Kapitel 20

Laisre sackte in seinen Sessel zurück, als habe er einen Schlag erhalten. Mit offenem Mund starrte er entgeistert vor sich hin. Er schluckte schwer, und dann sank er in sich zusammen und streckte mit einer Geste die Hände aus, die halb verteidigend und halb kapitulierend wirkte.

»Ich leugne nicht, daß du mich gesehen hast«, gestand er leise zur hörbaren Verblüffung aller Anwesenden. »Ich bestreite aber, daß ich es war, der Solin aus Armagh getötet hat.«

Alle warteten auf das, was Fidelma nun sagen würde, doch sie stellte lediglich fest: »Ich weiß, daß du ihn nicht getötet hast. Selbst wenn Bruder Solin Marga vergewaltigt hätte, die du angeblich liebst, hättest du dich bemüht, ihn am Leben zu lassen, denn allein das hätte in deinem Interesse gelegen, nicht wahr?«

Laisre gab keine Antwort. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und starrte sie gebannt an wie ein Kaninchen den Fuchs einen Moment vor dem Ende.

»Du gingst in der Nacht in den Pferdestall, weil du mit Bruder Solin aus Armagh verabredet warst, stimmt das?«

»Ich wollte mich mit ihm treffen«, gestand Laisre leise.

»Aber jemand anders war vor dir da.«

»Ich betrat den Stall durch die Seitentür. Solin lag schon erstochen am Boden. Ich ging sofort weg, als mir klar wurde, daß er nicht mehr zu retten war. Ich gebe zu, daß du gesehen hast, wie ich den Stall verließ.«

»Irrtümlicherweise hielt ich dich für deine Zwillingsschwester, weil du so gut verhüllt warst, daß ich nur den oberen Teil deines Gesichts sah. Kein Wunder, daß du zornig wurdest, als ich Orla beschuldigte. Du selbst hattest allen Grund zur Angst, denn ich könnte ja meinen Irrtum erkennen. Diese Furcht lenkte meinen Verdacht auf dich, denn plötzlich begegnetest du mir statt mit Freundlichkeit mit Haß, und das fiel auf. Deine Besorgnis war so groß, daß du, als du von Rudgal erfuhrst, ich habe Eadulf als meinen Bre-hon benannt, einen losen Stein von den Zinnen des rath auf ihn hinuntergestoßen hast, während er unten entlangging. Gott sei Dank hat er ihn nicht erschlagen.«

»Du warst das also?« Eadulf schaute Laisre kurz an, ehe er Fidelma fragte. »Aber woher weißt du, daß Laisre das getan hat? Du warst doch nicht dabei?«

»Rudgal hat dir erzählt, wer sich in dem Moment oben auf der Mauer aufhielt. Sobald mir Laisres Rolle in der gesamten Angelegenheit klar wurde, begriff ich, daß er den Stein heruntergestoßen haben mußte. Leugnest du das, Laisre?«

Der schwieg.

»Möchtest du uns nun erklären, warum du dich in jener Nacht mit Bruder Solin im Stall treffen wolltest?«

Der Fürst von Gleann Geis saß da wie aus Stein gemeißelt.

»Dann werde ich das tun«, fuhr Fidelma fort, nachdem sie keine Antwort erhalten hatte. »Du und er, ihr wart gemeinsame Verschwörer oder Verbündete, wie du willst. Du warst es, der mit Mael Düin von Ailech im Bunde stand. Du hast die verräterische Botschaft auf Pergament aus Ailech an dich genommen und vernichtet. Stimmt das nicht?«

Laisre lachte, doch es klang etwas hohl.

»Behauptest du, ich würde mein eigenes Volk verraten? Ich würde es opfern, um persönliche Macht zu erringen?«

»Genau das behaupte ich. Es hat keinen Sinn, es abzustreiten. In der ersten Ratssitzung, in der du mit mir verhandeln solltest, fiel mir auf, daß du es warst, der entschieden hatte, einen Kleriker hierher einzuladen. Ich erfuhr, daß die Mehrheit des Rates gegen diese Entscheidung war, du hattest sie willkürlich getroffen. Warum wohl solltest du, der doch am alten Glauben festhielt und der, laut Christen wie Rudgal, sich hartnäckig weigerte, hier die Kirche anzuerkennen, plötzlich gegen den Willen deines Rates handeln und solch eine Einladung aussprechen? Jetzt wird die Antwort klar. Du mußtest die Einladung absenden, um sicherzustellen, daß ein Kleriker herkam und den Ritualmord sah. Kein anderer in Gleann Geis besaß genug Macht, eine solche Entscheidung zu treffen.

Es verwirrte mich, als ich erfuhr, daß du darin allein gegen Colla, Murgal, deine Schwester und andere Ratsmitglieder standest. Warum setztest du deine Stellung als Fürst aufs Spiel, indem du dich gegen ihren Willen im Rat stelltest? Weil du den Blick bereits auf eine andere Macht gerichtet hattest. Mael Düin hatte dir offensichtlich Größeres als das Fürstentum von Gleann Geis versprochen.«

Colla, Murgal und Orla starrten Laisre entsetzt an, als ihnen die unumstößliche Logik der Anklage aufging. Laisres Miene wurde trotzig, ja verächtlich.

»Du hättest aus Ehrgeiz Gleann Geis vernichtet?« fragte Murgal entgeistert. »Bestreite es, und wir glauben dir. Du bist unser Fürst.«

»Du hast recht. Ich bin euer Fürst.« Laisre erhob sich plötzlich, und seine Stimme schwoll zu einem Grollen an. »Machen wir dies zu unserem Tag. Sie sind nur wenige, wenn wir zusammenstehen. Mael Düin kann seinen Plan immer noch zum Erfolg führen, trotz dieser Frau. Haltet zu mir, wenn ihr auf der Seite der Sieger sein wollt. Erklärt, daß ihr für Ailech einsteht und gegen Cashel. Nehmt euer Schicksal selbst in die Hand.«

Colla, bleich geworden, schaute Laisre ungläubig an.

»Ich nehme mein Schicksal in die Hand, so wie es uns die Ehre gebietet«, sagte er ruhig. »Du bist nicht länger Fürst von Gleann Geis, und Schande über dich für das, was du uns antun wolltest.«

Laisre fuhr zornig auf.

»Dann mußt du mit deiner Schande leben, weil du dich deinem rechtmäßigen Fürsten verweigert hast!«

Noch bevor er ausgeredet hatte, war er vorgesprungen und hatte einen Dolch aus dem Gürtel gezogen. Ehe jemand eingreifen konnte, hatte er Esnad von ihrem Sitz gerissen, hielt sie wie einen Schild vor sich und setzte ihr die Klinge an die Kehle. Sie kreischte auf, doch der Druck der scharfen Klinge erstickte ihren Schrei. Ein dünner Streifen Blut rann ihren weißen Hals herab. Ihre Augen waren geweitet und starr vor Angst. Laisre schob sich langsam rückwärts zur Tür der Halle.

»Rührt euch nicht von der Stelle, wenn ihr dieses Mädchen nicht sterben sehen wollt«, rief er, als Ibor und zwei seiner Krieger sich ihm unwillkürlich näherten.

Orla schrie schrill auf.

»Sie ist deine Nichte, Laisre. Sie ist meine Tochter! Dein eigen Fleisch und Blut!«

»Haltet Abstand«, warnte der Fürst. »Ich werde den rath ungehindert verlassen. Glaubt nicht, daß ich mich scheuen werde, meinen Dolch zu gebrauchen. Das Biest aus Cashel wird euch erzählen, daß ich bereit war, die Menschen in diesem Tal meinem Ehrgeiz zu opfern, und ich werde nicht zögern, auch dieses verwöhnte Gör zu opfern, ob sie nun mein eigen Fleisch und Blut ist oder nicht.«

Da sprang Marga mit einem Freudenschrei auf.

»Ich komme mit, Laisre.«

Laisre lächelte spöttisch.

»Ich kann mich außer mit meiner Geisel nicht auch noch mit dir belasten. Ich muß meinen Weg allein gehen. Sorge für dich selbst, bis ich mit Mael Düins siegreichem Heer zurückkehre.«

Die junge Frau prallte zurück, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten.

»Aber - du hast doch versprochen - nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben - nach allem, was ich für dich getan habe .« Ihre Worte wurden unverständlich, als ihr bewußt wurde, daß er sie zurückwies.

»Veränderte Umstände verändern die Lage«, erwiderte der Fürst leichthin und beobachtete wachsam Ibors Krieger. »Macht den Weg frei. Das Mädchen stirbt, wenn einer mir folgt.«

Orla war von panischer Angst ergriffen. Colla versuchte sie zu beruhigen.

Fidelma kam zu dem Schluß, daß der Fürst von Gleann Geis nicht mehr Herr seiner Sinne sei. Ihr war auch klar, daß er Esnad freigeben würde, sobald er ein schnelles Pferd hätte und damit zu den Toren des rath hinaus wäre. Selbst seine eigene Nichte stellte für ihn nichts weiter als ein Mittel dar, das zu erreichen, wonach er strebte. Die Macht war seine Gottheit. Macht war eine verheerende Pest, die alles verdarb, was mit ihr in Berührung kam.

»Er meint es ernst«, warnte sie Ibor, der sich langsam nach vorn schob. »Versucht nicht, ihn aufzuhalten.«

Ibor sah ein, daß sie recht hatte, blieb stehen, senkte das Schwert und rief seinen Männern zu, dasselbe zu tun.

Ibors Krieger blickten ihren Anführer hilflos und fragend an. Ibor setzte die Schwertspitze auf den Boden und seufzte.

Laisre lachte triumphierend.

»Es freut mich, daß du so vernünftig bist, Fidelma von Cashel. Und jetzt, Marga, mach mir die Tür auf. Rasch!«

Marga stand immer noch völlig schockiert da, als könne sie nicht glauben, daß ihr einstiger Geliebter sie verstoßen wolle.

»Beweg dich!« brüllte Laisre. »Tu, was ich dir sage!«

Orla wandte der Apothekerin ihr tränenüberström-tes Gesicht zu.

»Um meiner Tochter willen, Marga«, bat sie. »Mach ihm die Tür auf.«

Die rundliche Cruinn trat vor.

»Ich werde ihm die Tür öffnen, Lady«, erbot sie sich.

Laisre blickte sie an.

»Dann tu es, aber schnell!«

Mit ernstem Gesicht schritt Cruinn zur Tür. Plötzlich drehte sie sich um.

Laisre erstarrte, sein Gesicht verzerrte sich. Der Dolch sank von Esnads Kehle herab und entfiel seiner Hand. Esnad spürte, wie sein Griff sich lockerte, riß sich los und warf sich schluchzend in die Arme ihrer Mutter. Der Fürst von Gleann Geis wankte einen Moment, dann fiel er nach vorn und schlug auf den Boden der Ratshalle. Blut strömte aus seiner durchtrennten Arterie auf die Dielen.

Marga wurde von Schluchzen geschüttelt.

»Er wollte mich verraten«, flüsterte sie ungläubig.

»Ich weiß, ich weiß.« Cruinn schaute sie mitleidig an. Sie stand noch vor der Tür, hinter Laisres Leiche. In ihrer Hand hielt sie ein großes Messer.

Ibor lief hinzu, beugte sich über Laisre und fühlte nach dem Puls. Das war nicht mehr nötig. Es war offenkundig, daß der Fürst tot war. Ibor schaute zu Fidelmaauf und schüttelte den Kopf. Dann erhob er sich langsam und nahm Cruinn das Messer aus der Hand.

Cruinn wandte sich ab, ergriff Margas Arm und führte sie zu ihrem Platz.

Colla hatte den Arm um Orla gelegt, die Esnad an sich drückte. Esnad stand noch ganz unter dem Schock des Erlebten.

Nur Murgal schien völlig beherrscht und sah Fidelmamit unterdrückter Bewegung an.

»Wahrlich, hier gibt es viel Barbarei. War er auch für Dianachs Tod verantwortlich?«

»Indirekt schon«, bestätigte Fidelma. »Bruder Dia-nach wußte, daß Laisre mit Solin aus Armagh, seinem Herrn, eine Intrige spann. Natürlich war Dianach auch daran beteiligt, hielt jedoch Solins Vorgehen für gerecht, weil er nicht durchschaute, wie korrupt und korrumpierend es war. Er war einfach der Diener seines Herrn. In vieler Hinsicht war er ein naiver junger Mann. Laisre ging zu Dianach, nachdem ich eingekerkert worden war. Er wußte, daß ich unschuldig war, und fürchtete, wenn sich das herausstellte, würde der Verdacht auf ihn fallen. Orla konnte durch Colla ihre Unschuld beweisen, und irgendwann würde ich begreifen, was ich gesehen hatte. Die Tatsache, daß Orla und Laisre Zwillinge waren, würde meinen Verdacht auf ihn lenken. Laisre glaubte, er müsse dafür sorgen, daß ich für schuldig befunden würde. Deshalb wies er Dianach an, Nemon die Kühe abzukaufen und Artgal so zu bestechen, damit dieser bei seiner Aussage gegen mich blieb. Er wollte sichergehen, daß ich verurteilt würde.«

»Um seine Schuld zu verbergen? Aber warum hat er dann Solin überhaupt getötet?« fragte Murgal verwirrt.

Fidelma schüttelte rasch den Kopf.

»Es war nicht Laisre, der Bruder Solin umgebracht hat. Du vergißt, daß Solin sein Verbündeter war. Ohne Solin konnte der Plan nicht gelingen.«

Murgal war völlig ratlos.

»Aber ich dachte ...?«

»Ich habe nicht gelogen, als ich zu Laisre sagte, ich wisse, daß er Bruder Solin nicht getötet habe. Laisre wollte nur sicher sein, daß ich zum Sündenbock gemacht würde, weil er wußte, wer wirklich die Schuld trug. Doch nach meiner Freilassung hatte Bruder Dia-nach die Aufmerksamkeit des wirklichen Mörders auf sich gelenkt. Der wirkliche Mörder nahm irrtümlich an, Dianach und Artgal wären zu einer Gefahr für ihn geworden. Nach der Farce der Anhörung in meiner Sache wartete er auf Artgals Hof auf die beiden. Er hatte für beide einen Gifttrank vorbereitet, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch es war ein langsam wirkendes Gift. Der Mörder hatte Zeit, Artgal unter einem Vorwand aus dem Tal hinauszuschicken, vielleicht redete er ihm ein, er müsse vor einer möglichen Bestrafung fliehen. Doch der Hauptgrund war, ihn verschwinden zu lassen. Der Mörder riet ihm, Gleann Geis auf dem Weg entlang dem Fluß und durch die Höhlen zu verlassen. Er wußte, daß das Gift irgendwann wirken und Artgal nie mehr lebend aus den Höhlen herauskommen würde.

Danach blieb der Mörder mit Dianach allein und wartete auf die Wirkung des Gifts. Doch wie gesagt, das Gift wirkte langsam. Plötzlich sah der Mörder, wie Rudgal, Eadulf und ich uns dem Hof näherten, von dem Artgal kurz zuvor aufgebrochen war. Es blieb ihm nur eins. Er gab vor, Dianach verbergen zu wollen, weil wir angeblich Böses gegen ihn im Schilde führten, und benutzte die Gelegenheit, als Dianach gerade in einen Schuppen kriechen wollte, ihm die Kehle durchzuschneiden.«

Murgal folgte ihrer Beweisführung aufmerksam und nickte bei den einzelnen Punkten.

»An der Logik finde ich nichts auszusetzen. Nun gut. Das bringt uns zurück zur Person des Mörders. Nach allem, was du gesagt hast, kann es nur Marga sein.«

Marga war zu keiner Reaktion mehr fähig. Sie hielt den Kopf gesenkt; daß Laisre sie zurückgewiesen hatte, machte ihr schwer zu schaffen. Fidelma überraschte alle mit einer verneinenden Geste.

»Allen ist wahrscheinlich inzwischen aufgegangen, daß Marga zusammen mit Laisre an der Verschwörung beteiligt war, Mael Düins Griff nach der Macht zu unterstützen. Das ist richtig. Sie war die Botin, die Laisre zum Treffen mit den Männern aus Ailech schickte. Warum machte sie mit? Weil sie in Laisre verliebt war. Er hatte ihr die Ehe versprochen. Er hatte versprochen, seine künftige Macht unter Mael Düin mit ihr zu teilen. Versprochen, sie zu seinem eigenen Rang zu erheben.«

Fidelma hielt inne, um ihre Worte wirken zu lassen.

»Es war ein Teil des Plans, daß Laisre jemand aussenden würde, der sich mit Mael Düins Männern traf und ihnen den Ort zeigte, an dem sie das schreckliche Schauspiel des Ritualmordes vollführen sollten. Aus offenkundigen Gründen konnte er das nicht selbst tun. Der Abgesandte mußte jemand in gehobener Stellung sein, der mit den Männern aus Ailech verhandeln konnte, nicht eine einfache Apothekerin. Deshalb ließ er Marga die Kleidung Orlas anlegen, um ihren Rang zu zeigen, und erklärte ihr, wie sie sich zu verhalten habe. Sie spielte ihre Rolle gut, jagte sogar dem entflohenen Gefangenen nach. Wie bekannt, hat Marga nichts für Christen übrig, deshalb tat sie das ganz gern, und das Schicksal der Gefangenen war ihr gleichgültig.

So wenig sie Bruder Solin auch leiden mochte, den Verbündeten Laisres töten, bevor der Plan zum Erfolg führte, das wäre das letzte gewesen, was Marga getan hätte. Nein, für sie und ebenso für Laisre stand zuviel auf dem Spiel, als daß sie Solin getötet hätten, nur weil er Marga beleidigt hatte.«

»Wer ist aber dann der Mörder?« wollte Colla etwas ungeduldig wissen. »Um unserer strapazierten Nerven willen, verrate es uns und mach dieser schlimmen Geschichte ein Ende.«

»Willst du ihnen sagen, weshalb du Bruder Solin umgebracht hast, oder soll ich es tun, Cruinn?« fragte Fidelma ruhig.

Die rundliche Frau, die immer noch Marga zu trösten versuchte, zeigte keine Regung. Ihr Gesicht blieb unbewegt.

»Sag du es ihnen, wenn es sein muß«, meinte sie schließlich emotionslos.

Marga seufzte herzzerreißend und klammerte sich fester an Cruinn.

»Du? Du hast Solin getötet?«

»Was sollte ich denn anderes tun, mein Kind?« erwiderte Cruinn gelassen.

Mit großen Augen fuhr Marga herum, ließ sie über die Versammlung wandern und schließlich auf Fidelmaruhen.

»Das wußte ich nicht«, flüsterte sie.

»Nein, ich glaube nicht, daß du es wußtest.« Dann sah sie Cruinn an. »Du hast Dianach mit ziemlich genau demselben Messerstich getötet wie Laisre. Und du hast auch Artgal vergiftet.«

»Was ist das für ein Unsinn?« fuhr Orla dazwischen, die ihre Haltung wiedergewonnen hatte, aber den neuen Enthüllungen nicht zu folgen vermochte. »Warum sollte diese alte Frau denn irgend jemanden töten?«

Colla stimmte ihr zu. »Das mußt du uns erklären, Fidelma. Warum sollte die alte Gästehaus-Verwalterin jemanden ermorden? Das ist doch Wahnsinn.«

»Wenn es Wahnsinn war, dann der Wahn einer Mutter, die alles für ihr Kind tun wollte.«

Cruinn war nicht zu erschüttern.

»Wie lange weißt du es schon?« fragte sie Fidelma.

»Kurze Zeit erst, aber ich war nicht sicher, welche Rolle Orla dabei spielte. Erst als ich herausgefunden hatte, daß es nicht Orla war, paßte alles zusammen. Und heute morgen brachte mir Ibor das letzte Stück des Puzzles, als er berichtete, daß er Artgals Leiche in der Höhle gefunden hatte.«

»Kannst du uns auch sagen, warum Cruinn das alles getan hat?« fragte Murgal.

»Cruinn ist Margas Mutter.«

»Die meisten Leute im Tal wissen das«, bestätigte Murgal. »Das ist kein Geheimnis.«

»Ich bin hier fremd. Ich wußte es nicht«, erwiderte Fidelma. »Hätte ich es gewußt, hätten sich vielleicht einige Morde verhindern lassen. Ich mußte es selbst ergründen. Ich hätte genauer hinhören sollen, als Cru-inn mir erzählte, sie sammle Kräuter mit ihrer Tochter. Später erwähnte sie einmal, sie sammle Heilkräuter für die Apothekerin. Ich brauchte einige Zeit, um die Verbindung herzustellen. Die Apothekerin war ihre Tochter. Dann erinnerte ich mich, daß auf dem Fest, als Murgal sich Marga zu nähern versuchte, Marga ihn geschlagen hatte und hinausgegangen war. Cruinn war ihr gefolgt, um sie zu trösten, und hatte Murgal einen zornigen Blick zugeworfen.«

»Marga ist eine schöne Frau«, gestand Murgal verlegen. »Es schadet doch niemandem, wenn man Schönheit würdigt.«

»Es kommt darauf an, in welcher Form das geschieht. Und es hätte dir vielleicht geschadet, wenn du so dreist wie Bruder Solin gewesen wärst. Es hätte dich vielleicht wie Solin das Leben gekostet, wenn du Marga deine unwillkommenen Aufmerksamkeiten weiter aufgedrängt hättest. Cruinn wollte ihre Tochter rein erhalten für die Heirat mit dem Fürsten.

Ich hätte hellhörig werden sollen, als Cruinn mich nach den Heiratsgesetzen für Fürsten fragte. Ich dachte, sie bilde sich selbst nur etwas ein. In Wirklichkeit hatte Marga ihrer Mutter erzählt, daß Laisre ihr die Heirat versprochen habe. Cruinn freute sich darüber, denn sie hegte Ehrgeiz für ihre Tochter. Aber sie machte sich auch Sorgen und erkundigte sich deshalb bei mir nach den Ehegesetzen, besonders bei Heiraten zwischen Fürsten und einfachen Ständen. Cruinn wollte die Interessen ihrer Tochter wahren. Deshalb ihr Zorn auf dich, Murgal, weil du ihre Tochter vor Laisre beleidigt hast. Als sie dann erfuhr, daß Bruder Solin versucht hatte, sich ihrer Tochter mit Gewalt aufzudrängen, kannte ihre Wut keine Grenzen. Sie wußte nicht, daß Bruder Solin für Laisres Pläne entscheidende Bedeutung hatte, und als sie abends sah, wie Solin sich aus dem Gästehaus schlich, glaubte sie die Gelegenheit zur Rache zu finden. Sie folgte ihm in den Stall und erstach ihn. Gerade da kam Laisre herein, um seine Verabredung wegen ihrer Intrige einzuhalten.«

»Das stimmt«, schaltete sich nun Cruinn ein, »das stimmt genau. Laisre trat in dem Moment ein, als So-lin zu Boden fiel. Ich erklärte ihm, ich hätte es für Marga getan und für ihr zukünftiges Glück. Einen Augenblick regte er sich auf, dann sagte er mir, ich solle gehen und das Messer mitnehmen. Er befahl mir, es zu säubern, damit kein Verdacht auf mich fiele.«

Fidelma sprach weiter: »Er verließ den Stall sofort, und dabei sah ich ihn, in seinen Mantel gehüllt, und hielt ihn irrtümlich für seine Schwester. Laisre konnte nun schlecht Margas Mutter anklagen. Er überlegte, was er tun könne, als ich zufällig auftauchte. Es wäre eine perfekte Lösung, wenn ausgerechnet ich mit Erfolg des Mordes an Bruder Solin beschuldigt werden konnte. Wenn man mir die Ermordung des Sekretärs von Ultan von Armagh zur Last legen konnte, dann würde das genau die Zwistigkeiten hervorrufen, die Mael Düin brauchte. Mein Bruder hätte vielleicht sogar Krieger entsandt, um mich zu befreien. Das wäre der Ausgleich dafür, daß ich auf den Ritualmord nicht so reagiert hatte, wie ursprünglich zu hoffen stand.«

Cruinn starrte Fidelma ungerührt an.

»Wie hast du mich mit den Morden an Artgal und Dianach in Verbindung gebracht?«

»Du hattest die Giftbecher in der Hütte stehenlassen. Ich roch das Schierlingsgift, das noch darin war. Du kanntest dich in der Apotheke deiner Tochter hinreichend aus, um das Gift zuzubereiten. Als ich Dia-nachs blaue Lippen sah, wußte ich, daß er vergiftet worden war. Als du uns herankommen sahst und mit Dianach schnell aus der Hütte verschwinden mußtest, blieb eine Schürze zurück. Selbst wenn Artgal so ordentlich gewesen wäre, ein solches Kleidungsstück zu benutzen, für ihn war die Schürze zu groß. Außerdem hatte ich dich eine solche Schürze im Gästehaus tragen sehen. Als Ibor dann berichtete, er habe Artgals Leiche genau auf dem Wege gefunden, den du mir beschrieben hattest, da wurde mir klar, daß du beide vergiftet hattest.«

Wieder herrschte völliges Schweigen in der Ratshalle, während die Anwesenden über die schreckliche Geschichte nachdachten.

Murgal sagte nun gefaßt zu Colla: »Du bist jetzt unser erwählter Fürst, Colla. Du hast zu entscheiden.«

Colla stand unsicher da. Er wechselte einen Blick mit seiner Frau Orla. »Ist es wahr, daß ich jetzt die Entscheidungen in Gleann Geis treffen soll?« fragte er Fidelma dann und schaute bedeutungsvoll auf Ibor und seine Krieger.

»Nachdem nun alle Rätsel gelöst sind, warten Ibor von Muirthemne und seine Männer auf deine Entscheidungen«, bestätigte Fidelma. »Du bist jetzt der erwählte Fürst von Gleann Geis.«

Ibor salutierte mit dem Schwert vor dem neuen Fürsten.

»Du hast zu befehlen, Colla«, sagte er.

»Dann müssen Cruinn und ihre Tochter in Haft genommen werden, bis sie vor Gericht gestellt werden können für das, was sie getan haben: Marga für die Vorbereitung des Verrats an ihrem Volk gemeinsam mit Laisre, und Cruinn für ihre kaltblütigen Morde. Ich wäre geneigt gewesen, Cruinn wegen ihres Verbrechens aus Leidenschaft mit Nachsicht zu behandeln, wenn sie nicht darüber hinaus noch den Tod des jungen Dianach und Artgals herbeigeführt hätte.«

Colla nahm die Hand seiner Frau.

»Wenn ich vom Rat als Fürst von Gleann Geis bestätigt werde, dann werde ich Laisres Pakt mit Mael Düin von Ailech zurückweisen und aufheben und die Treue dieses Clans zu Cashel und seinen rechtmäßigen Königen aufs neue beschwören.«

Ibor von Muirthemne lächelte zufrieden.

»Ausgezeichnet. Diese Nachricht nehme ich sehr gern mit zurück nach Tara. Sechnassach wird hoch erfreut sein. Aber sei wachsam, denn dies ist nur ein Rückschlag für Mael Düins Ehrgeiz. Die nördlichen Ui Neill werden ihr Ziel nicht aufgeben. Solange Mu-man das einzige Hindernis für ihre Herrschaft über die fünf Königreiche darstellt, wird Mael Düin auf neue Wege sinnen, Cashel zu stürzen. Sei gewarnt.«

Er wandte sich an seine Krieger.

»Gebt die Männer von Gleann Geis frei und sagt ihnen, daß sie mit Colla ein neues Oberhaupt haben. Wir reiten dann zurück nach Tara.«

Er blickte hinüber zu Fidelma.

»Es war ... >ein Vergnügen< ist wohl der falsche Ausdruck, aber es war >lohnend<, mit dir zusammenzuarbeiten, Fidelma von Cashel.«

»Auch für mich mit dir, Ibor von Muirthemne.«

Ibor grüßte die Versammelten erneut mit zackig erhobenem Schwert, dann folgte er seinen Kriegern aus der Ratshalle.

Colla zeigte plötzlich auf Rudgal, der immer noch mit auf dem Rücken gebundenen Händen im Hintergrund stand.

»Was ist nun mit ihm, Fidelma? Welche Anklage erhebst du gegen Rudgal?«

Ein leichtes Schuldgefühl durchzuckte sie, denn den unglücklich verliebten blonden Krieger hatte sie beinahe vergessen. Sie wandte sich an Eadulf.

»Das hängt von dir ab, Eadulf. Dein Leben hat er bedroht.«

Eadulf bat Colla, ihm ein Messer zu leihen. Zögernd zog es Colla aus dem Gürtel und hielt es dem Angelsachsen hin. Eadulf rief nun Esnad herbei, die sich anscheinend rasch von ihrem Schrecken erholt hatte.

»Nimm es, Esnad«, befahl er ihr, »und durchschneide Rudgals Fesseln. Dann führe ihn aus der Halle und sprich ernsthaft mit ihm. Vor allem mach ihm klar, daß du dir ebensowenig aus mir machst wie ich aus dir.«

Esnad errötete leicht, schaute Eadulf einen Moment in die Augen und senkte dann verschämt den Blick. Sie neigte schlicht den Kopf und ging mit dem Messer zu Rudgal.

Ronan hatte Marga und ihre Mutter Cruinn in seine Obhut genommen und brachte sie weg. Nemon war gegangen, zusammen mit Bairsech, die beinahe freundlich zu ihrer Nachbarin war.

Eadulf schnitt Fidelma ein Gesicht.

»Ich habe mich noch vor kurzem gefragt, wie du uns aus dem Irrgarten herausführen würdest, den ich vor mir sah. Du hast mich ebenso verblüfft wie alle hier.«

Fidelma machte eine abwehrende Geste.

»Du übertreibst, Eadulf. Es schien nur so kompliziert, weil wir es mit zwei verschiedenen Beweggründen für all die üblen Taten zu tun hatten.«

Orla trat hinzu. Sie bemühte sich, ihre Miene zu beherrschen, und stand etwas verlegen vor Fidelma.

»Ich möchte dich um Verzeihung bitten, ich dachte .«

Fidelma hob die Hand und unterbrach sie.

»Du hattest allen Grund, so über mich zu denken, denn wer ohne Schuld angeklagt wird, ist immer empört. Es tut mir leid, daß im Herzen deines Bruders keine Liebe für dich und die Deinen wohnte.«

»Armer Laisre«, sagte Orla. »Ja, selbst jetzt kann ich noch armer Laisre sagen. Er war krank an seiner Gier nach Macht. Sein Geist war geradezu gestört davon, dagegen kann man nichts machen. Doch er war mein Bruder. Ich werde ihn in Erinnerung behalten, wie er früher war, nicht, wie er jetzt war.«

Colla kam herbei und stellte sich neben seine Frau. Er lächelte die dalaigh reuig an.

»Du hast uns viele Dinge gelehrt, Fidelma von Cashel«, bemerkte er leise.

»Aus denen ihr Nutzen ziehen könnt, hoffe ich?«

»Die Bedeutung christlicher Liebe und Vergebung, vielleicht?« flocht Eadulf fröhlich ein. »Das wäre wirklich eine gute Lehre.«

Colla lachte so herzlich und so unerwartet los, daß Eadulf gekränkt war.

»Nein, nein, Angelsachse! Das wäre das letzte, was ich hier hätte lernen können. Ist nicht Mael Düin von Ailech ein Christ? Waren nicht seine Krieger, die das schreckliche Massaker an ihren Gefangenen verübten, auch Christen? War nicht Bruder Solin ein Christ, ebenso wie der Mann, der ihn herschickte, Ultan von Armagh, einer ist? Ha! Christliche Liebe ist das letzte, was hier bewiesen wurde.«

Collas Miene wurde wieder ernst.

»Nein, was ich hier gelernt habe, das hat etwas mit Standhaftigkeit in der Not zu tun.«

Er nahm den Arm seiner Frau, und sie gingen zur Tür der Ratshalle. Dort blieb er stehen und schaute sich um.

»Sag deinem Bruder in Cashel und dem Bischof in Imleach, daß Gleann Geis noch nicht bereit ist, eine engere Verbindung mit dem neuen Glauben einzugehen. Wir haben zu viele christliche Bemühungen um unser Wohlergehen erlebt.«

Damit verschwanden er und Orla durch die Tür.

»Undankbar sind sie!« murrte Eadulf gekränkt. »Wie kannst du dir solche Beleidigungen von diesen Heiden gefallen lassen?«

Fidelma lächelte, nicht im geringsten aus der Fassung gebracht.

»Das sind doch kaum Beleidigungen, Eadulf. Jeder spricht so, wie er es sieht. Er hat ja auch recht. Das Christentum eines Mael Düin, Bruder Solin oder auch, wenn er denn wirklich an dieser schrecklichen Verschwörung beteiligt ist, eines Ultan von Armagh erweckt eher Sehnsucht nach der Moral des alten Glaubens unseres Volkes.«

Eadulf war empört. Doch er fand keine Zeit, ihr Vorwürfe zu machen, denn nun trat Murgal mit ernster Miene auf sie zu.

»Wir haben dir wirklich für vieles zu danken, Fidelmavon Cashel. Ich habe den wahren Wert eines moralischen Anwalts der Gesetze der fünf Königreiche erkannt. Das ist etwas, wonach ich streben will.«

»Du brauchst nicht danach zu streben, Murgal, denn du bist bereits so ein Anwalt. Du bist ein tüchtiger und ehrlicher Brehon. Wir mögen verschiedener Religion sein, aber die Moral überbrückt oft Unterschiede des Glaubens.«

»Es macht Mut, wenn du das so siehst.«

Fidelma verneigte sich.

»Das wird einem gelehrt, wenn man das alte Recht studiert. Intoleranz baut sich aus den Hüllen von Lügen auf. Keine Naturkatastrophe hat so viele Menschenleben gekostet wie die Intoleranz des Menschen gegenüber dem Glauben seiner Mitmenschen.«

»Wohl wahr. Werdet ihr noch eine Zeit als unsere Gäste in Gleann Geis verweilen oder wie Ibor von Muirthemne gleich aufbrechen?«

Fidelma blickte durch ein Fenster zum Himmel.

»Wir haben noch den größten Teil des Tages vor uns. Es gibt keinen Grund, länger in Gleann Geis zu bleiben. Vielleicht kann ich eines Tages wiederkommen und darüber verhandeln, wie das Christentum wirklich hierhergebracht werden könnte, doch nicht jetzt. Wir werden unsere Rückreise unverzüglich antreten, erst nach Imleach, um uns mit Bischof Segdae zu besprechen, und dann weiter nach Cashel. Je eher Muman von der Intrige erfährt, die hier gesponnen wurde, desto eher können wir uns gegen Ailech wappnen und gegen ähnliche Pläne, die den Frieden dieses Königreichs gefährden.«

Zwei Männer trugen die Leiche Laisres aus der Ratshalle.

Fidelma schaute still zu und zitierte dann: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nehme an seiner Seele Schaden?«

Murgal schien beeindruckt.

»Das ist ein weiser Spruch. Ist es ein Zitat aus den Lehren des Brehon Morann von Tara? Ich kenne es nicht.«

Eadulf schnaubte spöttisch.

»Nein, das stammt aus dem Evangelium des heiligen Markus. Selbst wir Christen haben weise Schriften.«

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