Kapitel 19

Fidelma erhob sich von ihrem Bett, lange bevor der Himmel hell wurde, und wartete unruhig im Hauptraum des Gästehauses. Sie hatte nach Rudgal gesehen und festgestellt, daß seine Fesseln noch hielten und er schlief, obwohl seine Lage nicht sehr bequem schien. Eadulf schlief ebenfalls und schnarchte leise. Sie lauschte aufmerksam, doch draußen war nichts zu hören. Sie ging zum Fenster und blickte besorgt zum Himmel auf, der sich über den Gipfeln im Osten langsam grau färbte. Angstvoll fragte sie sich, ob sie voreilig gehandelt hatte, als sie alles auf das Eintreffen von Ibor von Muirthemne im Morgengrauen setzte. Wenn nun Cruinn gelogen hatte und es wirklich keinen zweiten Weg nach Gleann Geis gab? Vielleicht kam man tatsächlich nur durch die Schlucht in dieses Tal? Wenn nun Ibor und seine Männer nicht in das Tal gelangen könnten? Wenn es ihnen nicht geglückt wäre, die Burg einzunehmen? Wenn nun ...?

Sie hielt inne und bemühte sich, ihre umherirrenden Gedanken zu bändigen. Was hatte doch ihr Mentor, der Brehon Morann von Tara, einst gesagt? »Mit einem >wenn< könntest du die fünf Königreiche von Ei-reann in eine Flasche stecken und wegtragen.«

Sie zwang sich, ein wenig Met zu trinken und etwas trockenes Brot und Käse zu sich zu nehmen, um sich für das zu wappnen, was ihr an diesem Vormittag bevorstand: so oder so.

Da vernahm sie ein Geräusch und sprang nervös auf. Es war nur ein müdes Gähnen gewesen, und sie begriff, daß Eadulf gerade aufstand. Kurz darauf kam er verschlafen die Treppe herunter.

»Hast du schon was gehört?« flüsterte er. Fidelma schüttelte den Kopf. Gemeinsam lauschten sie in die Stille. Sie wurde nur vom Bellen eines Hundes in der Ferne unterbrochen.

Dann krähte in der Nähe ein Hahn.

Das wirkte anscheinend wie ein Signal, denn im selben Augenblick wurde die Tür des Gästehauses aufgerissen. Böses ahnend, fuhren sie herum. In der Tür stand Ibor von Muirthemne, das Schwert in der Hand, und lächelte.

»Der rath gehört uns, Fidelma. Ich habe die Wachen zusammengeholt und lasse sie in ihrem Schlafraum von einigen meiner Krieger bewachen. Die Tore sind jetzt geschlossen, und meine Männer haben alle wichtigen Punkte besetzt, auch den Ratssaal.«

»Ist Blut geflossen?« erkundigte sich Fidelma besorgt.

Ein grimmiges Lächeln war die Antwort.

»Nicht der Rede wert. Hier und da eine Beule am Kopf, aber nichts Schlimmeres.«

»Gut. Dann wecken wir die Bewohner des rath und sagen ihnen, sie sollen sich im Ratssaal versammeln.«

Ibor zögerte.

»Eins solltest du noch wissen, Schwester. Wir fanden den Weg ins Tal, und er war genauso, wie du ihn uns beschrieben hast. Es war ein Felsenpfad neben dem schäumenden Fluß, der sich aus diesem Tal ergießt. Ab und zu wand sich der Pfad durch Höhlen, bevor er ins Tal führte. Wir folgten ihm, wie du gesagt hattest. In einer der Höhlen entdeckten wir Artgal.«

Sie zeigte keine Bewegung.

»Er war tot, nehme ich an?«

»Er war tot«, bestätigte Ibor. »Woher weißt du das?«

»Auf welche Weise fand er den Tod?« erkundigte sie sich und überging seine Frage.

»Das kann ich nicht sagen. Er hatte eine Tasche bei sich, als wolle er auf eine lange Reise gehen. Eine Wunde hatte er nicht.«

Eadulf schaute Ibor erstaunt an.

»Keine Wunde?« fragte er. »Keine Wunde, und doch war er tot?«

»Wer weiß, woran er starb?« Ibor zuckte die Achseln. »Was tötet, ohne eine Wunde zu hinterlassen? Als ich mir die Leiche genauer anschaute, sah ich, daß Artgals Gesicht von gräßlicher Furcht verzerrt war. Die Lippen waren blau angelaufen und verzogen, Zähne und Zahnfleisch waren sichtbar. Die Augen traten hervor, als habe er den Teufel persönlich erblickt. Ich habe in meinem Leben schon mehrere Tote mit solchen Gesichtern gesehen, alle Heiden. So töten Druiden. Gott schütze uns, Schwester. Ich mußte einigen meiner Männer mit dem Schwert drohen, um sie zum Weitermarsch in dieses verfluchte Tal zu zwingen.«

Fidelma senkte die Augen und dachte ein paar Momente nach. Dann hob sie den Kopf, sie war gefaßt.

»Ich meine, das letzte Stück des Puzzles ist jetzt eingefügt«, sagte sie befriedigt. »Ich bin bereit. Holt die Bewohner der Burg im Ratssaal zusammen, mit Ausnahme der Kinder. Ich bin in fünfzehn Minuten auch dort.«

Ibor war schon auf dem Wege zur Tür, als sie ihn zurückrief.

»Im oberen Stockwerk findest du einen Krieger aus diesem rath - Rudgal. Er ist gefesselt. Laß ihn von zwei deiner Krieger in den Saal schaffen, aber bindet ihm nicht die Hände los.«

Ibor sah sie erstaunt an, dann zuckte er die Achseln und bestätigte ihren Befehl mit zum Gruß erhobenem Schwert.

Als Fidelma, gefolgt von Eadulf, den Ratssaal betrat, kam feindseliges und wütendes Gemurmel auf. Die führenden Einwohner des rath waren von Ibors Männern mit gezogenen Schwertern in die Halle gebracht worden. Ihre eigenen Schwerter hatte man ihnen abgenommen. An jedem Eingang hielten Ibors Krieger Wache, während am Amtssessel Ibor selbst und zwei seiner Männer den Fürsten von Gleann Geis bewachten. Im ganzen war etwa ein Dutzend Krieger der Craobh Righ im Saal verteilt. Fidelma vermutete, daß die anderen als Posten an den Toren des rath und auf den Mauern standen.

Laisre lehnte bleich vor Zorn in seinem Amtssessel.

Murgal saß daneben und wirkte ebenfalls nicht gerade glücklich. Colla stand hinter seinem Fürsten, sein Gesicht war gerötet und voller Groll. Orla hielt sich an seiner Seite. Finster und feindselig blickte sie Fidelma an. Freundlichkeit oder Entgegenkommen war auf keinem Gesicht in der Halle zu entdecken. Nur Esnad schien von den Vorgängen unberührt.

Fidelma schaute sich in der Halle um. Dort stand Rudgal mit zorniger Miene. Seine Arme waren noch gefesselt. Ronan und seine zänkische Frau Bairsech waren da, ebenso die Prostituierte Nemon, die füllige Verwalterin Cruinn und die Apothekerin Marga. Das waren die Leute, die Ibor auf Fidelmas ausdrücklichen Wunsch hatte in den Saal schaffen lassen. Alle außer Ibor und seine Männer sahen Fidelma haßerfüllt an, als sie ihren Platz einnahm.

Laisre sprach als erster. Er erhob sich, am ganzen Leibe zitternd.

»Nun, Fidelma von Cashel, dein barbarisches Vorgehen kann nur mit Blut gesühnt werden«, verkündete er. »Du hast alle Regeln der Gastfreundschaft gebrochen, du hast fremde Krieger dazu benutzt, uns gefangenzusetzen .«

»Barbarei ist ein guter Ausdruck für das Übel, das sich in diesem Tal ausgebreitet hat«, unterbrach ihn Fidelma kühl. Ihre Stimme brachte ihn zum Schweigen, ehe er sich noch mehr in Rage reden konnte. »Ich bin hier, um die Wahrheit darüber aufzudecken.«

»Mit Hilfe von Kriegern aus dem Norden, Fidel-ma?« fragte Colla. »Wie können Krieger aus Ulaidh aus den Bewohnern von Muman irgendeine Wahrheit herauspressen? Behandelt dein Bruder so sein Volk, mit Gewalt von außen? Mit fremden Söldnern?«

»Ich fürchte, du tust Ibor und seinen Männern unrecht. Sie stehen nicht im Solde Mumans. Sie sind auch nicht hier, um etwas zu erzwingen, sondern nur, um die Unschuldigen unter euch vor Schaden zu bewahren und dafür zu sorgen, daß die Wahrheit endlich gehört wird. Und ihr werdet mir zuhören, denn ich spreche nicht nur als die Stimme meines Bruders, des Königs, sondern als eine dalaigh mit dem Grad eines anruth, deren Stimme von Königen gehört wird und der sogar der Großkönig sich beugt.«

Ihre ruhige Sicherheit gebot allen im Ratssaal zu schweigen.

Gelassen meldete sich Murgal zu Wort: »Sag uns deine Wahrheit, Fidelma von Cashel, und wir werden dir mit unserer antworten.«

Fidelma lächelte ihn an.

»Wenn euch dann noch eine Wahrheit zur Antwort bleibt«, konterte sie leise.

Einen Moment hielt sie still den Kopf gesenkt und wartete, während die Spannung in der Halle stieg.

Als Eadulf sich schon fragte, ob sie gebeten werden wollte und er das übernehmen sollte, begann Fidelma zu sprechen, zuerst leise.

»Ich habe vor vielen Rätseln gestanden, seit ich als Anwältin bei unseren Gerichten zugelassen wurde. Ich will nicht sagen, daß sie einfach zu lösen waren. Bruder Eadulf weiß, daß viele es nicht waren, denn er war oft ebenfalls damit befaßt. Das Rätsel, das ich hier vorfand, hat mich lange Zeit verwirrt hat. Worum handelte es sich?«

Niemand antwortete.

»Als Bruder Eadulf und ich hierherkamen, stießen wir vor der Schlucht, durch die man ins Tal gelangt, auf dreiunddreißig ermordete junge Männer, die anscheinend nach einem heidnischen Ritual hingeschlachtet worden waren; ihre Leichen waren nackt und in einem sonnenwärts gerichteten Kreis angeordnet. Jeder der Männer war auf eine Art getötet worden, die unsere Vorfahren als den Dreifachen Tod kannten. Dann folgte der Mord an Bruder Solin.«

»An dem du beinahe für schuldig befunden worden wärst«, warf Orla heftig ein. »An dem du mir die Schuld geben wolltest. Nur aufgrund einer Regel des Gesetzes, mit der der Angelsachse beweisen konnte, daß Artgal ein unglaubwürdiger Zeuge war, kamst du auf freien Fuß. Du wurdest jedoch nicht für unschuldig befunden. Du könntest trotzdem die Mörderin Solins sein!«

Murgal schien unangenehm berührt von dieser Rede, die man als Kritik an seinem Urteil auffassen konnte. Er sah Orla kopfschüttelnd an.

»Orla, mein Urteil gilt. Ich kann nur nach unserem Gesetz urteilen.«

Orla gab ihm einen finsteren Blick zurück, schwieg aber.

Fidelma wandte sich nun an Murgal.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen oder gar dein Urteil zu rechtfertigen, Murgal. Auf den Tod So-lins folgte sehr bald der Mord an Bruder Dianach.«

Murgal beugte sich vor und sagte: »Und der läßt sich leicht erklären, denn offensichtlich hat Artgal Dianach aus Rache oder einem ähnlichen Grund getötet, nachdem ans Licht gekommen war, daß Dianach ihn bestochen hatte, damit er seine Aussage gegen dich aufrechterhielt.«

Fidelma überging die Unterbrechung.

»Und anschließend ist Artgal aus dem Tal geflohen und hat damit für manche die Tat gestanden?«

»Genau«, sagte Murgal befriedigt.

»Und unterwegs hat er sich vergiftet?«

Es trat ein überraschtes Schweigen ein.

»Ja«, fuhr Fidelma gelassen fort. »Artgal wurde tot in einer der Höhlen am Fluß gefunden. Er ist an Gift gestorben.«

»Woher weißt du das?« fragte Colla.

Fidelma wies auf Ibor.

»Ibor hat ihn gefunden. Ibor und seine Männer«, verbesserte sie sich. »Ibor, du sagtest, an Artgals Leiche seien keine Wunden zu sehen gewesen, als ihr ihn fandet?«

Der Krieger trat einen Schritt vor und neigte bejahend den Kopf.

»Aber seine Lippen waren vom Zahnfleisch zurückgezogen und das Gesicht gräßlich verzerrt?«

»So war es.«

»Und das Zahnfleisch war schwarzblau verfärbt?«

»Das habe ich nicht gesagt, aber es stimmt.«

»Damit haben wir also nun insgesamt sechsunddreißig Todesfälle in Gleann Geis«, faßte Fidelma zusammen. »Wahrlich ein verbotenes Tal. Es verbietet das Leben!«

»Dann bist du also darauf aus, dem Volk von Gleann Geis die Schuld dafür zu geben?« höhnte Lais-re zornig. »Du willst deinen Bruder dazu bringen, daß er mein Volk bestraft, so wie du ihn überredet hast, gegen die Ui Fidgente vorzugehen.«

Fidelma lächelte den Fürsten bedeutungsvoll an.

»Es gibt wirklich jemanden, der das vorhat, Laisre«, sagte sie mit Betonung. »Aber du tust mir unrecht, wenn du behauptest, das wäre mein Plan. Ich will den Menschen von Gleann Geis nichts Böses tun. Mir geht es nur darum, diejenigen zu bestrafen, die für all die Morde verantwortlich sind.«

»Willst du damit andeuten, daß diejenigen sich hier im Ratssaal befinden?« fragte Murgal. »Daß die Schuldigen an allen sechsunddreißig Morden unter uns sind?«

»Das deute ich nicht nur an. Ich sage es.«

»Kannst du ihre Namen nennen?« fragte der Druide über das aufkommende Gemurmel hinweg.

»Das kann ich«, antwortete sie ruhig. »Aber bevor ich es tue, möchte ich euch erklären, wie ich zu meinen Schlußfolgerungen gelangt bin.«

Die Spannung unter den Versammelten stieg spürbar an.

»Mein erster Fehler bestand darin, daß ich eine Gedankenlinie verfolgte, die mir einige Zeit den Blick auf die Wahrheit verstellte, weil ich nämlich annahm, daß der Mord an den dreiunddreißig jungen Männern am Eingang zu diesem Tal mit dem Mord an Bruder Solin in Verbindung stände.«

Colla holte tief Luft.

»Soll das heißen, sie hängen nicht zusammen?« fragte er überrascht.

»Nein, das tun sie nicht«, bestätigte Fidelma. »Um genau zu sein, es gibt eine Verbindung, aber nicht die, die ich vermutete. Daraus folgt übrigens, daß die Morde an Bruder Dianach und an Artgal zwar mit Bruder So-lins Tod zu tun haben, aber nicht mit dem Ritualmord.«

»Wir warten immer noch auf deine sogenannte Wahrheit«, rief Laisre spöttisch durch den Aufruhr, den ihre Worte verursacht hatten.

»Die werdet ihr bald hören. Erst komme ich zu dem Ritualmord. Das war einfach ein plumpes und übles Mittel, einen Bürgerkrieg in Muman provozieren. Die Schuld daran gebe ich Mael Düin, dem König der nördlichen Ui Neill in Ailech.«

Wieder unterbrach sie ein überraschtes Gemurmel.

»Ailech ist weit von hier«, erklärte Colla ungläubig. »Was für einen Nutzen brächte es Mael Düin, wenn es Zwistigkeiten in Muman gäbe?«

»Anscheinend will Mael Düin die Throne aller nördlichen Königreiche an sich bringen und sich dann als Großkönig auf dem Thron in Tara niederlassen. Er will über alle fünf Königreiche herrschen. Er weiß, daß nur ein Königreich genug Macht besitzt, um seine ehrgeizigen Pläne zu vereiteln.«

»Muman?« Murgal sprach die logische Folgerung aus.

»Genau. Die Eoghanacht von Cashel würden es ihm nicht erlauben, die Würde des Großkönigs an sich zu reißen, die eine Ehre darstellt, die verliehen wird, aber nicht eine Macht, die man ergreift.«

»Wie hängt das mit dem Mord an den jungen Männern zusammen?« Colla schien jetzt fasziniert von ihrer Darlegung und verfolgte sie aufmerksam.

»Als Gleann Geis darum bat, ein Vertreter Cashels, von der Kirche von Imleach, möge herkommen, angeblich, um über die Errichtung einer Kirche und einer Schule zu verhandeln, hatten die Feinde Mumans bereits eingeplant, daß ein einfacher Kleriker erscheinen, den Ritualmord erblicken und glauben würde, es handle sich um eine heidnische Zeremonie. Sofort würde man der heidnischen Gemeinschaft von Gleann Geis die Schuld daran zuschreiben. Kein Kleriker könnte eine solche Beleidigung seines Glaubens hinnehmen. Man ging davon aus, dieser Kleriker würde nach Cashel zurückeilen, und der König von Cashel und sein Bischof in Imleach würden einen heiligen Rachekrieg gegen Gleann Geis ausrufen. Sie würden versuchen, als gerechte Strafe das Volk von Gleann Geis auszutilgen.

Das wiederum würde die Nachbarn von Gleann Geis dazu veranlassen, sich zu erheben und ihre Verwandten in Gleann Geis gegen die Aggression von Cashel in Schutz zu nehmen, und so würde ein Schritt unweigerlich den nächsten nach sich ziehen.«

»Und was verhinderte, daß dieser große Plan in Erfüllung ging - wenn er denn jemals existierte?« Laisre schien nicht überzeugt.

»Ich war die Klerikerin, die ins Tal gekommen ist, doch da ich zugleich auch eine dalaigh bin, brauchte ich Beweise, bevor ich handelte. Das brachte den Zeitplan der Verschwörer durcheinander.«

»Ein schlechter Plan«, meinte Colla, »mit zu vielen Wenns und Abers.«

»Nein. Denn der Plan hatte Anhänger hier in Gleann Geis, Leute, denen es gleich war, wie viele Menschen ihres Clans ums Leben kamen, wenn alles nur zu den richtigen Ergebnissen führte, denn für sie war es ein Schritt auf dem Wege zu größerer Macht, die ihnen Mael Düin versprochen hatte, wenn er erst Großkönig wäre.«

Murgal lachte ungläubig auf.

»Willst du behaupten, ein paar von uns hier in Gleann Geis hätten sich von Mael Düin von Ailech mit Angeboten von Macht und Reichtum bestechen lassen? Meinst du, daß wir, oder einige von uns, mit Mael Düin von Ailech zusammenarbeiten, um unser Volk zugrunde zu richten für Brosamen von seinem Tische?«

»Genau das. Mael Düins Plan konnte nicht funktionieren ohne einen oder mehrere solcher Verbündete. Der Umsturz in Muman mußte von innen kommen, wenn er glücken sollte.«

»Das wirst du beweisen müssen.«

Fidelma lächelte Murgal an und ließ dann ihre Blik-ke im Raum umherwandern, als wolle sie die Gedanken der Anwesenden lesen. Schließlich sagte sie: »Das ist genau das, was ich vorhabe. Ich bin in der Lage dazu dank eines anderen Ereignisses, das hier eintrat und von dem ich anfangs, wie ich schon erwähnte, annahm, es hinge damit zusammen, was aber nicht der Fall war. Doch dieser unabhängige Vorfall führte mich zu dem schuldigen Verbündeten von Ailech.«

»Wer ist es?« fragte Colla gespannt.

»Laßt mich zuerst die Ereignisse nachvollziehen. Der Plan wird in Gang gesetzt. Mael Düin hat eine Schar Krieger mit Gefangenen als Opfer losgeschickt, die das Ritual vollziehen, das den Zorn von Cashel und Imleach entfachen soll. So weit, so gut. Der Verbündete in Gleann Geis hat alles vorbereitet. Eine Einladung nach Imleach ist ergangen, um sicherzustellen, daß ein Kleriker sich auf den Weg nach Gleann Geis macht und über den Ritualmord stolpert. Wachposten beobachten die Annäherung des Klerikers, damit die Krieger aus Ailech wissen, wann und wo sie ihr widerliches Verbrechen zu verüben haben.«

Sie legte eine dramatische Pause ein.

»Nun besitzt Mael Düin auch einen mächtigen Verbündeten im Norden, Ultan selbst, den Bischof von Armagh. Er hat versprochen, Mael Düin bei seinem Griff nach der Macht zu unterstützen. Wieviel wußte Ultan von diesem Plan? Das kann ich nicht sagen. Aber er schickte seinen Sekretär und einen jungen Schreiber nach Gleann Geis. Es könnte sein, daß Bruder Solin ausgesandt wurde, um als sogenannter unabhängiger Zeuge für den erwarteten Marsch Cashels auf Gleann Geis zu dienen, der den anderen Provinzkönigen Bericht erstatten würde, damit Armagh die übrigen Provinzkönige zum Angriff auf Cashel auffordern könnte. Bruder Solin war jedenfalls in die Verschwörung eingeweiht, auch wenn Ultan es vielleicht nicht war.«

»Woher weißt du das?« fragte Murgal.

»Tatsache ist, daß Sechnassach von Tara vermutete, daß Mael Düin nach der Macht strebte, und ahnte, daß er eine Intrige spann. Er hatte auch entdeckt, daß Ultan sich mit Mael Düin verbündet hatte, doch wußte er nicht, bis zu welchem Grade. Deshalb beauftragte Sechnassach einige Krieger, Ultan im Auge zu behalten, und sie fanden heraus, daß Bruder Solin in die Sache verwickelt war. Sie verfolgten Bruder Solin und seinen jungen Schreiber, Bruder Dianach, und sahen, daß sie sich mit einer Schar von Mael Düins Kriegern trafen. Diese Krieger waren mit dreiunddreißig Gefangenen nach Gleann Geis unterwegs. Dreiunddreißig«, wiederholte sie bedeutungsvoll. Nach einer Pause fuhr sie fort.

»Die Krieger Sechnassachs beobachteten, daß eine Frau sich zu dem Treffen von Bruder Solin und Dia-nach mit den Männern von Ailech hinzugesellte. Als einer der Gefangenen flüchtete, ritt diese Frau ihm nach und fing ihn wieder ein. Sie führte Bruder Solin und seinen Schreiber zum Eingang der Schlucht nach Gleann Geis.«

»Aber Solin und Dianach kamen allein nach Gleann Geis«, unterbrach sie Orla mit gerötetem Gesicht. »Das wird dir jeder unserer Wachposten an der Schlucht bestätigen.«

»Das bestreite ich auch nicht«, erwiderte Fidelma gelassen, »es ist richtig. Bruder Solin und Dianach ritten allein in Gleann Geis ein - denn sie hatten sich zuvor von der Frau getrennt. Sie zeigte inzwischen zwei Kriegern aus Ailech den Weg, auf dem der Kleriker aus Cashel vermutlich kommen würde, und den Ort, an dem die Leichen ausgelegt werden mußten. Dann gelangte sie auf einem anderen Weg ins Tal, den sie kannte, den geheimen Pfad am Fluß entlang, auf dem man Artgals Leiche fand.«

Orla wollte etwas entgegnen, doch ihr Ehemann kam ihr zuvor.

»Du sagst, die Krieger Sechnassachs seien diesen Leuten hierher gefolgt. Wo sind sie denn? Welchen Beweis haben wir für deine Worte?«

»Du hättest schon darauf kommen können, daß es dieselben Leute sind, die den rath besetzt haben. Ibor von Muirthemne ist ihr Anführer und kein Pferdehändler. Ibor ist Befehlshaber der Craobh Righ von Ulaidh.«

Ibor trat einen Schritt vor und verbeugte sich steif vor Laisre.

»Zu deinen Diensten, Fürst von Gleann Geis«, sagte er förmlich, doch mit Ironie.

»Nicht zu meinen Diensten«, entgegnete Laisre angewidert. »Mach weiter mit deiner langweiligen Geschichte, Fidelma.«

»Mael Düins Leute und ihre Gefangenen näherten sich Gleann Geis. Die Männer von Ailech, ich will sie nicht als >Krieger< bezeichnen, denn sie waren nichts anderes als Schlächter, warteten auf den Kleriker aus Cashel. Mit anderen Worten, sie warteten auf mich. Sobald sie Eadulf und mich sichteten, begann das rituelle Morden. Die Leichen wurden so ausgelegt, daß ich sie finden mußte. Der Rest war dann meine Sache.

Ich verhinderte ihren Plan aber dadurch, daß ich nicht voller Entsetzen entfloh, um Cashels Zorn auf Gleann Geis anzustacheln und Muman in einen Bürgerkrieg zu stürzen.«

»Ja, ja, ja! Das hast du klargestellt, Fidelma von Cashel«, unterbrach sie Murgal hastig. »Aber es bleibt die Tatsache, daß dir das, sobald du das alles wußtest, das stärkste Motiv gab, Solin umzubringen, ein stärkeres, als es jeder andere hier hatte.«

»Jeder andere außer dem wirklichen Mörder. Als Solin starb, wußte ich noch nichts von dieser Intrige und nichts von seiner Verwicklung darin. Das habe ich später von Ibor von Muirthemne erfahren. Da erst begriff ich, daß hier zwei verschiedene Vorgänge abliefen. Der barbarische, um Laisres treffendes Wort zu benutzen, Plan gegen Muman und ein einfacher Mord - obgleich ein Mord nie einfach ist.«

Sie hielt inne und zuckte die Achseln.

»Ehe ich fortfahre, möchte ich noch enthüllen, wer in Gleann Geis an diesem schrecklichen Komplott des Königs von Ailech beteiligt war. Ich erinnere euch an die Frau, die sich mit Mael Düins Leuten traf. Ibor und seine Krieger haben sie gesehen ...«

Fidelma schaute Orla an.

»Die Frau war eine imponierende Erscheinung.«

Orla unterdrückte einen Wutausbruch.

»Seht ihr, was sie vorhat? Es ist schon das zweite Mal, daß sie mich des Mordes beschuldigt. Nicht genug damit, daß sie behauptet, ich hätte Solin von Armagh getötet, jetzt klagt sie mich auch noch eines abscheulichen Verbrechens gegen mein Volk an. Dafür werde ich dich vernichten, Fidelma von Cashel ...«

Sie zog einen Dolch aus dem Gürtel und wollte aufspringen.

Ibor trat auf sie zu, doch Colla versperrte ihr schon den Weg und stellte sich dann schützend vor seine Frau. Er wand ihr sanft, aber bestimmt den Dolch aus der Hand.

»Das ist keine Lösung, Orla«, murrte er. »Dir geschieht nichts, solange ich dich verteidige.« Mit zornblitzenden Augen wandte er sich zu Fidelma um. »Du bekommst es mit mir zu tun, dalaigh«, drohte er. »Du wirst deiner Strafe für die falschen Anschuldigungen gegen meine Frau nicht entgehen.«

Fidelma breitete hilflos die Arme aus.

»Ich kann mich nicht erinnern, irgendwelche Anschuldigungen erhoben zu haben, weder falsche noch andere. Ich stelle lediglich Tatsachen fest. Du wirst es noch hören, wenn ich Anklagen erhebe.«

Colla sah sie verwirrt an und trat einen Schritt vor, doch Ibor berührte ihn leicht mit der Schwertspitze am Arm und schüttelte den Kopf. Zugleich streckte er die Hand nach Orlas Dolch aus, den ihm Colla, ohne zu protestieren, übergab. Ibor machte ihm ein Zeichen, er solle sich wieder setzen.

»Kehren wir nun zu dem zurück, was sich als ein schwaches Glied in dieser schrecklich tragischen Kette erweisen sollte, zu Bruder Solin aus Armagh. Bruder Solin war ehrgeizig und verschlagen, ein würdiger Verschwörer in dieser Sache. Doch er hatte eine Schwäche. Kurz gesagt, er war ein geiler Bock. Er hat dir einen unsittlichen Antrag gemacht, nicht wahr, Orla?«

Die Frau des Tanist lief rot an.

»Ich kann mich selber wehren«, murmelte sie, »besonders gegen so einen Mann.«

»Das konntest du wirklich. Einmal hast du ihn geschlagen.«

»Ich habe es ihm gezeigt«, sagte Orla leise. »Er hat mich nicht berührt. Er machte nur einen unzüchtigen Vorschlag. Das hat er schnell bereut. Er hat seine Lektion gelernt.«

»Nein, das hat er nicht«, widersprach ihr Fidelma. »Er war ein unbelehrbarer Wüstling. Ihn verlangte es noch nach jemand anderem. Diese andere schlug ihn nicht nur, sondern schüttete ihm Wein ins Gesicht. Du erinnerst dich, Orla, daß ich dich fragte, ob du So-lin mit Wein begossen hättest?«

Orla blieb mißtrauisch.

»Ich sagte dir, nein, ich hab’s nicht getan.«

»Stimmt. Es gibt nämlich noch eine andere hübsche Frau im rath, nicht wahr, Murgal? Diese Frau besitzt übrigens eine gewisse Ähnlichkeit mit Orla und ist ebenfalls groß und eine imponierende Erscheinung.«

Der Druide bemühte sich, ihren Gedankengängen zu folgen.

»Du mußtest feststellen, daß sie für deine eigenen Bemühungen auch nicht empfänglich war, nicht wahr? Auf dem Fest schlug dir die Apothekerin Mar-ga ins Gesicht.«

Murgal blinzelte verlegen.

»Das hat ja jeder gesehen«, murmelte er gekränkt. »Weshalb sollte ich das leugnen? Aber ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«

Fidelma wandte sich nun Marga zu. Im Gesicht der Apothekerin spiegelten sich die verschiedensten Emotionen wider.

»Bruder Solin hat dir nicht nur einen unzüchtigen Antrag gemacht - er kam in deine Wohnung und versuchte sich dir gewaltsam zu nähern.«

Marga hob trotzig das Kinn.

»Ich begoß ihn mit Wein, um seine Hitze abzukühlen. Ich schlug ihm ins Gesicht. Getötet habe ich den Mann nicht.«

»Aber er hat dir nachgestellt, Marga«, beharrte Fidelmaruhig. »Und das war der Grund, weshalb Bruder Solin ermordet wurde.«

Plötzlich herrschte eine Stille in der Halle, die nur vom schluchzenden Leugnen der Apothekerin unterbrochen wurde. Alle starrten Marga an. Cruinn eilte herbei und nahm sie in den Arm.

»Willst du damit sagen, daß Marga Solin umgebracht hat?« keuchte Murgal.

»Nein«, erwiderte Fidelma sofort. »Ich habe nur erklärt, daß Solins Angriff auf Marga das auslösende Moment für seine Ermordung war.«

»Behauptest du jetzt auch, daß es nicht Orla, sondern Marga war, die du am Pferdestall gesehen hast?« wollte Colla wissen.

Fidelma verneinte mit einem Kopfschütteln.

»Es war jemand, der genauso aussieht wie Orla, und das hat mich irregeführt. Die Gestalt trug einen Mantel mit Kapuze, so daß ich nur den oberen Teil des Gesichts sah, als das Licht darauf fiel.«

Sie schaute Laisre an.

»Erst als ich gestern abend den oberen Teil deines Gesichts über dem hölzernen Wandschirm bei genau derselben Beleuchtung sah, Laisre, begriff ich, welchem Irrtum ich verfallen war. Du warst es, Laisre von Gleann Geis, der aus dem Stall kam, und nicht deine Zwillingsschwester Orla.«

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