Kapitel 7

Es war noch früh, als Fidelma beschloß, die Festhalle zu verlassen. Die Musik spielte, und Wein und Met machten die Runde. Sie entschuldigte sich bei Laisre und erklärte ihm, sie sei ermüdet von der langen Reise von Cashel hierher. Er erhob keinen Einwand. Als sie durch die Halle ging, gab sie Eadulf ein heimliches Zeichen, ihr zu folgen. Er stand etwas unsicher und unwillig auf und kam ihr nach. Ihm war bewußt, daß er ein bißchen mehr getrunken hatte, als für ihn gut war, und er versuchte es dadurch zu verbergen, daß er sich langsam und bedächtig bewegte.

Draußen war es überraschend hell. Der Mond war voll und hing wie eine leuchtende weiße Kugel am wolkenlosen Himmel. Das Himmelszelt funkelte vom Licht zahlloser Sterne. Fidelma wartete an der Tür auf ihn. Ihr war sein unsicherer Gang nicht aufgefallen.

»Wir laufen um die Mauern des rath herum.« Es war mehr ein Befehl als ein Vorschlag. Sie ging voran, die Stufen zu dem Umgang hinauf. Ein sanfter Nachtwind fuhr ihr durchs Haar. Sie bemerkte schattenhafte Gestalten ein Stück weiter auf dem Umgang, junge Männer und Frauen, die sich vom Fest entfernt hatten, um ihren Liebschaften zu frönen, deshalb blieb sie stehen und schaute zum Nachthimmel auf. Gedämpft vernahm man Gelächter und den leisen Klang der Musik. Unten auf dem Hof lachte eine Frau lüstern auf, und ihr männlicher Gefährte stimmte in tieferer Tonlage ein. Fidelma verbannte die äußerlichen Geräusche aus ihrem Sinn, atmete leise und genoß den atemberaubenden Anblick des prachtvollen Nachthimmels.

»Caeli enarrant gloriam Dei«, flüsterte sie.

Eadulf lehnte neben ihr an der Mauerbrüstung und erfaßte ihre Worte. Er rieb sich die Stirn und versuchte sich zu konzentrieren. Er wußte, sie stammten aus einem Psalm.

»Die Himmel erzählen die Ehre Gottes«, übersetzte er beifällig und bemühte sich, die Worte nicht zu ver-schleifen.

»Psalm neunzehn«, bestätigte Fidelma und blickte weiter zum Himmel. Doch dann wandte sie sich plötzlich ab. »Ist dir was, Eadulf? Deine Aussprache klingt merkwürdig.«

»Ich fürchte, ich habe etwas zuviel Wein getrunken, Fidelma.«

Sie schnalzte mißbilligend mit der Zunge.

»Na, ich laß dich nicht eher gehen, als bis du mir berichtest, was du von Bruder Solins Schreiber, dem jungen Dianach, erfahren hast.«

Eadulf verzog ärgerlich den Mund. Dann stöhnte er, als sich die Welt für einen Moment um ihn drehte.

»Was ist?« fragte Fidelma besorgt, als er sich über die Stirn strich.

»Schlechter Wein und noch schlechterer Met.«

»Erwarte kein Mitleid von mir«, belehrte ihn Fidelma. »Nun rede von Bruder Dianach.«

»Entweder ist er ein sehr naiver junger Mann oder aber ein vollendeter Schauspieler. Er ließ sich nicht entlocken, wozu Solins Besuch hier dient. Er behauptet, Bruder Solin habe ihm das nicht anvertraut.«

Enttäuscht schob Fidelma die Unterlippe vor.

»Glaubst du ihm das?«

»Wie gesagt, es ist schwer zu entscheiden, ob er ganz harmlos oder ein raffinierter Schwindler ist.«

»Bruder Solin behauptet, er sei lediglich von Armagh hergekommen, um die Stärke des Glaubens in den entlegenen Gegenden der fünf Königreiche zu prüfen«, überlegte Fidelma laut.

»Warum sollte das nicht wahr sein?«

»Warum schickt Ultan dann nicht jemanden zu den kirchlichen Zentren der fünf Königreiche und läßt bei den Äbten und Bischöfen nachfragen? Die könnten alles berichten, was er wissen will, und er hätte in einer Woche, wozu Bruder Solin hier ein Jahr braucht. Das ist doch unlogisch.«

Eadulf war noch zu benommen vom Wein, um sich andere Möglichkeiten auszudenken, und ging nicht weiter darauf ein.

»Ich wußte gar nicht, daß du so gut singen kannst«, wechselte er plötzlich das Thema.

»Es kam nicht auf mein gesangliches Können, sondern auf die Bedeutung des Liedes an«, antwortete Fidelmamit grimmiger Befriedigung. »Hast du die Szene mit Murgal bemerkt? Ich meine den Zwischenfall mit der Frau, nicht das Lied.«

»Ich glaube kaum, daß irgend jemand im Saal das nicht mitbekommen hat. Sie ist recht hübsch.«

»Hast du den Grund für die Auseinandersetzung erkannt?«

»Ich denke, Murgal hat versucht, sich der jungen Frau zu freundschaftlich zu nähern, und ihr war seine Lüsternheit zuwider.«

Das paßte ganz gut zu Orlas bissiger Bemerkung über Murgal.

Fidelma starrte hinaus auf das schattenhafte, vom Mond beschienene Tal. Es war ein unheimlicher und doch auch schöner Anblick.

»Was hältst du von dieser heidnischen Welt, Ea-dulf?« fragte sie nach einer Weile.

Eadulf überlegte einen Moment, bevor er antwortete. Er bemühte sich, seine benebelten Gedanken zu ordnen.

»Nicht mehr und nicht weniger als von jeder anderen Welt. Hier gibt es Menschen, ob nun Heiden oder nicht, mit demselben schlechten Benehmen, denselben Eifersüchteleien und Anmaßungen wie an jedem Ort der Christenheit. Aber je eher du deinen Auftrag erfüllst, desto eher können wir von hier fort. Ich ziehe die lockere Fröhlichkeit im Palast deines Bruders in Cashel vor.«

»Hast du nicht etwas vergessen?« Fidelma klang leicht belustigt.

»Vergessen?« Eadulf stöhnte, er dachte mehr an sein Bett als an alles andere. »Was vergessen?«

»Dreiunddreißig junge Männer, die am Eingang zu diesem Tal hingeschlachtet wurden.«

»Ach so, das!« Eadulf schüttelte den Kopf. »Nein, das habe ich nicht vergessen.«

»»Das!« ahmte ihn Fidelma nach und fuhr dann fort: »Es mag hier Leute geben mit denselben Gefühlen wie überall in der Christenheit, aber es gibt auch etwas Böses, was diesen Ort überfallen hat, und ich werde nicht ruhen, bis ich entdeckt habe, was es ist.«

»Ich dachte, du willst abwarten, was Colla, der Ta-nist, feststellt«, erwiderte Eadulf und versuchte vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken.

»Ich traue Colla nicht zu, mir einen genauen Bericht zu liefern. Allerdings« - sie hob den Blick wieder zu dem nächtlichen Himmelszelt - »sollten wir uns vielleicht zurückziehen und auf den morgigen Tag vorbereiten. Es hat keinen Zweck, übereilte Folgerungen zu ziehen, bevor wir genaue Kenntnis haben.«

Sie wandte sich um und ging voran, die Holztreppe hinunter. Eadulf folgte ihr und verschluckte ein Stöhnen, als sich die Welt wieder um ihn drehte. Er klammerte sich an das Geländer. Fidelma tat so, als habe sie nichts gehört, während er hinter ihr her stolperte. Sie achtete aber besorgt darauf, daß ihr Gefährte sicher sein Bett im Gästehaus erreichte. Als sie dort angekommen waren und Eadulf in sein Zimmer getorkelt war, wartete Fidelma eine Weile und spähte dann vorsichtig hinein.

Eadulf lag voll angekleidet bäuchlings auf dem Bett und schnarchte leise. Normalerweise mochte Fidelma keine Leute, die weniger Alkohol vertrugen, als sie tranken, doch hatte sie noch nie erlebt, daß Eadulf sich damit übernahm. Sie ließ es ihm durchgehen, zog ihm die Sandalen aus und legte eine Decke über ihn.

Wie gewohnt stand Fidelma früh auf. Sie stellte fest, daß sie von den vier Gästen die erste war, die ein Bad nahm. Fertig und angezogen ging sie hinunter in den Hauptraum, wo Cruinn, die rundliche Verwalterin, die erste Mahlzeit bereitete. Zu ihrer Überraschung fand sie dort auch Eadulf. Unrasiert und zerzaust saß er da, den Kopf in die Hände gestützt, und litt offensichtlich unter den Nachwehen der gestrigen Feier. Als sie sich ihm gegenübersetzte, hob er stöhnend den Kopf und sah sie schläfrig blinzelnd an.

»Gott verdamme alle Hähne!« knurrte er. »Ich war kaum eingeschlafen, als dieser verfluchte Hahn anfing zu krähen und meine Ruhe störte. Er hörte sich an wie ein Teufelschor aus der Unterwelt.«

Fidelma unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, daß er den größten Teil der Nacht in alkoholisiertem Tiefschlaf verbracht hatte. Mit gespielter Mißbilligung runzelte sie die Stirn.

»Es überrascht mich, daß du Gott bittest, ausgerechnet den Hahn zu verfluchen, der doch dem Glauben heilig ist.«

»Wieso das denn?« fragte Eadulf und rieb sich verschlafen die Stirn.

»Erinnerst du dich nicht an die Geschichte, wie nach der Kreuzigung Jesu die römischen Soldaten einen Hahn kochten? Einer von ihnen erzählte den anderen, es gäbe ein Gerücht bei den Anhängern Christi, daß er am dritten Tage wieder lebendig würde. Ein anderer Soldat spottete darüber und meinte im Scherz, das würde ebensowenig geschehen, wie der tote Hahn krähen würde. Worauf sich der tote Vogel aus dem Kessel erhob, mit den Flügeln schlug und ausrief: >Der Sohn der Jungfrau ist sicher

Trotz seiner Kopfschmerzen mußte Eadulf zugeben, daß die irischen Worte mac na hoighe sldn gut zum Krähen eines Hahns paßten. Dann kam ihm eine dunkle Erinnerung.

»Eine ähnliche Geschichte habe ich in einem griechischen Evangelium gelesen, dem Evangelium des Nikodemus. Nur war es da die Frau des Judas Ischa-riot, die den Hahn kochte und den Verräter Christi beruhigen wollte. Der Vogel schlug mit den Flügeln und krähte dreimal, gab aber keine verständlichen Wörter von sich.«

Fidelma lachte belustigt.

»Du mußt unseren alten Barden schon die Freiheit lassen, die Geschichten so zu gestalten, daß sie unserem Volk etwas bedeuten.«

Eadulf spürte wieder seinen Kopf und stöhnte.

»Ich brauche keinen Hahn, der mich in meinem Glauben bestätigt. Dafür brauche ich einen Hahn, der still ist, wenn ich ruhen will, oder wie soll ich einen klaren Kopf bekommen, um meinem Glauben zu folgen?«

»Hahn hin oder her, ich meine, dein Mangel an Schlaf hat andere Ursachen. Kennst du nicht den Spruch, daß Wein am Abend Gold ist, am Morgen aber Blei?«

Eadulf wollte etwas erwidern, als Bruder Dianach, der junge Schreiber, sich zu ihnen gesellte. Im stillen verwünschte Eadulf sein frisch gewaschenes, fröhliches Gesicht und seine überschwengliche Begrüßung Fidelmas, während er dem verkaterten Eadulf einen mißbilligenden Blick zuwarf. Seine frühere Schüchternheit schien völlig verflogen.

Nach der morgendlichen Begrüßung fragte Fidel-ma, wo sich denn sein Herr und Meister, Bruder Solin aus Armagh, derzeit aufhalte.

»Er war nicht in seinem Zimmer«, antwortete Bruder Dianach, »also nehme ich an, er ist schon aufgestanden und ausgegangen.«

Fidelma blickte Eadulf an, doch der angelsächsische Mönch war zu sehr mit seinem eigenen Jammer beschäftigt.

»Dann ist er aber wirklich früh auf den Beinen. Ist das so üblich bei ihm?«

Der junge Mönch bestätigte es mit einem gleichgültigen Nicken und schnupperte die Wohlgerüche aus der Küche.

Die rundliche Cruinn eilte herbei und brachte ein Tablett mit frisch gebackenem Brot, duftend und gerade aus dem Ofen, geronnener Sahne, Obst und kaltem Fleisch und dazu einen Krug Met. Danach bat die füllige Verwalterin um Erlaubnis, zu ihrem eigenen Haus zurückzukehren, denn, wie sie sagte, hatte sie ihrer Tochter versprochen, mit ihr Heilkräuter sammeln zu gehen. Fidelma übernahm es, sie mit Dank zu entlassen, und meinte, sie würden auch allein zurechtkommen. Als Cruinn ging, langte Eadulf sofort mit zitternder Hand nach dem Krug Met. Er lächelte schwach, als er Fidelmas warnenden Blick auffing.

»Similia similibus curantur«, murmelte er und goß sich einen Becher ein.

»Aber nein, Bruder«, wandte der junge Bruder Dianach vorwurfsvoll ein. »Gleiches wird nicht von Gleichem geheilt. Da bist du völlig im Irrtum.«

Der junge Mann sah so ernst aus, daß Eadulf den Becher noch einmal absetzte. Fidelma grinste schelmisch.

»Und welchen Rat würdest du geben, Bruder Dianach?« lockte sie ihn.

Der junge Mann schaute Fidelma an und überlegte sich den Fall gründlich.

»Contraria contrariis curantur ... Gegensätzliches wird durch Gegensätzliches geheilt. Diesen Grundsatz lehrt man in Armagh. Man bedenke, welche Wirkung es hat, wenn man das, was dieselbe Krankheit hervorruft, dem gibt, der sie schon hat. Es verschlimmert die Krankheit nur. Die Grundlage jeder Medizin muß doch darin bestehen, der Krankheit mit dem zu begegnen, was die entgegengesetzte Wirkung hat, und nicht mit dem, was sie noch verstärkt?«

»Was meinst du dazu, Eadulf?« lachte Fidelma. »Du hast schließlich in Tuam Brecain Medizin studiert.«

Als schweigende Antwort stürzte Eadulf den Becher hinunter, schloß die Augen und erschauerte mit einer Miene aus Todesqual und Ekstase. Er holte tief und erleichtert Luft.

Bruder Dianach starrte ihn verblüfft an.

»Ich wußte nicht, daß der angelsächsische Bruder an einer unserer großen medizinischen Hochschulen studiert hat«, sagte er verletzt. »Das hast du mir gestern abend nicht verraten. Immerhin solltest du wissen, daß du deine Unmäßigkeit nicht mit Alkohol kurieren kannst. Das ist schandbar, Bruder.«

Eadulf schloß die Augen, stöhnte, goß sich einen zweiten Becher ein und gab keine Antwort. Während Fidelma und Bruder Dianach ihre erste Mahlzeit des Tages beendeten, rührte Eadulf kaum etwas von den Speisen an. Nachdem der junge Mönch sich entschuldigt hatte und in sein Zimmer zurückgekehrt war, beugte sich Fidelma vor und faßte Eadulf am Arm.

»Halt mir keine Predigt«, knurrte Eadulf, bevor sie noch etwas sagen konnte. »Laß mich in Frieden sterben.«

»Trotzdem, Eadulf, der Junge hat recht«, meinte sie ernst. »Du brauchst heute deinen Verstand. Zuviel Met stumpft ihn ab.«

Eadulf riß die Augen auf.

»Ich schwöre, das ist alles, was ich heute trinke. Ich brauche es nur, um in Gang zu kommen. Wenigstens hat der Met meinen Brummschädel geheilt - zumindest für den Augenblick.«

»Dann machen wir jetzt einen Spaziergang und bereiten uns auf die Verhandlungen vor. Hast du übrigens gehört, was Bruder Dianach über Bruder Solin sagte?«

Eadulf erhob sich langsam. Er überlegte.

»Nur, daß er früh ausgegangen ist. Wieso? Kann man daraus noch auf anderes schließen?«

»Er ist nicht früh ausgegangen, sondern über Nacht gar nicht hereingekommen.«

Eadulf sah sie gespannt an.

»Woher weißt du das?«

»Ich war schon auf, bevor dein schrecklicher Hahn krähte. Bruder Solins Tür stand ebenso offen wie am Abend, als ich in mein Zimmer ging. Die Bettdecke war so unberührt wie am Abend zuvor. Daraus folgt logisch, daß er nicht ins Gästehaus zurückkam.«

Eadulf fuhr sich nachdenklich durchs Haar.

»Er war noch in der Festhalle, als wir sie verließen, nicht wahr? Nein, Moment mal. Bruder Dianach hatte sich früh zurückgezogen. Das ist ein frommer, nüchterner Bursche. Wenn ich mich recht erinnere, ging Bruder Solin bald danach, noch vor uns. Das muß gleich nach Murgals dramatischem Abgang gewesen sein.«

»Wo war er also die ganze Nacht?«

»Meinst du, das hängt mit dem zusammen, was er hier zu tun hat?«

»Das weiß ich nicht. Aber wir müssen auf Bruder Solin achten. Er gefällt mir nicht.«

Sie wollten gerade das Gästehaus verlassen, als sich die Tür öffnete und der Gegenstand ihres Gesprächs eintrat. Er schien zu erschrecken, als er sie stehen sah, als erwarteten sie ihn, doch dann verzog er rasch das Gesicht zu einem ausdruckslosen Lächeln und wünschte ihnen einen guten Morgen.

»Wir waren noch nicht draußen, um zu sehen, ob er gut ist oder nicht«, antwortete Fidelma harmlos. »Ist er schön?«

»Ihr solltet so früh aufstehen wie ich«, erwiderte Bruder Solin ungerührt, ging zum Tisch und setzte sich. Er bediente sich reichlich bei den Speisen und Getränken, die auf dem Tablett standen. Offensichtlich hatte er einen guten Appetit.

»Stehst du immer so früh auf?« fragte Fidelma unschuldig. »Mir fällt das schwer, dir nicht auch, Eadulf?«

»O ja, sehr sogar«, stimmte ihr Eadulf zu und spielte mit. »Besonders heute morgen. Mich hat dieser verflixte Hahn mit seinem Krähen gestört. Hat er dich auch aus dem Schlaf gerissen, Bruder Solin?«

»Nein, ich war schon früher wach. Ich stehe von jeher früh auf.«

Eadulf wechselte einen Blick mit Fidelma, doch sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht, daß Eadulf Bruder Solin offen der Lüge bezichtigte.

»Ich nehme an, es tut gut, den Tag mit einem tüchtigen Spaziergang vor dem Frühstück zu beginnen?« meinte sie, kehrte zum Tisch zurück und setzte sich wieder.

»Es gibt nichts Besseres«, antwortete Bruder Solin selbstzufrieden, brach ein Stück Brot ab und nahm sich eine weitere Scheibe Käse.

Eadulf hüstelte, um seine Empörung zu verbergen. Ihm war aufgefallen, und er war sich sicher, daß Fidelmadas auch bemerkt hatte, daß nämlich Bruder Solin dieselbe Kleidung trug wie am vorigen Abend beim Fest. Ein Mann vom Rang Bruder Solins führte immer besondere Kleidung mit, die er bei speziellen Gelegenheiten anlegte.

Auch Fidelma hatte gesehen, daß Solin die Kleidung seit dem Abend nicht gewechselt hatte, und sagte schnell, damit Eadulf nicht darauf anspielen konnte: »Vielleicht gehst du in meine Zelle und suchst das Material zusammen, daß ich für die Verhandlung mit Laisre und seinem Rat mitgebracht habe?«

Eadulf verstand den Wink und ging hinauf zu den Schlafräumen. Oben an der Treppe blieb er stehen und lauschte der weiteren Unterhaltung.

»Findet man hier in der Gegend gute Wege zum Spazierengehen, Bruder Solin?« hörte er Fidelma fragen.

»Einigermaßen«, antwortete der Kleriker.

»Wohin bist du gegangen?«

»Bis über eine Gruppe von Häusern an der Gabelung des Flusses hinaus, etwa eine Viertelmeile vom Tor des rath«, kam die rasche Antwort.

Sie wurde mit solcher Sicherheit gegeben, daß Ea-dulf wußte, Fidelma würde Solins Behauptung, er habe nur einen frühen Spaziergang gemacht, nicht erschüttern können. Was mochte der Geistliche aus Armagh nur vorhaben? Oder taten sie ihm unrecht, wenn sie ihn verwerflicher Absichten verdächtigten?

Als habe sie seine Gedanken erraten, hörte Eadulf, wie Fidelma leise und vertraulich sagte: »Da wir nun unter uns sind, Bruder Solin, möchte ich dich ganz privat fragen, zu welchem Zweck bist du wirklich hier?«

Es trat eine Pause ein, und dann lachte Bruder Solin.

»Das habe ich dir schon erklärt, Schwester Fidelma, und trotzdem glaubst du mir nicht.«

»Ich würde gern die Wahrheit hören.«

»Wessen Wahrheit? Meine Wahrheit gefällt dir nicht, was soll ich also sagen?«

»Würdest du beim Leibe Christi schwören, daß du von Ultan von Armagh lediglich dazu hergeschickt wurdest, um die Stärke des Glaubens in den fünf Königreichen zu erkunden? Wozu? Armagh hat hier keine Oberhoheit. Das Gebiet untersteht dem Bischof von Imleach.«

Bruder Solin verfiel in ein keuchendes Lachen.

»Du hast in Tara studiert, Fidelma von Cashel. Sogar Ultan hat mir von dir erzählt. Der Brehon Morann von Tara war dein Lehrer. Im Glauben hat dich Abt Laisran von Durrow unterwiesen, und du warst Novizin in Kildare. Du hast Äbtissin Étain von Kildare als Beraterin zur Synode von Whitby begleitet. Dort hat dich Ultan von Armagh gebeten, eine Gesandtschaftsreise nach Rom zu unternehmen. Erst seit deiner Rückkehr von dort hast du es vorgezogen, unter dem Schutz deines Bruders in Cashel zu leben.«

Fidelma war verblüfft, wieviel der Mann über sie wußte.

»Du scheinst gut unterrichtet zu sein, Bruder So-lin«, gab sie zu.

»Ich bin Ultans Sekretär, wie ich schon sagte. Ich muß gut Bescheid wissen.«

»Doch das beantwortet meine Frage noch nicht. Armagh wird nicht als die Mutterkirche dieses Königreichs anerkannt.«

»Was ich damit meinte, Schwester, ist, daß du weit genug gereist bist, um etwas von den Rechten der Könige der Ui Neill zu wissen. Und so, wie die Könige der Ui Neill ihr Recht auf das Großkönigtum und die Herrschaft über die fünf Königreiche beanspruchen, so beansprucht Armagh sein Recht auf die kirchliche Herrschaft über ganz Irland.«

Fidelma blieb gelassen.

»Ich weiß von den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ui Neill und den Eoghanacht über die Bedeutung des Großkönigtums«, bestätigte sie vorsichtig. »Nur wenige Einwohner der fünf Königreiche wissen nicht davon. Die Ui Neill behaupten seit vielen Jahren, das Königtum in Tara solle Macht über alle fünf Königreiche besitzen. Als die Könige von Irland zum ersten Mal zusammentraten und beschlossen, aus ihren Reihen einen Großkönig zu wählen, verstanden sie das nicht als ein autokratisches Amt, sondern als einen >Ehrenvorrang<. Jeder Großkönig sollte aus einer königlichen Dynastie und von ihnen allen abwechselnd gewählt werden. Es war eine Ehre, ein Zeichen der Hochachtung, aber keine Übertragung von Macht. Schau in den Gesetzen der fünf Königreiche nach und sieh dir die Gesetze über das Königtum an. Zeig mir ein Gesetz, das zugesteht, es gäbe ein Amt in den fünf Königreichen, das höher ist als das eines Provinzkönigs?«

Bruder Solin lehnte sich mit einem verächtlichen Lächeln zurück.

»Ich hatte erwartet, daß eine Eoghanacht-Prinzessin aus dem Gesetz zitieren kann, wenn es zugunsten von Cashel lautet.«

»Ich spreche als eine dalaigh«, erwiderte Fidelma bestimmt. »Spräche ich als Eoghanacht-Prinzessin, würde ich das Gesetz des Uraiccecht Bec zitieren: >Höchster über den Königen ist der König von Muman.<«

»Dem stimmen die Ui Neill nicht zu.«

»Natürlich nicht.« Fidelma konnte den Spott nicht aus ihrer Stimme verbannen.

»Trotzdem habt ihr in der Vergangenheit Sesnas-sach als Großkönig anerkannt. Bist du nicht in Tara gewesen und hast an seinem Hof gedient? Du hast sogar Ultan als Erzbischof anerkannt.«

»Ich wurde nach Tara gerufen, um den Diebstahl des Schwertes des Großkönigs aufklären zu helfen. Ich erkenne das Großkönigtum an aus Achtung für die priesterliche Ehre, wie es von den Königen vorgesehen war. Aber kein Eoghanacht ist der Ansicht, daß der König, der in Tara residiert, Oberhoheit über diese südlichen Reiche besitzt. Und als ich Ultan mit dem griechischen Titel archiepiskopos ansprach, tat ich nicht mehr, als unseren irischen Titel Comarb von Patrick zu übersetzen. Denn ein Erzbischof beaufsichtigt die Bischöfe seiner Provinz, so wie es der Comarb von Ailbe in Imleach hier in Muman tut.«

Bruder Solin schüttelte langsam den Kopf.

»Es kommt eine Zeit, Fidelma, in der das Großkönigtum nicht mehr nur ein leerer Titel sein wird. Der einzige Weg, dieses Land groß zu machen, nicht nur zu einem Land sich streitender Provinzkönigreiche, führt über einen starken Großkönig, der alle Königreiche in seinem Griff vereint.«

Fidelmas Augen funkelten gefährlich.

»Und dieser Großkönig wäre natürlich ein Ui Neill?«

»Wer könnte das Land besser voranbringen als die Nachkommen von Niall von den Neun Geiseln? Gestern abend hast du behauptet, die Eoghanacht stammten von Eber ab, dem Sohn des Milesius. Aber besitzen nicht die Ui Neill einen ähnlichen Anspruch durch Eremon, den älteren Sohn des Milesius, der im Norden herrschte? Hat nicht Eremon Eber erschlagen, als der versuchte, diese Macht an sich zu reißen?«

Trotz der Erregung Bruder Solins hatte Fidelma während dieser Auseinandersetzung ihre Stimme nicht erhoben. Sie blieb leise und unbewegt.

»Ich habe Sechnassach, den Sohn von Blathmaic, kennengelernt, der den Thron in Tara innehat. Er ist ein Mann von Grundsätzen und würde nie so nach Macht gieren, wie du es beschreibst. Er beansprucht Tara entsprechend dem Brauch des Vorrangs. Er gehorcht den Gesetzen der fünf Königreiche.«

»Sechnassach? Dieser Abkömmling von Blathmaic mac Aedo Slaine!« Es war ein unwillkürlicher, verächtlicher Ausruf. Dann veränderte sich Bruder Solins Miene jäh. Er schien seinen Ausbruch zu bereuen. Seine ganze Haltung änderte sich.

»Du hast recht, Fidelma.« Seine Stimme klang plötzlich einschmeichelnd. »Manchmal lassen meine Träume von einem besseren System des Königtums in diesem Land mich die Wirklichkeit vergessen. Du hast natürlich recht. Absolut recht. Sechnassach würde sein Amt nie mißbrauchen.«

Fidelma wußte, daß Bruder Solin begriffen hatte, daß er zuviel gesagt hatte. Doch es war nicht genug, um sie erkennen zu lassen, weshalb der Kleriker nach Gleann Geis gekommen war.

»Du hast mir immer noch nicht erklärt, wozu Ultan einen Vertreter zu diesem einsamen Vorposten des Christentums schicken sollte?« drängte sie ihn. »Er könnte den Zustand des Glaubens viel einfacher erfahren.«

Bruder Solin zuckte ausdrucksvoll die Achseln.

»Vielleicht hat er von den Schwierigkeiten gehört, denen sich Imleach bei der Bekehrung dieses Gebiets zum wahren Glauben gegenübersieht, und mich gebeten, hierher zu reisen und zu schauen, was sich machen läßt? Möglicherweise ist es auch reiner Zufall, daß ich gerade in dem Augenblick angekommen bin, in dem du über die Mittel verhandelst, durch die Im-leach Licht in dieses dunkle Tal bringen könnte.«

»Drei falsche Feststellungen.« Fidelma funkelte ihn an und zitierte einen der Dreisätze von Eireann: »>Vielleicht<, >möglicherweise< und >ich vermute

Bruder Solin lachte anerkennend über ihre Gelehrsamkeit.

»Nun, Schwester, wenn ich dir sonst noch einen Rat geben kann ...?«

Eadulf beugte sich vor, um dem Gespräch besser folgen zu können, als er ein hohles Hüsteln hinter sich vernahm.

»Geht es dir nicht gut, Bruder?«

Mit rotem Gesicht richtete sich Eadulf auf und sah sich dem jungen Bruder Dianach gegenüber, der ihn neugierig betrachtete. Er hatte völlig vergessen, daß Dianach in seinen Schlafraum gegangen war.

»Mir war ein wenig schwindlig«, murmelte er und suchte nach einer Erklärung für seine Haltung. »Dafür ist es gut, wenn man den Kopf zwischen die Knie nimmt.«

»Das hast du also versucht?« Eadulf wußte nicht, ob ihn Bruder Dianach aufzog oder nicht. »Das ist gefährlich, wenn man es an der Treppe macht. Ich hoffe, es geht dir besser, aber ich fürchte, du hast eine falsche Auffassung davon, wie man sich gesund erhält. Entschuldige, Bruder Eadulf.«

Damit ging der junge Mann die Treppe hinunter, bevor Eadulf eine passende Antwort gefunden hatte. Er ärgerte sich über sich selbst. Bruder Dianach faßte nun sicher den Verdacht, daß Eadulf an der Treppe gehockt hatte, um dem Gespräch unten zu lauschen.

Bruder Solin blickte auf, als er seinen Schreiber sah, und lächelte kurz.

»Guten Morgen, Bruder Dianach. Hast du deinen Griffel und die Tontäfelchen bereit?«

»Ja«, antwortete der junge Mann.

Bruder Solin blickte wieder Fidelma an.

»Ich meine, wir brauchen nichts weiter zu diesem Thema zu sagen, nachdem wir alles klargestellt haben?« fragte er mit leichter Betonung.

Fidelma erwiderte gelassen seinen Blick.

»Dem stimme ich zu«, sagte sie. »Jedenfalls für den Augenblick.«

Bruder Solin stand auf und wischte sich den Mund.

»Komm mit, Bruder Dianach«, befahl er und schritt zur Tür. »Wir müssen uns auf die Beratungen am Vormittag vorbereiten.« Er warf Fidelma einen Blick zu, den diese nicht deuten konnte.

Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, stolperte Eadulf die Treppe herab.

»Dianach hat mich überrascht, wie ich oben an der Treppe zuhörte ...«, begann er.

»Hast du mitbekommen, was zwischen uns vorging?« unterbrach ihn Fidelma.

»Ja. Ich dachte .«

»Bruder Solin verbirgt uns offensichtlich etwas«, erklärte Fidelma. »Ultan von Armagh hätte sonst kein Interesse an dieser abgelegenen Gegend. Hier geht irgend etwas anderes vor. Aber was? Das macht mir zu schaffen. Was führt Solin wirklich im Schilde?«

»Es gibt eine Ansicht, daß man, wenn man schon lügen muß, möglichst viel Wahrheit in die Lüge einbauen soll«, gab Eadulf zu bedenken.

Fidelma schaute Eadulf einen Moment an und lächelte dann erfreut.

»Manchmal erinnerst du mich an das Offenkundi-ge, Eadulf«, sagte sie. Dann überlegte sie. »Er hat uns zweifellos darüber belogen, wo er sich die Nacht über aufgehalten hat. Doch als ich ihn fragte, wo er heute morgen spazierengegangen sei, konnte er mir das ohne Zögern genau beschreiben. Vielleicht war er wirklich dort? Ich denke, wenn die Verhandlungen an diesem Vormittag beendet sind, erholen wir uns dadurch, daß wir einen Gang in diese Richtung unternehmen und sehen, was wir entdecken können.«

Sie blickte aus dem Fenster. Es wurde spät.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit, bis der Rat zusammentritt. Ich meine, wir sollten jetzt noch einen kurzen Gang machen, um unsere Köpfe klar zu bekommen.«

Bruder Eadulf zog ein schmerzvolles Gesicht.

»Ich fürchte, meinen Kopf klar zu kriegen, erfordert mehr als einen Spaziergang, Fidelma. Der miese Wein hat meinen Körper vom Kopf bis zum Fuß durchdrungen. Ich habe den Eindruck, daß ich mehr als nur frische Luft brauche, um den Vormittag zu überstehen.«

So schlecht er sich auch fühlte, Eadulf ließ sich dennoch von Fidelma überreden, sie zu begleiten. Lieber hätte er sich wieder aufs Bett geworfen und geschlafen. Er empfand Übelkeit und Schwäche. Seine Haut schwitzte und juckte, und sein Mund war trok-ken.

In der Burg waren schon einige Leute auf den Beinen und eilten an ihre Tagesarbeit, obwohl das Fest für viele von ihnen erst beim Morgengrauen geendet hatte. Eadulf und Fidelma wurden ohne ein Zeichen von Feindseligkeit gegrüßt, von manchen sogar ganz freundlich. Alle aber betrachteten Fidelma mit Neugier. Ihre Antwort auf Murgals Lied war anscheinend Tagesgespräch geworden.

Als sie den Hof der Burg zum Tor hin überquerten, blieb Fidelma stehen und zeigte auf einen Karren, den ein kleiner, stämmiger Esel gerade durchs Tor hereinzog. Er war anscheinend mit Pflanzen aller Art beladen. Geführt wurde der Esel von einer großen schlanken Frau.

Fidelma stieß Eadulf leicht an.

»Ist das nicht Murgals Nachbarin vom gestrigen Fest?« flüsterte sie. Eadulf hob seine trüben Augen und erkannte die Frau sofort, obwohl sie jetzt Mantel und Kapuze trug. Sie hatte ein schlichteres Kleid als am Abend zuvor an.

Fidelma ging sofort auf sie zu, und Eadulf folgte ihr.

»Du bist Marga, nicht wahr?«

Die Frau wandte sich ihr zu. Fidelma schaute in hellblaue Augen, so hell, daß sie sie an Eis erinnerten. Das blasse Gesicht war ausdruckslos. Das lange Haar hatte die Farbe reifen Korns. Fidelmas Urteil vom vorigen Abend erwies sich als richtig. Die Frau war hübsch. Dabei blieb es. Marga war groß, und trotz des langen, weiten schwarzen Mantels, der ihre Blässe und ihr blondes Haar noch betonte, wußte Fidelma vom Vorabend, daß ihr Körper geschmeidig und wohlgeformt war und sie sich katzenhaft leicht bewegte.

Ihre Stimme klang wie ein zischendes Flüstern.

»Ich kenne dich nicht, Fidelma von Cashel. Wieso ist dir mein Name geläufig?«

»Deinen Namen hat man mir genannt, so wie man dir meinen genannt hat, und also begrüße ich dich. Irre ich mich, wenn ich dich für die Apothekerin Marga halte?«

»Ich heiße Marga und heile im Namen der Göttin Airmid, die Dian Cechts geheime Quelle der Heilung hütet.«

Diese Aussage sollte Fidelma herausfordern, doch die ging nicht darauf ein.

Airmid war eine der alten Göttinnen. Fidelma kannte die Geschichte gut. Sie war die Tochter des Gottes der Heilkunst, Dian Cecht, und die Schwester von Miach, der auch Arzt und Gott war. Als Miach sich als ein besserer Arzt erwies als sein Vater, erschlug der zornige Gott seinen Sohn. Aus seinem Grabe erwuchsen dreihundertundfünfundsechzig heilende Kräuter. Airmid soll die Kräuter vom Grabe ihres Bruders gesammelt und auf ihrem Mantel in der Reihenfolge ihrer verschiedenen heilenden Eigenschaften ausgelegt haben. Doch Dian Cecht war immer noch eifersüchtig auf Miach, kehrte den Mantel wütend um und warf die Kräuter hoffnungslos durcheinander, damit kein Mensch das Geheimnis erfahre, wie man durch ihren Gebrauch unsterblich werden könne.

»Möge dir Gesundheit beschieden sein, Heilerin Marga«, antwortete Fidelma ernst. »Ich hoffe, du hast einige der Geheimnisse gelernt, die dein Gott Dian Cecht uns vorenthalten wollte.«

Margas Augen weiteten sich leicht.

»Stellst du mein Wissen in Frage, Fidelma von Cas-hel?« flüsterte sie drohend.

»Warum sollte ich das?« fragte Fidelma harmlos. Sie merkte, wie leicht erregbar das Mädchen war. »Meine Kenntnis der alten Sagen ist bescheiden. Doch jeder weiß, was Dian Cecht im Zorn tat, um zu verhindern, daß die Sterblichen die Heilkunde in ihrem ganzen Umfang beherrschen. Ich dachte ...«

»Ich weiß, was du dachtest«, fauchte Marga und griff dem Esel ins Geschirr. »Entschuldige mich, ich habe viel zu tun.«

»Das haben wir alle, jeder auf seine Weise. Doch es gibt ein paar Fragen, die ich dir stellen möchte.«

Marga brauste sofort auf.

»Aber ich möchte sie nicht beantworten. Und jetzt .«

Sie wollte gehen, Fidelma streckte jedoch lächelnd die Hand aus und hielt sie zurück. Fidelma hatte einen festen Griff, und Marga zuckte leicht zusammen.

»Ich wüßte nicht, wann ich dir meine Fragen sonst stellen sollte.« Fidelma musterte den Karren. »Du hast anscheinend Kräuter und Pflanzen zum Heilen gesammelt?«

Marga blieb unzugänglich.

»Wie du deutlich sehen kannst«, erwiderte sie steif.

»Und du übst deine Heilkunst im rath aus?«

»Ja.«

Ihre Augen suchten unwillkürlich die andere Seite des Hofes ab und blieben an einem hohen, dreistök-kigen Gebäude hängen, das an einer Seite einen eigenartigen niedrigen Turm besaß. Fidelma war ihrem Blick gefolgt und sah an einer Ecke einen Laden. Außen an der Tür hingen Bündel getrockneter Kräuter.

»Ist das deine Apotheke?«

Marga zuckte fast unverschämt die Achseln, doch Fidelma schien das nicht zu rühren.

»Ich sehe nicht ein, was diese Fragen für einen Zweck haben«, sagte die blasse Kräutersammlerin ungeduldig.

»Verzeih mir«, erwiderte Fidelma reuig. »Es geht um meinen Freund hier .«

Die hellblauen Augen glitten über ihn hinweg, ohne ihren Ausdruck zu verändern.

»Sieh mal«, fuhr Fidelma vertraulich fort, »mein Freund hat sich gestern abend zuviel Rebensaft einverleibt.«

»Wein aus Gallien!« Marga rümpfte die Nase. »Er verdirbt beim Transport, wenn er nicht sehr gut ist. Aber Laisre kann sich keinen besseren leisten, außer für sich und seine Familie. Na, es gab noch viele andere, die mehr davon getrunken haben, als ihnen guttat.«

»Meinst du Murgal?« fragte Fidelma rasch.

Es trat eine Pause ein.

»Du hast scharfe Augen, Christin. Ja, ich meine Murgal. Aber das geht dich nichts an .«

»Natürlich nicht«, lächelte Fidelma. »Mein Freund hier braucht ein Kräutermittel gegen sein Unwohlsein. Er dachte, er könnte bei dir eins kaufen.«

Eadulf war überrascht von dieser Lüge, denn er wußte mehr über Kräutermittel als die meisten anderen, er hatte ja Medizin studiert. Marga schaute ihn säuerlich an. Eadulf errötete unter ihrem vernichtenden Blick.

»Ich nehme an, du hast Kopfschmerzen und Magenbeschwerden?«

Eadulf nickte, er traute sich nicht zu sprechen.

Die Apothekerin drehte sich um und suchte in ihrem Karren. Sie zog einen Stengel mit ein paar grundständigen, lanzettförmigen Blättern hervor, die weiter oben am Stengel immer kleiner wurden. Eadulf erkannte sie sofort: Fingerhut. Er war häufig genug in Hecken, Gräben und an bewaldeten Abhängen zu finden.

»Verwende nur die Blätter, koche sie in Wasser. Den Aufguß trinkst du. Er schmeckt sehr bitter, aber später wirst du die lindernde Wirkung spüren. Hast du das verstanden, Angelsachse?«

»Ja«, antwortete Eadulf ruhig.

Er nahm die Blätter entgegen und langte in seinen Beutel.

»Ein screpall ist die kleinste Münze, die ich habe«, murmelte er und reichte sie ihr. Marga wehrte ab.

»Für Münzen haben wir keine Verwendung in unserem Tal, Angelsachse. Wir verlassen uns hauptsächlich auf den Tauschhandel, auch im Verkehr mit der Welt da draußen. Behalte deine Münze und nimm die Blätter als milde Gabe einer Heidin an einen Christen.«

Eadulf wollte sich bedanken, doch Fidelma unterbrach ihn mit einem Lächeln.

»Ich vermute, eine Reihe von Leuten leiden unter den Folgen des schlechten Weins?«

»Nicht viele. Wer lieber Wein trinkt als Met, hat auch die Fähigkeit entwickelt, seine Wirkung abzuschätzen.«

»Waren gestern abend trotzdem einige davon betroffen?«

Marga zuckte die Achseln.

»Einige wenige. Die meisten dieser Schweine liegen jetzt herum und schlafen sich aus.«

»Trinkt Murgal immer so viel?«

Margas Brauen zogen sich aufgebracht zusammen, doch dann beruhigte sie sich offenbar.

»Nun, er hat mich nicht um Hilfe gebeten, und ich hätte sie ihm auch nicht gewährt. Dafür spende ich dir Beifall, Fidelma von Cashel: Gestern abend hast du es dem Schwein richtig gegeben.«

»Du magst ihn nicht?«

»Ist dir das nicht aufgefallen?« fragte Marga spöttisch.

»Allerdings.«

»Murgal denkt, er kann sich alles nehmen, was er will. Er hat es gewagt, mich mit seinen schweißigen Pfoten anzufassen. Jetzt weiß er wohl, daß er sich solche Freiheiten nicht erlauben darf.«

»Ich verstehe«, sagte Fidelma ernst.

Marga starrte sie mißtrauisch an »Ist es das, was du wissen wolltest?« fragte sie mürrisch.

»Nicht alles.« Fidelma lächelte. »Eadulf brauchte wirklich etwas, was ihm seine Niedergeschlagenheit austreibt.«

Marga sah sie einen Moment argwöhnisch an, dann packte sie den Esel am Kopf und führte ihn über den Hof fort. Plötzlich blieb sie stehen und wandte sich Eadulf zu.

»Sei vorsichtig mit dem Aufguß dieser Blätter, Angelsachse«, rief sie ihm zu. »Wenn man ihn nicht richtig einnimmt, kann er giftig wirken. Die genaue Dosis ist für jeden verschieden. Bei dir würde ich sagen, nur ein paar Schlucke.«

Dann drehte sie sich wieder um und zog den Esel hinter sich her zur Apotheke.

Eadulf seufzte erleichtert und wischte sich die Stirn.

»Ich bin froh, daß sie das noch gesagt hat«, meinte er ruhig und betrachtete die Blätter mit Widerwillen.

»Wieso?« fragte Fidelma interessiert.

»Weil mir meine Kräuterkenntnis sofort verriet, daß sie ihr Bestes tat, mich zu vergiften. Hätte sie mich nicht gewarnt und hätte ich diese Blätter nicht gekannt, könnte ich bald nach dem Trinken des Aufgusses tot sein. Ein Schluck ist eine Sache, aber der ganze Aufguß eine andere.«

Fidelma wandte sich um und sah der Apothekerin aufmerksam nach.

»Vielleicht gefielst du ihr anfangs nicht, Eadulf.« Sie lächelte spitz.

»Als Fremder, als Christ oder als Mann?« überlegte der Angelsachse laut.

Fidelma kicherte.

»Nun, jedenfalls gefällst du ihr jetzt zumindest so gut, daß sie dich vorm vorzeitigen Ableben bewahren will.«

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