Kapitel 12

Rudgal ging voran aus dem Saal, und Fidelma folgte ihm wortlos. Es gab nichts mehr zu sagen. Ihr Leben war schon bei anderen Gelegenheiten bedroht gewesen, doch nun hatte Fidelma zum erstenmal ein Gefühl, das sie nur als an Panik grenzend beschreiben konnte. Neun Tage in einer Zelle eingesperrt, mit einer Mordanklage drohend über ihrem Haupt, und außerstande, irgend jemanden zu befragen oder Beweismittel für ihre Verteidigung zu sammeln, das war eine schreckliche Aussicht.

Rudgal geleitete sie schweigend über den gepflasterten Hof. Die Leute, die sich in Grüppchen versammelt hatten, flüsterten nicht mehr, sondern diskutierten laut. Zorn war zu spüren. Fidelma schaute sich vergeblich nach Eadulf um. Rudgal brachte sie zu einem Gebäude an der gegenüberliegenden Seite des rath, hinter den Ställen. Es war ein niedriges, einstöckiges Bauwerk aus grauem Granit. Sein einziger Eingang war eine große Holztür. Rudgal öffnete sie, und Fidelma schlugen aus dem Innern laute, heftige Stimmen, vermischt mit rauhem Gelächter, entgegen. Rudgal schien zu ahnen, was ihr durch den Kopf ging.

»Dies ist das Quartier für diejenigen von uns, die freiwillig die Leibwache des Fürsten bilden, Schwester Fidelma. Wenn wir uns im rath aufhalten, dient es uns als Schlafraum, und es ist das einzige Gebäude, in dem wir jemanden einsperren können, der gegen die Gesetze verstoßen hat. Es gibt eine einzelne Zelle in der hinteren Ecke des Gebäudes. Sie wird die Einzelhaftkammer genannt. Achte nicht auf den Lärm. Ich fürchte, ein paar von den Männern sind noch etwas betrunken von dem Fest gestern abend.«

Rudgal benahm sich ihr gegenüber sehr förmlich. Das gefiel ihr. Sie war froh, daß ihm die unangenehme Aufgabe zugefallen war, sie ins Gefängnis zu bringen, und nicht Artgal.

Fidelma ging voran in das Gebäude. Er folgte ihr und schloß die Tür, dann führte er sie einen kurzen Gang entlang, an dem Raum vorbei, in dem die Wache immer noch lärmend feierte, und danach im rechten Winkel davon abzweigend zu einer Tür mit einem schweren eisernen Schlüssel im Schloß.

»Es ist eine armselige Unterkunft, fürchte ich, Schwester Fidelma«, sagte Rudgal und öffnete.

»Ich werde mich schon einrichten«, antwortete Fidelmamit mattem Lächeln.

Rudgal schaute verlegen drein.

»Du brauchst mich nur zu rufen, und ich tue alles für dich, was in meiner Macht steht, solange du nicht verlangst, daß ich meinen Treueid gegenüber meinem Fürsten breche.«

Fidelma sah ihn ernst an.

»Ich verspreche dir, daß ich nicht von dir verlangen werde, deinen Eid zu brechen - es sei denn, es geht um einen höheren Eid.«

Der Krieger und Wagenbauer runzelte fragend die Stirn.

»Ein höherer Eid? Meinst du die Pflicht gegenüber dem Glauben?«

»Nein, nicht einmal die. Dein Fürst hat Cashel einen Eid geschworen. Cashel geht vor allen anderen Dingen. Wenn dein Fürst seinen Eid gegenüber Cashel bricht, dann bist du von deinem Eid ihm gegenüber entbunden, denn dann befindet er sich in Rebellion gegen seinen rechtmäßigen König. Verstehst du das?«

»Ich denke schon. Ich werde für dich tun, was ich kann, Schwester Fidelma.«

»Ich werde deine Dienste zu schätzen wissen, Rudgal.«

Angewidert untersuchte sie ihre Zelle. Sie war kalt und feucht und enthielt kaum mehr als einen Stroh-sack auf dem Fußboden. Sie roch übel und war offensichtlich eine Weile nicht benutzt worden. Es gab nur einen winzigen Fensterschlitz hoch oben an einer Wand. Rudgal fand eine Öllampe und entzündete sie. Er schaute sich um und fühlte sich ebenfalls abgestoßen.

»Mehr kann ich nicht für dich tun, Schwester«, entschuldigte er sich noch einmal.

Fidelma mußte bei seiner traurigen Miene beinahe lächeln.

»Du bist nicht dafür verantwortlich, daß ich mich hier befinde, Rudgal. Das Unglück hat mich hergebracht, und nun muß ich meinen Verstand anstrengen, daß ich wieder herauskomme.«

»Brauchst du etwas, Schwester?« fragte er nochmals.

Fidelma überlegte rasch.

»Ja. Ich benötige ein paar persönliche Dinge aus dem Gästehaus, zum Beispiel mein marsupium. Würdest du bitte dorthin gehen und Bruder Eadulf, der wahrscheinlich noch schläft, darum bitten, daß er es mir gleich bringt.«

»Den Angelsachsen herholen ...?« Rudgal schien zu zögern.

»Sei unbesorgt, Rudgal. Bruder Eadulf muß als mein dalaigh fungieren, da ich mich nun nicht mehr frei bewegen kann. Ich habe das Recht, ihn als meinen Vertreter zu benennen, und als mein dalaigh kann er mich ungehindert besuchen.«

»Sehr wohl, Schwester, ich bringe den Angelsachsen her.«

Er ging und schloß die mächtige Holztür hinter sich. Fidelma hörte, wie sich der Schlüssel in dem großen eisernen Schloß drehte, und verspürte eine ungewohnte Verzagtheit. Solche Verzweiflung hatte sie bisher nicht an sich gekannt.

Sie versuchte, ihre Gedanken auf die unmittelbare Frage des Überlebens zu konzentrieren. Mit Abscheu sah sie sich in der dunklen, muffigen Zelle um. Es roch widerlich hier. Sie erschauerte und schlang die Arme um sich, als biete das einen Trost.

Etwas bewegte sich in dem Strohsack. Eine dunkelgraue Ratte kam heraus und verschwand in einem Loch zwischen den Granitsteinen. Fidelma schüttelte sich heftig und schritt hin und her. Sie hoffte, Eadulf würde bald kommen. Nachdem sie ihm ihre Anweisungen gegeben hätte, wollte sie versuchen, sich mit Hilfe des dercad, der Kunst der Meditation, von ihrer Niedergeschlagenheit zu befreien. Generationen irischer Mystiker hatten damit äußerliche Gedanken und geistige Irritationen beruhigt und den Zustand des sit-chain, des Friedens, erlangt. Sie hatte diese alte Kunst in Zeiten der Bedrängnis regelmäßig geübt. Doch nie in ihrem Leben hatte Fidelma das Meditieren so nötig gehabt wie jetzt.

Nach fünfzehn Minuten, die ihr wie mehrere Tage vorkamen, betrat ein blasser Eadulf mit besorgter Miene die Zelle, gefolgt von Rudgal.

»Fidelma, was für ein Unglück hat dich hierhergebracht? Ach, von Rudgal habe ich bisher nur ganz wenig darüber erfahren. Sag mir, wie ich deine Freilassung erreichen kann?«

Fidelma stand mitten im Raum und lächelte besänftigend, um Eadulfs Befürchtungen zu mildern.

Rudgal sprach, bevor sie antworten konnte.

»Während du dem Angelsachsen deine Anordnungen gibst, sehe ich zu, daß ich dir etwas bringen kann, was das Leben in diesem Loch ein wenig erträglicher macht.« Er verließ sie und schloß die Tür hinter sich ab.

»Was kann ich tun?« fragte Eadulf in so angstvollem Ton, daß seine Stimme in dem hallenden Raum unnatürlich klang. »Mein Gott, was für Vorwürfe mache ich mir. Ich war wie benommen, ich bin erst wach geworden, als Rudgal kam und mir sagte, du bist hier. Warum hast du mich nicht geweckt, als du das Gästehaus verlassen hast? Ich hätte das hier vielleicht verhindern können. Wenn ich bei dir gewesen wäre .«

»Vor allem mußt du ruhig bleiben, Eadulf«, befahl ihm Fidelma. »Du bist der einzige, der meine Freilassung bewirken kann.«

Eadulf schluckte schwer.

»Sag mir, was ich tun muß.«

»Ach, ich kann dir hier nicht einmal etwas zum Sitzen anbieten, denn der Strohsack ist voller Ungeziefer und kein angenehmer Ruheplatz. Also müssen wir stehen bleiben, während ich dir erkläre, was passiert ist.«

Sie hatte ihren Bericht fast beendet, als sich die Tür wieder öffnete. Rudgal brachte eine Holzbank herein.

»Verzeih, Schwester, daß ich so lange fort war, aber ich habe ein Bett und eine Sitzgelegenheit gesucht.

Das Bett hole ich gleich, damit du nicht auf diesem feuchten, kalten Boden liegen mußt. Inzwischen mußt du mit der Bank auskommen.«

Fidelma dankte ihm herzlich.

»Rudgal hat mir seine Hilfe angeboten, und ich meine, ihm können wir vertrauen«, fügte sie für Ea-dulf hinzu.

Eadulf nickte ungeduldig.

Rudgal schob die Bank an eine trocknere Wand der Zelle und ging wieder.

Fidelma setzte sich und erzählte weiter. Eadulf stöhnte angstvoll, als sie fertig war, und breitete die Hände in einer hoffnungslosen Geste aus.

»Wenn du sowohl Laisre als auch Murgal gegen dich hast, weiß ich nicht, was ich tun soll.«

»Du mußt einen Weg finden«, sagte Fidelma fest. »Schließlich ist das die Aufgabe eines dalaigh.«

»Aber ich bin doch kein in eurem Recht ausgebildeter Anwalt«, protestierte Eadulf.

»Ich bin es aber. Ich berate dich, und du mußt eine Möglichkeit finden, die Wahrheit dessen, was ich sage, zu beweisen. Die Sache ist verworren. Orla und ihr Ehemann Colla wirken so überzeugend mit ihren Aussagen. Aber ich schwöre, Eadulf, daß ich Orla aus dem Stall herauskommen sah. Sie und Colla müssen lügen. Daß ich sie erkannt habe, scheint ihren Bruder Laisre sehr zu beunruhigen. Vermutlich sieht er darin eine Kränkung seiner Familienehre, doch ich glaube, wenn es nur um eine Meinungsverschiedenheit zwischen Artgal und mir ginge, hätte Laisre Artgals Aussage weniger ernst genommen. Die Tatsache, daß ich seine Schwester belastet habe, hat ihn ziemlich wütend auf mich gemacht.«

»Ich verstehe nicht, weshalb er so zornig ist, daß er dir eine faire Anhörung verweigert.«

»Ach, Familienehre ist immer eine komplizierte Angelegenheit. Ich kann nicht sagen, daß sein Verhalten unfair wäre. Und was Murgal tut, ist es übrigens auch nicht. Beide bewegen sich im Rahmen des Gesetzes.«

»Nun, ich muß dich hier herausholen. Aber wie fange ich das an?«

»Ich muß meinen Ruf wiederherstellen und herausfinden, wer Bruder Solin ermordet hat. Das kann ich nicht tun, solange ich in dieser Zelle bin. Murgal sagt, ich muß nach dem Gesetz neun Tage hierbleiben bis zu meiner Gerichtsverhandlung.«

Eadulf fuhr sich nachdenklich durchs Haar.

»Aber wenn ich mich recht erinnere, können vor euren Gerichten Leute von Rang, die eine Kaution bezahlen, freigelassen werden, wenn sie schwören, daß sie zur Verhandlung wieder vor dem Gericht erscheinen werden.«

Fidelma lächelte anerkennend.

»Du erinnerst dich richtig. Solch ein Gesetz gibt es. Du mußt sehen, ob du dies Gesetz benutzen kannst, um meine Freilassung zu erwirken. Es gibt hier eine Bibliothek. Sie untersteht Murgal. Weißt du noch, daß ich dir das Gebäude gezeigt habe, in dem sie sich befindet?«

Eadulf nickte.

»Dann mußt du das entsprechende Gesetz nachlesen. Danach wende dich an Murgal, denn denke daran, Murgal ist der Brehon für dieses Tal. Verlange eine Anhörung, ob ich nicht nach dem Gesetz freikomme, um nach neun Tagen wieder zu erscheinen. Wenn ich in Freiheit bin, haben wir die Chance, zu beweisen, wessen Hand das Messer führte, mit dem Bruder Solin das Leben genommen wurde.«

»Sollte es hier eine solche Sammlung von Gesetzbüchern geben?« fragte Eadulf zweifelnd. »Murgal ist Heide.«

Trotz ihrer Lage mußte Fidelma leise lachen.

»Heiden oder Christen, wir sind ein gebildetes Volk, Eadulf. Die Druiden schrieben Bücher, lange bevor Patrick kam und das lateinische Alphabet übernommen wurde. Verehrten wir nicht Ogma, den Gott der Gelehrsamkeit und der Schrift, nach dem unser erstes Alphabet benannt wurde? Und das Gesetz war Gesetz schon ganze Zeitalter, bevor der neue Glaube auf diese Insel gelangte.«

Eadulf verzog mißbilligend den Mund.

»Schlägst du vor, daß ich Murgal frage, ob er solche Gesetzbücher hat?«

»Heide oder Christ, Berater Laisres oder nicht, Murgal ist Brehon und hat geschworen, getreu dem Gesetz zu handeln.«

Eadulf schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Wenn er es also erlaubt, nach welchem Buch sollte ich suchen?«

»Als erstes mußt du den Text mit dem Titel Coic Conara Fugill studieren, das heißt >Fünf Wege zum Urteil<. Schau dir ferner das Berrad Airechta an. Ich meine, in diesen beiden Werken findest du die notwendigen Verfahren für meinen Fall. Mach dich mit der Verfahrensweise vertraut und suche den Weg, der nach dem Gesetz zu meiner Freilassung führt.«

»Ich muß dich daran erinnern, Fidelma, daß ich nicht das Recht dieses Landes studiert habe«, wandte Eadulf ein. »Ich habe Theologie studiert und Medizin.«

»Du hast mir oft erzählt, daß du in deinem Land von deinem Vater das Amt des Friedensrichters geerbt hattest, Eadulf. Jetzt ist es an der Zeit, daß du dein Talent nutzt. Du kennst meine Methoden und hast mich oftmals vor den Gerichten plädieren hören. Halte dich an die >Fünf Wege zum Urteil< und sieh dir das Bürgschaftsgesetz arach an. Ich verlasse mich auf dich, Eadulf.«

Eadulf erhob sich unsicher.

»Ich werde versuchen, dein Vertrauen nicht zu enttäuschen.«

Er streckte beide Arme aus und faßte sie sanft an den Schultern. Ihre Blicke begegneten sich, und dann wandte sich Eadulf mit leicht geröteten Wangen zur Tür um. Die öffnete sich sofort, als habe Rudgal dahinter gestanden und gewartet. Er trat beiseite und ließ Eadulf vorbei.

Darauf trug Rudgal ein Holzbett in die Zelle. Anschließend brachte er Decken und einen Krug Wasser herein. Der Krieger und Wagenbauer schaute besorgt drein.

»Der angelsächsische Bruder sieht etwas gedankenverloren aus, Schwester Fidelma«, murmelte er, während er das Bett an die richtige Stelle schob. Bevor sie antworten konnte, fügte er hinzu: »Das wird dir den Aufenthalt hier ein bißchen erleichtern, hoffe ich.«

»Mir zuliebe, Rudgal, oder auch dem Glauben zuliebe, würdest du bitte ein wachsames Auge auf Bruder Eadulf haben? Er wird vielleicht Hilfe brauchen. Hilf ihm so, wie du mir helfen würdest.«

»Das werde ich tun, Schwester Fidelma. Das kannst du mir überlassen.«

Ohne ein weiteres Wort setzte sich Fidelma auf die Bank und sammelte sich für das dercad. Sie hörte schon nicht mehr, wie Rudgal ging und die Tür ins Schloß fiel.

Es waren noch mehrere Stunden bis zum Morgengrauen, und Eadulf begriff, daß er bis dahin warten mußte, ehe er Murgal um Erlaubnis bitten konnte, seine Bibliothek benutzen zu dürfen. Wahrscheinlich war Murgal nach den Aufregungen der Nacht gerade erst zu Bett gegangen. Eadulf wußte, wenn er Fidelma helfen wollte, mußte er hellwach sein. Zwei Nächte hatte er nicht gut geschlafen, deshalb beschloß er, sich noch ein oder zwei Stunden ins Bett zu legen. Trotz seiner Gemütsverfassung hatte er sich kaum ausgestreckt, als er schon tief schlief.

Er erwachte von Geräuschen, die aus dem Haupt-raum des Gästehauses zu ihm drangen. Einen Moment konnte sich Eadulf nicht an die Geschehnisse der vergangenen Nacht erinnern. Dann brachen sie wie eine Sturzflut über ihn herein. Er erhob sich und ging hinunter.

Cruinn war da und starrte ihn feindselig an, als sie ihn erblickte. Der junge Mönch, Bruder Dianach, saß traurig und bekümmert in einer Ecke. Sobald er Ea-dulf bemerkte, machte er ein zorniges Gesicht. Es war klar, daß der Tod Bruder Solins und die Verhaftung Fidelmas heute morgen die Gespräche im rath beherrschten.

»Warum hat sie das getan?« Bruder Dianachs anklagende Worte trafen Eadulf wie ein Peitschenhieb. Der junge Mann stand auf, als wolle er auf Eadulf losgehen. »Hat sie ihn derart gehaßt?«

Eadulf blieb am Fuße der Treppe stehen und blickte Bruder Dianach mitfühlend an.

»Schwester Fidelma hat Bruder Solin nicht getötet«, erwiderte er ruhig.

Cruinn murmelte in unterdrücktem Zorn etwas vor sich hin. Die rundliche Frau wirkte jetzt nicht mehr fröhlich, sie hatte sich in eine wütende Hexe verwandelt.

Eadulf schaute vom einen zum anderen und zuckte die Achseln. Er merkte, daß beide nicht gewillt waren, sich Fidelmas Seite der Geschichte anzuhören. Er wandte sich ab und ging in den Baderaum. Als er seine Toilette beendet hatte, war von Cruinn und Bruder Dianach nichts mehr zu sehen. Er begab sich hinauf in sein Zimmer und zog sich an. Als er zurückkam, stellte er fest, daß Cruinn ihm kein Frühstück hingestellt hatte. Das war anscheinend ihre Art des Protests. Ea-dulf seufzte und suchte sich etwas zu essen.

Nach einem bescheidenen Mahl aus trockenem Brot, kaltem Fleisch und Met unternahm er seinen ersten Vorstoß. Vor dem Gebäude, das Fidelma ihm als Ort der Bibliothek Murgals gezeigt hatte, begegnete er zuerst der hübschen Apothekerin Marga. Nach dem, was ihm Fidelma über ihren Ausbruch berichtet hatte, als sie erfahren hatte, daß er sich in der Kräutermedizin auskannte, erwartete er, daß sie ihn nicht beachten würde, doch sie blieb vor ihm stehen.

»Ich kann nicht behaupten, daß es mir leid tut«, erklärte sie ohne Vorrede. Offenkundig hatte auch sie die Neuigkeit vernommen. »Weder für Solin, dieses Schwein, noch für deine christliche Freundin. Sie haben es verdient, miteinander in die Andere Welt zu fahren. Ich kann verstehen, daß jede Frau, die Solin begegnet ist, den Wunsch hat, ihm das Leben zu nehmen.«

Eadulf blieb standhaft.

»Das mag deine Meinung sein, Marga. Aber Fidelmahat Bruder Solin nicht getötet.«

Die Augen der jungen Frau verrieten ihren Unglauben.

»So? Und das willst du beweisen?«

»Das werde ich beweisen«, verbesserte er sie. »Ich werde die Wahrheit herausbekommen.«

Marga verzog höhnisch das Gesicht.

»Ach ja. Da du gerade von Wahrheit redest - ich habe dir die Fingerhutblätter geschenkt, weil ich dachte, ich helfe jemandem, der keine Ahnung von Medizin hat. Da du mich belogen hast, schuldest du mir jetzt etwas dafür. Du siehst, ich lege Wert auf Wahrheit, Angelsachse. Ich denke, unser Brehon wird auch wissen wollen, welchen Wert du der Wahrheit beimißt.«

Eadulf errötete. Er holte einen screpall aus seiner Börse und hielt ihn ihr hin.

»Nimm ihn und laß es dir damit gut gehen«, sagte er kurz.

Marga nahm die Münze, prüfte sie und ließ sie dann mit Bedacht fallen. Sie lächelte verächtlich. Anscheinend erwartete sie, daß sich Eadulf hastig danach bük-ken würde. Eadulf starrte ihr einen Moment in die kalten Augen und ging dann in das Gebäude.

Er hatte keine leichte Aufgabe vor sich, denn offenbar hatten die Leute im rath Laisres alle schon vor der Verhandlung entschieden, daß Fidelma schuldig wäre.

Er machte sich auf den Weg nach oben in den Turm, wo nach Fidelmas Auskunft Murgals Wohnung und Bibliothek lagen. Doch dort gab es mehrere Türen. Er zögerte und überlegte, was er tun sollte.

»Ach, der Angelsachse! Was machst du denn hier?«

Eadulf schaute in das kokette Gesicht von Esnad, der Tochter Orlas. Sie stand in der Tür einer Wohnung, gegen den Pfosten gelehnt, und betrachtete ihn mit einem verführerischen Lächeln.

»Ich suche Murgals Bibliothek«, antwortete er.

Sie schmollte.

»Och, Bücher! Warum kommst du nicht rein und spielst eine Partie Brandub mit mir? Wenn du nicht weißt, wie das geht, bringe ich dir’s bei.« Sie wies mit einer einladenden Geste auf den Raum hinter ihr. »Dies ist meine Wohnung.«

Eadulf errötete verwirrt.

»Ich habe viel zu tun, Esnad«, sagte er respektvoll, denn schließlich war sie die Tochter des Tanist. »Wenn du mir sagen könntest, wo ich Murgals Bibliothek finde ...?«

»Was willst du in meiner Bibliothek, Angelsachse?« ertönte die tiefe Stimme des Druiden. Murgal erschien unten an der Treppe.

Esnad zischte enttäuscht, verzog sich in ihre Wohnung und knallte die Tür zu.

Merklich erleichtert wandte sich Eadulf an den Druiden.

»Eigentlich suchte ich dich und wollte dich um die Erlaubnis bitten, mich in deiner Bibliothek umzusehen.«

Murgal hob leicht die Brauen.

»Und wozu kann sie dir dienen?«

»Ich brauche zwei Gesetzestexte. Es könnte sein, daß du sie besitzt.«

Murgal war sichtlich verwundert.

»Wozu brauchst du Gesetzestexte?«

»Du hast Fidelma von Cashel in Haft genommen.«

»Ja«, antwortete Murgal einfach.

»Sie hat mich zu ihrem Brehon ernannt.«

Das schien Murgal zu überraschen.

»Du wirst sie vor Gericht vertreten? Aber du bist Ausländer und nicht als dalaigh ausgebildet.«

»Auch jemand, der nicht juristisch ausgebildet ist, hat das Recht, einen Fall vor einem Brehon zu vertreten, wenn er bereit ist, das Risiko auf sich zu nehmen«, erklärte Eadulf. »Selbst ein Ausländer darf das. So viel verstehe ich vom Recht, um mich darauf zu berufen.«

Murgal überlegte einen Moment und stimmte ihm dann zu.

»So eine Person wird >zungenlos< genannt, doch wenn sie nur die Zeit des Gerichts vergeudet, kann sie mit einer hohen Geldstrafe belegt werden. Bist du gewillt, dieses Risiko einzugehen?«

»Ja.«

»Nun«, gestand Murgal, »es überrascht mich nicht, daß du Fidelma von Cashel vertreten willst. Doch da wird dir nicht viel zu tun bleiben. Der Fall ist völlig klar. Ihre Schuld ist offenkundig.«

Eadulf verbarg seine Empörung.

»Hast du auch schon geklärt, welches Motiv Fidelmafür den Mord an Bruder Solin hatte?« erkundigte er sich.

»O ja. Christen bekämpfen sich immer untereinander, wenn sie niemand anderes zu bekämpfen finden. Wie nennt ihr Anhänger Roms das doch gleich? Odium theologicum? Es gibt viel gegenseitigen Haß unter euch.«

»Ich verstehe. Als Brehon hast du auch schon das Urteil gefällt«, knurrte Eadulf. »Vielleicht sollte ich deine Kenntnis des Lateinischen um den Spruch erweitern: maxim audi alteram partem - man höre auch die andere Seite.«

Murgal stutzte, und einen Augenblick dachte Ea-dulf, er würde vor Wut platzen. Doch zu Eadulfs Überraschung fing er an zu lachen.

»Gut gesagt, Angelsachse, gut gesagt! Du darfst dir die Gesetzbücher in meiner Bibliothek ansehen, und ich wünsche dir Glück dabei.«

»Ich hätte noch eine zweite Bitte.«

»Welchen anderen Dienst soll ich dir noch leisten?«

»Fidelma von Cashel bleibt in Haft bis zu ihrer Verhandlung.«

»Ja. Das Gesetz sieht neun Tage vor, bei einem Mordprozeß«, erklärte Murgal. »Danach muß sie sich vor dem Gericht verantworten. Da gibt es für niemanden eine Ausnahme.«

»Aber Fidelma von Cashel kann ihre Verteidigung nicht vorbereiten, wenn sie nicht in Freiheit ist.«

»Gesetz ist Gesetz, Angelsachse. Selbst ich kann das Gesetz nicht zugunsten eines einzelnen ändern.«

Eadulf nickte.

»Gesetz ist Gesetz«, wiederholte er leise. »Aber oft gibt es noch Möglichkeiten der Auslegung. Sicherlich genügt doch das Wort Fidelmas von Cashel, einer Person von Rang in diesem Land, als arach oder Bürgschaft, um ihre Freilassung bis zur Verhandlung zu gestatten. Ihre Inhaftierung ist nicht gerecht.«

Murgal betrachtete ihn nachdenklich.

»Du kennst anscheinend unser Recht gut genug, um mit Begriffen wie arach umzugehen, Angelsachse.«

Eadulf meinte, hier mit Ehrlichkeit am weitesten zu kommen.

»Ich kenne es wenig genug. Deshalb muß ich mir ein paar Gesetzestexte ansehen. Doch da ich Fidelma von Cashel vertrete, möchte ich offiziell für morgen eine Anhörung vor dir beantragen, so daß ich für Fi-delmas Freilassung noch vor ihrer Verhandlung plädieren kann.«

»Welche Gesetzbücher brauchst du?« fragte Murgal interessiert.

Eadulf nannte die Texte, zu denen Fidelma ihm geraten hatte. Murgal dachte nach.

»Du hast eine kluge Wahl getroffen, Angelsachse«, gab er widerwillig zu.

Er winkte Eadulf, mitzukommen, und führte ihn die Treppe hinauf in einen Raum im Turm. Eadulf sah zu seiner Überraschung, daß er mit ganzen Reihen von Pflöcken und Buchtaschen ausgestattet war. Es gab sogar ein paar Ständer mit Stäben, die er von früheren Gelegenheiten her als »Stäbe der Dichter« wiedererkannte, Texte in der alten irischen Ogham-Schrift, die aus den Jahrhunderten vor der Ankunft des Glaubens in Irland stammten. Ohne zu zögern, ging Murgal zu zwei Taschen und nahm die Bände heraus.

»Dies sind die Texte, die du brauchst. Nimm sie ins Gästehaus mit und studiere sie, aber du mußt sie so bald wie möglich zurückbringen«, ordnete er an und reichte sie Eadulf.

»Ich werde sie sorgsam behandeln, hab keine Sorge.«

Murgal geleitete ihn aus dem Raum und schloß die Tür wieder ab.

»Und die Anhörung?« drängte ihn Eadulf. »Wirst du mein Plädoyer für Fidelmas Freilassung bis zu ihrem Gerichtstermin zulassen?«

»Das ist eine Frage, die ich nicht sofort beantworten kann. Das muß überdacht werden. So eine Anhörung erfordert neue Argumente und könnte den Wünschen meines Fürsten Laisre widersprechen.«

»Steht das Gesetz nicht über den Wünschen eines Fürsten?«

Murgal lächelte dünn.

»Ist das dein einziges Argument?« fragte er Eadulf.

»Nein. Es gibt das unbestreitbare Argument, daß Fidelma von Cashel nicht einfach nur eine Nonne ist oder eine Anwältin. Sie ist auch die Schwester des Königs von Muman und besitzt als solche einen Rang, der respektiert werden muß. Es ist ihr Recht, dazu gehört zu werden, ob sie nicht auf Grund ihrer eigenen Sicherheitsleistungen auf freien Fuß gesetzt werden kann.«

»Ich werde dir meine Entscheidung noch vor Ende dieses Tages mitteilen. Sie wird auch davon abhängen, ob du mir sagen kannst, daß du in diesen Gesetzbüchern hier den richtigen Weg zum Urteil gefunden hast. Möge die Gerechtigkeit dich bei deiner Suche leiten, Angelsachse.«

Auf diese Weise entlassen, machte sich Eadulf auf den Weg zum Gästehaus. Aus Vorsicht hielt er sich dicht an der Mauer unter dem Umgang des rath, als ein sechster Sinn ihn veranlaßte, ein wenig vom Weg abzuweichen. Er wußte nicht, warum er das tat. Vielleicht, weil er den Bruchteil einer Sekunde ein leises Geräusch wahrnahm. Ein großer schwerer Stein löste sich aus den Zinnen und landete krachend vor seinen Füßen, so dicht, daß er den Luftzug spürte. Wäre sein Fuß nur ein paar Zentimeter weiter vorn gewesen, er wäre zerschmettert worden.

Eadulf schrie erschrocken auf und sprang zurück; die Gesetzbücher fielen zu Boden. Mit klopfendem Herzen spähte er rasch nach oben. Ein Schatten verschwand, ehe er Genaueres erkennen konnte.

Einen Moment stand er da, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Dann bemerkte er eine Gestalt, die die Stufen von den Zinnen herunterkam und auf ihn zu eilte. Er tat einen Schritt zurück und war bereit, sich zu verteidigen.

Es war Rudgal. Er machte ein seltsames Gesicht.

»Bist du unverletzt, Bruder?« fragte er besorgt.

Eadulf faßte sich.

»Das Herz schlägt mir bis zum Halse«, gestand er.

Rudgal bückte sich und hob die Gesetzbücher auf.

»Das war knapp, Bruder. Solche Unfälle können gefährlich sein.«

Eadulf kniff die Augen zusammen.

»Das war ein Unfall, meinst du?«

»Meinst du das nicht?« fragte Rudgal harmlos.

»Manche der Steinblöcke auf den Zinnen sind schlecht eingefügt und ziemlich lose.«

»Da oben auf den Zinnen war jemand, der diesem speziellen Stein etwas nachgeholfen hat.«

Rudgal war entsetzt.

»Bist du sicher, Bruder? Hast du jemanden erkannt?«

»Ich konnte niemanden erkennen«, gab Eadulf zu. »Aber du warst doch oben auf den Zinnen. Du mußt gesehen haben, wer es war.«

Rudgal schüttelte den Kopf.

»Da waren ein paar Leute unterwegs. Ich ging oben entlang und hörte deinen Schrei. Als ich hinunterblickte, sah ich dich und den Stein vor deinen Füßen. Du schienst erschrocken. Ich hab niemanden bemerkt .«

Er verstummte und dachte nach.

»Was hast du gesehen?« fragte Eadulf rasch.

»Wahrscheinlich nichts. Da war der junge Bruder, wie heißt er gleich - Dianach? Ja, ich sah ihn in die andere Richtung gehen mit Esnad, und dann war Artgal in der Nähe mit Laisre, der mit ihm sprach. Vielleicht ist ihnen etwas aufgefallen, doch glaube ich eher nicht, denn sonst wären sie gekommen, um nachzuschauen, was passiert ist. Anscheinend hat niemand weiter deinen Schrei gehört.«

»Ich glaube nicht, daß uns das sehr weit bringt«, überlegte Eadulf laut und nahm Rudgal die Bücher ab. »Artgal ist der Hauptzeuge gegen Fidelma, und Bruder Dianach hat heute morgen sehr deutlich gemacht, daß er mich nicht mag. Nein, reden wir nicht mehr darüber.«

Er ließ Rudgal stehen und ging weiter zum Gästehaus. Drinnen legte er die Bücher sorgfältig auf den Tisch und setzte sich davor. Er gähnte und wünschte, er hätte etwas länger schlafen können. Dann dachte er an Fidelma in ihrer Zelle und empfand Reue, denn sie würde, wohl allein an diesem unfreundlichen Ort, kaum Schlaf finden. Auch das Gästehaus war nun verlassen. Weder Cruinn noch Bruder Dianach waren zurückgekehrt. Es war klar, daß sie ihn mieden.

Langsam schlug er Seite um Seite der Gesetzestexte um.

Die Zeit verging, die Zeichen auf den Seiten wurden lebendig, sie verwirrten sich und verschwammen vor seinen Augen. Er schien unfähig, die einfachsten Begriffe zu verstehen. Seine Augenlider wurden immer schwerer, und sein Kopf sank herab.

Er mußte wohl eingeschlafen sein.

Plötzlich vernahm er ein Geräusch an der Tür.

Eadulf fuhr von dem Manuskript hoch, blinzelte und wußte für einen Augenblick nicht, wo er sich befand.

Da erblickte er Rudgal auf der Schwelle.

»Was ist?« fragte Eadulf, gähnte und schämte sich, weil er eingeschlafen war. Er schob das Gesetzbuch beiseite.

»Ich komme mit einer Botschaft von Murgal, Bruder. Es geht um die Anhörung, die du beantragt hast.«

»Und?« Eadulf war nun hellwach und erhob sich. »Wird er mir morgen eine Anhörung gewähren?«

»Murgal sagt, dir steht das Recht zu, solch eine Anhörung vor ihm als dem Brehon von Gleann Geis zu verlangen. Ich soll ihm die Bücher wiederbringen - er meinte, du weißt, welche Bücher das sind. Und wenn du ihm durch mich versichern kannst, daß du das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren einhalten kannst, dann wird er eine solche Anhörung zulassen. Aber die Anhörung muß im Ratssaal des Fürsten heute nachmittag noch vor dem Abendessen stattfinden.«

Eadulf erschrak.

»Wie spät ist es jetzt?« fragte er und fühlte sich, als spiele Murgal Katz und Maus mit ihm.

»Fast eine Stunde nach dem Mittagessen.«

»Das heißt, ich habe nur ein paar Stunden, um mich darauf vorzubereiten.« Er bemühte sich, die in ihm aufsteigende Panik zu unterdrücken. Rudgal beobachtete ihn mit ausdrucksloser Miene.

»Murgal sagt, wenn du nicht in der Lage bist, deinen Antrag heute nachmittag zu stellen, hast du das entsprechende Gesetz nicht verstanden.«

Eadulf fuhr sich verzweifelt durchs Haar.

»Wenigstens ist Murgal bereit, die Anhörung abzuhalten«, räumte er ein. »Du mußt ihm sagen, daß ich die Bücher noch etwa eine Stunde brauche. Ich gebe sie ihm später zurück.«

Besorgt blickte er auf das Gesetzbuch, das offen auf dem Tisch lag.

»Anscheinend besteht meine einzige Hoffnung darin, daß er Schwester Fidelmas Eid als Bürgschaft anerkennt und ihren Rang und ihre Stellung als Eog-hanacht-Prinzessin dabei berücksichtigt. Vielleicht läßt er sie ja daraufhin bis zur Gerichtsverhandlung frei.«

Rudgal lächelte freudig.

»Es wäre gut für Schwester Fidelma, wenn sie aus der Einzelhaftkammer herauskäme, Bruder. Es gehört sich nicht, daß jemand wie sie dort eingekerkert ist.«

»Ich wünschte, ich hätte größere Zuversicht, was das Ergebnis der Anhörung betrifft.«

Rudgal kniff die Augen zusammen.

»Du glaubst nicht, daß du rechtskundig genug bist, um Schwester Fidelma die Freiheit zu verschaffen?« fragte er. Er wies auf die Bücher auf dem Tisch. »Was sagen dir die Bücher, was du tun sollst?«

Eadulf lachte schmerzlich.

»Sie sagen mir, daß meine Kenntnis der Gesetze gering ist und daß das wenige, was ich weiß, nicht ausreicht, um ihre Freilassung zu sichern.«

»Aber irgend etwas kannst du doch tun?«

»Außer, daß Murgal Schwester Fidelmas Eid als Schwester des Königs von Cashel als Bürgschaft für ihr Erscheinen zur Gerichtsverhandlung anerkennt, gibt es nur noch eine Möglichkeit.«

»Welche ist das?« erkundigte sich Rudgal.

»Ich müßte beweisen können, daß Artgal als Zeuge nicht glaubwürdig ist.«

Rudgal rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Er ist ehrgeizig. Ein erstklassiger Grobschmied und ein guter Krieger, das weiß ich.«

»Möglicherweise hat er irgendein Geheimnis. Hat er vielleicht einen Kameraden in der Schlacht im Stich gelassen?«

Rudgal lachte.

»Such dir etwas anderes, Bruder. Wir haben im vorigen Jahr gemeinsam gekämpft, Seite an Seite, am Berg Äine gegen die Arada Cliach. Er bewies seine Tapferkeit in der Schlacht.«

Eadulf starrte ihn überrascht an.

»Ihr habt dort gegen die Arada Cliach gekämpft? Aber das bedeutet doch, daß ihr gegen das Heer des Königs von Cashel gefochten habt?«

Rudgal schob das mit einem grimmigen Lächeln beiseite.

»Wir gehorchten dem Ruf unseres Fürsten Laisre, der seinerseits Eoganan von den Ui Fidgente diente. Doch jetzt ist Eoganan tot, und es herrscht wieder Frieden zwischen den Ui Fidgente und Cashel. Deshalb herrscht auch Frieden zwischen Laisre und Cashel. Aber Artgals Ehrgeiz gilt nicht dem Krieg. Das weiß ich, denn er hat gesagt, sein Ehrgeiz werde sich bald im Frieden erfüllen.«

»Also eure interne Politik verstehe ich wirklich nicht«, murrte Eadulf. »Und wenn ich es täte, würde mir das auch nichts helfen. Abgesehen von Artgals Tüchtigkeit als Grobschmied und Krieger, kannst du mir weiter nichts über ihn verraten? Wie war das noch mit Artgals Ehrgeiz?«

»Ehrgeiz ist kein Verbrechen.«

»Aber du hast gesagt, er habe angedeutet, sein Ehrgeiz werde sich erfüllen.«

»Ja, das hat er heute morgen behauptet.«

»Welcher Ehrgeiz?« forschte Eadulf.

»Er will seinen kleinen Bauernhof und seine Schmiede vergrößern und einen Lehrling beschäftigen, damit er sich eine Frau leisten kann. Daran ist doch nichts Verdächtiges.«

»Richtig, das ist harmlos. Wieso ist das sein Ehrgeiz?«

»Er war nicht in der Lage, so viel zu sparen, daß er sich Milchkühe als Grundlage für eine Herde kaufen konnte. Als Schmied hat er nicht viel zu tun, weil Go-ban hier der führende Schmied ist. Die meisten Leute gehen zu ihm, wenn sie anspruchsvolle Arbeit brauchen. Artgals Bauernhof ist arm, und meistens ist er auf der Suche nach Arbeit. Sein Auskommen hat er hauptsächlich durch Laisres Zuwendungen für seinen Dienst in der Leibwache. Doch kürzlich konnte er sich zwei Milchkühe kaufen.«

»Nun, daraus ergibt sich nichts, womit ich beweisen könnte, daß seinem Wort nicht zu trauen ist.«

Rudgal nickte.

»Stimmt schon. Obgleich ich nicht glaube, daß er tatsächlich etwas gespart hat, um die Kühe zu kaufen. Vor zwei Tagen hatte er noch kein Geld. Wir spielten auf Ronans Hof, und Artgal verlor viel. Einmal bot er sogar seinen Hof und seine Schmiede als Sicherheit für seinen Einsatz an.«

»Dann hat er also die Kühe oder das Geld dafür beim Glücksspiel gewonnen. Das ist auch nicht strafbar.«

Rudgal schüttelte den Kopf.

»So war es nicht. Er gewann gerade so viel, daß er seinen Hof nicht verlor. Zu Geld kam er bei dem Spiel nicht. Er verließ es so mittellos, wie er es begonnen hatte. Er holte nur soviel heraus, wie er eingesetzt hatte.«

Jetzt erwachte Eadulfs Interesse.

»Womit hat er dann die beiden Kühe bezahlt, und wie hast du davon erfahren?«

»Ich habe zufällig mitbekommen, wie Artgal zu Ronan sagte - und das habe ich deutlich gehört -, daß das Glück ihm gerade hold sei, denn er habe zwei Milchkühe als Belohnung dafür erhalten, daß er die Wahrheit gesagt habe.«

Eadulf blickte rasch auf.

»Hat er genau diese Worte benutzt?«

»Genau diese Worte. Er sagte weiter, in neun Tagen würde er noch eine Milchkuh erhalten, das wären dann drei. Mit drei Milchkühen wäre er auf der sicheren Seite.«

Eadulf sah den blonden Krieger scharf an, den die Wirkung seiner Worte anscheinend nicht kümmerte.

»Wiederhole das noch mal - du sagst, du hast gehört, wie Artgal sagte, er habe zwei Milchkühe als Belohnung dafür erhalten, daß er die Wahrheit gesagt habe und daß er in neun Tagen noch eine erhalten würde? Sind das seine genauen Worte?«

Rudgal kratzte sich den Kopf, als helfe ihm das, sich zu konzentrieren.

»Ja. Das sind die Worte, die er benutzt hat.« »Bist du sicher, daß er wirklich sagte, >in neun Ta-gen< werde er noch eine Kuh erhalten? Hat er sich tatsächlich so ausgedrückt?«

»O ja. Von neun Tagen hat er gesprochen.«

Eadulf lehnte sich zurück und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.

»Ist das hilfreich?« fragte Rudgal einen Moment später, nachdem Eadulf nichts weiter bemerkt hatte.

Zerstreut schaute Eadulf den Mann vor ihm an.

»Wie? Hilfreich? Ja - vielleicht, ich weiß es noch nicht. Ich muß drüber nachdenken.«

Rudgal hüstelte nervös.

»Dann gehe ich wieder zu Murgal? Was für eine Antwort soll ich ihm bringen?«

Eadulf zögerte einen Augenblick und lächelte dann breit.

»Sag Murgal, daß ich jetzt bereit bin. Ich werde meine Argumente dem Verfahren entsprechend vortragen und sie begründen. Nimm die Bücher mit und richte ihm das aus.«

»Ich dachte, du brauchst sie noch eine Stunde oder so?«

»Jetzt nicht mehr. Ich glaube, ich weiß nun, welchen Weg ich einschlagen muß.«

»Und du erklärst, daß du heute nachmittag vor Murgal plädieren kannst?«

»Das erkläre ich«, sagte Eadulf mit Betonung.

Rudgal nahm die Bücher, und Eadulf begleitete ihn bis zur Tür.

»Sobald ich Murgal verständigt habe«, meinte Rud-gal, »bringe ich Schwester Fidelma diese Nachricht. Ich wünsche dir Glück, Bruder, für dein Bemühen, sie freizubekommen.«

Eadulf hob die Hand zum Zeichen des Dankes, aber es war deutlich, daß er mit den Gedanken woanders war. Nach einer Weile richtete er den Blick auf die Notizen, die er sich aus den Gesetzestexten gemacht hatte. Er setzte sich wieder an den Tisch und verfiel in tiefes Nachdenken.

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