11. Kapitel

Durch den Kommunikationsraum der Vespasian fegte ein Wirbelsturm der Betriebsamkeit, in dem der Captain das windstille und entschlossene Zentrum bildete. Als Stillman und Conway eintrafen, hatte man bereits dem Kurierschiff und allen verfügbaren Hubschraubern den Befehl erteilt, zuerst Dekontaminierungs- und Bergungsgerät zu laden, dann sofort zum Ort der Explosion weiterzufliegen und dort alle nur erdenkliche Hilfe zu leisten. Zwar bestand für die etlanische Einheit, die Lonvellins Schiff eingekreist hatte, natürlich keine Hoffnung mehr, aber am Rand des Katastrophengebiets lagen immerhin noch einzelne Farmen und mindestens ein kleines Dorf. Die Retter würden es wahrscheinlich nicht nur mit Strahlenopfern zu tun haben, sondern auch noch gegen die Panik ankämpfen müssen; denn die Etlaner hatten bisher mit Atomexplosionen überhaupt keine Erfahrung und würden sich deshalb der Evakuierung ziemlich sicher widersetzen.

Als Conway draußen auf dem Flugfeld die Explosion von Lonvellins Schiff gesehen hatte und sich der Bedeutung dieses Vorfalls bewußt geworden war, hatte er sich direkt körperlich krank gefühlt. Und jetzt, wo er Williamson auf dringliche, aber gelassene Weise Befehle erteilen hörte, spürte er, wie ihm der kalte Schweiß über Stirn und Rücken lief. Er leckte sich die trockenen Lippen und sagte: „Captain, ich muß Ihnen einen wichtigen Vorschlag machen.“

Er hatte das gar nicht laut gesagt, aber irgend etwas in seiner Stimme ließ Williamson sofort herumfahren.

„Da Lonvellin verunglückt ist, tragen Sie jetzt die Verantwortung für das Projekt, Doktor“, sagte der Captain ungeduldig. „Sie brauchen also gar nicht so zaghaft zu sein.“

„Gut, in dem Fall hab ich Befehle für Sie“, entgegnete Conway mit derselben leisen, angespannten Stimme. „Blasen Sie die Rettungsversuche ab und beordern Sie alles zurück zum Schiff. Und starten Sie mit der Vespasian, bevor wir selbst auch noch bombardiert werden.“

Conway spürte, wie sie ihn alle anblickten und ihm in das bleiche, schweißüberströmte Gesicht und die furchterfüllten Augen schauten, und er bemerkte auch, daß sie allesamt voreilig falsche Schlüsse zogen. Williamson blickte zunächst wütend und bestürzt zugleich und ein paar Sekunden lang vollkommen ratlos drein, dann nahm sein Gesicht harte Züge an. Er wandte sich an einen Offizier, der neben ihm stand, brüllte einen Befehl und fuhr dann wieder zu Conway herum.

„Doktor“, setzte er steif an, „ich hab gerade unseren sekundären Meteoritenschild ausgefahren. Jeder feste Gegenstand mit einem Durchmesser über zweieinhalb Zentimeter wird bereits in einer Entfernung von einhundertsechzig Kilometern in sämtlichen Richtungen entdeckt und automatisch von Pressorstrahlen abgelenkt. Deshalb kann ich Ihnen versichern, daß uns selbst von einem hypothetischen Angriff mit Atomraketen keinerlei Gefahr droht. Ein nuklearer Beschuß in dieser Gegend ist sowieso eine alberne Vorstellung. Schließlich gibt es auf ganz Etla keine wie auch immer geartete Atomkraft. Das haben wir mit unseren Instrumenten. Aber Sie haben den Bericht ja bestimmt selbst gelesen.

Mein Vorschlag ist“, fuhr der Captain in genau demselben Ton fort, mit dem er sonst dem zweiten Navigationsoffizier eine Kurskorrektur nahelegte, „den Überlebenden der Explosion schleunigst alle mögliche Hilfe zu schicken. Denn die Explosion ist bestimmt durch eine Panne in Lonvellins Reaktor verursacht worden.“

„Lonvellin würde doch nie im Leben einen fehlerhaften Reaktor betreiben!“ erwiderte Conway schroff. „Gerade Lonvellin lebt doch — übrigens genauso wie viele andere langlebige Wesen — in ständiger Angst vor dem Tod, und diese Angst ist mit zunehmendem Alter sogar noch gestiegen. Schließlich hat er schon immer die perfektesten Leibärzte besessen, um seine an sich schon enorme Lebensspanne bloß nicht durch irgendwelche Krankheiten zu verkürzen. Und daraus folgt logischerweise, daß er sich niemals selbst in Gefahr begeben würde, indem er ein technisch unausgereiftes oder mechanisch nicht einwandfrei funktionierendes Schiff benutzt.

Nein, Captain. Lonvellin ist umgebracht worden“, fuhr Conway grimmig fort. „Und Lonvellins Schiff haben diese Polizeisoldaten als erstes angegriffen, weil sie eine so unbeschreibliche Abneigung gegen ETs haben. Es ist natürlich schön zu wissen, daß Sie dieses Schiff hier schützen können. Aber wenn wir jetzt starten, dann schießt die Polizeitruppe vielleicht überhaupt keine Rakete mehr ab, und dann müssen auch nicht unsere ganzen Leute da draußen und noch viel mehr Etlaner sterben.“

Jetzt denk nicht lange nach, sondern gib endlich die notwendigen Befehle! dachte Conway entnervt. Williamson sah ärgerlich, bestürzt und stur zugleich aus; ärgerlich über anscheinend sinnlose Befehle; bestürzt, weil sich Conway allem Anschein nach wie eine verschreckte alte Frau benahm; und stur, weil Williamson sich selbst und nicht Conway im Recht sah. Nun mach endlich mal hin, du unbeschreiblicher Idiot! wetterte Conway gegen ihn los, allerdings im Flüsterton. Denn er konnte solche Worte natürlich nicht an einen Colonel des Monitorkorps richten, der von rangniedrigeren Offizieren umgeben war. Aber Conway konnte es auch deshalb nicht, weil sich Williamson weder jetzt noch früher wie ein Idiot benommen hatte. Es handelte sich vielmehr um einen vernünftigen, intelligenten und äußerst fähigen Offizier, der lediglich bisher noch nicht die Chance gehabt hatte, ein richtiges Bild von den Zuständen auf Etla zu gewinnen. Williamson besaß ja auch keine medizinische Ausbildung, und im Gegensatz zu ihm unterstellte der Captain anderen nicht immer gleich das Schlimmste, vor allem aber war er nicht so mißtrauisch.

„Sie haben einen Bericht über das Imperium für mich“, sagte Conway also statt dessen. „Könnte ich den bitte lesen?“

Williamsons Augen huschten unruhig zu der Batterie von Bildschirmen, von denen sie umgeben waren. Alle Schirme zeigten Szenen von hektischer Betriebsamkeit: einen Hubschrauber, der startklar gemacht wurde; einen zweiten, der taumelnd mit einer vom Gewicht her offensichtlich deutlich über das Sicherheitslimit hinausgehenden Ladung vom Boden abhob; und die Menschenflut, die mit Dekontaminierungs- und Bergungsgerät durch die Schleuse des Kurierschiffs strömte. Williamson fragte: „Sie wollen ihn doch nicht etwa jetzt lesen.?“

„Doch“, antwortete Conway. Aber dann schüttelte er schnell den Kopf, weil ihm eine bessere Idee kam: Er hatte den Captain verzweifelt zum sofortigen Start zu veranlassen versucht, und sich die Erklärungen für später aufgespart, sobald genügend Zeit dafür vorhanden gewesen wäre. Doch jetzt war ihm klargeworden, daß er die Erklärungen zuerst geben mußte, und zwar schnell. Deshalb sagte er: „Captain, ich hab eine Theorie, mit der ich die hiesigen Geschehnisse erklären kann, und diese Theorie wird der Bericht über das Imperium bestimmt bestätigen. Aber passen Sie auf: Wenn ich Ihnen sagen kann, was meiner Meinung nach im Bericht steht, bevor ich ihn gelesen hab, werden Sie dann meiner Theorie soviel Glauben schenken, daß Sie meinen Anweisungen folgen und auf der Stelle starten?“

Draußen vor dem Schiff stiegen die beiden Hubschrauber in den Nachthimmel auf. Die Schleusentor des Kurierschiffs wurde geschlossen, und eine Ansammlung von Bodentransportern — sowohl vom Planeten Etla als auch vom Monitorkorps — zerstreute sich in Richtung Flugfeldrand. Wie Conway wußte, befand sich jetzt mehr als die Hälfte der Schiffsbesatzung der Vespasian dort draußen, zusammen mit all den anderen zu Land stationierten Monitoren, die sich allerdings möglicherweise in Sicherheit befanden — alle anderen steuerten auf die Explosionsstelle zu, und mit jeder Sekunde vergrößerte sich der Abstand zwischen ihnen und dem Mutterschiff.

Ohne auf Williamsons Antwort zu warten, fuhr Conway deshalb schnell fort: „Meiner Auffassung nach handelt es sich um ein Imperium im wahrsten Sinne des Wortes, und nicht um einen lockeren Bund wie unsere Föderation. Das heißt, für den Zusammenhalt des Imperiums und die Durchsetzung der Gesetze des Imperators ist eine umfassende militärische Organisation erforderlich. Folglich müßte es sich bei den Regierungsformen der einzelnen Planeten dem Wesen nach ebenfalls um Militärregime handeln. Die Bürger sind wahrscheinlich allesamt DBDGs wie die Etlaner und wir selbst und im großen und ganzen völlige Durchschnittsmenschen -

natürlich bis auf ihre Antipathie gegen Extraterrestrier, und das, obwohl sie bislang kaum welche kennengelernt haben.“

Conway holte erst einmal tief Luft und fuhr dann fort: „Die Lebensbedingungen und der technologische Entwicklungsstand dürften wohl ähnlich wie bei uns in der Föderation sein. Die Steuern sind möglicherweise recht hoch, aber das wird bestimmt von den regierungsfreundlichen Nachrichtenkanälen bestritten. Ich vermute, das Imperium hat den relativ schwer zu kontrollierenden Umfang von, sagen wir mal, ungefähr vierzig bis fünfzig bewohnten Sternsystemen erreicht.“

„Dreiundvierzig“, warf Williamson mit überraschter Stimme ein.

„. und ich schätze, alle Bürger des Imperiums wissen über Etla Bescheid und stehen einer Beendigung des dort herrschenden Elends wohlwollend gegenüber. Sie betrachten ihn zwar als einen unter ständiger Quarantäne stehenden Planeten, tun jedoch alles in ihrer Macht Stehende, um ihm zu helfen.“

„Allerdings!“ unterbrach ihn Williamson erstaunt. „Unser Mann war zwar nur zwei Tage auf einem der äußeren Planeten des Imperiums, bevor man ihn auf den Zentralplaneten zu einer Audienz mit dem großen Chef geschickt hat, aber das war genug Zeit für ihn, um die Meinung der Bevölkerung über Etla herauszufinden. Praktisch überall, wo man hinblickte, konnte man Abbildungen von den leidenden Etlanern sehen. Stellenweise waren diese Bilder sogar zahlreicher als die normale Plakatwerbung. Überall wird damit zu Spendenaktionen für die notleidende Bevölkerung Etlas aufgerufen, die zudem von der Regierung des Imperiums voll unterstützt werden. Das sieht mir doch eigentlich nach äußerst netten Menschen aus, Doktor.“

„Ich bin mir sicher, daß die Bürger nett sind, Captain“, entgegnete Conway schroff. „Aber finden Sie es nicht auch ein bißchen merkwürdig, daß die vereinte Wohltätigkeit von dreiundvierzig bewohnten Systemen gerade mal dafür ausreicht, alle zehn Jahre ein einziges Schiff zu schicken.?“

Williamson öffnete den Mund, schloß ihn wieder und blickte nachdenklich drein. Im gesamten Raum herrschte bis auf die über Funk eingehenden gedämpften Mitteilungen Stille. Dann fluchte plötzlich Stillman, der hinter Conway stand, und sagte mit belegter Stimme: „Ich verstehe, worauf er hinaus will, Sir. Wir müssen sofort starten.!“

Williamsons Augen huschten von Conway zu Stillman und wieder zurück. Er murmelte: „Wenn es nur einer wäre, könnte es sich ja noch um vorübergehende Geisteskrankheit handeln, aber bei zweien.“

Drei Sekunden später erging an die gesamte Mannschaft die Anweisung zum Rückzug, wobei die Dringlichkeit noch durch das ohrenbetäubende Heulen der Sirenen für allgemeinen Alarm betont wurde. Als man auf diese Weise sämtliche vor nur wenigen Minuten ausgegebenen Befehle widerrufen hatte, wandte sich Williamson wieder an Conway.

„Fahren Sie fort, Doktor“, sagte er verbissen. „Ich glaube, ich verstehe jetzt allmählich, was hier gespielt wird.“

Conway seufzte dankbar auf und setzte seine Ausführungen fort.

Ganz zu Anfang war Etla eine normale Kolonie mit einem einzigen Raumhafen gewesen, auf dem man die notwendige Startausrüstung entladen und die ersten Kolonisten abgesetzt hatte. Die Kolonisten gründeten in günstiger Lage zu den Naturschätzen Städte, und die Planetenbevölkerung entwickelte sich prächtig. Doch schließlich mußten die Menschen von einer Krankheitswelle oder einer ganzen Reihe von Krankheiten überrollt worden sein, die sie auszurotten drohte. Als nun die Bürger des Imperiums von ihrem Elend erfuhren, nahmen sie sich der Etlaner so an, wie es Menschen mit in Schwierigkeiten geratenen Freunden tun, und schon bald begannen die ersten Hilfsgüter einzutreffen.

Diese Hilfe mußte anfangs wohl sehr gering gewesen sein, nahm dann aber sicherlich schnell an Umfang zu, nachdem sich die Nachricht über das Elend der Kolonie herumgesprochen hatte. Doch für die Etlaner selbst blieb es bei der geringen Hilfe.

Die überzähligen, leicht verschmerzbaren Groschen des einzelnen Bürgers summierten sich bei der Gesamtbevölkerung eines Planeten zu einem beachtlichen Betrag. Und als schließlich zig Planeten Geld spendeten, wuchs der Betrag zu einer Summe an, die die Regierung des Imperiums oder der Imperator selbst nicht länger übersehen konnte. Denn selbst damals mußte das Imperium schon zu großspurig, verschwenderisch und dekadent gewesen sein, weshalb der unvermeidbare Verfall bereits im innersten Kern eingesetzt hatte. Man benötigte immer mehr öffentliche Einnahmen, um das Imperium aufrechtzuerhalten und/oder den Imperator und seinen Hof weiter im vermeintlich legitimen Luxus schwelgen zu lassen. Conway fand es nur natürlich anzunehmen, daß sich der Imperator und die Regierung vielleicht selbst gesagt hatten, die Wohltätigkeit würde schließlich im eigenen Haus beginnen, und sie sich daraufhin einen Großteil dieser Gelder für den eigenen Gebrauch angeeignet hatten. Und nach der Bekanntgabe und Förderung der Spenden für den Planeten Etla wurden diese Gelder zu guter Letzt ein wesentlicher Bestandteil des Regierungseinkommens.

So hatte es einst angefangen.

Man stellte Etla unter strenge Quarantäne, obwohl sowieso kein normaler Mensch dorthin fliegen wollte. Doch dann drohte plötzlich eine Katastrophe: die Etlaner mußten nämlich auf einmal ohne jede fremde Hilfe mit der Selbstheilung begonnen haben. Es sah ganz so aus, als ob die lukrative Einnahmequelle versiegen würde. Irgend etwas mußte also schleunigst geschehen.

Die Regierung hielt es wohl moralisch gesehen sowieso nur für einen kleinen Schritt, den Etlanern nicht nur weiterhin die Hilfe vorzuenthalten, durch die sie hätten geheilt werden können, sondern in Zukunft ihren Krankheitszustand auch aktiv durch die gelegentliche Einfuhr einiger relativ harmloser Krankheiten zu konservieren. Diese Krankheiten mußten natürlich fotogen sein, damit man bei den gutherzigen Bürgern des Imperiums die größtmögliche Wirkung erzielen konnte. Es handelte sich also zumeist um entstellende Leiden oder um Krankheiten, die bei den Etlanern Verkrüppelungen oder Mißbildungen hervorriefen. Man mußte aber auch Maßnahmen zur Sicherung des Bestands an erkrankten Einheimischen ergreifen, und aus diesem Grund waren die Methoden der Gynäkologie und Kinderpflege auch so gut entwickelt.

Um die Krankheitsquote auf der gewünschten Höhe zu halten, setzte das Imperium bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt einen psychologisch auf sein Amt zugeschnittenen Vertreter ein. Irgendwie hatten die Etlaner aufgehört, Menschen zu sein. Statt dessen waren sie zu nützlichen, kranken Tieren verkommen, und genau dafür schien sie auch der Vertreter des Imperiums zu halten.

An dieser Stelle machte Conway eine Pause. Der Captain und Stillman wirkten plötzlich blaß und krank, und ihre Gefühle mußten ungefähr die gleichen sein, wie sie Conway nach der Zerstörung von Lonvellins Schiff empfunden hatte — denn dadurch fügten sich sämtliche Teile des Puzzles am richtigen Platz ein.

„Teltrenn stehen jederzeit einheimische Streitkräfte zur Verfügung, um zufällige Besucher zu vertreiben oder zu vernichten“, fuhr Conway fort. „Wegen der Quarantäne handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit bei allen Besuchern um Aliens, und der einheimischen Bevölkerung hat man ja eingebleut, alle Aliens zu hassen — unabhängig von ihrer Gestalt, Anzahl oder Absichten.“

„Aber wie kann das Imperium nur so. so kaltblütig sein?“ fragte Williamson entgeistert.

„Das Ganze hat wahrscheinlich als simple Veruntreuung von Geldern angefangen und ist dann allmählich außer Kontrolle geraten“, antwortete Conway mit matter Stimme. „Aber jetzt droht dem Imperium durch unsere Einmischung ein sehr einträgliches Schwindelgeschäft in die Brüche zu gehen. Deshalb versucht das Imperium nun seinerseits, uns zu vernichten.“

Bevor Williamson darauf etwas entgegnen konnte, meldete der leitende Nachrichtenoffizier, daß sich beide Hubschrauberbesatzungen wieder auf dem Schiff befänden, und ebenso das gesamte Personal, das sich in Hörweite der Sirene aufgehalten hatte, also alle, die in der Stadt gewesen waren. Da die restlichen Monitore Stunden gebraucht hätten, um zur Vespasian zurückkehren, hatten sie die Anweisung erhalten unterzutauchen, bis sich zu ihrer Befreiung irgendwann später ein Aufklärungsschiff heimlich zu ihnen durchschlagen würde. Der Offizier hatte seine Meldung noch nicht einmal abgeschlossen, als der Captain bereits den Befehl zum Starten gab. Einen Moment lang spürte Conway ein unbehagliches Schwindelgefühl, als die Schwerkraftgitter den Ausgleich für vollen Notschub herstellten und die Vespasian in rasender Geschwindigkeit zum Weltraum emporschoß, wobei ihr das Kurierschiff unmittelbar darauf folgte.

„Sie müssen mich vorhin für ziemlich blöd gehalten haben, Conway.“, begann Williamson, wurde dann aber von den Berichten der zurückgekehrten Besatzungsmitglieder unterbrochen: Einer der Hubschrauber war beschossen worden, und den Monitoren in der Stadt hatte man befohlen, bei der Ortspolizei zu bleiben. Diese Befehle waren zusammen mit der Anweisung, jeden Fluchtversuch durch gezielte Todesschüsse sofort zu vereiteln, direkt vom Vertreter des Imperiums erteilt worden. Doch die Polizisten und die Monitore waren inzwischen recht gut miteinander befreundet, und deshalb hatten die Etlaner bei der Flucht der Korpsangehörigen weit über deren Köpfe gezielt.

„Das wird ja von Minute zu Minute niederträchtiger“, sagte Stillman plötzlich. „Wissen Sie, ich glaube, die werden uns schließlich noch für die Zerstörung von Lonvellins Schiff verantwortlich machen und uns zudem für all die Opfer in der Gegend die Schuld in die Schuhe schieben. Die werden unsere bisherigen Leistungen allesamt so verdrehen, bis wir als die eigentlichen Verbrecher dastehen. Und ich könnte wetten, sobald wir hier weg sind, verbreiten die eine Menge neuer Krankheiten, für die wir dann auch noch die Schuld kriegen!“

Stillman fluchte und fuhr dann fort: „Sie wissen ja, was die Menschen des Imperiums von diesem Planeten denken. Etla ist ihr armer, kranker, verkrüppelter Bruder, und wir werden die gemeinen Aliens sein, die kaltblütig über ihn hergefallen sind.“

Während der Major sprach, brach Conway erneut der kalte Schweiß aus — schließlich hatte er seine Schlußfolgerungen über die Behandlungsart Etlas seitens des Imperiums aus rein medizinischen Anhaltspunkten gezogen, und außerdem hatte ihn bei der ganzen Sache der medizinische Aspekt am meisten beunruhigt, so daß ihm die allgemeineren Auswirkungen des Ganzen noch gar nicht bewußt geworden waren. Auf einmal platzte er los:

„Aber das könnte ja Krieg bedeuten!“

„Ja, natürlich“, antwortete Stillman grimmig. „Und das ist vielleicht genau das, was das Imperium will. Wenn man nach dem geht, was wir von ihm wissen und was hier auf Etla passiert, ist es viel zu groß und unbeweglich geworden und im Innern völlig verrottet. Wahrscheinlich würde es innerhalb weniger Jahrhunderte von selbst auseinanderfallen, was ja durchaus begrüßenswert wäre. Aber es geht eben nichts über einen schönen Krieg, ein Endziel, für das sich jeder von ganzem Herzen patriotisch engagieren kann und mit dem man ein sich auflösendes Imperium wenigstens vorübergehend wieder zusammenschweißt. Den Gürtel enger schnallen, die Ärmel hochkrempeln und all diesen Quatsch. Wenn man es richtig anstellt, dann könnte das Imperium durch diesen Krieg noch einmal hundert Jahre lang fortbestehen.“

Conway schüttelte benommen den Kopf. „Ich hätte schon früher darauf kommen müssen, was da vor sich geht“, sagte er. „Wenn wir bloß die Zeit gehabt hätten, den Etlanern die Wahrheit zu sagen.“

„Immerhin haben Sie es eher bemerkt als alle anderen, Doktor“, unterbrach ihn der Captain energisch. „Und die Wahrheit hätte weder uns noch den Etlanern etwas genützt, solange wir diese nicht auch dem durchschnittlichen Bürger des Imperiums hätten eröffnen können. Sie haben also überhaupt keinen Grund für irgendwelche Selbstvorwürfe, nur weil Sie.“

„Hier spricht der technische Offizier“, meldete eine Stimme aus einem der ungefähr zwanzig vergitterten Lautsprecher im Raum. „Wir empfangen ein Echobild von Grünfläche zwölf einunddreißig, das ich Ihnen auf Ihren Repeaterschirm fünf lege. Das Objekt sendet Störsignale gegen Raketenangriffe und behindert durch Stanniolstreifen unsere Radarpeilung erheblich, was auf ein schlechtes Gewissen und eine geringere Größe als unsere hindeutet. Irgendwelche Anweisungen, Sir?“

Williamson warf einen kurzen Blick auf den Repeaterschirm. „Unternehmen Sie nichts, bevor das Objekt nichts unternimmt“, erwiderte er und wandte sich wieder Stillman und Conway zu. Dann sprach er in einem beruhigenden und vertrauenerweckenden Ton des ranghöheren Offiziers, der die volle Verantwortung trägt und diese auch freiwillig übernimmt, in einem Ton also, der mit Nachdruck herausstellte, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchten, weil er die Angelegenheiten schon erledigen würde.

„Blicken Sie nicht so bekümmert drein, meine Herren. Diese Situation, diese drohende Gefahr eines interstellaren Krieges, mußte ja irgendwann einmal kommen“, sagte er. „Aber wir haben schon lange Pläne ausgearbeitet, um mit solch einer Lage fertigzuwerden. Und glücklicherweise haben wir reichlich Zeit, diese Pläne in die Tat umzusetzen.

Das Imperium ist räumlich gesehen ein kleiner, dichtgedrängter Verbund von Planeten“, fuhr er beruhigend fort, „andernfalls hätten wir nicht so schnell mit ihnen in Kontakt treten können. Die Planeten der Föderation dagegen sind äußerst dünn über die halbe Galaxis verteilt. Wir mußten schließlich nur einen Sternhaufen suchen, wo eine von fünf Sonnen von einem bewohnten Planeten umkreist wird. Aber das Problem des Imperiums ist bei weitem nicht so einfach zu lösen. Wenn diese Leute sehr viel Glück haben, finden sie uns vielleicht in drei Jahren, aber nach meiner eigenen Schätzung wären es wohl eher zwanzig. Sie sehen also, wir haben massenhaft Zeit.“

Conway fühlte sich trotzdem keineswegs beruhigt, und er mußte das auch gezeigt haben, denn der Captain versuchte, seinen Einwänden schon im vorhinein zu begegnen.

„Vielleicht hilft der Agent, der den Bericht abgefaßt hat, dem Imperium“, fuhr Williamson schnell fort. „Möglicherweise gibt er dem Imperium sogar bereitwillig Informationen über die galaktische Föderation sowie über die Organisationsform und Stärke des Monitorkorps, weil ihm ja bisher die Wahrheit über das Imperium nicht bekannt ist. Aber da es sich bei unserem Agenten um einen Arzt handelt, ist es unwahrscheinlich, daß er dem Imperium vollständige oder genaue Informationen liefern kann. Die wären sowieso nutzlos, solange das Imperium nicht unsere Positionen kennt. Denn das wird das Imperium erst nach der Gefangennahme eines Schiffsastronavigators oder nach dem Kapern eines Schiffs mit genauen Karten herausfinden. Und um dieser Eventualität vorzubeugen, werden wir von diesem Augenblick an sehr strenge Sicherheitsvorkehrungen treffen.

Unsere Agenten sind ausschließlich in Sprachwissenschaften, Medizin oder Sozialwissenschaften ausgebildet“, schloß Williamson zuversichtlich. „Ihre Kenntnisse von interstellarer Navigation sind also gleich null. Das Aufklärungsschiff, das sie absetzt, kehrt unverzüglich zum Stützpunkt zurück. Das ist bei Operationen dieser Art das vorbeugende Standardverfahren. Sie sehen also, wir haben zwar ein ernsthaftes Problem, aber eben kein unmittelbares.“

„Ach, haben wir nicht?“ fragte Conway.

Er merkte, wie Williamson und Stillman ihn musterten — mit äußerster Aufmerksamkeit und Vorsicht, als wäre er eine Art Zeitbombe, die schon vor einer halben Stunde einmal explodiert war und jetzt wieder kurz davorstand. In gewisser Weise tat es Conway leid, erneut vor ihnen in die Luft gehen zu müssen und sie gleichfalls die Angst und die schreckliche, nagende Sorge mitempfinden zu lassen, die bislang nur er selbst verspürt hatte. Er befeuchtete die Lippen und bemühte sich, es ihnen so schonend wie möglich beizubringen.

„Ich selbst hab nicht die leiseste Ahnung von den Koordinaten vom Traltha, Illensa oder von der Erde, nicht einmal von dem damals von der Erde aus bevölkerten Planeten, auf dem ich geboren wurde“, sagte er ruhig. „Aber es gibt eine Reihe von Zahlen, die ich kenne, und mit höchster Wahrscheinlichkeit auch jeder andere Arzt, der in diesem Sektor Raumdienst hat. Und diese Zahlen, meine Herren, sind die Koordinaten des Orbit Hospitals.

Ich glaube deshalb nicht, daß uns auch nur noch die geringste Zeit bleibt.“

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