Kapitel 3

Der Aufstieg in die Berge dauerte länger, als Eadulf erwartet hatte. Der Weg drehte und wendete sich wie eine unruhige Schlange durch steile Fels- und Erdwälle hindurch, kreuzte schäumende Bäche, die von den mächtigen Gipfeln herabstürzten, und führte durch dunkle, bewaldete Täler und über offene, felsige Strecken. Eadulf fragte sich, wie jemand in so einer einsamen Gegend leben konnte, denn Fidelma versicherte ihm, dies sei der einzige Weg von Süden her in dieses Gebiet.

Als er hinaufspähte zu den schwindelerregenden Höhen, sah er etwas kurz aufblitzen. Er blinzelte. Er hatte dieses Aufblitzen schon zwei- oder dreimal beim Aufstieg bemerkt und zunächst gedacht, er habe es sich nur eingebildet. Seine Besorgnis mußte irgendwie erkennbar geworden sein, vielleicht durch eine Anspannung der Nackenmuskeln oder eine zu starre Kopfhaltung in einer Richtung, denn Fidelma sagte gelassen: »Ich sehe es auch. Jemand beobachtet unsere Annäherung seit mindestens einer halben Stunde.«

Eadulf war gekränkt.

»Warum hast du es mir nicht gesagt?«

»Was gesagt? Es dürfte nicht überraschen, wenn jemand auf Fremde achtet, die durch dieses Gebirge reiten. Bergbewohner sind ein mißtrauisches Volk.«

Eadulf schwieg. Dennoch behielt er die sie umgebenden Hügel wachsam im Auge. Seiner Meinung nach entstand das Aufblitzen durch das Auftreffen von Sonnenstrahlen auf Metall. Metall bedeutete Waffen oder Rüstungen. Das hieß, es könnte Gefahr drohen. Sie ritten schweigend weiter und kamen dabei immer höher. An einer Stelle wurde der Weg so steil und steinig, daß sie absteigen und ihre Pferde führen mußten.

Schließlich wollte Eadulf Fidelma schon fragen, ob es denn noch viel höher ginge, als der Weg plötzlich um eine Bergkante bog und sich überraschend ein breites Tal vor ihnen auftat. Es war mit Heidekraut und Mengen von rotem, orangefarbenem und grünem Stechginster bewachsen und bot ein seltsam liebliches Bild. Die höheren Berggipfel schienen noch so entfernt wie zuvor.

»Dieser Ritt nimmt gar kein Ende«, murrte Eadulf.

Fidelma hielt an, wandte sich im Sattel um und sah den Angelsachsen streng an.

»So ist es nicht. Wir müssen nur noch dieses weite Tal durchqueren und zwischen den Gipfeln dort hindurch. Dann sind wir in Laisres Gebiet, in Gleann Geis.«

Eadulf runzelte die Stirn.

»Ich dachte, du wärst hier noch nie gewesen?«

Fidelma unterdrückte einen Seufzer.

»Das war ich auch nicht, allerdings bin ich schon mal vorbeigekommen.«

»Woher weißt du dann ...«

»Aber Eadulf! Meinst du denn, unsere Leute hätten keine Ahnung vom Kartenzeichnen? Wenn wir uns in unserem eigenen Land nicht zurechtfänden, wie könnten wir dann Missionare in die riesigen Länder im Osten entsenden?«

Eadulf kam sich ein wenig töricht vor. Er wollte etwas sagen, doch plötzlich bemerkte er, daß Fidelma angespannt über das Tal vor ihnen schaute und dann zum Himmel aufsah. Er folgte ihrem Blick.

»Vögel«, stellte er fest.

»Die Raben des Todes«, sagte sie leise.

Die dunklen Punkte kreisten vor dem blauen Himmel und schienen sich in Spiralen abwärts zu senken.

»Zweifellos ein totes Tier«, meinte Eadulf und setzte hinzu: »Ein großes, wenn es so viele Aasfresser anlockt.«

»Sicherlich groß«, bestätigte Fidelma. Dann trieb sie ihr Pferd an und ritt entschlossen los. »Komm, es liegt auf unserem Wege, und ich möchte wissen, was so viele Vögel anzieht.«

Widerwillig folgte ihr Eadulf. Manchmal wünschte er sich, seine Gefährtin wäre nicht so wißbegierig. Er würde lieber der Hitze des Tages ausweichen und ihr Ziel so schnell wie möglich erreichen. Mehrere Tage im Sattel waren genug für ihn. Er würde allmählich einen bequemen Stuhl und einen im eisigen Bergbach gekühlten Krug Met vorziehen.

Fidelma mußte ihr Pferd vorsichtig lenken, denn der eben scheinende Talboden täuschte. Heidekraut und Dorngestrüpp überwuchsen tief die Unebenheiten. In dem Heidekraut und dem Ginster hätte sich eine ganze Armee verbergen können. Ihr Erscheinen hatte ein warnendes Krächzen unter den Vögeln ausgelöst, die ihre Kreise nun widerwillig wieder höher zogen.

Plötzlich parierte Fidelma ihr Pferd und starrte auf den Boden vor ihr.

»Was ist?« fragte Eadulf und schob sich neben sie. Sie schwieg und saß mit totenblassem Gesicht reglos im Sattel.

Eadulf folgte ihrem entsetzten Blick.

Auch er erbleichte.

»Deus miseratur ...«, begann er die erste Zeile des 67. Psalms und brach dann ab. Der Text schien ihm unpassend. Denen, die diesen seltsamen Altar des Todes bildeten, war niemand gnädig gewesen. Auf dem rauhen Boden lagen über zwanzig Leichen, nackte Leichen junger Männer in einem grotesken Kreis. Es war offenkundig, daß sie einen gewaltsamen Tod gefunden hatten.

Fidelma und Eadulf saßen still auf ihren Pferden, schauten auf diesen Kreis nackter Leichen und konnten nicht begreifen, was ihre Augen sahen.

Noch immer sprachlos, glitt Fidelma schließlich aus dem Sattel und trat ein oder zwei Schritte vor. Eadulf schluckte schwer, stieg ab, nahm die Zügel beider Pferde und band sie locker an einen nahen Busch. Dann ging er zu Fidelma.

Sie stand da, die Hände vor sich gefaltet, die Lippen zu einem Strich zusammengepreßt. Das leichte Zuk-ken eines Nervs an ihrem Kiefer verriet die Gefühle, die sie verbarg.

Sie trat noch einen Schritt vor und sah sich aufmerksam prüfend in diesem Kreis des Todes um. Es war keine Frage, daß die nackten männlichen Leichen nach dem Tode sorgfältig hier hingelegt worden waren.

Fidelma straffte die Schultern und schob das Kinn vor, als rüste sie sich für eine schwere Aufgabe.

»Sollten wir uns nicht entfernen, falls die Täter zurückkehren?« fragte Eadulf beunruhigt und schaute sich um. Doch im Tal schien sich kein Leben zu regen außer der Schar nachtschwarzer Raben, die sich weiter am Himmel sammelten und eine ungeordnete krächzende Wolke bildeten. Einige senkten sich zögernd herab, als seien sie dessen unsicher, was ihre Sinne ihnen verrieten, daß es hier reiche Beute gab, Aas in Hülle und Fülle. Doch sie spürten auch, daß sich etwas zwischen den Leichen bewegte, lebende Menschen, die ihnen schaden könnten. Ein paar von ihnen, kühner als die anderen, landeten dicht außerhalb des Kreises. Als sie vorsichtig näher hüpften, um die nächsten Leichen zu untersuchen, nahm Eadulf angewidert einen Stein auf. Er traf den häßlichen Vogel nicht, auf den er gezielt hatte, aber der flog mit einem ärgerlichen Krächzen auf und warnte die anderen, daß hier Gefahr lauere. Einige weitere landeten, doch außer Reichweite, und schauten mit hungrig funkelnden Augen zu.

»Komm weg, Fidelma«, drängte sie Eadulf. »Das ist kein Anblick für dich.«

Fidelmas grüne Augen blitzten gefährlich auf.

»Für wen wäre es dann ein Anblick?« Ihr Ton war scharf. »Für wen, wenn nicht für eine Anwältin, die geschworen hat, die Gesetze der fünf Königreiche zu wahren?«

Eadulf zögerte verlegen.

»Ich meine nur . «, wandte er ein, doch Fidelma unterbrach ihn mit einer scharfen Handbewegung.

Sie wandte sich ab, kniete bei der nächsten Leiche nieder und untersuchte sie. Langsam wiederholte sie das bei einer nach der anderen, wobei sie bei einer Leiche länger verweilte. Eadulf zuckte innerlich die Schultern, und während seine Augen immer wieder über die Umgebung glitten, versuchte er zugleich, irgendeinen Sinn in dem düsteren Leichenhaufen zu entdecken.

Als erstes fiel ihm auf, daß es alles junge Männer waren, der jüngste vielleicht sechzehn oder siebzehn, der älteste nicht über fünfundzwanzig. Alle waren sie nackt, doch ihre blasse Haut, weiß wie Pergament, verriet, daß sie im Leben nicht nackt gegangen waren. Er bemerkte auch, daß die Leichen im Kreis angeordnet waren, mit den Füßen zum Mittelpunkt hin. Jede Leiche lag auf der linken Seite. Er stellte zudem fest, daß der Boden um den Kreis herum weder blutig noch aufgewühlt war. Das bewies ihm, daß die jungen Männer nicht an dieser Stelle umgebracht worden waren. Diese Schlußfolgerung gefiel ihm.

Fidelma hatte ihre Untersuchung beendet und stand auf. Ungefähr zehn Meter entfernt floß ein kleiner Bach, und wortlos und zielsicher ging sie dort hin. Sie wusch sich Hände, Arme und Gesicht mit dem kalten Wasser.

Eadulf wartete geduldig, bis sie fertig war. Er war lange genug in den fünf Königreichen von Eireann, um zu wissen, wie genau es die Iren mit der Reinlichkeit nahmen. Als sie zurückkam, war ihre Miene noch finster, und sie blieb vor dem Kreis der Toten stehen.

»Nun, Eadulf, was ist dir aufgefallen?« fragte sie.

Eadulf fuhr überrascht auf. Er hatte nicht gedacht, daß sie bemerkt hatte, daß er alles genau betrachtete. Er überlegte rasch.

»Es sind nur junge Männer«, erklärte er.

»Das stimmt.«

»Sie sind in einem Kreis angeordnet, und sie wurden nicht hier getötet.«

Fidelma hob fragend eine Braue.

»Woraus schließt du das?«

»Wenn sie hier umgebracht worden wären, hätte es einen Kampf gegeben. Der Boden ist weder aufgewühlt noch blutig. Sie wurden woanders getötet und hierhergebracht.«

Sie nickte anerkennend.

»Und ihre Füße?«

Eadulf sah sie verblüfft an.

»Was ist mit ihren Füßen?« stammelte er.

Sie wies darauf.

»Wenn du dir ihre Füße ansiehst, stellst du fest, daß sie alle Hornhaut, Wunden und Blasen haben, als ob sie meilenweit über rauhen Boden laufen mußten. Die Spuren sind noch frisch. Widerspricht das nicht deiner Behauptung, sie wären hierhergebracht worden?«

Eadulf dachte schnell nach.

»Nicht notwendigerweise«, entgegnete er. »Sie mußten vielleicht weit laufen bis zu dem Ort, wo sie getötet wurden, und dann brachte man sie her und legte sie auf diese merkwürdige Art hin.«

Fidelma war mit ihm zufrieden. »Gut gemacht, Ea-dulf. Aus dir wird noch mal ein dalaigh. Sonst noch was? Du hast die Male von Fußfesseln an ihren linken Knöcheln noch nicht erwähnt.«

Diese Abschürfungen hatte Eadulf nicht bemerkt, doch als Fidelma ihn darauf hinwies, sah er sie auch. Sie fuhr fort: »Hast du die Leichen gezählt?«

»Ungefähr dreißig, glaube ich.«

Einen Augenblick wirkte sie verärgert.

»Darin sollte man genauer sein. Es sind dreiunddreißig.«

»Na, ich war doch nahe dran«, verteidigte er sich.

»Nein, das warst du nicht«, konterte sie scharf. »Doch darauf kommen wir gleich. Du sagtest, sie seien irgendwie angeordnet worden. Hast du dazu noch etwas zu ergänzen?«

Eadulf betrachtete den Kreis und verzog das Gesicht.

»Nein.«

»Du folgerst nichts aus der Tatsache, daß sie alle auf der linken Seite liegen, die Füße zur Mitte des Kreises? Sagt dir das nichts?«

»Nur, daß es sich um so etwas wie ein Ritual handeln muß.«

»Aha, ein Ritual. Schau noch mal hin. Die Leichen liegen auf ihrer linken Seite. Fang oben am Kreis an und zieh ihn nach ... Ihre Gesichter zeigen nach rechts, mit anderen Worten, nach dem Sonnenlauf, was wir deisiol nennen.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich dich verstanden habe.«

»In heidnischen Zeiten vollzogen wir bestimmte Riten deisiol oder nach dem Sonnenlauf. Selbst jetzt gibt es noch viele, die darauf bestehen, bei einer Beerdigung den Friedhof mit dem Sarg dreimal nach dem Sonnenlauf zu umschreiten.«

»Du meinst, das hier könnte ein heidnisches Symbol sein?« Eadulf erschauerte und hob die Hand, um sich zu bekreuzigen, ließ es aber lieber sein.

»Nicht unbedingt«, versicherte ihm Fidelma. »Als der heilige Patrick in Armagh Land geschenkt bekam, auf dem er später seine Kirche erbaute, mußte er, heißt es, es mit seinem Krummstab deisiol umschreiten und es so feierlich dem Dienst Christi weihen, indem er unsere alten Bräuche und Riten vollzog.«

»Was meinst du also?« fragte Eadulf.

»Daß diese Leichen als Teil eines Rituals so hingelegt wurden, doch was für eines Rituals - eines heidnischen oder christlichen -, das müssen wir durch andere Beobachtungen herausbekommen.«

»Welche zum Beispiel?«

»Hast du bemerkt, auf welche Weise diese Unglücklichen aus dem Leben befördert wurden?«

Eadulf gestand, daß er es nicht wußte.

»Hast du schon mal vom Dreifachen Tod gehört?«

»Nein.«

»Es gibt eine alte Sage, daß vor langer Zeit einmal unser Volk vom alten Moralsystem unserer Druiden abfiel und zur Verehrung eines großen goldenen Idols überging, das Cromm Cruach, der Gott des Blutigen Halbmonds, genannt wurde und dem Menschenopfer dargebracht wurden. Es wurde auf der Ebene der Anbetung, Magh Slecht, verehrt, und das geschah zur Zeit des Großkönigs Tigernmas, des Sohnes Follachs. Sein Name bedeutete schon >Herr des Todes<.«

»Von dieser Sage habe ich noch nichts gehört«, erklärte Eadulf.

»Es ist ein Abschnitt in unserer Geschichte, auf den wir nicht stolz sein können und von dem wir nicht gern sprechen. Das Volk hatte schließlich von Tigern-mas genug, und er wurde während der wüsten Anbetung des Idols auf geheimnisvolle Weise erschlagen. Danach kehrte unser Volk zu den Göttern seiner Vorfahren zurück.«

Eadulf schnaufte mißbilligend.

»Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen der Verehrung eines Idols und der Verehrung der heidnischen Götter. Keiner von ihnen war der wahre Gott.«

»Da hast du schon recht, Eadulf, aber wenigstens verlangten die alten Götter keine Blutopfer wie Cromm Cruach.«

Eadulf fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Aber was hat das zu tun mit dem . Was war das noch? . Mit dem Dreifachen Tod?«

»Das war der Tod, wie ihn - laut Tigernmas - der Cromm Cruach forderte.«

»Das verstehe ich immer noch nicht.«

Fidelma deutete auf die Leichen.

»Jeder dieser jungen Männer ist erstochen worden. Jeder ist erdrosselt worden, und jedem wurde der Schädel eingeschlagen. Sagt dir das etwas?«

Eadulfs Augen weiteten sich.

»Ist das dein Dreifacher Tod?«

»Genau. Erstechen, Erdrosseln, Erschlagen - jedes führt zum Tod. Jeder junge Mann trägt die Spuren dieser Todesarten. Hast du außerdem die Male an ihren Handgelenken bemerkt?« »Male?«

»Die Abschürfungen von Stricken. Sie waren an den Händen gefesselt, wahrscheinlich zum Zeitpunkt ihres Todes, und danach wurden die Stricke gelöst.«

Eadulf erschauerte und bekreuzigte sich.

»Meinst du, daß sie Opfer eines Todesritus wurden?«

»Ich zähle nur die Tatsachen auf. Jede Schlußfolgerung wäre reine Spekulation.«

»Aber wenn es stimmt, was du sagst, dann deutest du doch an, hier sei ein heidnisches Opfer vollzogen worden und die Verehrung des Idols Cromm gebe es noch.«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Tigernmas soll der sechsundzwanzigste König nach der Ankunft der Söhne von Mile, die die Kinder Gaels nach Eireann führten, gewesen sein. Er herrschte tausend Jahre vor dem Kommen Christi in diese Welt. Wegen seiner üblen Handlungsweise wandten sich selbst die Druiden gegen ihn. Es wäre unlogisch, anzunehmen, die Verehrung von Cromm existiere noch weiter.«

Eadulf verzog den Mund.

»Doch irgendein Teufelswerk ist hier im Gange.«

»Damit hast du recht. Ich erwähnte die Zahl der Leichen - im ganzen dreiunddreißig .«

»Und du meintest, diese Zahl habe ihre Bedeutung ...«, warf Eadulf rasch ein.

»Als die bösen Götter der Fomorii gestürzt wurden, hieß es, sie seien von zweiunddreißig Fürsten und dazu von ihrem Großkönig befehligt worden. Der große Held Cüchulainn aus Ulaidh erschlug dreiunddreißig Krieger im Schloß einer bösen Fee. Als die Desi von Cormac Mac Art aus Irland vertrieben wurden, mußten sie dreiunddreißig Jahre wandern, ehe sie sich niederlassen konnten. Dreiunddreißig Helden einschließlich des Königs starben in Bricrius Halle . Soll ich noch mehr aufzählen?«

Eadulf staunte.

»Meinst du, daß die Zahl dreiunddreißig in den heidnischen Traditionen deines Volkes eine besondere Bedeutung hat?«

»Ja. Was wir hier sehen, ist ein altes Ritual. Der Dreifache Tod, die Anordnung der Leichen im Kreis nach dem Sonnenlauf und die Zahl der Leichen zeugen davon. Aber die Bedeutung des Rituals müssen wir erst noch ergründen. Eine andere wichtige Tatsache hast du auch nicht erwähnt.«

Eadulf sah sich im Kreis um.

»Was meinst du?« fragte er unsicher.

»Sieh dir den da an und sag mir, was du findest«, antwortete sie und wies mit der Hand auf einen bestimmten Leichnam.

Angewidert stieg Eadulf über die Toten und schaute hinunter. Er schluckte und bekreuzigte sich.

»Ein Bruder«, flüsterte er. »Ein Glaubensbruder. Er trägt die Tonsur des heiligen Johannes.«

»Im Unterschied zu den anderen hat er Schnitt-und Rißwunden an den Beinen, den Armen und im Gesicht.«

»Heißt das, daß er gefoltert wurde?«

»Wahrscheinlich nicht. Es sieht eher so aus, als sei er durch Dorngestrüpp gelaufen und habe sich dabei die Wunden zugezogen.«

»Doch dieser Bruder in Christus wurde rituell hingeschlachtet.« Eadulf war entsetzt. »Sein geistliches Gewand hat ihn nicht vor diesem schlimmen Tod bewahrt. Du hast schon gesagt, was das bedeutet.«

Fidelma sah ihn einen Moment unsicher an.

»So?«

»Es ist offenkundig.«

»Wenn das so ist, dann sag’s mir.«

»Wir wollen in dieses Verbotene Tal, wo ein heidnischer Fürst regiert, der nach deinen eigenen Worten der Wahrheit der Lehre Christi Widerstand entgegensetzt. Du zitierst doch gern lateinische Sprichwörter, Fidelma. Ich nenne dir eins: Cuius regio, eius religio.«

Zum erstenmal, seit sie diesen schrecklichen Anblick vor sich hatten, umspielte Fidelmas Mund ein Lächeln bei Eadulfs Worten.

»Der Herrscher eines Landes bestimmt seine Religion«, übersetzte sie.

»Fürst Laisre ist Heide«, fuhr Eadulf eilig fort. »Und ist dies hier nicht eine heidnische Symbolik, die uns einschüchtern und abschrecken soll?«

»Abschrecken wovon?« wollte Fidelma wissen.

»Nun, davon, daß wir nach Gleann Geis gehen, um über die Gründung einer christlichen Kirche und Schule dort zu verhandeln. Ich denke, daß es als eine Beleidigung deines Bruders als König und des Bischofs Segdae als Bischof von Imleach gemeint ist. Wir sollten diesen Ort sofort verlassen. Uns umdrehen und in ein christliches Land zurückkehren.«

»Unseren Auftrag vergessen?« fragte Fidelma. »Meinst du das wirklich? Von hier fliehen?«

»Um später mit einem Heer zurückzukommen und diesen Heiden, die uns absichtlich beleidigt haben, die Furcht Gottes einzubleuen. Ja, das sollten wir tun. Ich würde mit einer Streitmacht wieder herkommen und dieses Nest heidnischer Schlangen vom Erdboden vertilgen.«

Wenn man hier neben den Leichen stand, konnte man leicht in Erregung geraten. So erging es Eadulf, dessen Gesicht sich vor Zorn rötete.

Fidelma beruhigte ihn.

»Mein erster Gedanke, Eadulf, war der, dem du eben so beredten Ausdruck verliehen hast. Es ist ein naheliegender Gedanke, eine naheliegende Reaktion. Wenn dieser Anblick für unsere Augen bestimmt ist, dann liegt er vielleicht zu nahe. Denk an die Schatten, die helle Laternen werfen.«

Eadulf wurde trotz seiner Furcht und seines Zorn ruhiger, als er versuchte, den Sinn ihrer Worte zu ergründen.

»Was meinst du damit?«

»Es war ein Spruch meines Lehrers, des Brehon Morann von Tara. Die naheliegenden Dinge sind oft Täuschungen, und die Wirklichkeit liegt hinter ihnen verborgen.«

Sie kniff die Augen zusammen und spähte nach einem Gegenstand, der ein Stück weit entfernt am Boden lag.

»Was ist das?« fragte Eadulf, der sich, ihrem Blick folgend, rasch umgewandt hatte, weil er eine neue Gefahr vermutete.

Die Sonnenstrahlen waren auf etwas gefallen, was mehrere Meter entfernt im Ginster lag, und wurden von ihm zurückgeworfen.

Wortlos ging Fidelma durch das Gestrüpp, bückte sich und kam mit dem Gegenstand zurück.

Eadulf hörte, wie sie tief Luft holte.

Rasch trat er zu ihr und betrachtete das Stück.

»Der Halsring eines Kriegers«, stellte sie fest. Auch Eadulf erkannte den goldenen Halsreif, der einst vielfach von den Elitekriegern der Iren und Briten und ganz früher auch der Gallier getragen wurde. Er hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Zentimetern und bestand aus acht verflochtenen Drähten, die in gegossene Endstücke eingelötet waren. Er war mit komplizierter Perlverzierung, gegossenen Erhebungen und winzigen gepunzten Vertiefungen in konzentrischen Ringen geschmückt. Das Material war poliertes Gold und noch so blank, daß das Stück nicht lange dort gelegen haben konnte.

Fidelma untersuchte die Verzierungen genau und reichte dann Eadulf den Reif.

Er fand ihn überraschend leicht, denn er hatte zuerst geglaubt, er sei aus massivem Gold. Doch die Endstücke waren hohl, und die geflochtenen Drähte wogen nicht viel.

»Gibt es da eine Beziehung?« erkundigte er sich und wies mit dem Kopf auf die Leichen.

»Vielleicht, aber vielleicht auch nicht.«

Fidelma nahm den Reif zurück und steckte ihn vorsichtig in ihr marsupium, den Tragebeutel an ihrem Gürtel.

»Ob oder ob nicht, eins ist klar. Dieser Ring hat nicht lange hier gelegen, dafür ist er zu blank. Und zweitens, er gehörte einem Krieger von höherem Rang.«

»Einem Krieger von Muman?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es gibt feine Unterschiede in den Verzierungen, die die Künstler von Muman oder die anderer Königreiche anbringen«, erläuterte sie. »Ich würde sagen, dieser Reif wurde in Ulaidh irgendwo im Norden hergestellt.«

Sie wollte sich schon abwenden, als etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein Schatten finsterer Befriedigung glitt über ihr Gesicht.

»Hier ist der Beweis für deine Behauptung, Ea-dulf«, sagte sie und zeigte auf einen Flecken Erde.

Eadulf sah ihn sich genauer an. Es war eine morastige Stelle in dem sonst steinigen Boden, auf dem der Ginster ungleich wuchs. Er bemerkte, daß sie von Wagenspuren durchzogen war.

»Das beweist, daß die Leichen auf Wagen hergebracht wurden. Siehst du die tieferen Furchen? Und die anderen, weniger tiefen? Die tieferen stammen von den beladenen Wagen und die flacheren von den entladenen.«

Sie betrachtete die Spuren und folgte ihnen ein kurzes Stück. Widerstrebend blieb sie stehen.

»Wir können sie jetzt nicht weiter verfolgen. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, nach Gleann Geis zu reisen.« Sie starrte in die Richtung, in die die Spuren führten. »Sie scheinen aus dem Norden zu kommen, sind aber auf dem steinigen Boden schwer auszumachen. Ich denke, die Wagen kamen über jene Berge

Sie zeigte in die Richtung, die sie meinte. Einen Augenblick blieb sie unschlüssig stehen und blickte angewidert auf die ständig wachsende Schar ungeduldig krächzender Krähen und Raben.

»Für diese armen Teufel können wir sehr wenig tun. Wir haben weder die Zeit noch die Kraft, noch die Werkzeuge, um ihnen ein ordentliches Begräbnis zu bereiten. Doch vielleicht hat Gott die Aasfresser gerade zu diesem Zweck erschaffen.«

»Wenigstens sollten wir ein Gebet für die Toten sprechen, Fidelma«, wandte Eadulf ein.

»Sprich dein Gebet, Eadulf, und ich sage amen dazu. Aber wir müssen so bald wie möglich weiter.«

Manchmal hatte Eadulf den Eindruck, Fidelma nehme den religiösen Teil ihres Lebens weniger ernst als ihre Pflichten als Anwältin. Er warf ihr einen mißbilligenden Blick zu, segnete dann den Kreis der Toten vor ihm und rezitierte in sächsischer Sprache:

»Zu Staub, Erde und Asche wird unsere Stärke,

Unser Ruhm ist vergänglich und eitel;

Aus der Erde kommen wir, zur Erde müssen wir

Schließlich zurückkehren.

Im Leben ernähren wir uns vom Fleisch der Tiere,

Der Vögel und mancher Fische;

Doch im Tode werden wir selbst

Zur Speise für kriechende Würmer.«

Plötzlich flogen zwei große Krähen, die mutiger waren als die anderen, auf und senkten sich dann auf eine der Leichen herab, in deren weißes Fleisch sie ihre Krallen bohrten. Eadulf schluckte, brach sein poetisches Gebet ab, murmelte einen raschen Segen für die Ruhe der Seelen der jungen Männer und machte sich eilig auf den Weg.

Fidelma hatte ihre Pferde von dem Busch losgebunden und hielt die unruhigen Tiere an den Zügeln. Nicht nur der Verwesungsgeruch störte die Pferde, sondern auch die gierigen Laute der Vögel, die nun über ihre Beute herfielen. Fidelma und Eadulf saßen auf und ritten los.

»Sobald es geht, möchte ich hierher zurückkehren und die Spuren verfolgen, um zu sehen, ob wir dadurch mehr erfahren können«, erklärte sie und blickte über die Schulter zu den fernen Bergen.

Eadulf schüttelte sich.

»Wäre das klug?«

Fidelma schmollte.

»Klugheit hat wenig damit zu tun.« Dann lächelte sie. »Nach meiner Berechnung sind wir nicht mehr weit von Gleann Geis entfernt. Es liegt hinter den nächsten Bergen, westwärts von hier durch dieses Tal. Wir werden hören, was Laisre dazu zu sagen hat. Wenn er behauptet, er wüßte nichts davon, können wir unsere Verhandlung dort schnell abschließen, zurückkommen und den Spuren nachgehen.«

»Vielleicht regnet es bald, und sie werden weggespült«, meinte Eadulf prompt und mit leiser Hoffnung in der Stimme.

Fidelma blickte zum Himmel auf.

»Bis übermorgen regnet es nicht«, erklärte sie zuversichtlich. »Wenn wir Glück haben, bleibt es noch ein paar Tage trocken.«

Eadulf hatte es längst aufgegeben, sie zu fragen, wie sie denn das Wetter vorhersagen könne. Sie hatte ihm oft erläutert, daß sie die Pflanzen und die Wolken beobachtete, aber das überstieg seinen Verstand. Jetzt ging er einfach davon aus, daß sie unweigerlich recht hätte. Er schaute zurück auf die sich vollstopfenden Raben, und es schauderte ihn sichtlich.

Fidelma bemerkte den Abscheu in seiner Miene und sagte: »Sieh es gelassen an, mein Bruder in Christo. Sind nicht Raben und Krähen auch ein Teil der großen Schöpfung, und hat nicht der Schöpfer diesen Aasfressern auch eine Rolle zugedacht?«

Eadulf war nicht überzeugt.

»Das sind Schöpfungen des Satans, nichts weiter.«

»Wieso?« fragte Fidelma spöttisch. »Zweifelst du an den Lehren deines eigenen Glaubens?«

Eadulf schaute sie verständnislos an.

»Erstes Buch Mose«, zitierte Fidelma. »>Und Gott schuf große Walfische und allerlei Getier, das da lebt und webt, davon das Wasser sich erregte, ein jegliches nach seiner Art, und allerlei gefiedertes Gevögel, ein jegliches nach seiner Art. Und Gott sah, daß es gut war. Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet das Wasser im Meer; und das Gefieder mehre sich auf Erden.<« Fidelma hielt inne und verzog das Gesicht. »>Und allerlei gefiedertes Gevögel<«, wiederholte sie mit Betonung. »Die Schöpfungsgeschichte sagt nicht, allerlei Gevögel mit Ausnahme der Aasfresser.«

Eadulf schüttelte den Kopf und wollte ihr Zitat nicht anerkennen.

»Es steht mir nicht zu, die Schöpfungsgeschichte in Frage zu stellen. Aber Gott hat uns den freien Willen gegeben, und damit erlaubt er mir, meinen Abscheu gegen solche Tiere kundzutun.«

Fidelma konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. Doch wollte sie ehrlich sein, mußte sie zugegeben, daß sie solche Diskussionen über den Glauben mit Eadulf genoß.

Sie hatten die dichte schwarze Masse der krächzenden Aasfresser, die nun den Boden bedeckte, weit hinter sich gelassen und spornten ihre Pferde zu schnellerer Gangart an.

»Was willst du tun, wenn wir diesen Laisre treffen?« erkundigte sich Eadulf. »Ich meine wegen der Leichen? Willst du eine Erklärung von ihm verlangen?«

»Das hört sich an, als ob du ihn für schuldig hältst.«

»Die Annahme erscheint mir logisch.«

»Annahmen sind keine Tatsachen.«

»Was willst du dann tun?«

»Tun?« Einen Moment überlegte sie. »Nun, den Rat meines Bruders befolgen. Darauf achten, was ich sage, wann ich es sage und zu wem!«

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