14. Kapitel

Am Tag, nachdem man die Anweisung zur Evakuierung des Orbit Hospitals ausgegeben hatte, ging alles glatt über die Bühne. Mit den Patienten gab es überhaupt keine Schwierigkeiten, denn es lag ja in der Natur der Sache, daß Kranke eines Tages sowieso aus dem Krankenhaus entlassen werden. In diesem Fall ging die Entlassung eben nur ein wenig dramatischer als sonst vonstatten. Dagegen war es höchst unnatürlich, das medizinische Personal zu entlassen. Für einen Patienten stellte das Hospital lediglich eine schmerzhafte oder zumindest nicht besonders angenehme Episode in seinem Leben dar, für das Krankenhauspersonal hingegen war das Orbit Hospital das Leben selbst.

Aber auch mit der Evakuierung des Personals ging am ersten Tag alles glatt. Sämtliche Mitarbeiter befolgten die Anordnungen, wahrscheinlich aus Gewohnheit oder weil es wegen ihres Schockzustands das einfachste war. Am zweiten Tag jedoch hatte der Schock allmählich nachgelassen, und die Personalangehörigen begannen miteinander zu diskutieren. Und die Person, mit der sie am dringendsten diskutieren wollten, war Dr. Conway.

Am dritten Tag schließlich mußte Conway O’Mara anrufen.

„Was los sein soll.?“ polterte Conway auf O’Maras Nachfrage los. „Diese. diese Horde von Genies macht Schwierigkeiten, weil sie die ganze Angelegenheit in vernünftigem Licht betrachtet, das ist los! Und je intelligenter ein Lebewesen ist, desto stumpfsinniger beharrt es darauf zu handeln. Nehmen Sie zum Beispiel Prilicla, ein Wesen, das eigentlich nur aus einer Eierschale mit Streichhölzern dran besteht und von einem einzigen starken Luftzug weggeblasen werden kann: Prilicla will bleiben! Oder Doktor Mannon, der schon praktisch ein Diagnostiker ist. Mannon sagt, endlich einmal ausschließlich terrestrische Opfer zu behandeln wäre so etwas Ähnliches wie Urlaub. Und ein paar der übrigen Mitarbeiter haben sich geradezu phantastisch anmutende Begründungen ausgedacht, um hierzubleiben!

Sie müssen Ihnen endlich den Sinn dieser Evakuierung klarmachen, Sir. Sie sind schließlich der Chefpsychologe.“

„Drei Viertel des Arzt- und Wartungspersonals sind im Besitz von Informationen, die dem Feind im Fall ihrer Gefangennahme wahrscheinlich helfen würden“, entgegnete O’Mara in scharfem Ton. „Die werden das Hospital verlassen, egal, ob es sich dabei um Diagnostiker, Computertechniker, Krankenschwestern oder sonstige Stationspfleger handelt, und zwar aus Sicherheitsgründen. Die haben überhaupt keine andere Wahl. Dann gibt es im Personal noch eine Anzahl von medizinischen Spezialisten, die sich wegen der Verfassung ihrer Patienten verpflichtet fühlen, zusammen mit ihren Schützlingen abzufliegen. Und was den Rest angeht, da kann ich nur sehr wenig tun. Schließlich handelt es sich dabei um geistig gesunde, intelligente und vernünftige Wesen, die sich durchaus selbst entscheiden können.“

Conway erwiderte nur: „Ha!“

„Bevor Sie die geistige Gesundheit von anderen Leuten in Zweifel ziehen, beantworten Sie mir doch bitte eine Frage“, entgegnete O’Mara trocken. „Wollen Sie denn überhaupt hierbleiben?“

„Nun, ich.“, begann Conway.

O’Mara brach die Verbindung ab.

Conway starrte noch lange auf den Hörer, bevor er ihn wieder aufhängte. Er hatte sich noch immer nicht entschieden, ob er nun bleiben wollte oder nicht. Er wußte, daß er nicht zum falschen Heldentum neigte, und eigentlich wollte er das Hospital unbedingt verlassen. Aber nicht ohne seine Freunde! Denn das, was Murchison und Prilicla und all die anderen im Hospital verbleibenden Freunde von ihm denken würden, wenn er sich aus dem Staub machte, könnte er beim besten Willen nicht ertragen.

Wahrscheinlich glaubten sie alle, er wollte im Hospital bleiben, wäre jedoch zu bescheiden, um das zuzugeben. In Wahrheit aber brachte er aus purer Feigheit und Scheinheiligkeit nicht das Geständnis über die Lippen, schlichtweg Angst zu haben.

Die scharfe Stimme von Colonel Skempton lenkte ihn wenigstens für einen Augenblick von seinen quälenden Gedanken des Selbstzweifels ab.

„Doktor, das kelgianische Hospitalschiff ist eben eingetroffen und auch ein illensanischer Frachter. Die docken in zehn Minuten an den Schleusen fünf und siebzehn an.“

„Gut“, entgegnete Conway. Er verließ das Büro fast im Laufschritt und begab sich zur Anmeldezentrale auf der Aufnahmestation.

Als er ankam, waren alle drei Kontrollpulte besetzt — zwei von Nidianern und das dritte von einem Lieutenant des Monitorkorps, der sich in Bereitschaft hielt. Conway stellte sich in die Mitte hinter die beiden Nidianer, weil er so beide Repeaterschirme gleichzeitig beobachten konnte. Im übrigen hoffte er von ganzem Herzen, mit den Dingen fertigzuwerden, die wahrscheinlich unvermeidbar schiefgehen würden.

Das bereits an Schleuse fünf angedockte kelgianische Schiff war ein regelrechtes Ungeheuer, eins der neuesten interstellaren Passagierschiffe, das noch während der Anreise in ein Hospitalschiff umgebaut worden waren. Die Veränderungen waren zwar noch nicht ganz abgeschlossen, doch ein Team von Wartungstechnikern und Robotern ging bereits an Bord. Dabei wurden sie von qualifiziertem Stationspersonal begleitet, das Vorkehrungen für die Unterbringung und Verteilung der Patienten auf dem Schiff traf. Zur gleichen Zeit bereitete man auch schon auf den einzelnen Stationen die Patienten für die Verlegung vor und baute in aller Eile die für ihre Behandlung notwendigen Geräte ab, wobei man nur wenig Rücksicht auf den anschließenden Zustand der Wände nahm. Einige der kleineren Geräte, die man auf elektrisch angetriebene Tragbahren geladen hatte, waren bereits auf dem Weg zum Schiff Insgesamt sah es nach einem ziemlich einfachen Unternehmen aus. Die Atmosphäre-, Druck- und Schwerkrafterfordernisse der Patienten entsprachen ganz genau denen auf dem Schiff, weshalb keine komplizierten Sicherheitsvorkehrungen nötig waren. Darüber hinaus war das Schiff groß genug, um sämtliche kelgianischen Patienten aufzunehmen, und hatte dann sogar noch Platz übrig. Conway würde also in der Lage sein, die DBLF-Ebenen vollständig zu räumen, und zusätzlich gleich noch ein paar tralthanische FGLIs loszuwerden. Doch obwohl diese erste Aufgabe relativ unkompliziert war, schätzte Conway, daß es dennoch wenigstens sechs Stunden dauern würde, bis das Schiff voll besetzt und abgeflogen war. Er wandte sich dem zweiten Kontrollpult zu.

Auf diesem Repeaterschirm bot sich ihm ein fast ähnliches Bild wie auf dem ersten. Die auf dem illensanischen Frachter reproduzierte Umweltbedingung stimmte zwar in jeder Hinsicht mit der auf den PVSJ-Stationen überein, doch dafür war das Schiff kleiner als das kelgianische Hospitalschiff und besaß wegen seines sonst üblichen Verwendungszwecks als Frachter keine große Besatzung. Aus diesem Grund waren auch die Vorbereitungen für die Aufnahme der Patienten nicht besonders weit vorangeschritten. Conway schickte deshalb zusätzliches Wartungspersonal auf das illensanische Schiff, zumal er glaubte, daß die Wartungstechniker sowieso froh sein würden, zusammen mit den sechzig PVSJs wegfliegen zu können. In der gleichen Zeit, die der Frachter für die Aufnahme dieser sechzig Patienten brauchte, würden sich auf dem kelgianischen Hospitalschiff schon sämtliche Patienten aus drei kompletten Ebenen eingeschifft haben.

Conway versuchte immer noch, eine Patentlösung für das Problem zu finden, als plötzlich der bislang dunkel gebliebene Bildschirm des Lieutenants aufflackerte.

„Ein tralthanisches Ambulanzschiff, Doktor“, berichtete der Lieutenant. „Es ist voll bemannt und hat bereits sämtliche Vorkehrungen getroffen, sechs FROBs, einen Chalder und zwanzig Tralthaner an Bord zu nehmen. Bei diesem Schiff sind also keine weiteren Vorbereitungen notwendig. Die Besatzung sagt, Sie sollen die Passagiere einfach an Bord bringen.“

Die Bewohner von Chalderescol, eine zwölf Meter lange gepanzerte, fischähnliche Spezies der physiologischen Klassifikation AUGL, waren Wasseratmer, die in keinem anderen Medium länger als ein paar Sekunden überleben konnten. Bei den hudlarischen FROBs hingegen handelte es sich um gedrungene, ungeheuer wuchtige und dickhäutige Lebewesen, die den zermalmenden Schwerkraft- und extremen Druckverhältnisse ihres Heimatplaneten Hudlar angepaßt waren. Genaugenommen atmeten Hudlarer überhaupt nicht, und durch ihre unglaublich robuste Haut konnten sie lange Zeit auch ohne Schwerkraft und Druck überleben. Deshalb würde sie das Wasser in der AUGL-Abteilung überhaupt nicht stören.

„Lassen Sie den Chalder zur Schleuse achtundzwanzig bringen“, ordnete Conway schnell an. „Und während die Besatzung den Chalder an Bord nimmt, soll man die FROBs durch die ELNT-Abteilung in das Hauptbecken der AUGLs und dann durch die gleiche Schleuse zum Schiff führen. Und wenn schließlich die FROBs an Bord sind, sagen Sie der Besatzung bitte, sie soll zur Schleuse fünf fliegen, weil dann dort die restlichen Patienten warten.“

Allmählich kam die Evakuierung in Gang. An Bord des illensanischen Frachters bereitete man die Plätze für die ersten genesenden PVSJs vor. Und der langsame Treck aus Patienten und Personalangehörigen setzte sich auch schon durch den giftigen gelben Nebel in der Abteilung der Chloratmer in Bewegung. Gleichzeitig zeigte der dritte Bildschirm in der Anmeldezentrale einen langen Zug von Kelgianern, die sich in ihrer schlängelnden Fortbewegungsart auf das kelgianische Hospitalschiff zubewegten. Und neben diesem Zug liefen Mitglieder des medizinischen und technischen Personals mit den benötigten Geräten hin und her.

Manchem der Beteiligten mag es vielleicht kaltherzig erschienen sein, zuerst die genesenden Patienten zu evakuieren, doch dafür gab es sehr gute Gründe — wenn die fast gesunden Wesen den noch kranken oder verletzten Patienten nicht mehr im Weg waren, dann waren dadurch die Stationen weniger überfüllt, und auch an den Schleusen herrschte kein so großer Andrang mehr. Auf diese Weise konnte man später auch die schwerer erkrankten Patienten mit ihren komplizierten Gestellen und Geschirren leichter bewegen und ihnen darüber hinaus jetzt noch ein wenig mehr Genesungszeit unter den optimalen Bedingungen der Stationen lassen.

„Da kommen noch zwei illensanische Schiffe, Doktor“, meldete der Lieutenant plötzlich. „Kleine Dinger, haben Platz für ungefähr je zwanzig Patienten.“

„Schleuse siebzehn ist noch besetzt“, sagte Conway. „Sagen Sie ihnen, sie sollen erstmal auf Warteposition gehen.“

Als nächstes traf ein kleines Passagierschiff von dem von Terrestriern bewohnten Planeten Gregor ein, und gleichzeitig brachte man Tabletts mit Mittagessen in die Anmeldezentrale herein. Das Orbit Hospital hatte zwar nur ein paar terrestrische Patienten, aber zur Not konnte das Schiff auch jeden anderen warmblütigen Sauerstoffatmer an Bord nehmen, der eine geringere Masse als ein Tralthaner hatte. Conway fertigte beide Anflüge gleichzeitig ab, und dabei war es ihm völlig egal, ob er nun mit vollem Mund sprechen oder sogar schreien mußte.

Dann erschien plötzlich auch noch das verschwitzte und abgespannte Gesicht von Colonel Skempton auf dem hausinternen Bildschirm. „Doktor, da draußen befinden sich zwei illensanische Schiffe in Warteposition. Haben Sie für die nichts zu tun?“ fragte er mit scharfem Ton.

„Doch!“ zischte Conway verärgert zurück, da ihm Skemptons Ton überhaupt nicht paßte. „Aber an Schleuse siebzehn liegt schon ein Schiff, das Chloratmer an Bord nimmt, und auf dieser Ebene ist nun mal keine weitere passende Schleuse vorhanden. Die müssen schon warten, bis sie an der Reihe sind.“

„Das geht nicht!“ unterbrach ihn Skempton schroff. „Falls der Feind angreifen sollte, befinden sich diese Schiffe da draußen in höchster Gefahr. Entweder fangen Sie also sofort damit an, die entsprechenden Passagiere an Bord bringen zu lassen, oder wir schicken sie eben wieder weg, und sagen ihnen, sie sollen später wiederkommen, wahrscheinlich viel später. Tut mir leid.“

Conway öffnete den Mund, schloß ihn dann jedoch schnell wieder und schnalzte mit der Zunge, weil er über seine beabsichtigte Erwiderung selbst entrüstet war. Während er verbissen an seiner Wut festhielt, versuchte er nachzudenken.

Er wußte, daß schon seit Tagen die Verteidigungsflotte massiert wurde.

Ihm war auch bekannt, daß die Astronavigationsoffiziere, die für das Heranlotsen dieser Einheiten an das Orbit Hospital verantwortlich waren, so schnell wie möglich wieder abfliegen würden; entweder auf ihren eigenen Aufklärungsschiffen oder zusammen mit den evakuierten Patienten. Denn für den vom Monitorkorps ausgearbeiteten Plan brauchten weder die Mitglieder der Verteidigungskräfte noch die im Hospital ausharrenden Nichtkämpfer Kenntnisse über die Position der Föderationsplaneten. Die Verteidigungsflotte hatte die Aufgabe, das Hospital und die an ihm andockenden Schiffe zu schützen, und der Gedanke an zwei frei um das Hospital herumfliegende Schiffe, die zudem vollausgebildete Astronavigatoren an Bord hatten, mußte fast zwangsläufig dazu geführt haben, daß Dermod, der Flottenkommandant des Monitorkorps, sauer geworden war und sich bei Skempton beschwert hatte.

„Also gut, Colonel“, gab Conway nach. „Wir lassen die Schiffe an den Schleusen fünfzehn und einundzwanzig andocken. Das bedeutet jedoch, daß die Chloratmer durch die DBLF-Entbindungsstation und einen Teil der AUGL-Abteilung müssen. Aber trotz dieser Komplikationen müßten wir die Patienten in drei Stunden eingeschifft haben.“

„Komplikationen“ ist der richtige Ausdruck! dachte Conway grimmig, und er erteilte die notwendigen Anweisungen. Glücklicherweise müßte sowohl die DBLF-Station als auch die betreffende Station der AUGL-Ebene bereits leerstehen, sobald man dort die chloratmenden Illensaner in ihren Druckzelten hindurchführen würde. An einer angrenzenden Schleuse lag jedoch das Schiff vom Planeten Gregor und nahm ELNTs an Bord, die von DBLF-Schwestern in Schutzanzügen durch denselben Bereich geführt wurden. Darüber hinaus brachte man auch noch einige der unter geringer Schwerkraft lebenden, vogelähnlichen MSVKs zum gleichen Schiff, allerdings durch die Chlorabteilung. Die, so hoffte Conway, hatte er bis dahin geräumt.

Plötzlich kam er zu der Überzeugung, daß es hier in der Anmeldezentrale einfach nicht genügend Bildschirme gab, um über die Vorgänge unten in den Abteilungen und an den Schleusen immer auf dem laufenden zu bleiben.

Und er wollte unbedingt alles im Auge behalten, weil er das schreckliche Gefühl hatte, daß ein verheerendes Chaos entstehen könnte, wenn er nicht vorsichtig war. Aber er konnte natürlich nur dann vorsichtig sein, wenn er wirklich alles im Auge behielt. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als nach unten zu gehen und den Evakuierungsverkehr selbst zu regeln.

Vorher rief er noch schnell O’Mara an, erläuterte ihm kurz die Lage und bat ihn, in der Anmeldezentrale von jemand anderem abgelöst zu werden.

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