzende anwesend war, sondern — zu seiner Unterstützung — auch noch fünf Stewards. Per Bj0rn Sandvik trat zuerst ein, dann ich, gefolgt von Arne, der seine Kapuze zurückschob — und der Vorsitzende schaute nach wie vor zur Tür und wartete wohl noch immer darauf, daß auch ich in Erscheinung treten würde. Ich habe mich manchmal gefragt, ob es meine Situation verbessern würde, wenn ich fett wäre, eine Glatze hätte und eine Brille trüge, das heißt, ob ein vorzeitiges Altern ein höheres Maß an Vertrauen und Glaubwürdigkeit mit sich bringen würde als meine dünne, einsachtzig große, braunhaarige Gestalt. Ich hatte so einiges an Leben hinter mich gebracht, aber das hatte einfach keine sichtbaren Spuren hinterlassen.

«Das ist Mr. David Cleveland«, sagte Sandvik, und in einer ganzen Reihe von Augenpaaren spiegelte sich dieselbe Enttäuschung wider.

«Guten Tag«, murmelte ich in Richtung des Vorsitzenden und streckte ihm zur Begrüßung die Hand hin.

«Ahäm. «Er räusperte sich und erholte sich mannhaft.

«Freue mich, daß Sie gekommen sind.«

Ich machte ein paar ermunternde Bemerkungen des Inhalts, wie schön ich es in Norwegen fände, wobei ich mich fragte, ob einer der versammelten Herren wußte, daß Napoleon schon mit vierundzwanzig Jahren zum General befördert worden war.

Der Rennbahn-Vorsitzende, Lars Baltzersen, war den Briefen, die er an mein Büro geschrieben hatte, sehr ähnlich — kurz, höflich und präzise. Er brauchte etwa zehn Sekunden, um zu dem Schluß zu kommen, daß man mir den Job wohl nicht gegeben hätte, wenn ich unfähig gewesen wäre, und ich hielt es nicht für notwendig, ihm zu erzählen, daß mein Chef vor achtzehn Monaten ganz plötzlich verstorben und der Nachfolger sehr viel früher als eigentlich beabsichtigt ans Ruder gekommen war.

«Sie klingen am Telefon älter«, sagte er schlicht, und ich erwiderte, daß andere das auch schon festgestellt hätten, womit die Sache erledigt war.

«Sehen Sie sich auf der Rennbahn um, wo Sie wollen«, sagte er.

«Und hören Sie sich um. Arne kann ja für diejenigen, die kein Englisch sprechen, dolmetschen.«

«Danke.«

«Brauchen Sie sonst noch etwas?«

Zweites Gesicht, dachte ich, sagte aber:»Wenn es sich einrichten ließe, würde ich Sie hinterher gern noch einmal sprechen.«

«Selbstverständlich, selbstverständlich. Wir möchten ja auch alle erfahren, was für Fortschritte Sie gemacht haben. Nach dem letzten Rennen treffen wir uns alle hier.«

Köpfe nickten voller Zweifel, und ich selber rechnete durchaus damit, daß ich ihre geringen Erwartungen rechtfertigen würde. Instruiert, gelangweilt oder bloß beschäftigt, entfernten sich alle, und nur Arne und der Vorsitzende blieben zurück.

«Ein Bier?«fragte Baltzersen.

Arne sagte ja, ich nein. Trotz der Wärme, die einem mächtigen Kachelofen entströmte, war es mir für das Hopfengetränk ein wenig zu kalt.

«Wie weit ist es bis zur schwedischen Grenze?«erkundigte ich mich.

«Etwas über achtzig Kilometer«, sagte Baltzersen.

«Irgendwelche Formalitäten?«

Er schüttelte den Kopf.»Nicht für Skandinavier, die mit dem eigenen Auto unterwegs sind. Die Paß- und Zollkontrolle macht nur Stichproben. Aber keiner der Grenzposten kann sich erinnern, an jenem Abend einen Engländer die Grenze passieren gesehen zu haben.«

«Ich weiß. Nicht einmal als Mitfahrer in einem norwegischen

Auto. Wäre er bemerkt worden, wenn er sich hinter die

Vordersitze gehockt und unter einer Decke versteckt hätte?«

Sie überlegten.»Höchstwahrscheinlich nicht«, sagte Baltzersen, und Arne pflichtete ihm bei.

«Fällt Ihnen irgend jemand ein, der ihn vielleicht

rübergefahren haben könnte? Irgend jemand, zu dem er in engerer Beziehung stand, sei es geschäftlich oder freundschaftlich?«

«Dazu kenne ich ihn nicht gut genug«, antwortete der

Vorsitzende bedauernd, und Arne blinzelte ein wenig und sagte dann, ihm fielen da nur Gunnar Holth und ein paar der Burschen ein, die für ihn arbeiteten.

«Holth meinte, er hätte ihn immer nur zu den Rennen mitgenommen«, sagte ich — aber er hätte vor Emmas Anruf Zeit genug gehabt, nach Schweden zu fahren und wieder zurück.

«Gunnar lügt, wann immer es ihm in den Kram paßt«, sagte Arne.

Lars Baltzersen seufzte.»Ich fürchte, das stimmt.«

Er hatte graues, ordentlich gebürstetes Haar, ein glattrasiertes Gesicht und war einfallslos gekleidet. Ich kam allmählich hinter die norwegischen Verhaltensmuster — er gehörte zu der sehr großen Kategorie der nüchternen, eher ernsten Leute, die freundlich, effizient und kaum je gestreßt sind. Es mangelte augenfällig an Elan, aber die Arbeit würde bestimmt erledigt werden. Die Hetzjagd des Daseins im Schrittempo. Sehr zivilisiert.

Es gab natürlich auch andere Typen.

«Wen ich hier gar nicht mag«, hatte Emma Sherman gesagt,»das sind die Besoffenen.«

Ich hatte sie am vergangenen Abend im Hotel zum Essen eingeladen und ihr dann einige Stunden lang zugehört, in denen sie mir ihr Leben mit Bob, ihre Befürchtungen und ihre Erfahrungen in Norwegen in allen Einzelheiten geschildert hatte.

«Nach meiner Ankunft«, hatte sie gesagt,»aß ich zunächst immer im Speisesaal des Hotels, und da kamen dauernd Männer an meinen Tisch und fragten, ob sie sich zu mir setzen dürften. Sie waren durchaus höflich, aber auch sehr, sehr hartnäckig. Sie wollten partout nicht wieder gehen. Meistens mußte mich der Oberkellner von ihnen befreien. Er sagte mir, sie seien betrunken. Dabei sahen sie eigentlich gar nicht so aus. Sie schwankten nicht, oder so etwas.«

Ich hatte gelacht.»Wenn man bedenkt, was alkoholische Getränke hierzulande kosten, ist das auch kein Wunder.«

«Nein«, sagte sie.»Jedenfalls habe ich aufgehört, im Hotel zu essen. Ich mußte ja zusehen, daß mein Geld so lange reichte wie möglich, und außerdem machte es mir keinen Spaß, allein zu essen.«

Arne fragte:»Wo möchtest du denn zuerst hin?«

Er gehörte zur dritten Gruppe — zu den Leuten mit einem Tick. Die gibt es überall.

«Zum Wiegeraum, würde ich sagen.«

Beide nickten zustimmend. Arne zog sich die Kapuze wieder über den Kopf, und dann traten wir hinaus in die rauhe Luft. Die Zuschauermenge war zu dem angeschwollen, was Arne als >sehr groß< einstufte, aber es war immer noch viel Platz. Einer der großen Vorzüge des Lebens in Norwegen war vermutlich die geringe Bevölkerungsdichte. Ich hatte in der gemütlichen Landeshauptstadt bislang noch nirgends eine Schlange, ein Geschiebe oder irgend jemanden bemerkt, der sich vorgedrängelt hätte. Warum auch, wo doch stets genug Platz für alle da zu sein schien?

Die Helfer, die an den Toren der einzelnen Tribünenbereiche die Eintrittskarten kontrollierten, waren eifrige, ungefähr zwanzigjährige junge Männer — die meisten blond und alle mit blauen Armbinden versehen. Sie kannten Arne natürlich, aber obwohl ich in seiner Begleitung war, überprüften sie meinen Ausweis, und die ernsten Mienen erhellten sich kaum, als sie mich mit einem Kopfnicken durchließen. Lars Baltzersen hatte mir eine zwölf mal acht Zentimeter große Karte gegeben, auf der adgang faddock, adgang stallomradet, adgang indre bane und noch der eine oder andere weitere adgang aufgestempelt war, und es hatte ganz den Anschein, als würde ich nicht sehr weit kommen, wenn ich sie verlöre.

Der Wiegeraum — schwarze Holzwände, weiße Farbe, rot gedecktes Dach — lag auf der anderen Seite des Führringes, wo sich die Jockeys bereits auf das zweite Rennen vorbereiteten. Alles sah sauber, wohlgeordnet und gefällig aus, und obwohl mein Auge darauf getrimmt war, auch noch auf eine Entfernung von fünfhundert Schritt und bei dichtem Nebel Schwachstellen zu erkennen, vermochte ich keine zu entdecken. Selbst bei Pferderennen blieb man hier freundlich. Ein paar der Stallburschen, die die Pferde im Kreis führten, trugen wie die Jockeys Pullover in den Farben der Besitzer — eine gute und nützliche Selbstdarstellung der Ställe, die ich sonst noch

nirgends gesehen hatte. Ich sagte das Arne.

«Ja«, meinte er,»das machen heute viele der Privatställe. Es hilft den Zuschauern, ihre Farben mitzukriegen.«

Zwischen dem Sattelplatz und dem U-förmigen Gebäude mit dem Wiegeraum sowie in dem U selbst befand sich eine mit Ziersträuchern bepflanzte Grünfläche. Wer vom Wiegeraum zum Sattelplatz wollte, mußte diese kleine Grünanlage auf vergleichsweise schmalen Wegen entweder rechts oder links umgehen — das war angesichts der riesigen Betonflächen daheim mal etwas anderes, man brauchte aber auch eine Menge Zeit für Entschuldigungen.

Im Wiegeraum angekommen, vergaß Arne alle Abhörgeräte und machte mich schnell und ohne sich ein einziges Mal umzublicken mit einem Haufen Leute bekannt — so etwa mit dem Geschäftsführer der Rennbahn, mit dem Sekretär des Rennvereins und mit dem für die Waage verantwortlichen Mann. Ich schüttelte Hände und plauderte ein wenig, und obwohl sie alle wußten, daß ich auf der Suche nach Bob Sherman war, traf ich auf niemanden, den meine Anwesenheit in Unruhe versetzt hätte.

«Hier entlang, David«, sagte Arne und ging mit mir durch einen Seitengang auf eine offene Tür zu, die auf die Rennbahn hinausführte. Ein paar Schritte vor dieser Tür wandte er sich plötzlich nach rechts, und wir befanden uns in dem Büro, aus dem das Geld entwendet worden war. Es war ein einfacher, geschäftsmäßig eingerichteter Raum mit hölzernen Wänden, hölzernem Fußboden, hölzernen Tischen, die gleichzeitig als Schreibtische dienten, und hölzernen Stühlen (was sonst bei all diesen Wäldern?). Es gab freundliche, rotkarierte Vorhänge, eine erstklassige Zentralheizung und in einer Ecke einen soliden Safe.

Außer uns war niemand da.

«Das ist alles, was es hier zu sehen gibt«, sagte Arne.»Die

Taschen mit dem Geld standen dort auf dem Fußboden«- er zeigte auf die Stelle —,»und die Listen mit den Gesamteinnahmen der einzelnen Kassen lagen dort auf dem Tisch, alles so wie immer. Die Listen haben wir noch.«

Es war mir schon ein paarmal aufgefallen, daß sich Arne für den Verlust des Geldes überhaupt nicht verantwortlich fühlte, und es schien ihm auch niemand — und sei es andeutungsweise — die Schuld daran zu geben, obwohl er doch eigentlich, ging man von den elementarsten Anforderungen an einen Sicherheitsbeamten aus, die allerschlechtesten Noten verdient hätte.

«Habt ihr das System mit den Taschen unverändert beibehalten?«fragte ich ihn.

Arne warf mir einen Blick zu, in dem sich Belustigung und Kränkung mischten.

«Nein. Seit dem Diebstahl werden die Taschen sofort in den Safe getan.«

«Wer hat die Schlüssel?«

«Ich, der Geschäftsführer und der Sekretär des Rennvereins.«

«Und ihr drei habt alle geglaubt, einer der beiden anderen hätte das Geld schon im Safe verstaut?«

«So ist es.«

Wir verließen das Büro und traten wieder hinaus ins Freie. Einige Jockeys, die sich für spätere Rennen schon umgezogen hatten und die Farben ihres Stalles trugen, im Augenblick aber noch in warme Mäntel gehüllt waren, gingen mit uns durch den Gang hinaus, und draußen stiegen wir alle eine Treppe hinauf, die zu einer kleinen, offenen, an das Gebäude mit dem Wiegeraum angebauten Tribüne führte, welche etwa eine Achtelmeile vom Zielpfosten entfernt war. Von dort oben aus sahen wir uns das zweite Rennen an.

Arne hatte wieder damit angefangen, sich ängstlich umzusehen, obwohl kaum zwanzig Leute auf der kleinen Tribüne waren. Ich ertappte mich dabei, daß ich es auch schon tat — es war ansteckend. Immerhin entdeckte ich auf diese Weise einen englischen Jockey, der mich kannte, und als nach dem Finish alle auf die Treppe zuströmten, richtete ich es so ein, daß ich an seine Seite kam. Arne ging weiter die Treppe hinunter, während der Jockey leicht zurückzuhalten war und stehenblieb, als ich seinen Arm berührte.

«Hallo«, sagte er überrascht,»Sie hier?«

«Bin wegen Bob Sherman gekommen«, sagte ich zur Erklärung.

Ich hatte festgestellt, daß ich weitaus bessere Resultate erzielte, wenn ich rundheraus sagte, was mich interessierte. Dann vergeudete niemand Zeit damit, sich zu fragen, weswegen ich ihn wohl im Verdacht haben könnte, und wenn sich die Leute nicht in die Defensive gedrängt fühlten, redeten sie leichter.

«Ah, verstehe. Haben Sie den armen Kerl schon gefunden?«

«Noch nicht«, antwortete ich.

«Lassen Sie ihn doch laufen. Was soll’s.«

Rinty Ranger kannte Bob Sherman so gut wie jeder, der fünf Jahre lang in der gleichen kleinen Berufsgruppe gearbeitet hatte, aber sie waren keine engen Freunde. Ich nahm seine Bemerkung als Ausdruck einer eher allgemeinen Sympathie für den Fuchs und fragte ihn, ob er diesen Diebstahl nicht auch für eine verdammte Dummheit halte.

«Allerdings«, stimmte er mir zu.»Ich wette, er hat sich schon fünf Minuten später gewünscht, es nicht getan zu haben. Aber das ist typisch Bob, sich in was reinzustürzen, ohne groß nachzudenken.«

«Das macht ihn zu einem guten Jockey«, sagte ich und dachte daran, wie er die Hindernisse ohne Rücksicht auf Verluste

anging.

Rinty grinste, und sein schmales, scharfes Gesicht über dem Mantel aus Schaffell sah verfroren aus.»Ja, ja. Hat ihm diesmal aber nichts gebracht.«

«Was hat er denn noch Impulsives getan?«

«Ich weiß nicht. War immer hinter Projekten her, die schnellen Reichtum versprachen. Zum Beispiel Grundstückskäufe auf den Bahamas oder die Unterstützung verrückter Investoren, und ich habe ihn sogar mal vom Verkauf gestaffelter Verkaufsrechte reden hören, aber da haben wir ihm alle gesagt, er solle bloß nicht so blöd sein. Ich meine, es ist schon schwer genug, sich die Kohle zu verdienen, da will man sie doch nicht zum Fenster rausschmeißen.«

«Waren Sie überrascht, als Sie hörten, daß er das Geld gestohlen hat?«fragte ich.

«Natürlich war ich das, du liebe Güte, ja. Aber mich hat noch mehr überrascht, daß er getürmt ist. Ich meine, warum hat er die Beute nicht einfach versteckt und weitergemacht, als wenn nichts wäre?«

«Dazu muß man die Nerven haben«, sagte ich, aber genau die hatte Bob Sherman ja.»Außerdem befand sich das Geld in schweren Segeltuchtaschen, die nicht so leicht aufzukriegen waren. Er hätte nicht genug Zeit gehabt, das alles zu erledigen und dann auch noch seinen Flieger zu erwischen.«

Rinty dachte ein wenig nach, kam aber zu keinem brauchbaren Ergebnis.»Blöder Hund«, sagte er schließlich.»Nette Frau, Kind unterwegs, guter Job. Man sollte meinen, er hätte mehr Grips. «Soweit war ich in meinen Überlegungen auch schon gediehen.

«Immerhin, er hat mir damit einen Gefallen getan«, sagte Rinty.»Ich reite beim Grand National hier an seiner Stelle. «Er öffnete seinen Schaffellmantel ein ganz klein wenig, um mir die Farben darunter zu zeigen.»Der Besitzer, ein Typ namens Torp, ist sowieso nicht allzugut auf Bob zu sprechen. Er sagt, Bob hätte beim letzten Mal, als er hier war, spielend gewinnen können. Sagt, er hätte den Sieg verschenkt, zu lange gewartet, wäre das Rennen zu schnell angegangen, hätte die Außenbahn nehmen sollen, hätte das Pferd am Graben nicht in die richtige Absprungposition gebracht — was auch immer, Bob hat’s falsch gemacht.«

«Trotzdem beschäftigt Torp noch einen weiteren englischen Jockey.«

«Stimmt. Wissen Sie, wie viele einheimische Steeplechase-Jockeys es gibt? Ungefähr fünfzehn, mehr nicht, und davon sind ein paar Engländer oder Iren. Die meisten sind Angestellte der Besitzer. Hier gibt’s nicht so viele Selbständige wie bei uns, weil sie dafür nicht genug Rennveranstaltungen haben. Viele Jockeys fahren an den Samstagen nach Schweden, denn das ist der Tag, an dem dort die Rennen stattfinden. Hier sind sie an Donnerstagen und Sonntagen. Das ist alles. Wohlgemerkt, sie halten sich ihre Springer nicht bloß zum Anschauen. Die laufen alle mindestens einmal pro Woche, und da es in jeder Woche nur vier oder fünf Hindernisrennen gibt. das andere sind alles Flachrennen. wird die Sache interessant.«

«Waren Sie und Bob oft zusammen hier?«

«In diesem Jahr waren es vier oder fünf Reisen, glaube ich. Aber ich war auch im vorigen Jahr hier, er nicht.«

«Wie lange dauert so eine Reise?«

Er sah mich überrascht an.»Meistens nur einen Tag. Wir reiten am Samstagnachmittag in England, fliegen um halb sieben, reiten hier am Sonntag, versuchen, wenn möglich, den letzten Flieger zurück zu kriegen, sonst den um acht Uhr fünfzehn am Montagmorgen. Manchmal fliegen wir auch erst am Sonntag früh her, aber das ist ein bißchen knapp. Keine Zeitreserven, wenn’s mal unvorhergesehene Verzögerungen gibt.«»Lernen Sie während Ihrer Zeit hier die Leute gut kennen?«

«So langsam, denke ich. Wieso?«

«Würden Sie sagen, daß Bob Sherman hier in Norwegen Freundschaften geschlossen hat?«

«Lieber Gott, nein, soviel ich weiß, nicht. Aber wenn, dann hätte ich es höchstwahrscheinlich auch gar nicht mitgekriegt. Er kennt natürlich einen Haufen Trainer und Besitzer. Oder meinen Sie Mädchen?«

«Nicht speziell. Gab’s welche?«

«Glaube nicht. Er mag seine Alte.«

«Würde es Ihnen etwas ausmachen, über diese Frage mal sehr gründlich nachzudenken?«

Wieder sah er mich überrascht an.»Wenn Sie wollen?«

Ich nickte. Er verlängerte die Brennweite seines Blickes in zufriedenstellender Manier und konzentrierte sich voll. Ich drängte ihn nicht und wartete ab, beobachtete derweil die Zuschauer. An britischen Maßstäben gemessen, waren sie jung — wenigstens die Hälfte unter dreißig, die Hälfte blond, alle jungen Leute in blauen, roten, orangefarbenen oder gelben Anoraks, so daß sich jene farbige, zufällige Uniformität ergab, wie sie Bühnenbildner für ihre Revuen entwerfen.

Rinty Ranger rührte sich und stellte seinen Blick wieder auf die Gegenwart ein.

«Ich weiß nicht. Er wohnte ein paarmal bei Mr. Sandvik und meinte hinterher, er wäre mit dem Sohn besser zurechtgekommen als dessen Vater. Ich habe ihn mal kennengelernt, den Sohn, meine ich, als sich Bob bei einem Rennen mit ihm unterhielt. aber ich könnte nicht behaupten, daß sie dicke Freunde waren oder so was.«

«Wie alt ist er, ganz grob?«

«Der Sohn? Sechzehn, siebzehn. Vielleicht auch schon achtzehn.«»Sonst noch jemand?«

«Ja. einer von Gunnar Holths Leuten. Ein Ire, Paddy O’Flaherty. Den kannte Bob gut, weil der auch mal für Tasker Mason gearbeitet hat, bei dem Bob in der Lehre war. Eine Zeitlang waren die beiden Stallburschen bei ihm. Ich glaube, Bob wohnt vor allem wegen Paddy gern bei Gunnar Holth.«

«Wissen Sie, ob Paddy ein Auto hat?«

«Keine Ahnung. Warum fragen Sie ihn nicht selbst? Er muß doch heute hier sein.«

«Waren Sie hier?«fragte ich.»An dem Tag, an dem Bob verschwand?«

«Nein, tut mir leid.«

«Gut. Hm. noch irgend etwas, was nicht ganz so war, wie Sie’s erwartet hatten?«

«Was für elende Fragen! Also. mir fällt nichts mehr ein. außer, daß er seinen Sattel dagelassen hat.«

«Bob?«

«Ja. Sein Sattel ist im Umkleideraum. Und sein Helm auch. Er muß gewußt haben, daß er nie wieder irgendwo auf dieser Welt ein Rennen reiten wird, dieser Blödmann, denn sonst hätte er die Sachen nicht liegenlassen.«

Ich ging in Richtung Treppe. Rinty hatte mir nicht viel zu erzählen gewußt, aber wenn es viel zu erzählen gegeben hätte, dann wäre Bob von der Polizei des einen oder des anderen Landes wohl schon längst gefunden worden. Rinty folgte mir nach unten, und ich wünschte ihm für das Grand National viel Glück.

«Danke«, sagte er.»Kann aber nicht behaupten, daß ich Ihnen dasselbe wünsche. Lassen Sie den armen Kerl doch in Ruhe.«

Am Fuße der Treppe unterhielt sich Arne mit Per Bj0rn Sandvik. Sie wandten sich mir mit einem Lächeln zu, um mich sozusagen in ihre Runde aufzunehmen, und ich stellte die heikle

Frage mit so viel Takt wie möglich.

«Ihr Sohn Mikkel, Mr. Sandvik. Halten Sie es für möglich, daß er Bob vom Rennplatz weg und irgendwohin gefahren hat? Natürlich ohne zu wissen, daß Bob das Geld bei sich hatte?«

Per Bj0rn reagierte auf die Implikation, daß sein Sohn, wenn auch unwissentlich, einem Dieb geholfen und dann auch noch kein Wort darüber verloren haben könnte, weit weniger heftig, als es manch anderer Vater getan hätte. Es war kaum ein Anflug von Erregung zu spüren.

Er antwortete verbindlich:»Mikkel kann noch nicht fahren. Er geht noch zur Schule. er ist erst vor sechs Wochen siebzehn geworden.«

«Das ist gut«, sagte ich zur Entschuldigung und dachte, die Sache sei damit erledigt.

Per Bj0rn sagte ohne merklichen Unmut:»Sie entschuldigen mich«, und ging davon. Arne, der wie wild blinzelte, fragte mich, wohin ich als nächstes wolle. Ich sagte, ich würde gern Paddy O’Flaherty sprechen, und so machten wir uns auf die Suche nach ihm. Wir fanden ihn im Stall, wo er Gunnar Holths Pferd für das Grand National fertig machte. Es stellte sich heraus, daß er der Bursche mit der Wollmütze gewesen war, der eine wenig schmeichelhafte Bemerkung über ein Pferd gemacht hatte. Er bezeichnete sich als Gunnars Futtermeister.

«Was ich nach dem Rennen gemacht habe?«wiederholte er.

«Das, was ich immer mache. Die Pferde nach Hause gebracht, sie abgerieben und gefüttert.«

«Und danach?«

«Danach auch alles wie immer. Rein in die Dorfkneipe. Da gibt es ein flottes kleines Ding, Sie verstehen schon.«

«Besitzen Sie ein Auto?«

«Sicher doch. natürlich habe ich eins, aber die Reifen sind so blank wie ein Kinderpopo, und ich bin nicht mehr scharf drauf, damit rumzufahren. Außerdem wird’s Winter. Da steht es auf Ziegelsteinen aufgebockt.«

«Wann haben Sie das Auto aufgebockt?«

«Die Polizei hat mich wegen der Reifen angehalten, also das war. hm, bei einem oder zweien kommt schon das Leinen durch, wenn man genau hinschaut. Das ist jetzt sicher gute sechs Wochen her.«

Danach schlenderten Arne und ich umher, und ich verschaffte mir einen allgemeinen Eindruck von dem, was auf dem Platz vor sich ging. Später überquerten wir die Bahn, um ein Rennen vom Turm aus zu verfolgen. Dieser Turm sah ein bißchen so aus wie der Kontrollturm eines kleinen Flugplatzes — er war zwei Geschosse hoch und hatte oben einen Raum mit Rundumverglasung. In diesem Horst saßen während der Rennen zwei scharfäugige Herren hinter noch schärferen Feldstechern — die beiden waren die nicht-automatischen Überwachungskameras, denen keine Trickserei entging.

Arne machte mich bekannt. Ich könne jederzeit auf den Turm kommen, aber bitte, gern, sagten sie lächelnd. Ich dankte ihnen und sah mir von dort oben das nächste Rennen an — ich blickte direkt auf das schmale, verlängerte Oval der Rennbahn hinab.

Ein Rennen für zweijährige Steher über sechzehnhundert Meter. Sie starteten auf der anderen Seite fast genau in Höhe des Turms, jagten weit davon, umrundeten die ziemlich scharfe Kurve am unteren Ende der Bahn, schossen die lange Gerade hinauf und liefen unterhalb unseres Standorts ins Ziel ein. Es gab ein Fotofinish. Die alles sehenden Augen lösten sich von ihren Ferngläsern. Beide Herren nickten zufrieden und sagten, sie seien zum nächsten Rennen wieder da.

Bevor ich Arne die Treppe hinunter folgte, fragte ich ihn, wie die Pferde beim Grand National laufen würden, weil dies der Anordnung der Hindernisse nicht unmittelbar zu entnehmen war.

«Die Bahn hat die Form einer Acht«, sagte er und machte eine unbestimmte Handbewegung.»Drei Durchgänge. Du wirst es sehen, wenn sie laufen. «Er schien den Wunsch zu haben, möglichst schnell an einem ganz anderen Ort zu sein, aber nachdem wir über die Bahn zum Sattelplatz zurückgekehrt waren, stellte sich heraus, daß er lediglich hungrig war und die Zeit so berechnet hatte, daß wir noch etwas essen konnten, bevor das Norsk St. Leger eröffnet wurde. Er zauberte ein paar belegte Brötchen von riesigen Ausmaßen herbei, deren Belag jeweils von Krabben über Hering, Käse, Leberpastete und Eier bis hin zu Roastbeef reichte, wobei alles noch mit sauren Gürkchen, Mayonnaise und überall verteiltem, nicht identifizierbarem Knuspergebäck verziert war. Arne schaffte die ganze Runde, während ich schon in der Geraden platzte.

Zu den Sandwiches tranken wir Wein — Arne hatte eine ganze Flasche besorgt. Er meinte, wir könnten später zurückkehren und sie austrinken. Wir nahmen unsere Mahlzeit in dem großen, warmen Raum zu uns, den er früher am Tag gemieden hatte — augenblicklich behelligten ihn anscheinend keine unsichtbaren Zuhörer.

«Wenn du morgen nach Hause fliegst, David«, sagte er,»dann komm doch heute zum Abendessen zu uns.«

Ich zögerte.»Da ist noch Emma Sherman.«

«Oh, diese Frau!«rief er aus. Er sah sich um, obwohl kaum ein halbes Dutzend Leute im Raum waren.»Wo ist sie? Sie verfolgt mich doch sonst immer.«

«Ich habe gestern mit ihr gesprochen. Habe sie überredet, heute nicht hierherzukommen und morgen nach England zurückzureisen.«

«Großartig. Ganz großartig, mein Lieber. «Er rieb sich die Hände.»Dann wird sie schon zurechtkommen. Und du kommst zum Abendessen zu uns. Ich rufe eben mal Kari an.«

Ich dachte an Karis Haar und an Karis Figur — alles war genau so, wie es sein sollte. Ich stellte sie mir im Bett vor. Wahrscheinlich hätte ich mir derartige Gedanken nicht gestatten dürfen, aber genausogut hätte man einem Fisch das Schwimmen verbieten können. Ein Jammer, daß sie Arnes Frau ist, dachte ich. Es würde mir die Sache wesentlich erleichtern, wenn ich wegbliebe.

«Du kommst?«fragte Arne.

Ich bin schwach, einfach schwach. Ich sagte:»Sehr gern.«

Er lief sofort geschäftig davon, um Kari anzurufen, und kehrte strahlend zurück.

«Sie freut sich. Sie meint, sie wird dir Moltebeeren vorsetzen, sie hätte gerade gestern welche gekauft.«

Wir gingen wieder in den unwirtlichen Nachmittag hinaus und sahen uns zusammen das große Rennen an. Danach verschwand Arne wegen offizieller Geschäfte, und ich wanderte eine Weile allein umher. Zwar waren Organisation und Instandhaltung ohne Frage erstklassig, aber es handelte sich bei 0vrevoll — verglichen mit britischen Plätzen — auch um keine große Rennbahn. Viel Platz, nur wenige Gebäude. Jeder konnte sehen, niemand wurde geschubst, bedrängt oder zerquetscht. Platz ist doch der größte Luxus, dachte ich, als ich an einem kleinen, länglichen Zierteich entlangging, neben dem eine Militärkapelle in vollster Lautstärke spielte. In bunten Grüppchen saßen Kinder zu Füßen der Musiker, und ein paar von ihnen spähten interessiert in die vibrierenden Öffnungen der Posaunen hinein.

0vrevoll war, wie man mir gesagt hatte, eine noch ziemlich neue Rennbahn und die einzige in Norwegen, wo Flach- und Hindernisrennen veranstaltet wurden. Bei den meisten Rennen hierzulande handelte es sich — ähnlich wie in Deutschland — um Trabrennen.

Für das Grand National begab ich mich wieder auf den Turm, der, wie ich festgestellt hatte, in der kleineren, oberen Hälfte der Acht stand — die größere nahm den Hauptteil des Platzes ein und lag innerhalb der Flachbahn. Zwanzig Pferde gingen die dreieinhalb Durchgänge in scharfem Tempo an, und die Fernglasmenschen in der Glaskuppel drehten sich wie zwei Kreisel. Gleich nach dem Start umrundeten die Pferde den Turm, kamen dicht daran vorbei, galoppierten in Richtung Wassergraben und weiter zum entferntesten Teil der Bahn, brachten die untere Kurve hinter sich und kehrten zum Ziel zurück. Im oberen Teil der Bahn, in der Nähe des Turms, befand sich ein großer Teich, auf dem ein Schwanenpaar in würdevoller Eintracht umherschwamm, auf der anderen Seite paddelte ein Paar kleiner, einander ergebener schwarzweißer Enten. Keines der beiden Paare nahm von dem Pferdepulk Notiz, der nur wenige Meter entfernt an ihrem Zuhause vorbeidonnerte.

Rinty Ranger gewann das Rennen, nachdem er zu Beginn des letzten Durchgangs die Führung übernommen und dann alle Herausforderer erfolgreich abgewehrt hatte, und ich konnte die Zähne des triumphierenden Reiters aufblitzen sehen, als er den Zielpfosten passierte.

Das trübe Licht des Tages war zwar schon so weit geschwunden, daß man die Hindernisse kaum noch erkennen konnte, aber bei den zwei noch ausstehenden Rennen — von insgesamt zehn — handelte es sich um Flachrennen. Das erste wurde bei Dämmerlicht gestartet, das zweite bei völliger Dunkelheit — Flutlichtscheinwerfer am Turm beleuchteten lediglich die Ziellinie und waren hell genug, um im Bedarfsfall ein Fotofinish zu ermöglichen. Elf Pferde liefen auf der dunklen Bahn und waren nur in den wenigen Sekunden deutlich zu erkennen, die sie benötigten, um durch den hellen Fleck hindurchzuschießen, wurden aber trotzdem von einer offenbar nicht kleiner gewordenen Zuschauermenge angefeuert.

Hier wurden also tatsächlich Rennen bei absoluter Dunkelheit gestartet. Ich ging in Gedanken versunken zurück zum Büro der Stewards, wo ich mich mit Arne treffen wollte. Es war wirklich dunkle Nacht gewesen, als Bob Sherman die Rennbahn

verlassen hatte.

In dem Büro herrschte große Geschäftigkeit, und es wurde viel gefeixt und immer wieder versichert, daß diesmal die Tageseinnahmen sicher im Safe verwahrt lägen. Arne erinnerte einige der Anwesenden an die Worte des Vorsitzenden, sie könnten, wenn sie wollten, an der Zusammenkunft teilnehmen, bei der über die gemachten Fortschritte berichtet werden sollte. Mit Rücksicht auf mich sprach er englisch, und die Angesprochenen antworteten ihm ebenfalls auf englisch. Sie hatten alle die Absicht zu kommen, bis auf einen oder zwei, die auf den Nachtwächter warten wollten. Es gab triftige Gründe, die Stalltüren fest zu verriegeln.

Im Arbeitszimmer des Vereinsvorsitzenden waren, was mich anging, viel zu viele Menschen versammelt. Außer mir noch fünfzehn. Alle Stühle waren besetzt, Kaffee und Getränke wurden herumgereicht, und jedermann wartete. Lars Baltzersen blickte mit hochgezogenen Brauen in meine Richtung, um mir zu verstehen zu geben, daß jetzt ich dran sei, während er mit einem einzigen sanften Wink seiner Hand die leise plaudernde Runde zum Verstummen brachte.

«Ich glaube, Sie alle haben Mr. Cleveland im Laufe des Tages schon kennengelernt. «Er wandte sich nun direkt an mich und lächelte versöhnlich.»Ich weiß, daß wir das Unmögliche fordern. Sherman hat keinerlei Spuren, keine Hinweise hinterlassen. Gibt es dennoch irgend etwas, was wir Ihrer Meinung nach unternehmen könnten und noch nicht unternommen haben?«

Er machte es mir so leicht.

«Suchen Sie seine Leiche«, sagte ich.

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