5. Kapitel

Schon bald konnte der Patient, dessen Name Lonvellin lautete, entlassen werden, und die unaufhörliche Behandlung erkrankter ETs ließ die Erinnerung an den EPLH bei Conway allmählich verblassen. Er war einfach zu abgelenkt, um sich darüber Gedanken zu machen, ob Lonvellin in seine Heimatgalaxis zurückgekehrt war oder noch immer rastlos durch das All umherstreifte, um gute Taten zu vollbringen.

Aber Conway war mit dem EPLH noch nicht am Ende, oder, besser gesagt, Lonvellin war mit Conway noch nicht ganz am Ende.

„Wie würde es Ihnen eigentlich gefallen, wenn Sie das Hospital mal für ein paar Monate verlassen könnten, Doktor?“ fragte O’Mara, als sich Conway aufgrund einer Dringlichkeitsdurchsage umgehend im Büro des Chefpsychologen eingefunden hatte. „Es handelt sich dabei eher um eine Art Urlaub.“

Conway spürte, wie sich sein anfängliches Unwohlsein augenblicklich zu fast panischem Unbehagen steigerte; schließlich gab es dringende persönliche Gründe, weshalb er das Orbit Hospital in den nächsten Monaten nicht verlassen wollte, und als Antwort brummelte er nur etwas Unverständliches vor sich hin.

O’Mara hob den Kopf und musterte Conway mit seinen stahlgrauen Augen, die in Verbindung mit seinem scharfen, analytischen Verstand so viel sahen, daß sie dem Chefpsychologen fast telepathische Fähigkeiten verliehen.

„Bei mir brauchen Sie sich dafür nicht zu bedanken, schließlich ist es Ihr eigener Fehler, wenn Sie solche mächtigen und einflußreichen Patienten heilen“, merkte O’Mara trocken an und fuhr dann hastig fort: „Es handelt sich hierbei um eine bedeutende Aufgabe, Doktor, die allerdings zu einem nicht unerheblichen Teil aus wissenschaftlicher Arbeit bestehen wird. Normalerweise wäre der Auftrag an einen Diagnostiker vergeben worden, aber dieser EPLH, dieser Lonvellin, macht sich gerade auf einem Planeten zu schaffen, auf dem seiner Meinung nach dringend medizinische Hilfe erforderlich ist. Lonvellin hat diesbezüglich auch die Unterstützung des Monitorkorps angefordert und ausdrücklich darum gebeten, daß Sie für die medizinische Seite verantwortlich sind. Anscheinend erfordert diese Aufgabe doch eher praktische als hochgeistige Fähigkeiten, also wäre das genau der richtige Job für Sie.“

„Sie sind wirklich zu freundlich, Sir“, merkte Conway mit leicht säuerlicher Miene an.

Grinsend führ O’Mara fort: „Ich hab Ihnen schon des öfteren gesagt, daß ich hier bin, um die Leute auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und nicht, um sie abheben zu lassen. Nun gut, hier ist jedenfalls der aktuelle Lagebericht.“ Er schob Conway die Akte herüber, die er zuvor selbst durchgelesen hatte, und stand auf. „Sobald Sie an Bord sind, können Sie sich die Unterlagen ja in Ruhe durchsehen. Seien Sie um 21:30 Uhr an der Schleuse sechzehn, und begeben Sie sich an Bord der Vespasian. In nehme an, Sie haben in der Zwischenzeit noch einige private wie berufliche Dinge unter Dach und Fach zu bringen. Und noch etwas, Conway. schauen Sie gefälligst nicht so drein, als sei Ihre gesamte Verwandtschaft abgekratzt. Höchstwahrscheinlich wird die Dame Ihres Herzens auf Sie warten. Und wenn nicht, gibt es im Orbit Hospital schließlich noch zweihundertundsiebzehn andere weibliche DBDGs, denen Sie hier nachstellen können. Auf Wiedersehen und viel Glück, Doktor.“

Kaum hatte er O’Maras Büro verlassen, überlegte Conway, wie er die bis zum Abflug verbleibenden sechs Stunden am besten nutzen konnte, um noch alles „unter Dach und Fach zu bringen“, wie O’Mara es genannt hatte.

Bereits in zehn Minuten mußte er einen Einführungskurs für Assistenzärzte leiten, und es war schon zu spät, diese Aufgabe jemand anderem zu übertragen. Allein das würde bereits drei der sechs Stunden in Anspruch nehmen — wenn er Pech hatte sogar vier, und wie ein Pechvogel kam er sich heute allemal vor. Danach mußte er noch vor dem Abendessen Instruktionen betreffs der Weiterbehandlung seiner ernsthafter erkrankten Patienten erteilen. Mit Glück würde er alles rechtzeitig erledigen können, und er beeilte sich, zur Schleuse sieben im hundertachten Stockwerk zu gelangen.

Er erreichte den Vorraum der Schleuse im selben Augenblick, als gerade die Innenluke geöffnet wurde. Während er noch verschnaufte, betrachtete er die Assistenzärzte, die hinter ihm hereinströmten. Dabei handelte es sich um zwei kelgianische DBLFs — die sich wie riesige Raupen mit einem silbrig schimmernden Pelz an ihm vorbeischlängelten —, einen illensanischen PVSJ — dessen spinnenartige Gestalt mit ihren stacheligen, membranartigen Gliedmaßen durch den fast undurchsichtigen chlorgeffülten Schutzanzug etwas weicher wirkte — und einen wasseratmenden creppelianischen Oktopoden, Klassifikation AMSL, dessen Anzug laute Blubbergeräusche von sich gab. Auf diese folgten fünf AACPs, eine Spezies, deren Urahnen einer beweglichen Pflanzenart angehört hatten. Sie bewegten sich sehr langsam, aber als Schutz schienen sie lediglich mit CO2 gefüllte Flaschen zu benötigen. Zu guter Letzt kroch noch ein Kelgianer herein.

Als sich alle im Innern der Schleuse befanden und sich die Luke hinter ihnen schloß, ergriff Conway das Wort. Um das Eis zu brechen, stellte er die mehr als unnötige Frage, ob alle anwesend seien.

Zwangsläufig antworteten alle im Chor, und Conways überlasteter Translator gab nur noch ein pfeifendes Rückkopplungsgeräusch von sich. Wie üblich stellte er sich zunächst selbst vor und hieß seine zukünftigen Kollegen willkommen. Erst am Ende dieser Höflichkeitsfloskeln schob er eine freundliche Zwischenbemerkung ein, mit der er die Neuankömmlinge an die Funktionsweise der Translatoren erinnerte und auch daran, daß möglichst immer nur einer zur gleichen Zeit sprechen sollte, um die Geräte nicht zu überlasten.

Auf ihren Heimatplaneten waren diese Wesen zwar allesamt anerkannte medizinische Kapazitäten, im Orbit Hospital aber galten sie als blutige Anfänger. Dieser Übergang vom geachteten Spezialisten zum Praktikanten fiel einigen bestimmt nicht leicht, so daß man sie zu diesem Zeitpunkt noch mit Glacehandschuhen anfassen mußte. Sobald sie sich allerdings an ihre neue Situation gewöhnt hatten, war ihre Schonfrist vorbei, und sie konnten für ihre Fehler wie jeder andere zur Rechenschaft gezogen werden.

„Ich schlage vor, wir beginnen unseren Rundgang auf der Aufnahmestation“, fuhr Conway fort. „Dort werden die mit der Unterkunft der Patienten zusammenhängenden Probleme geklärt und erste Voruntersuchungen vorgenommen. Falls es die äußeren Umstände zulassen und sich der betreffende Patient in keinem kritischen Zustand befindet, werden wir einige angrenzende Abteilungen aufsuchen, um uns mit den Untersuchungsmethoden an neu eingelieferten Patienten etwas genauer vertraut zu machen. Natürlich steht es Ihnen jederzeit frei, Fragen zu stellen.

Auf dem Weg zur Aufnahme werden wir Korridore und Gänge benutzen, die ziemlich überfüllt sein könnten. Im Orbit Hospital herrscht eine komplizierte Rangordnung, die von den medizinischen Hilfskräften bis zu den Chefärzten reicht und mit der geregelt wird, wer vor wem den Vortritt hat. Mit der Zeit werden Sie begreifen, wie dieses System funktioniert, aber gegenwärtig müssen Sie sich nur an eine Grundregel halten: Falls das Ihnen entgegenkommende Wesen größer ist als Sie, müssen Sie ihm Platz machen.“

Er war kurz davor hinzuzufügen, daß kein Arzt im Orbit Hospital einen Kollegen mutwillig zu Tode trampeln würde, besann sich aber eines Besseren — sehr viele Extraterrestrier besaßen keinerlei Sinn für Humor, und ein solch harmloser Scherz, falls er von jemandem wörtlich genommen wurde, konnte durchaus zu endlosen Debatten führen. Also forderte Conway sie lediglich auf, ihm zu folgen.

Er sorgte dafür, daß die fünf AACPs als die Langsamsten der Gruppe direkt hinter ihm gingen, um somit das Tempo für die anderen zu bestimmen. Ihnen folgten die beiden Kelgianer, deren schlängelnde Fortbewegungsform nur unwesentlich schneller als die der vor ihnen einhertrottenden pflanzlichen Wesen war. Als nächstes kam der Chloratmer, und das Schlußlicht bildete der creppelianische Oktopode, wobei die Blubbergeräusche seines Schutzanzugs Conway laut vernehmbar verrieten, daß die fast fünfzig Meter lange Prozession noch immer nicht auseinandergebrochen war.

Da sie jetzt im Gänsemarsch gingen, war es sinnlos, weitere Anweisungen zu geben, und sie legten die erste Teilstrecke von etwa zweihundert Metern schweigend zurück, wobei sie der Weg über drei ansteigende Rampen und durch gerade wie verwinkelte Gänge führte. Das einzige Wesen, das aus entgegengesetzter Richtung auf sie zukam, war ein Nidianer, dessen Armbinde verriet, daß er ein Medizinalassistent im zweiten Ausbildungsjahr war. Erwachsene Nidianer wurden nur etwa ein Meter zwanzig groß, so daß für niemanden die Gefahr bestand, zu Tode getrampelt zu werden. Schließlich erreichten sie die innere Schleuse, die zur Station der Wasseratmer führte.

In dem direkt anschließenden Umkleideraum überwachte Conway die beiden Kelgianer beim Anlegen der Schutzanzüge, dann zog er sich selbst einen leichten Taucheranzug an. Die AACPs wiesen darauf hin, daß sie sich dank ihres pflanzlichen Metabolismus eine ganze Weile unter Wasser aufhalten könnten, ohne irgendwelche Schutzmaßnahmen treffen zu müssen. Der Illensaner trug bereits einen luftdichten Anzug, so daß er sich gegen das Wasser, das für ihn genauso giftig war wie Sauerstoff, nicht mehr extra abzusichern brauchte. Der Creppelianer hingegen war ein Wasseratmer und wollte seinen Schutzanzug ablegen — schließlich habe er acht Beine, die er dringend einmal ausstrecken müsse, wie er meinte. Conway war jedoch dagegen, da sie sich höchstens eine Viertelstunde im Wasser aufhalten würden.

Die Schleuse zur AUGL-Station öffnete sich — ein riesiger, düsterer Tank, der mit grünlichem, lauwarmem Wasser gefüllt war und eine Tiefe von fast siebzig Metern und einen Durchmesser von mehr als hundertfünfzig Metern besaß. Conway mußte bald feststellen, daß das Unterfangen, die Neuankömmlinge von der Schleuse zum Korridoreingang auf der anderen Seite zu bringen, einem dreidimensionalen Herdentrieb durch grünen Klebstoff gleichkam. Mit Ausnahme des Creppelianers verloren alle anderen binnen weniger Minuten ihren Orientierungssinn. Wild gestikulierend und laut die Richtung angebend, mußte Conway wie ein Wahnsinniger um sie herumschwimmen, und trotz der chemischen Kühl- und Trockenmittel fühlte er sich in seinem Taucheranzug allmählich wie in einer überhitzten Sauna. Etliche Male geriet er derart in Wut, daß er seine Schützlinge vor Aufregung in die falsche Richtung dirigierte.

Und ausgerechnet in einem ganz besonders chaotischen Augenblick schwamm einer der AUGL-Patienten — ein etwa zwölf Meter langes, krokodilähnliches Wesen vom Planeten Chalderescol II — schwerfällig auf sie zu. Etwa fünf Meter vor ihnen hielt der Chalder inne, wobei er unter den AACPs beinahe eine Panik ausgelöst hätte, sagte nur abfällig „Studenten!“ und machte sich wieder davon. Chalder waren besonders während der Genesungsphase alles andere als freundlich, aber auch dieser Zwischenfall konnte nicht dazu beitragen, Conways Wut über das in seinen Augen undisziplinierte Verhalten seiner Schützlinge zu zähmen.

Als er schließlich alle im Korridor auf der anderen Seite des Tanks beisammen hatte, schien weit mehr als nur eine Viertelstunde vergangen zu sein.

„Etwa dreihundert Meter weiter befindet sich in diesem Korridor die Verbindungsschleuse zur Sauerstoffabteilung der Aufnahmestation. Dort läßt sich das, was in der Aufnahme vor sich geht, am besten beurteilen“, sagte Conway. „Diejenigen von Ihnen, die sich nur gegen das Wasser schützen mußten, werden dort ihre Anzüge ablegen, alle anderen begeben sich direkt hindurch. und wenn das nicht reibungslos klappt, mache ich Ihnen die Hölle heiß!“

Während er mit den anderen auf die Schleuse zuschwamm, sagte der Creppelianer zu einem der AACPs: „Nach unserer Vorstellung ist die Hölle mit kochendheißem Dampf gefüllt, aber man muß schon ganz schön böse gewesen sein, um dort hinzukommen.“ Daraufhin antwortete der AACP: „Unsere Hölle ist zwar auch heiß, aber dort herrscht leider absolute Trockenheit, und man verkommt sozusagen zu Dörrgemüse.“

Conway wollte sich schon dafür entschuldigen, daß er gerade die Geduld verloren hatte, weil er fürchtete, die Gefühle des einen oder anderen Extraterrestriers verletzt zu haben, aber offenbar hatten sie das, was er zuvor gesagt hatte, nicht sonderlich ernst genommen.

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