Kapitel 16

Es war noch dunkel, als Fidelma Eadulf weckte und ihn aufforderte, sich fertig zu machen. Sie war bereits angekleidet, und während er ihrem Beispiel eilig folgte, ging sie hinunter und packte die Reste des Abendessens in ihre Satteltaschen. Als Eadulf bereit war, schlichen sie sich aus dem Gästehaus und über den Hof. Sie hielten sich dabei im Schatten, fern von dem flackernden Licht der Fackeln, damit kein herumwan-dernder Wachposten sie bemerkte. Fidelma wollte möglichst jedem wachsamen Auge entgehen. Ein Posten stand auf der Mauer, aber der schien zu dösen.

Sie sattelten ihre Pferde, so leise es ging, und führten sie vorsichtig aus dem Stall heraus.

Eadulf stöhnte leicht, denn das Klappern der Hufe auf den Pflastersteinen konnte Tote auferwecken. Zumindest weckte es den Posten, der auf der Mauer eingenickt war. Er kam die Treppe herunter und trat ans offene Tor. Fidelma erkannte, daß es nicht möglich war, unbeachtet hinauszugelangen. Ihr mußte etwas einfallen.

»Wer ist da?« fragte der Posten mit rauher, schläfriger Stimme.

»Fidelma von Cashel«, erwiderte sie in hochmütigem Ton.

»Na! Es ist ja noch nicht mal hell«, stellte der Posten das Offenkundige fest. »Warum wollt ihr den rath zu so früher Zeit verlassen?«

Seine Frage klang unsicher, offenbar wußte er nicht recht, wie er sich verhalten sollte.

»Ja, Bruder Eadulf und ich verlassen den rath für kurze Zeit.«

»Weiß Laisre davon, Lady?« erkundigte sich der Posten zögernd.

»Ist Laisre nicht der Fürst von Gleann Geis und weiß, was innerhalb seines eigenen rath geschieht?« konterte sie und versuchte den schmalen Grat zu finden, der ihr eine direkte Lüge ersparte.

Der Ton des Postens war nun gekränkt.

»Mach mir keinen Vorwurf, Lady, weil ich nicht Bescheid weiß. Keiner hat mir gesagt, daß du ausreitest.«

»Dann sag ich dir’s jetzt.« Fidelma bemühte sich, gereizt zu klingen. »Tritt beiseite und laß uns durch. Falls jemand nach uns fragt, wir sind bald zurück.«

Zögernd gab der Posten den Weg frei, und Fidelma und Eadulf trabten durch das offene Tor in die Dunkelheit hinaus.

Erst als sie ein ganzes Stück vom rath entfernt und auf dem Weg waren, der aus dem Tal zu der Schlucht führte, durch die man Gleann Geis verlassen konnte, erlaubte es Eadulf sich, tief und erleichtert Luft zu holen.

»War das klug, Fidelma? Die Andeutung, du hättest Laisres persönliche Erlaubnis für diesen Ausritt, wird den Zorn des Fürsten nur vergrößern, wenn wir zurückkehren.«

»Klugheit entsteht auf den Trümmern der Torheit.« Fidelma lachte. »Ich habe den Mann nicht belogen. Wir kehren so bald wie möglich zurück.«

Es zeigten sich schon erste helle Streifen am Himmel, als sie das düstere Granitstandbild des Gottes Lugh mit der Langen Hand erreichten, das den Eingang zum Tal zierte. Im grauen Zwielicht sah es bedrohlich aus, als sie daran vorbeiritten. Eadulf bekreuzigte sich nervös bei seinem Anblick, doch Fidelmalachte fröhlich.

»Habe ich dir nicht erzählt, daß Lugh für unsere Vorfahren der Gott des Lichts war, der Sonnengott?

Du solltest dich nicht vor ihm fürchten, er war ein guter Gott.«

»Wie kannst du so ruhig über solche schrecklichen Geister reden?« wandte Eadulf ein. »Götter mit Geweihen auf dem Kopf und Schlangen in den Händen!« Er erschauerte.

»Hat dein Volk nicht auch solche Götter verehrt, bevor es zum Christentum bekehrt wurde?« fragte Fidelma.

»Jedenfalls keine mit Geweihen auf dem Kopf«, versicherte ihr Eadulf.

Sie gelangten zum Eingang der Schlucht und ritten in die enge, felsige Klamm hinein.

»Wer da?« rief sie eine Stimme von hoch oben an.

Fidelma stöhnte innerlich. Sie hatte die Posten vergessen, die die Schlucht bewachten. Doch was einmal gelungen war, konnte vielleicht noch einmal gelingen.

»Fidelma von Cashel«, rief sie zurück. Dann kam ihr ein Gedanke, und sie fügte hinzu: »Hast du gestern nachmittag hier auch Wache gehabt?«

Ein Schatten bewegte sich oben und wurde im frühen Licht der Morgendämmerung schemenhaft sichtbar.

»Ich nicht. Weshalb fragst du?«

»Ich möchte wissen, ob der Pferdehändler Ibor von Muirthemne oder Artgal hier durchgekommen sind.«

»Uns entgeht keiner, der diese Schlucht passiert. Der Pferdehändler ritt am Nachmittag hier entlang, da hatte mein Bruder die Wache. Aber Artgal . Nein, das hätte er mir erzählt, wenn der hier durchgekommen wäre. Wir haben gehört, daß er seine Ehre verloren hat.«

Fidelma hatte kaum damit gerechnet, mehr zu erfahren.

»Sehr gut. Dürfen wir weiter?«

»Zieht in Frieden«, wünschte ihnen der Posten.

Als sie aus der Schlucht herauskamen, hatte die Morgendämmerung orangefarbene, goldene und gelbe Streifen auf die Berge gezaubert, und das Land erwachte ringsum vom lärmenden Gesang der Vögel. Zielsicher strebte Fidelma der Stelle zu, an der sie die Leichen der niedergemetzelten jungen Männer gefunden hatten. Als sie sie erreichten, war es völlig hell geworden. Der Blick ging ungehindert in alle Richtungen. In den zwei vergangenen Tagen hatten die Raben ganze Arbeit geleistet. Die weißen Knochen der Skelette lagen verstreut, und es waren kaum noch Reste von Fleisch daran. Eadulf schüttelte sich, als er all die Knochen sah, die im matten Licht schimmerten.

Fidelma warf kaum einen Blick darauf, sondern ritt sofort dorthin, wo nach ihrer Erinnerung Spuren sein mußten. Sie konnte sie aber nicht finden.

»Gestern hat es zwar in Gleann Geis nicht geregnet, wohl aber hinter den Bergen. Es könnte sein, daß die Spuren fortgewaschen wurden«, meinte Eadulf Fidelmasuchte den Boden noch sorgfältiger ab.

»Aber nicht völlig«, rief sie triumphierend. »Hier sind noch schwache Umrisse der Wagenspuren.«

Eadulf ließ den Blick über die Umgebung schweifen, um eventuelle Gefahren auszumachen, denn er hielt das, was sie taten, immer noch für unklug. Wer nicht gezögert hatte, dreiunddreißig junge Männer hinzuschlachten, hätte auch keine Hemmungen, einen Mönch und eine Nonne zu töten, wenn sie zur Bedrohung wurden.

»Komm«, rief Fidelma, »die Spuren führen nach Norden.«

Sie ritt im Schritt weiter.

»Wie weit willst du noch?« murrte der Angelsachse. »Colla sagte, die Spuren seien bald verschwunden.«

Fidelma zeigte nach vorn auf die Hügel am Nordrand des Tals.

»Ich will bis zum Rand der Senke, bis dort, wo die Hügel beginnen. Wenn wir dort nichts mehr finden, reiten wir am Talrand zurück zur Schlucht, die nach Gleann Geis führt, und schließen unsere Angelegenheiten dort ab.«

»Mißtraust du Colla so sehr? Meinst du wirklich, daß er versucht hat, uns irrezuführen?«

»Ich ziehe es vor, mich auf meine eigenen Augen zu verlassen«, erwiderte Fidelma leichthin. »Und vergiß nicht, ich habe Orla vor dem Stall gesehen, das weiß ich. Daraus schließe ich, daß Colla gelogen hat, um seine Frau zu beschützen. Damit jedoch hat er mich in Gefahr gebracht. Was er einmal tat, kann er wieder tun.«

Schweigend ritten sie langsam weiter, ab und zu hielt Fidelma an und suchte nach den Wagenspuren. Die waren bald verschwunden. Sie waren schon nicht mehr zu erkennen gewesen, lange bevor der steinige Boden alle Anzeichen verbarg. Fidelma mußte zugeben, daß Colla die Wahrheit gesagt hatte. Sie waren noch reichlich eine Meile vom Fuß der Hügel entfernt, als keine Spur mehr zu entdecken war.

»Vielleicht hast du Colla doch unrecht getan?« vermutete Eadulf trocken.

Fidelma würdigte ihn keiner Antwort.

»Wenn wir ohne neue Erkenntnisse zurückkommen, wie willst du Laisre das erklären?« bohrte Ea-dulf.

Fidelma schob verärgert die Unterlippe vor.

»Ich habe nicht die Gewohnheit, Erklärungen abzugeben«, erwiderte sie mürrisch. »Er hat kein Recht, meine Handlungen als dalaigh in Frage zu stellen.«

Sie zügelte ihr Pferd und beschattete die Augen mit der Hand. Dann atmete sie ärgerlich aus.

»Wenn ich wenigstens eine Ahnung hätte, wonach wir eigentlich suchen«, knurrte Eadulf mißgelaunt. »Ich glaube nicht, daß wir auf diesem Boden noch weitere Spuren finden. Was willst du sonst noch?«

Eine Weile gab Fidelma keine Antwort. Sie ritten schweigend weiter, bis der steinige Boden der Talsohle zu den umgebenden Hügeln anstieg. Aber die Suche blieb vergeblich. Etwa nach einer Stunde hielt Fidelma an und wies mit der Hand nach Süden.

»Wenn wir uns nach Süden wenden, kommen wir zu ein paar Grasflächen. Vielleicht finden wir dort noch etwas«, meinte sie hoffnungsvoll. »Dieser nördliche Weg gibt nichts mehr her.«

Eadulf unterdrückte einen Seufzer und folgte ihr.

Er hatte das Gefühl, daß die ganze Sucherei nichts brachte. Hier waren keine Wagenspuren, aber Fidelma gab nicht auf. Eadulf wollte schon stärkere Einwände erheben und sagen, sie würden nur Zeit verschwenden und sollten endlich nach Gleann Geis zurückkehren, als Fidelma plötzlich hielt.

»Spuren von mehreren Pferden«, rief sie triumphierend und zeigte auf ein aufgewühltes Stück Rasen.

Eadulf bestätigte es mit säuerlichem Blick.

»Das bedeutet wenig ohne Wagenspuren. Viele Reiter könnten hier entlangkommen.«

Es geschah so plötzlich, daß Fidelma und Eadulf keine Zeit blieb zu reagieren.

Wie aus dem Nichts tauchte ein halbes Dutzend Reiter mit gezogenen Schwertern auf und umringte sie.

»Rührt euch nicht, wenn euch euer Leben lieb ist!« schrie ihr Anführer, ein großer Mann mit einem buschigen roten Bart und einem polierten Bronzehelm, der mit roten Emailstücken verziert war.

Fidelma wurde von Furcht erfaßt, als ihr bewußt wurde, daß er mit nördlichem Akzent sprach.

Ein zweiter Mann ritt an sie heran, und ehe sie sich wehren konnten, band er ihnen geschickt die Handgelenke auf dem Rücken zusammen. Binden wurden ihnen über die Augen gelegt. Hände ergriffen die Zügel ihrer Pferde, und sie wurden in schnellem Trab davongeführt. Sie hatten alle Mühe, sich auf den sich rasch bewegenden Pferden zu halten, und fanden keinen Atem, zu protestieren oder eine Erklärung zu ver-langen. Beide konnten nicht abschätzen, wieviel Zeit verging, bis die, die sie gefangen hatten, ihr Ziel erreichten.

Der Ritt endete so plötzlich, wie er begonnen hatte.

Die Pferde hielten, Befehle wurden gerufen, und starke Arme hoben sie aus den Sätteln. Die Binden wurden ihnen abgenommen, und sie standen blinzelnd inmitten einer Kriegerschar. Fidelma bemerkte, daß sie sich in einer Schlucht befanden, kaum mehr als ein Felsspalt, in dem gerade vier Männer nebeneinander stehen konnten. Ringsum erhoben sich Felswände, der Himmel war kaum sichtbar. Es war eher ein enger, dunkler Gang.

Der Anführer der Krieger, der Rothaarige mit der grimmigen, fast zornigen Miene, stand vor ihnen, und seinem forschenden Blick entging nichts.

»Ihr kommt aus Gleann Geis.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

»Das bestreiten wir nicht«, bestätigte Fidelma kühl. »Wo kommt ihr her?«

Das Gesicht des Mannes zeigte keine Reaktion. Seine blauen Augen musterten sie eingehend und erfaßten Fidelmas Kreuz des Ordens der Goldenen Kette und Eadulfs ausländisches Aussehen. Er gab einem seiner Männer ein Zeichen. Schweigend reichte der ihm ihre Satteltaschen. Der rothaarige Anführer schaute erst in Eadulfs Satteltaschen und nahm danach Fidelmas.

»Dann seid ihr also gewöhnliche Diebe und Räuber?« höhnte sie. »Wenn ihr Reichtümer sucht, werdet ihr keine finden, denn ...«

Der Mann ignorierte ihre Worte und durchsuchte die Tasche. Er fischte den Goldreif heraus. Seine Augen funkelten.

»Wer bist du?« wollte er wissen.

»Ich bin Fidelma von Cashel.«

»Eine Frau aus Muman, die den goldenen Halsreif von Ailech trägt?« Er lachte spöttisch. Er ließ ihn in die Tasche fallen und warf sie sich über die Schulter.

Als Fidelma den Namen Ailech hörte, fuhr sie zusammen.

Ailech war die Hauptstadt der nördlichen Ui-Neill-Könige, die in Feindschaft mit den südlichen Ui-Neill-Königen lebten, die in Tara herrschten.

Der Rothaarige bewegte sich auf eine der glatten Felswände zu. Seine Männer hatten einen Ring um Fidelma und Eadulf gebildet. Bevor sie noch Einspruch erheben oder Forderungen stellen konnten, wurden sie auf diese hoch aufragende Wand zu gedrängt. Das ging so schnell, daß Eadulf unwillkürlich die Augen schloß, weil er einen Augenblick lang glaubte, sie sollten getötet werden, indem man sie einfach mit Gewalt gegen den Granitfelsen laufen ließ. Dann fühlte er sich plötzlich von Kälte und Dunkelheit umgeben. Er wagte die Augen aufzuschlagen und fand sich in einer Höhle wieder, die von einer einzigen Fackel schwach erhellt wurde. Irgendwie waren er und Fidelma durch einen verborgenen Höhleneingang geschleust worden.

Der Anführer lief weiter voran durch einen dunklen Tunnel. Weder Fidelma noch Eadulf erhoben Protest, das hätte wenig Zweck gehabt. Die Krieger zogen sie schnell und gekonnt mit sich. Es ging durch eine Reihe von Höhlen und engen Gängen. Dann machten sie plötzlich halt.

»Verbindet ihnen wieder die Augen«, befahl der Anführer.

Erneut befanden sie sich in völliger Dunkelheit.

Nach kurzer Pause wurden sie weiter vorwärtsgeschoben. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder anhielten. Die Luft war auf einmal wärmer. Fidelma spürte auf den Wangen den Hauch eines Feuers.

»Wir haben zwei Spione aus Gleann Geis gefangen, Lord«, erklärte der Anführer der Schar.

»Spione, meinst du?« Diese Stimme kannten Fidelmaund Eadulf. »Löst ihnen die Binden, damit sie sehen können.«

Rauhe Hände nahmen ihnen die Binden von den Augen.

»Vorsichtig!« tadelte die Stimme. »Tut unseren geehrten Gästen nicht weh.«

Fidelma schaute blinzelnd in die rauchige, große Höhle, die von flackernden Fackeln erhellt wurde. Sie bemerkte Schlafdecken, ein Feuer in einer Ecke, günstig angelegt unter einer Art natürlichem Schornstein; über ihm hing ein Kessel, in dem es brodelte. Eadulf hatte Schwierigkeiten mit seinen Augen und nahm die Umgebung noch nicht wahr. Außer den Männern, die sie hergebracht hatten, hockte ein halbes Dutzend weiterer Krieger auf den Decken; einer hütete den Kessel. Auf einem Stuhl saß eine bekannte Person: Der Pferdehändler.

Fidelma lächelte grimmig.

»Ich habe mir gedacht, daß sich unsere Wege noch einmal kreuzen, Ibor von Muirthemne.«

Der junge Mann lachte gutmütig.

»Macht ihnen die Hände los und laßt sie sich setzen«, befahl er.

»Aber, Lord ...«, wandte der Rothaarige ein, der sie gefangengenommen hatte. »Schau her!« Er nahm den Goldreif und hielt ihn Ibor hin. »Das führt die Frau mit sich, und das beweist ihre Schuld.«

Ibor nahm den Reif und untersuchte ihn. Dann hob er den Blick.

»Macht sie sofort los!« sagte er bestimmt.

Widerwillig zog der Rothaarige sein Messer und durchschnitt erst Fidelmas Fesseln und dann die Schnur um Eadulfs Handgelenke. Einen Moment rieben sie ihre wundgescheuerten Handgelenke und musterten Ibor neugierig. Er war jetzt als Krieger gekleidet, was besser zu ihm paßte als seine vorige Kostümierung. Das bestätigte Fidelmas früheren Eindruck, Ibor sehe mehr wie ein Krieger als wie ein Pferdehändler aus. Der einstige Kaufmann aus Muirthemne war offensichtlich ein Kriegsmann.

»Setzt euch und nehmt meine Gastfreundschaft an«, lud Ibor sie so höflich ein, als heiße er sie in seinem rath willkommen. »Es ist zwar etwas bescheiden hier, da wir draußen kampieren .«

»Auf der Flucht vor Recht und Gesetz«, warf Ea-dulf säuerlich ein.

Ibor schüttelte den Kopf und lächelte noch breiter.

»Nicht auf der Flucht, nur möchten wir unsere Gegenwart nicht öffentlich machen. Kommt, setzt euch. Es wird euch nichts geschehen, solange ihr meine Gäste seid.«

Zögernd ließen sich Fidelma und Eadulf auf den Decken nieder, auf die er gedeutet hatte. Sie hatten keine andere Wahl.

»Warum hast du die Leute von Gleann Geis in dem Glauben gelassen, daß du es warst, der Artgal bestochen hat?« fragte Fidelma ohne weitere Vorrede.

»Ich dachte, das hätten sie schon ohne mein Zutun beschlossen«, erwiderte Ibor belustigt.

»Durch dein Fortlaufen hast du sie darin bestärkt.«

»Es war ein strategischer Rückzug zu meinen Männern.«

»Und was genau hast du vor?«

Ibor zuckte die Achseln und lächelte immer noch.

»Wer weiß? Vielleicht muß man dieses Nest von Ungeziefer ausrotten.«

»Bruder Dianach ist tot. Ich weiß, daß er derjenige war, der die Kühe kaufte, um Artgal damit zu bestechen, und nicht du.«

Der junge Mann schien nicht überrascht.

»Und Artgal? Was sagt der jetzt dazu?«

»Artgal ist verschwunden.«

Es trat Schweigen ein, doch Ibor blieb weiterhin die Ruhe in Person.

»Sobald Artgal anfing zu lügen, was Bruder Dia-nach betraf, wußte ich, daß der Verdacht auf mich fallen würde. Ich wäre ergriffen worden für etwas, was ich nicht getan hatte ... Genauso, wie es dir erging, Fidelma.«

»Dir war bekannt, daß ich unschuldig bin?« fragte Fidelma erstaunt.

»Mir war klar, daß du wohl kaum einen Grund hattest, Bruder Solin umzubringen«, bestätigte er. »Ich hoffte, ich könnte herausfinden, wer es tat, bevor es für mich notwendig wurde, mich aus Laisres rath zu entfernen.«

»Schwer zu glauben, daß du nichts mit dem Mord an Solin zu tun hast«, meinte Fidelma skeptisch. »Wer bist du und was machst du hier?«

»Du weißt bereits, daß ich Ibor bin; Ibor, Lord von Muirthemne.«

»Das ist ein stolzer Titel. Es ist nicht der Titel eines Pferdehändlers.«

»Ich bin stolz darauf, ihn zu tragen. Er ist von alter Herkunft. Mein Vorfahr war Setanta von Muirthemne, den die Leute Cüchulainn nannten, den Jagdhund von Culainn.«

Fidelma sah Ibor in die Augen und erblickte darin den Stolz auf seine Ahnen.

»Du hast uns noch nicht erklärt, warum sich der Lord von Muirthemne in der Verkleidung eines Kaufmanns nach Gleann Geis hineinschlich. Das ist ein eigenartig abgeschiedener Winkel, in den eine Kriegerschar aus dem Norden wohl kaum zufällig und ohne eine böse Absicht hineinstolpert?«

»Es stimmt, wir sind nicht hineingestolpert, und wir sind mit einer bestimmten Absicht hergekommen.«

»Wenigstens sprichst du jetzt ehrlich mit mir. Warum?«

Ibor lächelte entwaffnend.

»Ich muß dich bitten, vorsichtig mit dem umzugehen, was ich dir sage.«

Fidelma hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ihre Miene verriet Neugier.

»Vorsichtig? Du forderst keine Geheimhaltung?«

Ibor schüttelte den Kopf.

»Ich vertraue auf deine Vorsicht und Ehrlichkeit, so wie ich hoffe, daß du auf meine vertraust, wenn du meine Geschichte gehört hast. Ich kenne deinen Ruf. Das sagte ich dir schon einmal. Ich sehe auch, daß du das Kreuz des Ordens der Goldenen Kette trägst. Deshalb setze ich mein Vertrauen in dich.«

Fidelma schaute ihn weiter nachdenklich an.

»Ich antworte darauf, daß ich in allen Dingen vorsichtig verfahre, doch ob ich von deiner Ehrlichkeit ausgehen kann, das bleibt abzuwarten.«

»Mehr kann ich unter den gegebenen Umständen nicht verlangen.« Der junge Lord von Muirthemne warf einen raschen Blick auf Eadulf. »Sprichst du auch für deinen angelsächsischen Bruder?«

»Du kannst dich auf Bruder Eadulfs Vorsicht ebenso verlassen wie auf meine.«

»Vorsicht ist alles, was ich fordere.«

»Mehr ist auch nicht möglich, besonders wenn du den Goldreif in der Hand hältst, den ich auf dem Schauplatz des Gemetzels an den dreiunddreißig jungen Männern gefunden habe«, fügte Fidelma ruhig hinzu.

Ibor blickte auf den Reif in seiner Hand und nickte zerstreut.

»Es ist ein Reif, wie er für die Krieger von Ailech angefertigt wird«, bemerkte er nachdenklich. »Ich erkläre dir gleich alles. Die Sache fängt damit an, daß meine Männer und ich Bruder Solin aus Armagh die ganze vorige Woche nachgeritten sind.«

»In wessen Auftrag?« fragte Fidelma sofort.

»Im Auftrag Sechnassachs, des Großkönigs in Tara.«

»Zu welchem Zweck?«

»Zu dem Zweck, festzustellen, aus welchem Grunde sich Solin nach Gleann Geis aufmachte.«

»Du sagst das so, als hättest du ihn im Verdacht gehabt, irgendwie gegen das Gesetz zu verstoßen?« schaltete sich Eadulf ein.

Der Lord von Muirthemne lachte grimmig.

»Es war weit mehr als ein bloßer Verdacht. Er hat gegen jede moralische Vorschrift verstoßen, die ich kenne.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Fidelma. »Du bist ein Mann des Nordens, und dennoch behauptest du, ein Feind Bruder Solins zu sein. Wie kommt das? Ist nicht Bruder Solin nicht nur ein Mann des Nordens, sondern auch ein Geistlicher? Er erklärte, er befände sich auf einer Mission für den Glauben.«

»Auf einer Mission für den Teufel!« fauchte Ibor. Dann beugte er sich vor und wurde ernst. »Du weißt doch sicher etwas von der Zwietracht zwischen den Königen des Nordens? Du warst in Tara, und du warst auch in Armagh.«

»Ist es ein Zufall, daß Bruder Solin mir genau dieselbe Frage gestellt hat? Ich war in Tara, und ich war in Armagh, aber ich bin nicht in die internen Zwistigkeiten dort eingeweiht.«

Ibor lehnte sich zurück.

»Ich will dir die Streitpunkte so einfach erklären, wie ich kann. Zuerst mußt du wissen, daß ich Abgesandter des Großkönigs Sechnassach bin. Er gehört den südlichen Ui Neill an, den Nachkommen von Aedo Slaine. Hier ist sein königliches Siegel zum Beweis meiner Worte.« Er langte unter sein Hemd und zog ein goldenes Siegel an einer goldenen Kette hervor und hielt es ihr zur Prüfung hin. »Du warst in Tara und kennst es gut.«

Fidelma besah sich das goldene Medaillon. Darauf eingeprägt war eine aufrecht stehende Königshand als Symbol für die Pflicht des Königs, seine Hand zum Schutz seines Volkes zu erheben. Fidelma erkannte das Siegel der Ui Neill sofort.

»Sprich weiter«, forderte sie ihn auf. »Erzähl uns deine Geschichte.«

»Bruder Solin war Sekretär bei Ultan von Armagh.«

»Das weiß ich«, sagte Fidelma mit leichter Ungeduld.

»Ultan hat insgeheim geschworen, die Ansprüche der Dynastie der nördlichen Ui Neill zu unterstützen, der Könige, die in Ailech residieren.«

Fidelma hatte noch nie mit dem nördlichen Königreich der Ui Neill zu tun gehabt. Sie wußte nur, daß Ai-lech eine Stadt und Festung im äußersten Nordwesten des Landes war und daß dort zur Zeit Mael Düin als König herrschte, der sich ebenfalls rühmte, vom alten Großkönig Niall von den Neun Geiseln abzustammen.

»Dein Mann sagte, der Reif sei in Ailech gefertigt worden«, bemerkte sie ruhig.

Ibor nickte.

»Die beiden Dynastien der Ui Neill, die nördliche und die südliche, leben in Feindschaft«, erläuterte er. »Mael Düin ist nicht der erste König der nördlichen Linie, der behauptet, seine Dynastie sei die wahre Erbin der Königsherrschaft über den ganzen Norden, und zwar nicht nur im Königreich Ulaidh, sondern er erhebt den Anspruch auf den Titel des Großkönigs in Tara. Er fordert darüber hinaus, das Großkönigtum solle nicht nur eine von den Provinzkönigen übertragene Ehre sein, sondern eine tatsächliche, daß also der Großkönig echte Macht über alle fünf Königreiche von Eireann ausüben solle.«

Fidelma musterte ihn mißtrauisch.

»Und was sagt Sechnassach dazu?«

»Du kennst Sechnassach«, erwiderte Ibor. »Er hält sich streng an das Gesetz. Er ist König der südlichen Ui Neill von Tara und erkennt die Ehre des Großkönigtums dankbar an, die ihm nach dem Gesetz Miads-lechta zusteht. Doch wie das Miadslechta sagt: Warum stehen die Provinzkönige höher als der Großkönig?«

»Weil sie den Großkönig bestimmen und ernennen«, unterbrach ihn Fidelma und zitierte den Text, »während der Großkönig nicht die Provinzkönige bestimmt.«

Ibor nickte anerkennend.

»Du hast recht, dalaigh von Cashel. Sechnassach würde seinen vollen Sühnepreis von vierzehn cumals verwirken, wenn er dieses Gesetz jemals bräche.«

»Besteht die Möglichkeit, daß er das tut?«

»Nicht, solange er lebt. Aber von den nördlichen Ui Neill kann man das nicht sagen, auch nicht von Mael Düin von Ailech. Er ist sehr ehrgeizig. Sein Ehrgeiz ist noch gewachsen, seit er eine Pilgerfahrt nach Rom unternahm, bevor er die Krone von Ailech erhielt.«

»Wie das? Was hat eine Pilgerfahrt nach Rom damit zu tun?«

»Er sah die Größe Roms und wurde angezogen von der römischen Art des Glaubens. Er ging zu einem in Rom ausgebildeten Beichtvater und Priester, und der berichtete ihm von den großen weltlichen Reichen und den Völkern, die unter die Oberherrschaft der römischen Kaiser gerieten.«

»Es gibt manche in den fünf Königreichen, die sich Rom ergeben zeigen«, meinte Fidelma. »Aber Ergebenheit gegenüber Rom ist doch wohl eine Sache des persönlichen Gewissens? Mein Gefährte Eadulf hält der römischen Glaubensart die Treue, im Gegensatz zu mir, die ich mich der Kirche Colmcilles verbunden fühle. Wir streiten uns nicht, sondern führen fruchtbare und freundschaftliche Gespräche.«

»Das ist in Ordnung, Fidelma von Cashel. Jeder geht seinen eigenen Weg. Aber wenn man auf einen Weg gezwungen wird, den man nicht gehen will, entsteht Zwietracht.«

»Dann denkt dieser Mael Düin also, er könne seinen Glauben anderen aufzwingen?«

»Ja, das tut er, und zwar auf zweifache Weise. Erstens, was die Religion angeht, und zweitens hat er sich dafür begeistern lassen, auf dieser Insel ein Feudalreich zu schaffen von der Art, wie er es in Rom kennengelernt hat, ein zentrales Reich, das von einem Kaiser regiert wird. Und dieser Kaiser möchte er selbst werden.«

Fidelma atmete tief durch.

»Ich begreife langsam, worauf du hinauswillst. Mael Düin von Ailech möchte zuerst die südlichen Ui Neill in sein Königreich von Ailech einbeziehen. Dann will er Anspruch auf das Großkönigtum erheben und es von einem Ehrentitel, der zwischen den Provinzkönigen wechselt, in eine einzige Dynastie verwandeln, die die Oberhoheit über alle fünf Königreiche behält und so herrscht wie einst die römischen Kaiser?«

»Das ist genau das, was er anstrebt«, bestätigte Ibor.

»Dann müssen die Könige der Provinzen vor dem Ehrgeiz Mael Düins gewarnt werden. Sie würden einen solchen Eingriff in Recht und Moral niemals dulden.«

»Aber es geht um noch mehr.«

»Wie das?« Fidelmas Miene war finster.

»Wie ich schon sagte, hat sich Mael Düin die Unterstützung Ultans von Armagh gesichert.«

»Ich weiß, daß Ultan seit langem die Übernahme der Regeln Roms für unsere Kirche befürwortet und es vorzieht, den Titel archiepiskopos zu führen an Stelle von Comarb. Aus Höflichkeit nennen ihn viele so, ich selbst auch. Ich weiß, daß er unsere Kirche nach dem Muster Roms umgestalten möchte, aber selbst Ultan kann doch nicht glauben, daß er das Gesetz unseres Königtums verändern könnte.«

»Warum nicht? Wenn Mael Düin von Ailech meint, er könne das, warum nicht auch Ultan? Wenn Mael Düin ein mächtiges Großkönigtum in Tara errichten kann, das den römischen Ritus und die römische Organisation bevorzugt, dann wird auch Armagh groß werden, weil es zur puruchia des Großkönigs gehört. Ultan will das Oberhaupt des Glaubens in Irland werden, so wie Mael Düin ein Großkönig mit wirklicher zentraler Macht werden will.«

Beunruhigung ergriff Fidelma, als sie über das ganze Ausmaß dessen nachdachte, was Ibor ihnen da enthüllte.

»Das erklärt viel von dem, womit Bruder Solin sich brüstete. Also will Ultan die mächtige zentrale Autorität Mael Düins dazu benutzen, die Oberherrschaft von Armagh über alle anderen Kirchen in den fünf Königreichen durchzusetzen?«

»Genau das.«

Eadulf schaltete sich zum erstenmal ein.

»Eins vergißt du dabei«, sagte er bedächtig. »Selbst wenn dieser König von Ailech die südlichen Ui Neill überwindet, könnte er sich in Tara nicht lange an der Macht halten. Cashel und mit ihm Imleach wären die ersten, die sich gegen solche unsinnigen Ansprüche wehren würden.«

Ibor schaute ihn beinahe traurig an.

»Deshalb müßten Cashel und Imleach geschwächt werden«, erklärte er.

Fidelma warf den Kopf hoch, ihre blitzenden Augen suchten Ibors Blick.

»Du hast von solch einem Komplott gehört?«

»Das Komplott ist bereits geschmiedet worden, und sein Ausgangspunkt ist Gleann Geis«, erwiderte er. »Es sind Mael Düin und Ultan, die dahinter stek-ken. Wenn die nördlichen Ui Neill in voller Stärke vorgehen, könnten die südlichen Ui Neill sie nicht lange aufhalten. Es gibt zu viele Bande der Verwandtschaft und des Blutes zwischen Mael Düin und Sech-nassach, die einen ernsthaften Kampf ausschließen. Wenn das geschieht ...« Ibor breitete resigniert die Arme aus.

»Aber Cashel würde es nicht dazu kommen lassen«, versicherte Fidelma. »Vom Wunsch, Cashel zu schwächen, wird es noch nicht schwach.«

»Stimmt. Also muß man es schwach machen. Cashel bildet das größte Hindernis für den Ehrgeiz der nördlichen Ui Neill, das Großkönigtum zu übernehmen. Mael Düin sucht schon eine ganze Zeit nach den Schwachpunkten von Cashel. Und wo liegt Cashels größte Schwäche?«

Fidelma überlegte einen Moment.

»Nun, bei den Ui Fidgente im nordwestlichen Muman«, sagte sie nachdenklich. »Und bei den Clans westlich des Shannon. Sie gehören zu den unruhigsten Clans von Muman. Die Ui Fidgente haben schon oft-mals versucht, die Könige von Cashel zu stürzen und das Königreich zu spalten.«

»Darin besteht die Schwäche von Muman - in den Ui Fidgente«, erklärte Ibor wie ein Lehrer, der seine Lektion zusammenfaßt.

»Also wurde Bruder Solin hierher geschickt, um neue Streitigkeiten zwischen den Ui Fidgente und den Eoghanacht von Cashel zu entfachen? Meinst du das?« fragte Eadulf.

»Er wurde als Ultans Agent ausgesandt und durch Ultan auch als Sendbote Mael Düins.«

»Und wozu wurdest du hergeschickt? Um Bruder Solin umzubringen?«

»Nein. Ich sagte schon, daß ich mit seinem Tod nichts zu tun habe. Ich habe ihn nicht getötet. Doch ich wurde ausgesandt, um die Einzelheiten von Mael Düins Komplott zu entdecken.«

Fidelma fiel es schwer, zu begreifen, welch ein teuflisches Vorhaben der Lord von Muirthemne da enthüllte. Sie schaute Ibor direkt an.

»Was ist mit der Niedermetzelung der dreiunddreißig jungen Männer? Mit dem Ritualmord?«

»Du stehst doch im Ruf, Rätsel lösen zu können. Du kamst als Abgesandte von Cashel und Imleach und stießest auf etwas, was du für einen Ritualmord hieltest. Wer hätte einen Nutzen davon gehabt, wenn du so reagiert hättest, wie es zu erwarten stand?«

Einen Moment starrte sie ihn verständnislos an.

»Wie hätte ich denn reagieren sollen?« fragte sie unsicher.

»Die Verantwortlichen für dieses Hinschlachten wußten nur, daß eine Nonne nach Gleann Geis kommen würde. Sie richteten das rituelle Blutbad an in der Überzeugung, daß diese Nonne die heidnische Symbolik darin erkennen und nicht weiter nachforschen würde.«

Fidelma begann zu begreifen.

»Sie dachten, die Nonne würde in Panik geraten, nach Cashel zurückreiten und zum Religionskrieg aufrufen, um die Barbaren von Gleann Geis auszurotten, die solch ein Verbrechen begangen hatten?«

»Genau das«, stimmte ihr Ibor zu. »Cashel hätte in diesem Fall all seine Macht aufgeboten, um Rache an Gleann Geis zu üben. Gleann Geis hätte seine Unschuld beteuert, und man hätte den Freunden von Gleann Geis Beweismittel in die Hände gespielt, die darauf hindeuteten, daß Cashel selbst hinter dem Verbrechen steckte. Den Clans der Umgebung hätte man dann mitgeteilt, daß Cashel der Übeltäter wäre und das Blutbad dazu benutzen wollte, die Vernichtung von Gleann Geis zu rechtfertigen. In ihrer Empörung wären diese Clans Gleann Geis zu Hilfe geeilt. Die Ui Fidgente könnte man ohne Schwierigkeit dazu überreden, sich noch einmal gegen Cashel zu erheben. Ein Bürgerkrieg würde das Land zerreißen.«

»Aber die meisten Clans in diesem Königreich würden Cashel unterstützen«, wandte Eadulf ein.

»Möglich. Doch die nördlichen Ui Neill würden ihren Abscheu über solche Taten zum Ausdruck bringen«, fuhr Ibor fort, »und dann ihre Verbündeten dazu ermuntern und ihnen helfen, auf Cashel zu marschieren. Wäre Cashel erst vernichtet, könnte Mael Düin damit beginnen, das Großkönigtum zu erlangen und seinen Einfluß auf alle Königreiche auszudehnen. Wären die Eoghanacht von Cashel gestürzt, gäbe es niemanden mehr, der sich gegen die Ui Neill stellen könnte.«

Fidelma schien das unglaublich. Doch hinter dem, was Ibor sagte, steckte eine finstere Logik.

»All das hätte leicht passieren können«, murmelte sie.

Sie brauchte Eadulf nicht anzusehen, um ihn in Verlegenheit zu bringen. Er senkte betreten den Kopf in Erinnerung an das, was er ihr geraten hatte, als sie die Leichen entdeckten und die symbolische Bedeutung des Massakers begriffen. Er spürte wachsendes Entsetzen.

»Habe ich dich richtig verstanden?« fragte er Ibor. »Die dreiunddreißig jungen Männer wurden zu keinem anderen Zweck niedergemacht als zu dem, uns zu beeindrucken? Es wurde ein groteskes Schauspiel arrangiert mit dem Ziel, uns in Panik nach Cashel zurückzujagen und zu einem heiligen Krieg gegen die Heiden von Gleann Geis aufrufen zu lassen?«

Ibor betrachtete den Angelsachsen mit ernstem Spott.

»Das ist genau das, was ich erläutert habe.«

»Und diese Söhne Satans haben uns die ganze Zeit beobachtet«, murmelte Eadulf nachdenklich. »Erinnerst du dich«, wandte er sich an Fidelma, »daß wir das Sonnenlicht auf Metall aufblitzen sahen, als wir zu diesem Tal aufstiegen? Wir wurden belauert. Sie müssen unser Näherkommen verfolgt und gewußt haben, welchen Weg wir nach Gleann Geis einschlugen, so daß sie ihre grausige Darbietung dort vollführen konnten, wo wir mit Sicherheit darauf stoßen mußten.«

Ibor von Muirthemne lächelte Fidelma düster an.

»Ein Krieg, wie sie ihn planten, hätte leicht ausbrechen können, wenn du so reagiert hättest, wie sie es erwarteten. Doch, Gott sei Dank, das tatest du nicht. Du bewahrtest einen kühlen Kopf und gingst nach Gleann Geis, um die Wahrheit zu suchen.«

Es trat Schweigen ein, während sie bedachten, welch eine plötzliche Wendung des Schicksals den erhofften Erfolg des sorgfältig geplanten Komplotts verhindert hatte.

»Sechnassach sagte mir einmal, du seist eine Individualistin, Fidelma«, fuhr Ibor anerkennend fort. »Er behauptete, du lehntest dich auf gegen die herkömmliche Weise, Dinge zu tun.«

»Es war ein gut durchdachtes Komplott«, gab sie zu. »Aber, Ibor, du hast uns noch nicht gesagt, wer die jungen Männer ermordet hat?«

Ibor antwortete ohne Zögern.

»Krieger aus Ailech. Ausgesuchte Männer aus Mael Düins Leibgarde, die ihm und niemand anderem Treue geschworen haben.«

»Hast du das Abschlachten beobachtet?« fragte Ea-dulf.

»Nein, wir haben es nicht gesehen, sonst hätten wir unser Bestes getan, es zu verhindern«, erwiderte Ibor ruhig.

»Woher weißt du dann, daß es Männer aus Ailech waren, die die Untat begangen haben?« forschte Ea-dulf.

»Ganz einfach. Unsere kleine Schar, es sind zwanzig Krieger und ich selbst, folgte Bruder Solin und Bruder Dianach. Wir wußten, daß sie uns zum Kern von Mael Düins Komplott führen würden. Von Armagh ritten wir ihnen auf ihrem Wege nach Süden viele Tage nach. Dann traf sich Bruder Solin mit einer seltsamen Reitertruppe. Es war eine Schar von Kriegern aus Ailech. Sie geleiteten einen Zug von Gefangenen. Jeder von denen war ...«

»Mit Beinschellen gefesselt?« unterbrach ihn Fidelma.

»Woher weißt du das?« fragte Ibor. »Ich sah die Leichen; die Männer aus Ailech hatten alle Erkennungsmerkmale entfernt: Beinschellen, Kleidung, alles, was die Täter verraten könnte.«

»Ich bemerkte die Abschürfungen und Narben, die die Beinschellen an den Fußgelenken der Opfer hinterlassen hatten. Mir fiel auch auf, daß ihre Fußsohlen mit Blasen und Schürfwunden bedeckt waren. Daraus schloß ich, daß man die Männer gezwungen hatte, eine lange Strecke zu Fuß zurückzulegen.«

Diese Schlußfolgerung schien den Lord von Mu-irthemne nicht zu überraschen.

»Sie waren tatsächlich den ganzen Weg von Ailech her marschiert. Möge dieser Ort verflucht sein. Es müssen spezielle Gefangene gewesen sein, die der Tyrann Mael Düin zusammengetrieben und allein zum Zweck dieses schrecklichen Verbrechens nach Süden geschickt hat. Bei den Reitern befanden sich auch Leute zu Fuß, die mehrere große Hunde führten, wahrscheinlich, um jedes Entkommen zu verhindern. Eine interessante Einzelheit, die mich damals verwunderte, war, daß der seltsame Zug zwei leere Wagen mit sich führte, große Heuwagen.«

»Ach ja.« Fidelma nickte. »Die Wagen. Die mußten ja auch dabei sein. Was geschah bei diesem Zusammentreffen, das du beobachtet hast?«

»Bruder Solin und der Befehlshaber der Krieger aus Ailech begrüßten sich freundlich, und sie lagerten einen Tag zusammen, ehe Solin mit Bruder Dianach weiterreiste .«

»Hast du den Befehlshaber der Krieger erkannt?« unterbrach ihn Eadulf.

»Mit Namen kenne ich ihn nicht, aber er ist sicher im Umkreis von Mael Düin zu finden. Über eine Person bei diesen Kriegern kann ich mehr sagen .«

Er hielt inne, wie um die Spannung zu erhöhen, doch als er Fidelmas Verärgerung spürte, fuhr er eilig fort.

»Es war eine Frau, die in ihr Lager geritten kam. Sie wurde offensichtlich erwartet und höflich begrüßt. Eine solche Frau habe ich in Gleann Geis gesehen. Eine schlanke Frau mit gebieterischer Haltung.«

Fidelma hob den Kopf und lächelte befriedigt.

»War es Orla, Laisres Schwester?«

»Mir fällt keine andere Frau in Gleann Geis ein, die der Person ähnelt, die ich sah, als sie sich mit den Männern aus Ailech und mit Bruder Solin traf«, antwortete Ibor ernst.

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