Kapitel 8

Ein Hornstoß erschütterte die Luft.

»Das ist das Signal für den Beginn der Ratssitzung«, erklärte Fidelma. »Leg die Blätter weg, Eadulf, wir müssen dort erscheinen.«

Eadulf stöhnte laut.

»Ich glaube nicht, daß ich solch eine Sitzung überstehe«, wandte er ein. »Mir ist zum Sterben zumute.«

»Du kannst nach der Sitzung sterben«, erwiderte sie fröhlich. Widerwillig folgte ihr Eadulf zum Gebäude des Fürsten im rath.

Mehrere Leute strebten ihm zu, gingen aber höflich beiseite und ließen Fidelma und Eadulf den Vortritt. Im Vorraum erwartete sie Rudgal, der große blonde Krieger. Als sie eintraten, kam er auf sie zu und begrüßte Fidelma feierlich.

»Komm bitte mit, Schwester«, sagte er und fügte nach einem Moment hinzu: »Du auch, Bruder.«

Er führte sie durch die Tür in den Ratssaal, wo Laisre bereits in seinem Amtssessel Platz genommen hatte. Die Spuren des Fests vom vorigen Abend waren beseitigt, und vor Laisre waren Stühle im Halbkreis aufgestellt. Zur Rechten des Fürsten blieb ein Platz frei, den sonst der Tanist eingenommen hätte. Colla war offensichtlich zu seiner Untersuchung aufgebrochen. Hinter Collas leerem Stuhl saß Orla, doch ihre Tochter Esnad war nicht zu sehen.

Zur Linken stand ein Sessel, in dem sich Murgal lümmelte. Er sah so schlecht aus, wie sich Eadulf fühlte, hatte ein blasses Gesicht und rot umränderte Augen. An einem kleinen Tisch hinter ihm saß der ältliche Schreiber Mel, mit dem sich Eadulf am Abend zuvor unterhalten hatte; er hielt Griffel und Schreibtäfelchen bereit.

Fidelma wurde zu einem Stuhl in der Mitte des Halbkreises geleitet. Daneben war ein Stuhl für Eadulf aufgestellt, dahinter saßen Bruder Solin und Bruder Dianach. Die anderen Plätze wurden von den geringeren Würdenträgern von Gleann Geis eingenommen, und im Hintergrund drängten sich Leute aus dem Volk des Tals, die hören wollten, was ihr Fürst mit der Vertreterin des weit entfernten Königs von Cashel aushandeln würde. Das Stimmengewirr war laut und erstarb erst nach dem nächsten Hornsignal.

Murgal erhob sich langsam.

»Der Rat ist nun zusammengetreten, und als Druide und Brehon meines Fürsten habe ich das Recht, als erster zu sprechen.«

Eadulf fuhr auf, überrascht von der Unhöflichkeit des Mannes, der erklärte, er werde noch vor seinem Fürsten reden. Fidelma bemerkte seine Verwunde-rung, beugte sich zu ihm und flüsterte: »Das ist sein Recht nach dem Gesetz, Eadulf. Ein Druide darf vor einem König sprechen.«

Murgal hatte diese Worte anscheinend nicht wahrgenommen, denn er stellte sich neben Laisres Amtssessel.

»Ihr wißt sicher, daß ich gegen diese Verhandlung bin. Mein Widerspruch möge verzeichnet werden.«

Er blickte Laisre an, der nickte und für den Schreiber Mel hinzufügte: »So wurde es gesagt, so werde es aufgeschrieben.« Er wandte sich wieder Murgal zu und gab ihm das Zeichen weiterzusprechen.

»Laisres Vorfahren haben uns gut regiert. Über die Jahre hinweg haben sie uns vor Schaden von draußen bewahrt, indem sie sich weigerten, irgend etwas mit denen zu tun zu haben, die mit Neid auf unser schönes Tal blickten. Es ist ein reiches, fruchtbares Tal. Es ist nicht verdorben. Warum? Weil wir denen den Zutritt zu ihm verboten haben, die uns Veränderungen von draußen hereinbringen wollten. Drei Jahre sind vergangen, seit wir Laisre als unseren Fürsten anerkannten, denn seine derbfhine hatten ihn auf rechtmäßige Weise an die Spitze seiner Sippe gewählt und ihn zum Herrn über uns gesetzt.

Doch jetzt hat es mein Fürst für angebracht gehalten, nach Cashel zu schicken und um eine Gesandtschaft zu bitten zu dem Zweck, über die Einführung einer fremden Religion in unserem Land zu beraten.«

So unwohl er sich auch fühlte, das konnte Eadulf nicht unwidersprochen hinnehmen.

»Eine Religion, die alle Könige von Eireann angenommen haben und die seit über zweihundert Jahren frei in den fünf Königreichen ausgeübt wird«, spottete er, unfähig, seine Empörung zu bezähmen. »Was für eine fremde Religion!«

Ein Murmeln des Entsetzens durchlief die Versammlung, sogar Fidelma war unangenehm berührt. Murgal hatte sich verärgert zu Laisre umgewandt. Er wollte etwas erwidern, doch der Fürst hielt ihn mit erhobener Hand zurück. Laisre beugte sich in seinem Sessel vor und sagte zu Eadulf: »Diesmal werde ich deinen Ausbruch übergehen, Angelsachse, weil du fremd bist in diesem Land und seine Sitten nicht genügend kennst, um deine Zunge im Zaum zu halten. Du hast kein Recht, in diesem Rat zu sprechen. Nur weil du als Begleiter von Fidelma von Cashel reist, darfst du überhaupt in dieser Halle sitzen. Auch wenn du das Recht hättest zu sprechen, dürftest du nicht die Eröffnungsreden unterbrechen. Erst wenn die einleitenden Argumente vorgebracht wurden, werden die bevollmächtigten Delegierten über ihren Wert diskutieren.«

Eadulf errötete vor Beschämung und sank auf seinen Stuhl zurück. Fidelma schaute ihn mißbilligend an.

Murgal lächelte triumphierend und fuhr fort.

»Wir haben gesehen, was diese fremde Religion uns bringt. Ausländer von jenseits des Meeres, die unsere Lebensweise und unsere Bräuche nicht kennen und uns etwas vorschreiben wollen. Fremde, die gegen unsere Regeln verstoßen und zurechtgewiesen werden müssen.«

Eadulf knirschte mit den Zähnen über die Art, in der Murgal seinen Mangel an Kenntnis des Protokolls für seine Argumentation benutzte.

»Unsere Brüder außerhalb des Schutzes dieser Berge mögen vielleicht den fremden Lehren erlegen sein. Das beweist noch nicht ihre Richtigkeit und spricht auch nicht dafür, daß wir diese Religion ebenfalls annehmen müssen. Ich sage, wir müssen sie zurückweisen und unsere Bergwälle dazu gebrauchen, ihre verderblichen Lehren von uns fernzuhalten. Das ist meine Meinung als Druide, Brehon und Ratgeber des Fürsten von Gleann Geis.«

Murgal setzte sich unter dem beistimmenden Murmeln vieler Anwesender.

Laisre nickte dem Bläser zu, der mit einem neuerlichen Stoß ins Horn Ruhe in der Halle forderte.

»Murgal hat das Recht, vor allen anderen zu sprechen. Danach steht das Recht zu sprechen mir zu. Wie Murgal bin auch ich ein Anhänger der wahren Gottheiten unseres Volkes, der Götter und Göttinnen, die unsere Vorfahren verehrten und die uns von Anbeginn der Zeiten beschützt haben. Doch es ist meine Pflicht als Fürst, meine schützende Hand über alle Menschen dieses Clans zu halten. Bevor ich mich an den Bischof von Imleach wandte mit dem Vorschlag, eine Vereinbarung auszuhandeln für diejenigen in unserem Clan, die den neuen Glauben angenommen haben, habe ich mir die Sache reiflich überlegt. Ich meinte, er solle jemanden senden, mit dem wir besprechen können, wie wir am besten zu einer solchen Vereinbarung gelangen. Imleach hegt seit langem den Wunsch, in unserem Tal eine christliche Kirche und eine Schule zu errichten. Aber ich denke pragmatisch. Weil viele aus unserem Volk außerhalb dieses Tals geheiratet haben, müssen wir uns damit abfinden, daß einige von uns dem neuen Glauben anhängen. Einige haben sich bemüht, dies zu verbergen, weil sie glaubten, es würde mir mißfallen. Ich bin auch nicht erfreut darüber, das leugne ich nicht. Man hat mir geraten, den neuen Glauben zu unterdrücken. Doch die Menschen von Gleann Geis sind alle meine Kinder.«

Murgal sah ihn trotzig an, schwieg aber. Laisre hielt einen Moment überlegend inne und fuhr dann fort.

»Das wäre ein kurzsichtiges Vorgehen gewesen, denn was verboten ist, das wird um so eifriger begehrt. Also sollen sie haben, was sie wollen. Ich hoffe, sie verschwinden dann auf natürliche Weise.«

Nach Laisres Rede brach erneut leises Gemurmel aus.

Fidelma erhob sich etwas verwundert.

»Ich bin nicht hier, um für den neuen Glauben oder gegen den alten zu streiten. Ich bin hier als Abgesandte von Cashel, um mit euch über Dinge zu verhandeln, über die ihr euch, wie mir berichtet wurde, bereits geeinigt habt.« Zu Eadulfs Verblüffung setzte sie sich wieder hin. Die Kürze ihrer Stellungnahme überraschte auch Laisre, der verwirrt dreinschaute.

»Du willst doch sicher eine Begründung für deinen Glauben abgeben?« stammelte er.

Selbst Murgal war ratlos.

»Vielleicht kann sie ihn nicht begründen?« höhnte er.

Eadulf beugte sich vor.

»Du kannst doch unseren Glauben nicht von diesen Heiden herabsetzen lassen«, flüsterte er. Er benutzte den irischen Ausdruck pagdnach.

Murgal hatte ein scharfes Gehör.

»Stimmt es, daß der christliche Angelsachse uns soeben Heiden genannt hat?« rief er mit lauter Stimme.

Eadulf wollte schon antworten, als ihm einfiel, daß ihm das Sprechen verboten war. Er schwieg.

»Laß ihn bestätigen, daß er uns Heiden genannt hat, Lord«, drängte Murgal.

»Du hast es ebenso gut gehört wie wir alle«, erwiderte Laisre. »Es ist ein Ausdruck, mit dem uns die Anhänger des Glaubens häufig belegen.«

»Das weiß ich«, erklärte Murgal. »Und selbst das Wort pagdnach stammt nicht aus der Sprache der Kinder Eireanns. Was gibt es für einen besseren Beweis für ihre fremden Anschauungen als den Gebrauch dieses Wortes?«

»Wir behaupten nicht, daß pagdnach ein Wort ist, das in unsere Sprache übernommen wurde«, schaltete sich Bruder Solin keuchend ein. »Es kommt vom lateinischen paganus

Murgal lächelte breit.

»Genau! Selbst im Lateinischen beschreibt es richtig das, was ich bin: ein Mensch vom Lande, pagus, im Gegensatz zu den milites oder Soldaten, die durchs Land marschieren und es verwüsten. Ihr Christen nennt euch stolz milites, Soldaten im Dienste Christi, und ihr schaut herab auf den Zivilisten oder paganus, auf dem ihr herumtrampelt. Ich bin stolz darauf, pagan genannt zu werden! Es ist ein ehrenvoller Stand.«

Fidelma hatte gewußt, daß Murgal ein kluger Mensch war, doch es überraschte sie, daß er eine so gute Kenntnis des Lateinischen besaß. Sie erhob sich erneut.

»Ich wiederhole, ich bin nicht hier, um über theologische Fragen zu diskutieren. Ich bin lediglich hier, um zu besprechen, wie wir in einer praktischen Frage zu einer Vereinbarung kommen.«

Plötzlich stand Orla hinter Collas leerem Stuhl auf. Ihm machte das Streitgespräch sichtlich Spaß.

»Wenn mein Ehemann hier wäre, würde er der Vertreterin von Cashel sicherlich entgegentreten. Aber ich habe ebenfalls das Recht, im Rat zu sprechen, nicht nur anstelle meines Ehemanns, sondern auch als Schwester des Fürsten.«

»Laßt Orla sprechen!« ertönte ein Ruf, der bei den sitzenden Würdenträgern und den hinter ihnen Stehenden Widerhall fand.

Laisre winkte seine Schwester Orla nach vorn.

»Es ist kein Geheimnis, daß ich und mein Ehemann Colla nicht derselben Meinung sind wie mein Bruder Laisre. Er hat jahrelang die Versuche Imleachs, das Christentum in dieses Tal zu bringen, abgewehrt, und jetzt hat er Anhänger dieses Glaubens eingeladen, ihre fremden Lehren hier zu verbreiten. Mein Bruder Lais-re handelt töricht, wenn er annimmt, die Erlaubnis, diesen neuen Glauben hier auszuüben, würde zu seinem raschen Ende führen. Seht euch die Stellung des Glaubens in den fünf Königreichen an. Vor zweihundert Jahren war Laoghaire von Tara der Auffassung, es gebe immer Platz für eine weitere Religion im Land und ihre Unterdrückung würde sie nur um so schneller anwachsen lassen. Er gewährte den Anhängern des Briten Patrick die Freiheit, ihrem Gott zu dienen. Zwei Jahrhunderte später existieren nur noch ein paar winzige Ecken in den fünf Königreichen, in denen wir die Götter unserer Vorfahren verehren. Die neue Religion herrscht überall. Gib ihr Raum zum Atmen, und sie erstickt uns alle.«

Füßescharren und Beifall begleiteten Orla zu ihrem Platz.

Zu Fidelmas Verärgerung hatte sich Bruder Solin erhoben.

»Da Fidelma von Cashel nicht mit euch debattieren will, bin ich als Vertreter des Comarb von Patrick mit Sitz in Armagh bereit, die Aufgabe zu übernehmen, die sie so leichtfertig von sich weist. Ich bitte um eure Erlaubnis, vor diesem Rat zu sprechen.«

Fidelmas Miene hatte sich versteinert, und sie starrte vor sich hin. Das war nicht die Verhandlung, die sie erwartet hatte. Niemand hatte sie darauf vorbereitet, daß hier eine theologische Diskussion zu führen wäre, bei der sie die Aufgabe hätte zu bekehren. Sie hatte das Gefühl, man wolle sie zur Ablenkung in diese Debatte hineinmanövrieren. Doch aus welchem Grunde?

Laisre bat Bruder Solin vorzutreten und erteilte ihm das Wort.

Bruder Solin warf Fidelma einen triumphierenden Blick zu.

»Was befürchtet ihr denn von der Religion Christi?« fragte er und schaute Murgal dabei an.

»Einfach, daß sie die alte Religion zerstört.«

»Und wäre das denn so schlecht?«

Murgal lächelte bedrohlich.

»Wir verehren die alten Götter und Göttinnen, die Ewigen. Euer Christus wurde hingerichtet und starb. War er denn ein mächtiger Krieger? Haben Tausende ihn verteidigt? Nein, er war ein niedriger Zimmermann, der, welch Gipfel der Ironie, an einem Baum starb!«

Murgal schaute sich mit einem selbstzufriedenen Grinsen um und fügte hinzu: »Du siehst, ich habe mich ein wenig mit dieser Religion von Christus beschäftigt.«

Bruder Solin lief rot an bei diesem Spott.

»Es war so bestimmt, daß Christus, der Sohn Gottes sterben mußte, um der Welt den Frieden zu bringen. Gott liebt diese Welt so sehr, hat man uns gelehrt, daß er seinen einzigen Sohn für sie in den Tod gab.«

»Was für ein Gott!« höhnte Murgal. »Er mußte seinen eigenen Sohn umbringen, um seine Liebe zu zeigen! War er eifersüchtig auf seinen Sohn? Der Sohn eures Gottes ist ebenso armselig wie sein Vater!«

Bruder Solin erstickte fast vor Zorn.

»Wie kannst du es wagen ...?«

»Ein Wutausbruch ist kein Argument.« Murgal hatte sichtlich seinen Spaß. »Erzähl uns doch, was euer Gott gelehrt hat. Das würden wir gern hören. War er ein starker Gott? Hat er gelehrt, denen Widerstand zu leisten, die andere versklaven wollen? Hat er gelehrt, sich auf sich selbst zu verlassen und das zu tun, was gut und gerecht ist? Hat er gelehrt, denen zu widerstehen, die unrecht tun? Nein, ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Er hat Armut im Geiste gelehrt. So steht es in euren heiligen Schriften: >Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.< Der Himmel eures Gottes ist nicht die Andere Welt, in der Gerechtigkeit, Anständigkeit und männliches Selbstvertrauen ihren Lohn finden in der Halle der Helden, die bei den Ewigen sitzen.

Tatsächlich hat euer Gott gelehrt, wenn jemand einen Menschen auf eine Wange schlägt, dann soll der ihm auch die andere Wange hinhalten, womit er zu weiterer Beleidigung und Unterdrückung einlädt und zu falschem Handeln verleitet. Die Brehons lehren doch wohl, daß diejenigen, die Unterdrückung herausfordern, sich an diesem Verbrechen mitschuldig machen? Wenn die Menschen geistlich arm sind, dann werden die Stolzen und Hochmütigen sie unterdrük-ken. Wenn die Menschen den richtigen Geist besitzen und entschlossen sind, Unrecht zu verhindern, dann nützt das allen Menschen. Bist du nicht auch der Meinung, Bruder Solin?«

Bruder Solin kochte vor Wut. In seinem Zorn stand er kläglich und sprachlos vor der Versammlung. Fidelmahatte erfaßt, daß es eines schärferen Intellekts als Bruder Solins bedurfte, um sich mit dem glattzüngigen Murgal zu messen. Sie schüttelte leicht den Kopf und flüsterte Eadulf zu: »Ein Dreisatz von Ei-reann besagt, es gebe drei lächerliche Menschen auf der Welt: den Eifersüchtigen, den Geizhals und den Wütenden. Bruder Solin ist geradewegs in die Falle gegangen, die Murgal ihm gestellt hat.«

Bruder Solin redete, ohne zu merken, welchen Eindruck er hinterließ.

»Christus sagte: >Selig seid ihr, die ihr hier weinet; denn ihr werdet lachen. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.<«

»Schöne Versprechungen, aber sie sollen erst in der Anderen Welt erfüllt werden«, spottete Murgal. »Für diese Welt ist es eine jämmerliche Lehre. Armut der Person resultiert aus der Armut des Geistes. Diese Religion wurde offensichtlich von einem Tyrannen erfunden, der die Armen weiterhin in Armut halten wollte, während er durch ihr Elend reich und fett wurde.«

»Keineswegs, keineswegs ...«, rief Bruder Solin und verlor vollends die Beherrschung.

Fidelma stand abrupt auf.

Sie sprach kein Wort, doch allein die Tatsache, daß sie sich erhoben hatte, und ihr Schweigen brachten alle nach und nach zum Verstummen, bis im Raum Stille eintrat. Sie wartete, bis sie so vollständig wurde, daß man auch das leiseste Flüstern hören konnte. »Ich bin falsch informiert worden«, begann sie ruhig. »Mir wurde gesagt, es gehe um eine Verhandlung über praktische Dinge, nicht um eine theologische Debatte. Suchtet ihr Vertreter, um mit ihnen über Theologie zu diskutieren, dann hättet ihr das dem Bischof von Im-leach mitteilen sollen, der euch Gelehrte geschickt hätte, die es mit euren Gelehrten aufnehmen könnten. Ich bin nur eine einfache Dienerin des Gesetzes dieses Landes. Ich werde heute nachmittag die Rückreise nach Cashel antreten und die Botschaft mitnehmen, daß der Fürst von Gleann Geis sich außerstande sah, eine Entscheidung in der anstehenden Frage zu treffen. Cashel wird erst dann wieder jemanden nach Gleann Geis entsenden, wenn es sicher sein kann, daß eine Entscheidung gefällt wurde.«

Als sie sich abwandte, erhob sich Eadulf unsicher. Er stöhnte innerlich auf bei dem bloßen Gedanken, in seinem Zustand auf die Reise zu gehen.

»Gibst du dich geschlagen?« rief Murgal. »Gestehst du ein, daß Christen nicht logisch mit einem Druiden argumentieren können?«

Fidelma blieb stehen und sah ihn an.

»Ich nehme an, du kennst die Dreisätze von Ei-reann?«

»Ich wäre ein schlechter Brehon, wenn ich sie nicht kennte«, erwiderte Murgal selbstzufrieden.

»Drei Kerzen erhellen jede Dunkelheit: die Wahrheit, die Natur und das Wissen«, zitierte sie und wandte sich zur Tür.

Diesmal blieb sie selbst dann nicht stehen, als sie Laisre dazu aufforderte.

Mit verlegener Miene trat ihr der Krieger Rudgal in der Tür entgegen, die Hand leicht an den Schwertgriff gelegt. Entschuldigend murmelte er: »Mein Fürst verlangt, daß du bleibst, Schwester. Ihm muß man gehorchen.«

Er fuhr zurück vor dem grünen Feuer, das in Fi-delmas Augen glühte.

»Ich bin Fidelma von Cashel, Prinzessin der Eog-hanacht. Ich bleibe für niemanden!«

Wie sie es fertigbrachte, wußte nicht einmal Eadulf, aber vor der reinen Macht ihrer Persönlichkeit prallte Rudgal einen Schritt zurück, und schon war sie durch die Tür und draußen im Hof. Sie schaute sich nicht um, ob Eadulf ihr folgte, sondern ging rasch über den Hof des rath zum Gästehaus. Drinnen nahm sie einen Krug Wasser und goß sich einen Becher ein.

Eadulf eilte ihr nach und schloß die Tür. Er sah sie nervös an und stellte fest, daß ihr Gesicht von Lach-fältchen durchzogen war. Verwirrt schüttelte er den Kopf.

»Das verstehe ich nicht.«

Fidelma war in bester Stimmung.

»Ob Laisre das beabsichtigt hat oder nicht, diese Ratssitzung war eine Farce. Sie wurde abgehalten, um entweder Zeit zu vergeuden oder uns von der Verhandlung abzulenken, zu der wir hergeschickt wurden. Ich muß noch klären, aus welchem Grunde und wer dafür verantwortlich ist. Außerdem, ob dieser blöde Bruder Solin bei dieser Täuschung mitwirkte.«

»Das verstehe ich immer noch nicht.«

»Statt die Dinge zu besprechen, über die wir hier verhandeln sollten, hat Murgal absichtlich versucht, uns in den Sumpf einer zeitverschwendenden Debatte über unsere unterschiedlichen Anschauungen zu lok-ken. Wenn ich das als Ausgangspunkt akzeptiert hätte, könnten wir uns hier noch wochenlang streiten. Warum? Welchem Zweck sollte das dienen? Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich so zu verhalten, wie ich es getan habe, und ihren Schwindel auffliegen zu lassen.«

»Fliegt ihr Schwindel auf?« wollte Eadulf wissen.

Draußen näherten sich Stimmen.

Eadulf blickte aus dem Fenster.

»Es sind Bruder Solin und sein Schreiber. Er scheint nicht gerade in bester Laune zu sein.«

Einen Moment darauf stürmte Bruder Solin in den Raum. Sein Gesicht war noch rot vor Beschämung.

»Wenig genug hast du mich dabei unterstützt, den Glauben zu verbreiten«, fuhr er Fidelma ohne Vorrede an. »Du hast weiter nichts erreicht, als unsere Gastgeber zu beleidigen und alle Wege zu verbauen, auf denen wir den Glauben in dieses Tal bringen könnten.«

»Es ist nicht meine Aufgabe, dir in einer theologischen Debatte beizuspringen«, entgegnete Fidelma, und Solin zuckte zusammen bei ihrem scharfen Ton. Wenn er erwartet hatte, sie werde sich seiner Führungsrolle beugen, wußte er es jetzt besser. Sie wandte sich an Eadulf. »Sattle bitte unsere Pferde, ich komme gleich nach. Ich packe inzwischen unsere Taschen und bringe sie mit.«

Zögernd ging Eadulf an die Ausführung seines Auftrags.

Bruder Solin schaute entgeistert drein.

»Willst du das wirklich tun? Du kannst doch jetzt nicht abreisen!«

Sie sah ihn kalt an.

»Wer will mich daran hindern? Und was geht das dich überhaupt an?«

»Du willst von hier fort, nachdem du den Fürsten und seinen Rat auf diese Art beleidigt hast?«

»Der Fürst und sein Rat haben mich beleidigt, indem sie nicht das besprochen haben, was vereinbart worden war.«

In hilfloser Aufregung breitete Bruder Solin die Hände aus.

»Aber man muß doch in allen Dingen geben und nehmen können? Diese Leute erwarten Versicherungen über unseren Glauben, und es ist unsere moralische Pflicht, sie ihnen zu geben. Jedem etwas vom Glauben und ...«

»Armer Bruder Solin«, sagte Fidelma, und die Härte ihres Tons verriet keinerlei Mitleid. »Du siehst nicht oder willst nicht sehen, daß man dich in eine endlose Debatte hineinzuziehen versuchte, bei der auf kleine theologische Einzelheiten viel Zeit vergeudet werden würde. Ich bin nicht sicher, ob du ein Schurke oder ein Trottel bist. Warum willst du Zeit verschwenden, die woanders besser angewendet werden könnte? Meinst du wirklich, dies wäre der geeignete Moment gewesen für den Versuch, Murgal und seine Anhänger zum Glauben zu bekehren? Du hättest an den weisen Spruch denken sollen: fere libenter homines quod volunt credunt - die Menschen glauben gewöhnlich das, was sie glauben wollen.«

»Ich weiß nicht, was du damit meinst«, wich Bruder Solin aus.

Sie musterte ihn eingehend.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich möchte nicht annehmen, daß du bewußt eine Rolle bei dieser Ablenkung gespielt hast.«

Sie wandte sich ab, eilte die Treppe hinauf, nahm ihre Satteltaschen und holte die Eadulfs aus dessen Zimmer. Dann kehrte sie in den Hauptraum zurück.

»Möglicherweise kreuzen sich unsere Pfade wieder einmal, Bruder Solin, aber ich hoffe, der Tag kommt nicht so bald«, sagte sie eisig, und ehe er antworten konnte, hatte sie das Gästehaus verlassen und schritt zu den Ställen.

Eadulf erwartete sie mit ihren Pferden. Er sah blaß aus, und es ging ihm offensichtlich nicht gut. Fidelma tat er leid, aber alles hing jetzt von dem ab, was sie tat.

»Was machen wir nun?« murmelte er. »Wir werden von einer Gruppe an der Ratssaaltür beobachtet.«

»Dann reisen wir ab, genau wie wir es gesagt haben.«

Fidelma schwang sich aufs Pferd. Eadulf folgte ihrem Beispiel, und Fidelma ritt voran zum Tor des rath. Die Krieger, die dort standen, schauten ihnen entgegen und blickten nervös zur Tür des Ratssaals, unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Schließlich traten sie beiseite und ließen Fidelma und Eadulf durch.

Draußen stöhnte Eadulf auf.

»Ich werde nicht weit reiten können, ohne mich auszuruhen, Fidelma. Mir ist immer noch übel von dem schlechten Wein.«

»Das wirst du auch nicht brauchen«, beruhigte sie ihn.

»Ich wünschte, du würdest mir sagen, was genau du vorhast«, murrte er.

»Genau? Das kann ich dir nicht sagen. Möglicherweise muß ich meinen Plan von Minute zu Minute ändern.«

Eadulf unterdrückte ein neues Stöhnen. Er hätte alles für eine Stunde im Bett getan. Sogar für eine halbe Stunde.

»Du hast jedenfalls einen Plan?« fragte er hoffnungsvoll.

»Natürlich. Soll ich mit dir um einen screpall gegen einen sicuil wetten? Siehst du die Häusergruppe bei der Gabelung des Flusses?«

Eadulf schaute nach vorn und bejahte es.

»Das ist genau der Ort, zu dem Bruder Solin heute früh gegangen sein will«, fuhr Fidelma fort. »Nun, meine Wette lautet: Bevor wir dorthin gelangen, wird uns ein Reiter aus dem rath einholen, uns im Namen Laisres bitten zurückzukehren und unsere Verzeihung erflehen für die Ereignisse dieses Vormittags.« »Da ich dich kenne, Fidelma« - Eadulf rümpfte resigniert die Nase -, »werde ich mich hüten, auf deine Wette einzugehen. Aber manchmal wünschte ich mir, wir hätten einen leichteren Weg vor uns.«

Es war Laisre selbst, der sie kurz vor der Holzbrücke erreichte, die über den Fluß zu der Häusergruppe führte, die die Siedlung bildete, die dem rath am nächsten lag. Der Fürst von Gleann Geis blickte hinlänglich reumütig drein.

»Fidelma von Cashel, ich entschuldige mich. Es war mein Fehler, daß ich die Ratsversammlung außer Kontrolle geraten ließ.«

Sie hielten vor der Brücke, einander gegenüber.

Fidelma gab keine Antwort.

»Du hattest recht, Fidelma«, fuhr Laisre fort. »Du bist nicht hergekommen, um eine philosophische Debatte zu führen, sondern um praktische Vereinbarungen zu besprechen. Es war Murgal, der sich von seiner Feindseligkeit so weit fortreißen ließ, daß .«

Fidelma hob die Hand.

»Willst du damit sagen, daß du den Rat erneut einberufst, um die praktischen Fragen zu erörtern?«

»Natürlich«, stimmte Laisre sofort zu.

»Dein Druide und dein Rat sind sich anscheinend nicht mit dir einig in der Frage, den Bau einer christlichen Kirche in diesem Tal zu gestatten.«

»Komm zurück, und du wirst es sehen.« Laisres Ton war fast bittend.

»Wenn ich zurückkomme . « Fidelma legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Wenn ich zurückkomme, dann unter bestimmten Bedingungen in dieser Sache.«

Laisres Miene wurde mißtrauisch.

»Was für Bedingungen?« wollte er wissen.

»Dein Rat muß zusammentreten und eine Entscheidung fällen, ehe ich in Verhandlungen mit dir eintrete, eine Entscheidung darüber, ob ihr diese Kirche und diese Schule haben wollt oder nicht. Ist die Antwort negativ, wie es im Moment den Anschein hat, dann kehre ich ohne weiteren Zeitverzug nach Cashel zurück. Ist die Antwort bejahend, dann können wir uns den praktischen Dingen zuwenden. Aber diese Verhandlungen werden von dir und mir geführt und keinem anderen Mitglied deines Rates. Ich will Murgal nicht die Bühne bieten, auf der er seine Fähigkeiten als Schauspieler unter Beweis stellen kann.«

Laisre hob die Brauen.

»Dafür hältst du Murgal?« fragte er überrascht.

»Kann es sein, daß du das nicht tust?« gab sie zurück.

Einen Moment sah Laisre betroffen aus, doch dann begann er auf einmal herzlich zu lachen. Schließlich schüttelte er den Kopf.

»Es ist etwas dran an dem, was du sagst, Fidelma, das gebe ich zu. Aber unterschätze nicht seine ernsthafte Entschlossenheit.«

»Nein«, antwortete Fidelma ruhig. »Das tue ich nicht.«

»Dann bist du also bereit, zurückzukehren? Ich kann dir nicht garantieren, daß Murgal sich bei dir entschuldigt.«

»Das verlange ich auch nicht von ihm. Ich erwarte nur, daß alle Diskussionen, die dein Rat in dieser Frage führen will, abgeschlossen sind, bevor ich mit dir über praktische Vereinbarungen verhandle.«

»Dafür gebe ich dir mein Wort.« Laisre streckte ihr die Hand entgegen. »Meine Hand darauf, Fidelma von Cashel.«

Fidelma sah ihn fest an, nahm die Hand aber nicht.

»Bevor wir zum Schluß kommen, und da wir in aller Offenheit sprechen, Laisre - was macht Bruder So-lin aus Armagh hier?«

Laisre fuhr überrascht auf.

»Ich dachte, er wäre auf dein Geheiß hier? Er kam her und brachte Geschenke von Armagh.«

»Mein Geheiß?« Fidelma faßte sich. »Hat er dir das gesagt?«

»Nein, aber er ist von deinem Glauben. Ich bin wohl davon ausgegangen ...« Er zuckte die Achseln. »Dann weiß ich nur, daß er als Reisender um unsere Gastfreundschaft bat. Die verweigern wir ihm nicht, nur weil er einem anderen Glauben angehört.«

Erst jetzt nahm sie Laisres Hand an.

»Ich traue deinem Wort, Laisre. Eadulf und ich werden bald zurückkehren.«

Laisre schien verwundert.

»Ihr reitet jetzt nicht mit mir zurück?«

»Wir möchten uns noch etwas in eurem schönen Tal umsehen. Wir kommen bald nach.«

Laisre zögerte und zuckte dann die Achseln.

»Na gut. Vielen Dank für deine Zustimmung.« Er trieb sein Pferd an und ritt in leichtem Galopp in Richtung rath davon.

Eadulf schaute ihm sehnsüchtig nach.

»Ich würde jetzt gern eine Weile schlafen«, klagte er. »Ich sehe nicht ein, wozu diese Spielchen gut sind, Fidelma.«

»Man nennt das Diplomatie, Eadulf.« Seine Gefährtin lachte. »Das Problem ist, daß mir nicht klar ist, wer dabei was spielt. Wollen wir mal schauen, ob diese Häusergruppe uns das verrät, was ich wissen möchte.«

Sie ritten über die Brücke auf einen winzigen Platz, der von einem halben Dutzend Heimstätten umgeben war. Die größte davon war ein stattliches Bauernhaus, die anderen nur Hütten, die entweder Bauern mit wenig Land oder Landarbeitern auf dem größeren Hof gehörten.

Eine große rotgesichtige Frau lehnte an der Tür des Bauernhauses und beobachtete ihr Näherkommen mit unverhohlener Neugier. Fidelma war sie schon aufgefallen, als sie noch an der Brücke mit Laisre sprachen. Sie sah wie eine typische Bauersfrau aus, untersetzt, mit muskulösen Armer und zu jeder Feldarbeit fähig. Sie musterte sie gründlich und mit etwas feindseliger Miene.

»Ich wünsche dir Gesundheit, gute Frau«, grüßte Fidelma.

»Mein Mann ist beim Rat«, gab die Frau in unfreundlichem Ton zurück. »Er heißt Ronan, und ihm gehört dieser Hof.«

»Ich komme selbst aus der Ratssitzung.«

»Ich weiß, wer du bist.«

»Das ist gut.« Fidelma schwang sich vom Pferd. »Dann muß ich es dir nicht erklären.«

Die Miene der Frau blieb abweisend.

»Ich hab dir schon gesagt, daß mein Mann nicht da ist.«

»Ich wollte auch nicht zu deinem Mann. Du sagst, du weißt, wer ich bin. Gut. Wie ist dein Name?«

Die Frau schaute sie mißtrauisch an.

»Bairsech. Weshalb willst du das wissen? Was willst du?«

»Mit dir reden, weiter nichts, Bairsech. Wohnen viele Leute hier in dieser Siedlung?«

»Vierzig«, antwortete die Frau gleichgültig.

»Hattet ihr gestern abend einen Besucher?«

»Einen Besucher? Wir hatten mehrere. Mein Mann war beim Fest, wie es sein gutes Recht ist, und drei Vettern übernachteten bei uns, die vom Tal zum Fest heraufgekommen waren. Der Rückweg ist lang in der Nacht, besonders, wenn man was getrunken hat.«

Fidelma lächelte und versuchte die immer noch feindselige Frau zu beruhigen.

»Du bist klug, Bairsech. Aber gab es noch andere Besucher außer euren Vettern, die hier übernachtet haben? Ich meine« - nun wurde sie direkt - »einen untersetzten Mann, der zur Zeit als Gast im rath weilt.«

Die Frau kniff die Augen zusammen.

»Untersetzt? Ein Mann mit so einem lächerlichen Haarschnitt, wie ihn dein Gefährte trägt?«

Eadulf errötete vor Ärger über diese Beschreibung seiner Tonsur, schwieg aber.

»Genau der.«

»Ein Mann in vornehmer Kleidung? Ach ja, der war hier. Ich sah ihn heute morgen weggehen, als ich aufstand, um die Kühe zu melken, und meinen Mann im Bett weiterschnarchen ließ. Ja, der war hier.«

»Dann kennt er wohl deinen Mann - kennt Ronan?«

»Ich sagte, er war hier in der Siedlung. Er hat nicht bei uns übernachtet.«

Sie wies mit einer Kopfbewegung auf ein kleines Gebäude abseits von den anderen mit einem eigenen Stall und einer angrenzenden Wiese, auf der ein halbes Dutzend Kühe friedlich grasten.

»Dort hat er sich aufgehalten.«

Fidelma betrachtete das kleine Gebäude mit Interesse.

»Und wer wohnt da?«

»Eine fleischliche Frau«, antwortete die andere mißbilligend. Das war eine beschönigende Bezeichnung für eine Prostituierte.

Fidelmas Augen weiteten sich vor Erstaunen. Sie hatte nicht erwartet, daß es eine Prostituierte in diesem abgelegenen Tal gab, geschweige denn in so einem kleinen Weiler.

»Hat sie auch einen Namen, diese fleischliche Frau?«

»Sie heißt Nemon.«

»Nemon? Der Name paßt nicht zu einer ihres Berufs, scheint mir.«

Nemon war der Name einer der alten Kriegsgöttinnen. Er bedeutete »Schlachtenfurie«.

»Ich spucke auf den Namen«, sagte die stämmige Frau und tat es, »ich habe meinem Mann gesagt, sie müßte von hier fortgejagt werden. Aber der Bauernhof gehört ihr, und sie steht unter Murgals Schutz.«

»Tatsächlich? Und du sagst, der Mann, den ich beschrieben habe, hat die vorige Nacht bei ihr verbracht?«

»Ja.«

»Dann werden wir mal hingehen und hören, was Nemon dazu zu sagen hat. Vielen Dank, Bairsech, für deine Zeit und deine Höflichkeit.«

Sie verließen die Frau, die ihnen finster und mißtrauisch nachschaute.

Eadulf war inzwischen auch abgestiegen, und sie führten ihre Pferde durch die Siedlung.

»Wer hätte gedacht, daß unser frommer Bruder aus dem Norden ein eifriger Besucher fleischlicher Frauen ist«, kicherte er.

»Das wissen wir noch nicht mit Sicherheit«, tadelte ihn Fidelma. »Wir wissen nur, daß er nicht ins Gästehaus zurückkehrte und anscheinend die Nacht über im Haus einer Prostituierten blieb. Das bedeutet nicht, daß er ein eifriger Besucher solcher Orte ist. Die Tatsache, daß Nemon unter dem Schutz Murgals steht, ist in diesem Zusammenhang noch interessanter.«

Sie gingen zur Tür der Hütte und klopften an.

Einen Moment später öffnete sich die Tür, und eine Frau erschien und betrachtete sie mit der gleichen Feindseligkeit wie die Bauersfrau. Es war eine füllige Frau in den Dreißigern mit strohblondem Haar und rötlichem Gesicht. Sie war dick geschminkt, die Brauen waren mit Beerensaft gefärbt und die Lippen rot angemalt. Sie war einmal hübsch gewesen, doch das mußte schon einige Zeit her sein. Jetzt besaß sie eine Lüsternheit, die eher obszön als anziehend wirkte. Sie musterte Fidelma und Eadulf einen Augenblick mit ihren dunklen Augen und blickte dann über sie hinweg dorthin, wo Bairsech, die Frau Ronans, jede ihrer Bewegungen mit unverhohlener Neugier beobachtete.

»Deren Nase wird auch jeden Tag länger«, murmelte die Frau. »Der Name Bairsech paßt gut zu ihr.« Fidelmafiel ein, daß er zänkische Frau bedeutete. Dann trat Nemon beiseite und winkte sie hinein. »Kommt rein und macht ihr nicht das Vergnügen, uns noch weiter begaffen zu können.«

Sie banden ihre Pferde an einen kleinen Pfahl vor den Haus und gingen hinein.

Der Raum war behaglich, aber nicht einladend.

»Bist du Nemon?«

Die Frau nickte.

»Ihr seid fremd in diesem Tal.« Das war eine Feststellung, keine Frage.

»Du weißt nicht, weshalb wir hier sind?«

»Ich weiß nichts und kümmere mich auch um nichts. Mich interessiert nur mein Verdienst, und meine Zeit zählt nach dem, was sie mir einbringt.«

Fidelma wandte sich an Eadulf.

»Gib Nemon einen screpall«, wies sie ihn an.

Widerwillig nahm Eadulf die Münze aus seinem Beutel und reichte sie der Frau. Sie riß sie ihm fast aus der Hand und prüfte sie mißtrauisch.

»Geld ist rar in diesem Tal. Meist treiben wir Tauschhandel. Deswegen ist Geld dreifach willkommen.«

Sie vergewisserte sich, daß die Münze echt war, ehe sie die beiden fragend ansah.

»Was wollt ihr? Nicht meine Dienste«, fügte sie mit einem lüsternen Lachen hinzu, »da bin ich sicher.«

Fidelma schüttelte den Kopf und verbarg ihren Ekel über die Anspielung.

»Wir brauchen ein paar Augenblicke deiner Zeit, das ist alles. Und Antworten auf ein paar Fragen.«

»Na schön. Stellt eure Fragen.«

»Ich habe gehört, du hattest vorige Nacht einen Gast hier.«

»Ja.«

»Einen Mann aus dem rath? Untersetzt, trägt vornehme Kleidung und eine Tonsur, die so geschnitten ist wie bei meinem Freund hier?«

»Was ist mit ihm?« Nemon machte keinen Versuch, die Tatsache zu leugnen.

»Wann ist er gekommen?«

»Spät. Nach Mitternacht, glaube ich. Ich mußte auf zwei Kunden verzichten, um ihm gefällig zu sein.«

»Warum?«

»Er hat mich bezahlt.«

»Aber ein Fremder ... Wäre es für dich nicht nützlicher gewesen, deine hiesigen Kunden zu bedienen als einen Fremden, der dich vielleicht nur einmal aufsucht?«

Nemon rümpfte die Nase.

»Stimmt schon. Aber Murgal begleitete ihn und sagte mir, ich hätte dadurch keinen Verlust.«

»Murgal?«

»Ja. Er brachte den Mann zu mir. Solin hieß der Mann. Jetzt fällt’s mir wieder ein.«

»Also Murgal, der Druide Laisres, brachte den Mann aus dem rath zu dir und bat dich . ihm deine Gunst zu erweisen?«

»Ja.«

»Hat dir Murgal einen Grund genannt, weshalb du das tun solltest?«

»Meinst du, die Leute geben mir Gründe an, weshalb sie etwas tun? Ich stelle keine Fragen, solange ich Geld für meine Dienste bekomme.«

»Kennst du Murgal schon lange?«

»Er ist mein Pflegevater. Er sorgt für mich.«

»Dein Pflegevater? Er sorgt für dich?« Fidelmas Ton wurde spöttisch. »Hast du je ein anderes Leben kennengelernt als das, was du jetzt führst?«

Nemon lachte verächtlich.

»Dir gefällt das nicht? Meinst du, ich sollte lieber so sein wie Ronans Frau da drüben? Schau sie dir an, sie ist jünger als ich, aber sieht aus, als könnte sie meine Mutter sein. Vor der Zeit alt geworden, weil sie dazu verdammt ist, beim ersten Tageslicht aufs Feld zu gehen und die Kühe zu melken, während ihr Mann seinen Rausch ausschläft. Sie muß pflügen und graben und säen und ernten, während er umherreitet und so tut, als wäre er ein großer Krieger. Er ist kein Lord, wie er behauptet, sondern bloß der Unterfürst dieser jämmerlichen Ansammlung von Hütten. Nein, ich will kein anderes Leben als das, was ich habe. Wenigstens schlafe ich in feinem Leinenzeug und so lange, wie ich will.«

Der Hohn in der Miene der Frau war deutlich.

»Doch wie ich sehe, bewirtschaftest du auch einen kleinen Hof«, warf Eadulf ein. »Da draußen stehen Kühe, die gemolken werden wollen. Wer macht diese Arbeit, wenn du es nicht tust?«

Nemon verzog das Gesicht zu einer bösen Grimasse.

»Ich halte sie nur, weil sie auch Geld wert sind. Ich würde sie jederzeit verkaufen, wenn der Preis stimmt. Sie machen zu viel Arbeit. Aber wie ich sagte, in dem Tal wird meistens Tauschhandel getrieben, also muß ich Kühe, Ziegen, Hühner, Eier und dergleichen anstelle von Geld annehmen.«

»Vielen Dank, daß du mit uns gesprochen hast«, sagte Fidelma und stand abrupt auf.

»Nichts zu danken. Ihr habt mich für meine Zeit bezahlt. Kommt wieder, wenn ihr mehr Unterhaltung braucht.«

Vor Nemons Hütte wechselte Eadulf einen schrägen Blick mit Fidelma.

»Meinst du, daß Murgal damit Bruder Solin günstig stimmen wollte?«

»Du meinst, daß er ihn bestochen hat? Er hat Nemon benutzt, um Solin dafür zu gewinnen, daß er heute vormittag bei der Farce in der Ratssitzung mitspielte?«

Eadulf nickte.

»Vielleicht«, stimmte ihm Fidelma zu. »Möglicherweise kann Bruder Solin der Erquickung nicht widerstehen, die eine Frau wie Nemon zu bieten hat. Vielleicht hat er Murgal gefragt, wo eine solche Frau zu finden sei. Murgal scheint selbst Neigungen dieser Art zu haben.«

»Du spielst auf den Zwischenfall mit der Apothekerin Marga an?«

Fidelma antwortete nicht, sondern schwang sich aufs Pferd.

Bairsech, Ronans Frau, stand noch immer vor ihrer Tür, die kräftigen Arme verschränkt, und beobachtete sie mit heftiger Abneigung, als sie gemeinsam langsam von dem Weiler weg über die Brücke in Richtung rath ritten.

»Ich frage mich, ob Ultan von Armagh weiß, daß sein Sekretär zu den Leuten gehört, die fleischliche Frauen besuchen?« überlegte Eadulf laut.

Fidelma blieb ernst.

»Das bezweifle ich. Ultan vertritt die neuen Ansichten aus Rom über das Zölibat von Klerikern.«

»Die werden sich nie durchsetzen«, behauptete Ea-dulf. »Es wird zwar immer ein paar Asketen geben, aber wenn alle christlichen Geistlichen ein solches Gelübde ablegen sollen, dann verlangt man Übermenschliches von ihnen.«

Fidelma sah ihn von der Seite an.

»Ich dachte, du billigst das Zölibat?«

Eadulf errötete, gab aber keine Antwort. »Na, wenigstens haben wir das Geheimnis gelüftet, wo sich Bruder Solin letzte Nacht aufgehalten hat«, sagte er eilig.

»Ja, aber nicht, warum. Wir werden sowohl auf Murgal als auch auf Bruder Solin ein Auge haben müssen«, erwiderte Fidelma.

Eadulf seufzte.

»Alles, was ich im Augenblick will, ist, mich ausstrecken und schlafen, bis das Hämmern in meinem Kopf aufhört.«

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