Kapitel 17

»Orla!« seufzte Fidelma befriedigt. »Ich war sicher, daß sie es war, die ich aus dem Pferdestall kommen sah.«

»Ich möchte aber ganz korrekt sein«, fügte Ibor rasch hinzu. »Ich könnte nicht beschwören, daß es Orla war, die sich mit Solin und den Männern von Ai-lech traf. Wir beobachteten die Szene aus der Ferne, vergiß das nicht. Zu der Zeit kannte ich Orla noch nicht. Doch ich bin niemand anderem in Gleann Geis begegnet, der solche Kleidung trug und solche Befehlsgewalt ausübte wie die Frau, die ich gesehen habe. Einen interessanten Vorfall kann ich noch berichten. Während des Treffens gab es eine Störung. Anscheinend war es einem der Gefangenen gelungen zu fliehen. Die Männer mit den Hunden machten sich an die Verfolgung, und die Frau sprach mit ihrem Anführer. Sie verlangte anscheinend, selbst die Jagd zu übernehmen, denn gleich darauf ritt sie mit drei Jägern und ihren Hunden fort.«

»Habt ihr versucht, den entflohenen Gefangenen zu retten?« fragte Eadulf.

Ibor zuckte resigniert die Achseln.

»Das war unmöglich, ohne unsere Anwesenheit zu verraten. Innerhalb einer Stunde wurde er wieder eingeholt und zurückgebracht. Erst da merkten wir, daß es sich um einen Priester handelte, denn er trug eine Tonsur. Das mögliche Geschick der Gefesselten kam mir damals nicht in den Sinn, sonst hätten wir versucht, sie alle zu befreien. Mir ging es mehr darum, Solin zu verfolgen, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich sie ihrem Schicksal überließ, ohne zu ahnen, welch ein Verbrechen später an ihnen begangen werden würde.«

»Tatsächlich hätte niemand vermuten können, was für ein schreckliches Morden stattfinden würde«, versicherte ihm Fidelma. »Dich trifft keine Schuld. Was habt ihr dann weiter getan?«

»Es hat nicht lange gedauert, bis sie den armen Gefangenen aufgespürt hatten. Nachdem die Frau wieder im Lager war, redete sie noch eine Weile mit den Kriegern dort und ritt dann mit Bruder Solin und Bruder Dianach und zwei Kriegern aus Ailech los in Richtung Gleann Geis. Bruder Solin und Bruder Dia-nach bogen direkt in die Schlucht ein, die Frau aber nicht. Mit den zwei Kriegern aus Ailech durchquerte sie das Tal bis zu der Stelle, an der später die Leichen niedergelegt wurden. Es könnte sein, daß die Frau den Kriegern den Ort gezeigt hat. Die Krieger kehrten zu ihrer Truppe zurück, und die Frau verschwand in den Bergen.«

»Das ist schade«, sagte Fidelma seufzend.

»Wieso?«

»Das ist schade«, wiederholte sie, »daß die Frau nicht zusammen mit Solin und Dianach nach Gleann Geis geritten ist.«

»Warum das?«

»Weil wir dann leicht hätten die Bestätigung dafür erhalten können, daß es Orla war, wenn wir uns bei den Wachposten erkundigt hätten, wer Solin und Dianach in das Tal geleitet hat.«

»Ich fragte mich, weshalb Bruder Solin nach Gleann Geis weitergereist war«, fuhr Ibor fort, »denn ich hatte noch nicht alle Verwicklungen des Komplotts durchschaut. Während dieser Zeit fanden meine Männer und ich dieses Versteck und beschlossen, es zu unserem Stützpunkt zu machen, bis wir mehr wußten. Dann traten zwei Ereignisse ein.«

»Welche?«

»Erstens meldeten meine Späher, während wir uns noch in den Bergen verborgen hielten, daß die Krieger aus Ailech die Gefangenen niedergemetzelt hatten. Das geschah in den Untiefen eines Flusses hinten in den Bergen, wahrscheinlich, um die Tat zu verschleiern, denn das Blut wurde vom Wasser weggeschwemmt. Als meine Späher mich herangeholt hatten, waren die Leichen bereits entkleidet, auf die Wagen geladen und durch das Tal gefahren worden - wie gesagt, zu der Stelle, wohin die Frau die beiden Krieger vorher geführt hatte. Wir wollten ihnen folgen, doch dann sahen wir die Wagen leer zurückkommen zusammen mit den Kriegern von Ailech. Die Leichen waren fort. Der eine Wagen war mit den blutigen Kleidungsstücken der Opfer beladen. Beide Wagen fuhren mit ihrer Eskorte nach Norden.«

Angeekelt von der Erinnerung, strich er sich mit der Hand über den Mund.

»Sprich weiter«, drängte ihn Eadulf, gefesselt von der schrecklichen Schilderung.

»Dann berichteten meine Späher, daß ihr auf der Ebene angekommen wart und dort hieltet, wo die Leichen abgeladen worden waren. Nach einer Weile konnten wir von unserem Beobachtungspunkt in den Bergen aus sehen, daß du und Bruder Eadulf die Ebene durchquertet und von einer Kriegerschar mit einer Frau an der Spitze begrüßt wurdet. Dem Anschein nach war es dieselbe Frau, die sich vorher mit Mael Düins Kriegern getroffen hatte.«

Nun fragte Fidelma: »Was geschah dann?«

»Ich überlegte noch, wie ich weiter vorgehen sollte, als meine Männer meldeten, daß einer der Krieger, von dem ich jetzt weiß, daß es Artgal war, zu der Stelle ritt, an der die Leichen lagen, und diese untersuchte. Ihr beide und die Frau wart in der Schlucht verschwunden. Zu dem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, wer ihr wart oder wonach Artgal suchte. Ich wußte nicht einmal genau, was vorgegangen war. Erst als Artgal und seine Männer fort waren, wagten wir uns zu dem Ort hin.«

Er erschauerte unwillkürlich.

»Ich habe im Krieg viele üble Taten erlebt, die die Menschen im Fieber des Kampfes verübten, aber ich kann mich an keine erinnern, die diesem Greuel nahe-kam. Ich ging mit meinen Spähern hin und sah, daß die Leichen verstümmelt worden waren - es war der Dreifache Tod, mit dem die Geschichtenerzähler uns als Kinder erschreckten. Erst als ich erkannte, wie die Leichen angeordnet waren, ging mir auf, welche Bedeutung das hatte.«

»Warum hast du mir nicht gesagt, was du wußtest, als du nach Gleann Geis kamst, anstatt so zu tun, als wärest du ein Pferdehändler?« erkundigte sich Fidel-ma. »Es war eine schlechte Verkleidung, die leicht zu durchschauen war.«

Ibor lächelte schief.

»Es war die einzige Verkleidung, die mir einfiel, um in das Tal zu gelangen. Aber warum ich dir nichts sagte - ich wußte nicht, wer du warst. Als Laisre uns einander vorstellte, kannte ich nur deinen Ruf. Doch ich hörte, dein Begleiter sei ein römischer Mönch.« Er schaute Eadulf an. »Er hätte einer von Mael Düins Leuten sein können oder ein Anhänger Ultans. Ich konnte dir nicht trauen. Ich konnte nicht wissen, ob du zu den Komplizen des Komplotts gehörtest oder nicht. Ich hatte jedoch den Verdacht, daß Orla dazugehörte, denn sie war es, die sich mit Bruder Solin und den Schlächtern aus Ailech getroffen hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, daß Mael Düin ein solches Komplott nicht allein oder nur mit Solins Unterstützung schmieden oder durchführen konnte. Wenn es zum Erfolg führen sollte, brauchte er wenigstens einen Verbündeten in Gleann Geis.«

Eadulf nickte langsam.

»Was geschah, als Colla später an den Ort das Massakers kam? Habt ihr beobachtet, was er tat?« fragte er.

»Wir versteckten uns vor Colla und seinen Leuten. Ich hatte zwei Männer ausgesandt, die die Spuren der Krieger aus Ailech verfolgen sollten. Sie taten das bis zur Grenze der Ui Fidgente und kehrten dann zurück mit der Nachricht, daß diese Abkömmlinge des Bösen eindeutig auf dem Rückweg zu ihrem Herrn und Meister in Ailech waren. Wir sahen zu, wie Colla das Tal eine Weile absuchte. Er ritt bis zu den Vorbergen, in denen wir uns verborgen hielten. Danach kehrte er um nach Gleann Geis.«

Fidelma lehnte sich zurück.

»Darauf hast du beschlossen, als Pferdehändler verkleidet nach Gleann Geis zu kommen, um zu sehen, was dort vor sich ging?«

Ibor bejahte es mit einer Geste.

»Dann fügte sich alles zu einem Bild zusammen, so schien es mir jedenfalls. Ein großes Schauspiel war aufgeführt worden, um einen schrecklichen Krieg in Gang zu bringen. Nur weil du dich nicht in Panik versetzen ließest und nicht bei erster Gelegenheit >Haltet den Dieb!< gerufen hast, kam es nicht zum sofortigen Ausbruch von Feindseligkeiten. Mein Problem bestand darin, daß Bruder Solin mich als Krieger aus Ulaidh im Dienste Sechnassachs erkannte.«

»Ich habe euer Gespräch im Pferdestall mit angehört. Warum hat er dich nicht verraten?«

»Das hätte er wohl getan, wenn ich nicht seinen Bluff aufgedeckt und gedroht hätte, ich würde ihn auch bloßstellen. Anscheinend gibt es viele in Gleann Geis, die nicht in dieses Komplott eingeweiht sind. Ich versuchte, herauszufinden, wer auf welcher Seite steht, als Solin ermordet wurde und du angeklagt wurdest.«

»Und da bist du geflohen!« spottete Eadulf. »Dadurch hast du den Verdacht auf dich selbst gelenkt.«

»Was hätte ich unter den gegebenen Umständen denn sonst tun sollen?« wollte Ibor wissen. »Jemand mußte doch in Freiheit bleiben und Sechnassach unterrichten.«

»Mit Bruder Solins Tod hattest du nichts zu tun?«

»Das ist doch offensichtlich.«

Nachdenklich erwog Fidelma, was Ibor berichtet hatte.

»Es sind noch viele Fragen offen«, grübelte sie laut.

»Zum Beispiel, woher Mael Düin in Ailech im fernen Norden wußte, daß Laisre Geistliche aus Cashel zu Verhandlungen über den Glauben einladen würde? Wie hat er erfahren, daß diese Abgesandten an einem bestimmten Tag eintreffen würden, so daß seine Männer angewiesen werden konnten, wo und wann sie die Leichen hinzulegen hatten?« warf Eadulf ein.

»Mael Düin muß genau darüber informiert worden sein, was vor sich ging«, stimmte Ibor ihm zu. »Orla zeigte seinen Leuten die Stelle, an der ihr die Leichen finden solltet. Handelte sie allein? Das ist eher unwahrscheinlich. Aber wer ist noch mit ihr verbündet?«

Fidelma nickte.

»Bestimmt gehört sie zu den Verschwörern. Aber -und das ist die Frage, auf die wir unbedingt eine Antwort finden müssen -, wenn Orla auf diese Weise mit Bruder Solin im Bunde war, weshalb hat sie ihn dann umgebracht?«

Ibor fuhr überrascht auf.

»Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Bist du sicher, daß du sie hast aus dem Stall kommen sehen? Wenn ja, bedeutet das, daß Colla auch ihr Komplize ist?«

Fidelma schwieg einen Moment.

»Ja. Aber ein Rätsel bleibt: Wenn man mit diesem schrecklichen Komplott einen Bürgerkrieg herbeiführen wollte, warum wendet sich ein Verbündeter gegen einen anderen? Warum wurde Bruder Solin umgebracht und danach Dianach? Das ergibt keinen Sinn.«

Ibor breitete hilflos die Arme aus.

»Ich habe gehofft, du könntest diesen Knoten auflösen.«

»Auch ich kann keine Wunder vollbringen, Ibor«, erwiderte Fidelma düster. »Ich habe noch keinen Fall erlebt, bei dem alle Wege derart ins Nichts führen, bei dem es so viele Verdachtsmomente gibt, aber keine greifbaren Tatsachen. Ich fürchte, die Antworten liegen im rath von Gleann Geis.«

Eadulf erschauerte leicht.

»Besser, wir reiten gleich nach Cashel und berichten deinem Bruder, was wir schon wissen.«

Ibor stimmte ihm zu.

Fidelma schüttelte energisch den Kopf.

»Ich nehme an, wir können uns nun wieder frei bewegen?« fragte sie Ibor mit leichter Ironie.

Der Lord von Muirthemne zeigte sich reuig.

»Natürlich. Meine Männer haben euch nur festgehalten, weil ich ihnen gesagt hatte, jeder, der aus Gleann Geis käme, sei verdächtig. Ich wollte ohnehin versuchen, mit euch Verbindung aufzunehmen und euch meine Unterstützung anzubieten.«

»Wenn das so ist, wird Bruder Eadulf bei euch bleiben, ich aber werde in Laisres rath zurückkehren«, verkündete Fidelma. »Nur dort laufen die letzten Fäden des Geheimnisses zusammen. Wenn du jedoch einen deiner zuverlässigsten Männer entbehren könntest und er zu meinem Bruder nach Cashel reiten könnte ...? Wir müssen ihn von Mael Düin von Ai-lechs Plänen und Ultans Anteil daran in Kenntnis setzen.«

»Dein Bruder wird sicher mißtrauisch sein, wenn ein Krieger aus Ulaidh mit solch einer abenteuerlichen Geschichte ankommt«, wandte Ibor ein.

»Hab keine Angst. Kann einer deiner Männer mir ein paar Haselruten abschneiden?«

Ibor stutzte verwundert, gab aber den Befehl an einen seiner Krieger weiter. Der eilte davon.

»Was hast du vor?« fragte er. »In Gleann Geis könnte es für dich sehr gefährlich werden. Wenn Orla und Colla vermuten, daß du etwas von ihrem Komplott weißt, von dem, was dort wirklich vor sich geht, dann werden sie nicht zögern, dich umzubringen. Wer bewußt den Mord an dreiunddreißig jungen Gefange-nen auf sich nimmt, nur um Uneinigkeit und Streit zu stiften, überlegt nicht lange, ehe er weitere Mordtaten begeht, um seine Verbrechen zu decken.«

»Das weiß ich«, gestand Fidelma. »Wie viele Männer, sagst du, hast du bei dir?«

»Zwanzig Krieger der Craobh Righ, aus dem königlichen Zweig von Ulaidh«, antwortete Ibor stolz. Die Craobh Righ waren die auserlesene Leibwache der Könige von Ulaidh. Dann fügte er zögernd hinzu: »Warum fragst du?«

»Ich glaube, ich sehe ein Muster, das sich in diesem verschwommenen Bild abzeichnet«, meinte sie nachdenklich. »Laß mich noch einen Moment überlegen.«

Kurz darauf kehrte der Krieger mit einer Handvoll biegsamer Haselruten zurück. Fidelma nahm sie und bat Ibor um ein scharfes Messer. Sie schauten erstaunt zu, wie Fidelma geschickt eine Reihe von Kerben in die Ruten einschnitt. Dann band sie sie mit einem Lederriemen zusammen, den sie ihrem marsupium entnahm, und reichte sie Ibor.

»Dein Mann braucht weiter nichts zu tun, als dies meinem Bruder in Cashel zu überbringen. Er soll sie ihm in die Hand geben und niemand anderem. Ist das klar?«

Ibor wandte sich an den Krieger, der ihm die Ruten gebracht hatte.

»Hast du verstanden, was du zu tun hast, Mer?«

Der Krieger nickte und nahm das Bündel Ruten.

»Es wird geschehen, wie du es gesagt hast, Schwester«, versicherte er.

Fidelma schaute zu ihm auf.

»Ich habe eine Botschaft für meinen Bruder in Ogham eingeritzt, in der alten Schrift unserer Sprache. Er versteht sie.«

»Es ist lebenswichtig, daß die Botschaft durchkommt«, fügte Ibor ruhig hinzu. »Die Sicherheit der fünf Königreiche steht auf dem Spiel.«

Der Krieger namens Mer hob die Hand zum förmlichen Gruß und eilte davon.

»Es wird ein paar Tage dauern, bis mein Bruder die Nachricht erhält«, überlegte Fidelma.

»Hast du ihn gebeten, mit einem Heer anzurük-ken?« fragte Eadulf.

»Und genau das zu tun, wozu ihn Mael Düin und seine Verbündeten veranlassen wollen?« spottete Fidelma. »Nein. Ich habe ihm lediglich die Situation beschrieben und ihn vor Ailech und vor Ultan von Armagh gewarnt.«

»Was hast du dann vor?« fragte Eadulf verwirrt.

»Wie ich schon sagte, ich werde nach Gleann Geis zurückkehren und weitere Nachforschungen anstellen. Aber ich glaube, ich werde nicht mehr lange zu suchen brauchen. Ibor hat recht. Wir können vielleicht Freunde in Gleann Geis finden, die ebenso entsetzt sind wie wir, wenn sie von diesem Komplott zur Vernichtung von Muman erfahren. Wenn ich genau weiß, wer dafür verantwortlich ist, kann ich ihnen die Tatsachen vorlegen und sie um ihre Hilfe bitten.«

»Aber ist es klug, dorthin zurückzugehen?« wandte Ibor ein. »Du wirst ständig in Gefahr sein.«

Fidelma lächelte kurz.

»Klugheit bedeutet, zur rechten Zeit klug zu sein. Ich muß verschiedenen Leuten ein paar Antworten entlocken. Ich glaube, ich brauche nur noch einen Tag, dann weiß ich Bescheid.«

Eadulf sah sie erstaunt an, doch Fidelma sprach mit ruhiger Zuversicht.

»Es wird später Nachmittag, bis ich wieder in Gleann Geis bin. Also sollte ich morgen früh bereit sein zu handeln. Ich möchte, daß du, Ibor, und deine Männer morgen beim Morgengrauen Laisres Burg unter Kontrolle haben. Zu der Zeit müßt ihr alle beherrschenden Punkte besetzt haben.«

Ibor war so verblüfft von ihrer Forderung, daß es ihm die Sprache verschlug. Eadulf war offenbar noch verwirrter.

»Das ist nicht besonders schwierig«, versicherte ihm Fidelma. »Ich habe nie mehr als ein halbes Dutzend von Laisres Kriegern gleichzeitig auf Wache gesehen, und die Tore bleiben die ganze Nacht weit offen.«

Ibor hatte seine Zweifel.

»So leicht ist das nun auch wieder nicht. Selbst in der Dunkelheit kann man Laisres rath kaum erreichen, ohne gesehen zu werden. Der Grund, weshalb die Tore nie geschlossen werden, liegt nahe. Nur der Weg durch die enge Schlucht führt ins Tal, und der ist immer bewacht, deshalb braucht man die Tore der Burg nicht zu schließen. Schon an der Schlucht wird Alarm geschlagen, wenn bewaffnete Fremde einreiten.«

Eadulf war derselben Meinung.

»Sogar als wir heute vor dem Morgengrauen hinausritten, wurden wir angerufen, Fidelma«, erinnerte er sie. »Ibor hat recht. Seine Männer können gar nicht erst ins Tal gelangen.«

»Aber es gibt einen anderen Weg.« Fidelma überging ihre Einwände. »Da ist noch der Fluß.«

Ibor lachte wegwerfend.

»Ein Fluß mit Stromschnellen und Wasserfällen, den man nicht einmal mit einem Boot befahren kann? Nur ein Lachs könnte so das Tal erreichen. Von diesem sogenannten Weg habe ich von Murgal gehört, der mit der Unangreifbarkeit des Tals prahlte.«

»Laut Cruinn gibt es einen schmalen steinigen Pfad neben dem Fluß, der jeweils einem Mann Platz bietet und manchmal durch Höhlen verläuft, aber schließlich ins Tal führt.«

»Kann man ihr trauen?« Der Lord von Muirthemne war nicht überzeugt.

»Es entfuhr ihr in einem unbedachten Moment, und es tat ihr auch gleich leid. Ich meine, wir können uns darauf verlassen. Das bedeutet, man kommt zu Fuß ins Tal. Werdet ihr den Pfad finden und im Schutz der Dunkelheit die Burg ungesehen erreichen können? Am Ende steht ihr nur ein paar Freizeitkriegern gegenüber, während du eine Schar der Craobh Righ führst.«

Ibor errötete bei der Andeutung, die Krieger des königlichen Zweiges von Ulaidh fürchteten sich vor einer Handvoll Amateurkriegern.

Diesmal zögerte er nicht.

»Wenn es einen Weg gibt, Schwester, werden meine Männer und ich ihn finden. Können wir ungesehen ins Tal gelangen, werden wir Laisres rath vor dem Morgengrauen beherrschen, wie du es verlangst.«

»Gut. Wenn ihr ihn kontrolliert, dann, so meine ich, kann ich den Schleier von dem Komplott und von den Morden lüften, ohne etwas für mich befürchten zu müssen.«

»Aber zuvor müssen wir noch zwölf Stunden überleben«, erklärte Eadulf.

»Wir?« fragte Fidelma lächelnd. »Ich habe doch vorgeschlagen, daß du bei Ibor bleibst.«

»Du denkst doch nicht etwa, daß ich dich allein zurückkehren lasse?« fragte Eadulf gereizt.

»Das erwarte ich nicht von dir, Eadulf. Es geht nicht um dein Land.«

»Der Kampf zwischen Cashel und den Ui Fidgente ging mich auch nichts an, aber ich habe mich eingemischt und ihn zu meiner Sache gemacht«, sagte er bestimmt. »Was Cashel bedroht, ist immer auch meine Sache.«

Den letzten Satz sprach er mit einer gewissen Betonung.

Fidelma tat so, als habe sie nicht verstanden, diskutierte aber nicht weiter mit ihm.

»Dann sehen wir dich also morgen früh, Ibor. Wir verlassen uns auf dich.«

Ibor geleitete sie zu der kleinen Schlucht, wo sein rothaariger Unterführer sie, jetzt in sehr respektvoller Haltung, mit ihren Pferden erwartete. Sie verabschiedeten sich kurz, und dann führte sie der rothaarige Krieger aus den Vorbergen heraus bis an den Rand des Tals. Fidelma erlaubte ihm nicht, sie noch weiter zu begleiten, für den Fall, daß sie auf ihrem Rückweg jemandem aus Gleann Geis begegneten. Fidelma und Eadulf ritten weiter nach Süden und hielten sich längs der Vorberge, so daß sie das Tal nicht durchquerten.

»Meinst du wirklich, du kannst beweisen, daß Orla an Solins Tod die Schuld trägt?« brach Eadulf nach einer Weile das Schweigen.

»Ich muß noch eine Frage klären, dann kann ich mit Sicherheit eine Hypothese aufstellen«, erwiderte sie ruhig.

Eadulfs Mundwinkel zogen sich zweifelnd herab.

»Eine Hypothese ist vor einem Richter kein Argument«, antwortete er.

»Stimmt, aber mehr werde ich nicht zu bieten haben«, gab sie zu. »Ich denke, das wird genügen, um die zu mobilisieren, die uns gegen Mael Düin von Ai-lech unterstützen werden.«

»Worin besteht deine Hypothese?«

»Das kann ich noch nicht sagen, bevor ich nicht das letzte Kettenglied gefunden habe, und das beunruhigt mich im Augenblick. Wenn es nicht in die Lücke paßt, bricht meine ganze Beweisführung zusammen.«

Sie waren gerade um einen kleinen Hügel herumgeritten, als plötzlich eine Reiterschar von zwei Seiten auf sie losstürmte. Die Männer schrien und schwenkten drohend ihre Schwerter.

Fidelma riß ihr Pferd herum, aber sie waren umzingelt und waffenlos. Eadulfs Pferd bäumte sich auf und schlug mit den Vorderhufen um sich. Er hatte Mühe, sich im Sattel zu halten, doch es gelang ihm, und er bekam das Pferd unter Kontrolle.

Eadulf vergaß seinen geistlichen Stand und fluchte leise vor sich hin. Zum zweitenmal an diesem Tag wurden sie gefangengenommen.

Die Krieger hatten ihre Schwerter kampfbereit auf den Sattelbug gelegt. Fidelma erschauerte. Das waren nicht Ibors Männer.

»Wartet!« rief eine vertraute Frauenstimme.

Der Ring der Männer öffnete sich und ließ eine Reiterin hindurch. Die schlanke Person war offensichtlich ihre Anführerin. Sie nahm den Kriegshelm ab und schaute sie finster an.

»Wir dachten, du hättest auf unsere Gastfreundschaft verzichtet, Fidelma von Cashel.«

Es war Orla. Ihre Miene verriet Befriedigung.

»Wie du siehst«, erwiderte Fidelma ruhig und ignorierte die drohende Haltung der Krieger, »wie du siehst, sind wir auf dem Rückweg nach Gleann Geis. Wir nehmen eure Gastfreundschaft weiter in Anspruch.«

Es war offenkundig, daß sie damit die Wahrheit sagte, denn sie befanden sich kaum eine halbe Meile vor dem Eingang in die Schlucht und waren eindeutig darauf zu geritten. Orla schien einen Moment verwirrt, als ihr das aufging. Dann verdüsterte sich ihre Miene wieder.

»Du wirst keine Ruhe vor mir haben, Fidelma, bis du deine Anschuldigung gegen mich zurückgenommen hast.« Ihre Stimme klang kühl und brüchig vor Zorn. »Warum seid ihr fortgeritten?«

»Ich dachte, Murgal hätte dir den Grund dafür erläutert«, bemerkte Fidelma ungerührt.

»Murgal? Was hat der damit zu tun?« fragte Orla.

»Murgal ist ein Brehon. Er muß wissen, was mich dazu zwang, Gleann Geis zu verlassen.«

»Nun, da Murgal nicht hier ist, würdest du es mir vielleicht erklären? Oder noch besser dein angelsächsischer Freund? Dann kann ich sicher sein, daß ich die Wahrheit erfahre.«

Fidelma schaute Eadulf besorgt an und hoffte, er würde verstehen, was sie meinte, oder wenigstens Ibor und seine Männer nicht erwähnen.

»Das ist leicht zu machen«, meinte Eadulf gelassen. »Wir sind hierher geritten, um nach den Überresten der getöteten Männer zu sehen und die Spuren zu verfolgen, die vom Ort des Massakers wegführen, um festzustellen, ob wir noch etwas entdecken könnten, was Colla entgangen ist.«

»Ich wußte, daß ihr dem Bericht meines Mannes nicht glauben würdet«, fauchte Orla.

»Es ist nicht eine Frage von Glauben oder Nichtglauben. Dein Mann ist kein ausgebildeter dalaigh bei Gericht, Lady«, erklärte ihr Eadulf. »Er wußte vielleicht nicht, wonach er suchen mußte. Es ist immer nötig, etwas mit eigenen Augen zu sehen.«

Orla versuchte ihre Wut zu beherrschen.

»Das ist nicht der Grund. Ich weiß, ihr beide wollt meinen Mann und mich vernichten. Warum, das weiß ich nicht.«

Fidelma schaute sie traurig an.

»Wenn du nichts Unrechtes getan hast, dann hast du auch nichts zu befürchten. Doch es ist so, wie Ea-dulf sagte. Es gibt keine bessere Art, den Schauplatz eines Verbrechens zu untersuchen, als ihn selbst in Augenschein zu nehmen.«

Orla glaubte ihnen immer noch nicht.

»Und warum sollte Murgal wissen, wo ihr wart? Ihr habt es ihm nicht gesagt. Er war ebenso erstaunt wie wir, daß ihr euch aus dem rath entfernt habt.«

»Er hätte es sich aber denken können.« Eadulf beugte sich vertraulich im Sattel vor. »Verstehst du, als Brehon hätte er wissen müssen, daß eine dalaigh Laisres Verbot nicht akzeptieren konnte. Eine dalaigh mußte sich selbst von der Beweislage überzeugen.«

Orla schien einen Moment verwirrt.

»Ihr habt also die Spuren verfolgt?« Sie schaute Fidelmafragend an. War Furcht in ihren Augen zu lesen? »Was habt ihr gefunden, was Colla entgangen ist?«

Fidelma meinte, sie sollte dem Gespräch eine andere Richtung geben.

»Es war genau so, wie dein Mann es berichtet hat«, erwiderte sie harmlos. »Die Spuren verschwanden irgendwann, und weiter haben wir nichts gefunden.«

Orla warf ihr einen forschenden Blick zu, dann seufzte sie.

»Dann war euer Ausritt hierher reine Zeitverschwendung?« meinte sie verächtlich.

»Ja, es war reine Zeitverschwendung«, bestätigte ihr Fidelma.

»Dann habt ihr sicher nichts dagegen, daß meine Krieger und ich euch zum rath von Gleann Geis zurückgeleiten?«

Fidelma zuckte die Achseln.

»Ob ihr uns zurückgeleitet oder nicht, das ist uns gleich, denn wir wollen sowieso dorthin.«

Orla machte den Kriegern ein Zeichen, worauf sie ihre Schwerter einsteckten und ihre Pferde umwandten, so daß Fidelma und Eadulf den Kreis verlassen konnten. Orla lenkte ihr Pferd neben das Fidelmas, und sie ritten voran, gefolgt von Eadulf und der Kolonne der Krieger.

»Wir haben dir mitgeteilt, was unsere Nachforschungen erbracht haben«, bemerkte Fidelma. »Dafür könntest du uns sagen, was Murgals Untersuchung des Mordes an Bruder Dianach ergeben hat. Ist Artgal gefunden worden?«

Einen Moment schien es, als wolle ihr Orla nicht antworten, doch dann zuckte sie gleichmütig die Achseln.

»Murgal hat den Fall bereits gelöst. Diesmal kannst du zumindest nicht behaupten, du hättest mich in der Nähe der Leiche gesehen.«

Fidelma beschloß, den Hieb zu ignorieren. Sie wollte doch erfahren, was Murgal ermittelt hatte.

»Wer war denn nun der Schuldige?« fragte sie.

»Na, Artgal natürlich.«

»Dann hat man also Artgal aufgespürt, und er hat gestanden?«

»Nein«, antwortete Orla. »Aber sein Verschwinden ist ein Eingeständnis seiner Schuld.«

Fidelma senkte nachdenklich den Kopf. Sie schwieg eine Weile, ehe sie wieder zum Sprechen ansetzte.

»Es stimmt, daß Artgals Verschwinden ihn in ein schlechtes Licht rückt. Daraus kann man jedoch nur folgern, daß es seiner Sache nicht nützt. Weiter zu gehen und zu sagen, es sei ein Eingeständnis seiner Schuld, legt das Gesetz zu weit aus.«

»Mir erscheint es logisch«, knurrte Orla. »Der christliche Mönch hat Artgal bestochen. Als das ans Licht kam, tötete Artgal den Mönch, um ihn daran zu hindern, alles zu sagen, was er wußte.«

»Die Logik geht nicht auf, denn Artgal hatte seine Schuld schon eingestanden«, meinte Fidelma.

»Außerdem«, fügte Eadulf hinzu, »kann Nemon jederzeit bezeugen, daß Bruder Dianach ihr die Kühe abgekauft hat, um sie Artgal zu schenken, und Artgal hat bereits zugegeben, daß er sie erhalten hat.«

»Du solltest deinen Begleiter besser über die Gesetze der Brehons unterrichten«, meinte Orla mitleidig.

Eadulf blickte Fidelma fragend an.

»Eine Prostituierte kann vor Gericht nichts bezeugen«, erklärte ihm Fidelma leise. »Nach dem Berrad Airechta kann eine Prostituierte keine Aussage gegen irgend jemanden machen. Folglich wäre eine Aussage Nemons vor Gericht nicht gültig.« »Aber Murgal ist ihr Pflegevater, und Murgal ist ein Brehon. Das ist doch unsinnig. Bei so einem mächtigen Pflegevater müßte Nemon doch ein paar Rechte in dieser Sache haben?«

»So lautet unser Gesetz, Angelsachse«, fauchte Orla.

»Auch wenn es das Gesetz ist, es macht die Wahrheit nicht weniger wahr«, entgegnete Eadulf fest.

»Dura lex sed lex«, sagte Fidelma seufzend und wiederholte auf lateinisch fast dieselben Worte, die Murgal ihm einmal entgegengehalten hatte. »Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz ... Jedenfalls zur gegenwärtigen Zeit. Ich habe gehört, Abt Laisran von Durrow will einen Zusatz zu diesem Gesetz vorschlagen, wenn der Große Rat das nächste Mal zusammentritt .«

»Er hat keine Chance, einen Zusatz durchzubringen, der Prostituierten das Recht gibt, vor Gericht auszusagen«, meinte Orla verächtlich.

»Das hängt von dem Großen Rat ab, der im nächsten Jahr in Uisneach tagt.«

Orla schwieg eine Weile und dachte nach.

»Nun«, sagte sie schließlich, »was auch die Zukunft bringt, Brehon Murgal ist sich sicher, daß mit Artgals Verschwinden der Fall abgeschlossen ist. Wir können davon ausgehen, daß Artgal Dianach getötet hat und aus dem Tal geflohen ist.«

»Das kommt sehr gelegen«, murmelte Fidelma.

»Mehr ist dazu nicht zu sagen.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

Orla starrte Fidelma ein paar Augenblicke zornig an und wollte schon etwas entgegnen, überlegte es sich aber anders und zuckte die Achseln. Schweigend erreichten sie den rath Laisres von Gleann Geis.

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