Kapitel 15

Fidelmas Miene wechselte rasch, als sie seine Worte überdachte.

»Was ist?« fragte Eadulf.

»Du hast gerade das Offensichtliche festgestellt, Eadulf. Ich glaube, ich weiß, wo wir die Kühe finden.«

Eadulf war überrascht.

»Komm mit«, sagte Fidelma, wandte sich um und ging voran, von Artgals Hof fort. Verwundert folgte ihr Eadulf, als sie zuversichtlich den Weg bergab ein-schlug und auf die Gruppe von Gebäuden zuging, die von Ronans Hof beherrscht wurde. Sie liefen schweigend den Berg hinab, denn Fidelma schien in tiefes Sinnen versunken. Eadulf wußte, daß er sie lieber nicht störte, wenn sie in so nachdenklicher Stimmung war.

Er war erstaunt, als sie am Fuße des Berges vom Weg abbog, auf das kleine Haus der Prostituierten Nemon zusteuerte und dort anklopfte.

Nemon kam sofort heraus und sah sie überrascht an. Dann rang sie sich ein schiefes Lächeln ab, das nicht gerade einladend wirkte.

»Ihr beide schon wieder? Es heißt doch, du hättest den Mann umgebracht, nach dem du gefragt hast -wie war doch gleich sein Name? Solin?«

»Das ist ein Irrtum«, erklärte ihr Fidelma mit Bestimmtheit.

»Na, ich kann euch nicht mehr über Solin sagen, als ich euch schon gesagt habe«, erklärte die Frau naserümpfend und wollte die Tür schließen.

»Nicht wegen Solin möchte ich dich sprechen. Dürfen wir reinkommen?« Fidelma hatte bemerkt, daß Bairsech, die stämmige Frau Ronans, auch wieder vor ihrem Haus erschienen war, die Arme verschränkt und damit ihre Lieblingsstellung eingenommen hatte und sie unverhohlen mit feindseliger Neugier beobachtete.

Nemon blieb gleichmütig. Sie trat zur Seite und ließ Fidelma und Eadulf durch.

»Zeit ist Geld«, meinte die fleischliche Frau und sah Eadulf bedeutungsvoll an.

»Wie du uns beim vorigen Mal schon sagtest«, stimmte ihr Fidelma freundlich zu. »Aber diesmal untersuche ich als dalaigh einen Mordfall. Welchen Preis hast du für deine drei Milchkühe verlangt?«

Eadulf war verblüffter als Nemon, denn die Frau zeigte keine Reaktion.

»Ich habe den gängigen Preis verlangt, einen sed pro Kuh, einen cumal für alle drei. Ich gebe das Geld nicht zurück, und ich melke die Kühe auch nicht mehr. Artgal hätte sie abholen sollen, oder jedenfalls die beiden, die er heute morgen haben sollte. So war es vereinbart.«

Fidelma schaute aus dem Fenster und sah die Kühe auf der Wiese grasen.

»Aus welchem Grund hast du Geld angenommen? Ich dachte, hier würde man gewöhnlich Tauschhandel treiben?«

»Ich will nicht mein ganzes Leben an diesem Ort verbringen. Geld kann mir die Freiheit außerhalb von Gleann Geis verschaffen.«

»Das stimmt allerdings. Was hast du vereinbart? Daß du die Kühe versorgen würdest, bis Artgal sie abholen und auf seinen Hof bringen würde?«

Nemon nickte.

»Er sollte sie heute nach dem Melken abholen, jedenfalls zwei davon. Die dritte sollte ich noch eine Woche behalten und sie dann ihm ebenfalls überlas -sen.«

»Du wurdest im voraus bezahlt?«

»Natürlich. Ich bin doch nicht blöd.«

»Das hat auch keiner behauptet, Nemon. Hat Ibor von Muirthemne dir sonst noch Anweisungen gegeben?«

Zum erstenmal sah Nemon verwirrt aus.

»Ibor von Muirthemne? Was hat der damit zu tun?«

»Hat er dir denn nicht die Kühe abgekauft?« fragte Fidelma zögernd.

»Der? Na! Der hat mich ja nicht mal besucht. Der blieb da drüben bei Ronan und seiner Frau. Ich traf ihn auf dem Weg, aber er war an meinen Diensten nicht interessiert. Das war das erstemal, daß mir ein Kaufmann begegnet ist, der weit weg von seiner Heimat war und die Dienste einer Frau nicht annehmen wollte. Warum sollte der mir die Kühe abkaufen?«

Fidelma hatte geduldig das Ende ihrer Rede abgewartet.

»Wenn es nicht Ibor von Muirthemne war, der deine Kühe kaufte, wer war es dann?«

»Der Junge natürlich.«

»Der Junge?«

»Der Junge, wie heißt er doch gleich? Er ist einer von euch - er hat das Haar geschnitten wie dieser Fremde hier. Ich habe ihn mit Solin zusammen gesehen.«

»Bruder Dianach?« fragte Eadulf langsam.

»Dianach, so heißt er«, bestätigte Nemon.

Fidelma starrte sie verblüfft an.

»Wann kam denn Bruder Dianach her und kaufte die Kühe?«

Nemon dachte nach.

»Mitten in der Nacht war es. Na, jedenfalls nicht lange nach Tagesanbruch. Ich schlief fest, als er klopfte. Ich dachte, er wünschte meine Dienste, aber er ging vor Schreck fast in die Luft, als ich das vorschlug. Was ist bloß los mit den Männern, die eurem Gott anhängen? Warum sind sie so kleinlich und so prüde? Sind denn keine richtigen Männer darunter?« Sie hielt inne und lächelte verächtlich. »Na, den Untersetzten, der Solin, den konnte man nicht prüde nennen. Über den kann ich mich in dieser Hinsicht nicht beklagen.«

»Du wolltest uns von Bruder Dianach erzählen«, unterbrach sie Eadulf hastig.

»Von dem jungen Burschen? Der weckte mich früh am Morgen und sagte, er wollte meine drei Milchkühe kaufen. Dann erklärte er mir die Bedingungen. Ein cumal ist schwer zu kriegen, damit kann ich viel anfangen. Außerdem habe ich nie gern Kühe gemolken.«

»Also hat Bruder Dianach die Kühe gekauft. Wie hat er dir das begründet? Hat er einen Grund genannt, weshalb er plötzlich Kühe kaufen und sie Artgal schenken wollte? Ich nehme an, er hat dir gleich gesagt, daß sie für Artgal bestimmt sind?«

»Ja. Artgal ist Ronans Vetter. Ich sehe ihn nur, wenn er beim Glücksspiel gewonnen hat. Als der Junge mir sagte, die Kühe wären für Artgal, dachte ich, er hätte Schulden bei Artgal wegen einer Wette oder so. Mir war das sowieso egal. Der Junge erklärte mir einfach, Artgal würde zwei der Kühe heute später am Tag abholen, die dritte ungefähr in einer Woche. Bald danach kam Artgal zu mir, um sich zu überzeugen, daß ich die Kühe auch hatte. Er gestand mir, daß er zuerst gedacht hatte, der Junge mache einen Scherz mit ihm. Er war überrascht, daß ich wirklich die Kühe hatte, die er geschenkt kriegen sollte. Er sagte, er würde sie im Laufe des Tages abholen, aber seitdem habe ich nichts mehr von ihm gesehen.«

Eadulf verzog vor Ärger den Mund.

»Also wußte Artgal die ganze Zeit, wer in Wirklichkeit sein geheimnisvoller Wohltäter war. Er hat das Gericht angelogen, als er sagte, es wäre nicht Bruder Dianach gewesen.«

»Das ist offensichtlich.« Fidelma blieb gelassen. »Was wichtiger ist, Bruder Dianach hat gelogen. Warum wollte er sichergehen, daß ich eingesperrt oder für schuldig befunden würde?« Sie wandte sich wieder an Nemon. »Hast du Bruder Dianach nach diesem Geschäftsabschluß im Morgengrauen noch einmal gesehen?«

Nemon schüttelte den Kopf.

»Und wann hast du Ibor von Muirthemne zuletzt gesehen?«

»Das war vor ein paar Stunden. Ich sah, wie er drüben auf Ronans Feld sein Pferd sattelte«, erwiderte die Frau. »Er ritt mit seinen beiden Pferden fort. Er jagte davon, als ob die Hunde von Goll von den Fomorii hinter ihm her wären. Dann kam Ronan und suchte nach ihm. Worum geht’s hier eigentlich?«

Draußen war Hufschlag zu hören.

Fidelma blickte zur Tür hinaus.

»Murgal und Rudgal sind da. Eadulf, sag Murgal Bescheid, daß wir hier sind. Ich möchte ihn sprechen, ehe er zu Artgals Hof weiterreitet.«

Eadulf eilte hinaus und hielt die Reiter an, bevor sie vorbei waren.

Nemon war verwundert.

»Was soll das alles? Was bedeutet der ganze Trubel?«

»Bist du sicher, daß du Artgal nicht mehr gesehen hast, seit er heute morgen kam, um sich die Kühe anzuschauen, die ihm Bruder Dianach geschenkt hatte?«

»Das habe ich dir doch schon gesagt. Nun erklär mir, was eigentlich los ist!«

»Artgal scheint verschwunden zu sein.«

Nemon zeigte keine Überraschung.

»Hauptsache, er taucht wieder auf und holt seine Kühe ab.«

»Vielleicht mußt du sie länger behalten, als du gedacht hast. Nicht nur, daß Artgal verschwunden ist, Bruder Dianach ist auf seinem Hof ermordet aufgefunden worden.«

Nemons Miene blieb steinern.

»Na, wenn ich die Kühe behalte«, meinte sie schließlich, nachdem sie einen Moment überlegt hatte, »dann brauche ich jedenfalls das Geld nicht zurückzugeben. Tote treiben keine Forderungen mehr ein.«

Fidelma verschlug diese gefühllose Haltung die Sprache. Sie wußte nicht, was sie weiter sagen sollte, und verließ die Hütte. Draußen sprach Eadulf mit Murgal und Rudgal, beide noch im Sattel.

Murgal drückte Fidelma mit seiner Begrüßung gleich sein Mißfallen aus.

»Du solltest doch den rath nicht verlassen, ehe nicht deine Verhandlungen mit Laisre abgeschlossen sind.«

»Hat man dir gesagt, daß Bruder Dianach tot ist?« fragte sie und ging auf seinen Tadel nicht ein.

»Rudgal brachte mir die Nachricht.«

»Du findest die Leiche auf Artgals Hof. Artgal selbst ist verschwunden. Es war übrigens Bruder Dia-nach, der Artgal die Kühe als Bestechung schenkte, und nicht Ibor von Muirthemne. Deine Pflegetochter Nemon kann das bezeugen. Die Kühe stehen noch dort auf ihrer Wiese, weil Artgal sie nicht abgeholt hat.«

Murgal sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.

»Willst du damit behaupten, daß Artgal den jungen Mönch getötet hat?«

»Ich will überhaupt nichts behaupten«, erwiderte Fidelma ernst. »Wie du gerade festgestellt hast, darf ich keine Nachforschungen anstellen, wenn es nach dir und deinem Fürsten geht. Also untersuche du den Fall, wie du willst. Eadulf und ich kehren jetzt zum rath zurück.«

Sie wandten sich von Murgal ab, der vor Wut kochte, und machten sich auf den Weg zum rath.

Offensichtlich hatte Rudgal außer Murgal niemandem erzählt, daß sie Bruder Dianach tot aufgefunden hatten. Es waren nur wenige Leute draußen, doch niemand schien sich für sie zu interessieren, und aus der Halle drang der Lärm des Festes herüber.

Es dunkelte schon, als sie das Gästehaus betraten. Es war niemand da. Fidelma entzündete die Lampen und suchte nach etwas zu essen. Während sie das Abendbrot vorbereitete, saß Eadulf am Tisch, das Kinn in die Hände gestützt.

»Ich verstehe das nicht«, brach er schließlich das Schweigen. »Warum wollte Bruder Dianach eine so hohe Summe an Artgal zahlen, nur damit der seine Behauptung, du hättest Bruder Solin getötet, nicht änderte?«

Fidelma stellte altbackenes Brot und Käse auf den Tisch, mehr hatte sie nicht finden können, und holte einen Krug Met herbei.

»Ich glaube, wir können nur Vermutungen anstellen. Dianach war in alles verwickelt, was Solin plante. Wenn wir wüßten, was das war, würden wir auch wissen, weshalb er soviel riskierte, um sicherzugehen, daß ich eingesperrt oder des Mordes angeklagt würde. Ich meine, es gibt ein notwendiges Verbindungsstück in der Kette der Ereignisse vom Mord an den jungen Männern bis hin zu Dianachs Ermordung. Aber ich weiß nicht einmal, wo diese Kette ihren Anfang hat. Warum wollte Dianach mich so sehr schädigen?«

Eadulf schnitt sich eine Scheibe Käse ab.

»Vergeltung? Er glaubte, du hättest Bruder Solin umgebracht. Vielleicht hing er gefühlsmäßig so stark an Solin, daß er Rache wollte?«

Sie schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein. Das ergibt keinen Sinn. Dann hätte er das Ergebnis der Anhörung abgewartet. Warum sollte er einen ganzen cumal als Bestechungsgeld zahlen, wenn es gar nicht nötig war? Artgal war sowieso bereit, auch unter Eid gegen mich auszusagen.«

Eadulf verzog zweifelnd das Gesicht.

»Das weiß ich nicht.«

Fidelma blieb bei ihrer Meinung.

»Ich habe mir überlegt, was wir tun müssen«, verkündete sie. »Es ist zu wichtig, als daß wir bis nach den Verhandlungen damit warten dürften. Ibor von Muirthemne bildet ein Glied in der Kette. Wenn wir ihn finden, sind wir auf dem Weg zu einer Lösung. Zu Ibor gelangen wir, wenn wir die Spuren verfolgen, die vom Ort des rituellen Massakers ausgehen, da bin ich ganz sicher.«

»Was machen wir also?«

»Wir brechen morgen früh vor Tagesanbruch auf, wenn alles noch schläft, und reiten zum Tatort.«

»Laisre wird darüber nicht glücklich sein«, sagte Eadulf seufzend.

»Es ist besser für ihn, wenn er unglücklich ist und die ganze Sache aufgeklärt wird, damit es kein böses Blut zwischen Cashel und Gleann Geis gibt«, erwiderte Fidelma mit Bestimmtheit. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, daß die Lösung dieses Rätsels für Cashel wichtiger ist als Laisres Zustimmung zur Errichtung einer Kirche und einer Schule hier im Tal.«

Eadulf machte eine unsichere Bewegung.

»Wichtiger als die Bekehrung dieser Ecke des Königreichs zum wahren Glauben?« zweifelte er. »Segdae von Imleach wird dir darin wohl kaum zustimmen?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, die Lösung schließt alles ein, was hier geschehen ist. Solin war, seinen eigenen Worten nach, in etwas verwickelt, was den Sturz Cashels noch vor Ende des Sommers herbeiführen sollte. Mein Eid gegenüber meinem Bruder und den Gesetzen dieses Landes verbieten es mir, eine solche Drohung unbeachtet zu lassen.«

Jemand klopfte an die Tür, und bevor einer von ihnen antworten konnte, wurde die Tür geöffnet, und Orlas Tochter trat ein. Sie trug einen Korb am Arm. Als sie Fidelma erblickte, verdüsterte sich ihre Miene für einen Moment, doch ihre Augen leuchteten auf, sobald sie sich auf Eadulf richteten.

»Ich wußte, daß Cruinn nicht hier ist«, sagte sie mit dunkler Stimme, »deshalb komme ich, um euch etwas zum Abendbrot zu bringen.« Sie schaute Fidelma kurz an und fügte hinzu: »Euch beiden.«

Eadulf erhob sich und blickte auf das altbackene Brot und den Käse, die er zu verzehren gedachte. Er lächelte.

»Es ist uns sehr willkommen, Esnad.«

Das Mädchen stellte den Korb auf den Tisch und packte frisches Brot, kaltes Fleisch, gekochte Eier und Gemüse aus. Sogar einen Henkelkrug mit Wein hatte sie mitgebracht.

»Wissen deine Mutter und dein Vater, daß du hier bist?« erkundigte sich Fidelma.

Esnad hob trotzig das Kinn.

»Ich habe das Alter der Wahl erreicht«, erwiderte sie gereizt. »Ich bin schon vierzehn.«

»Aber deine Eltern könnten es dir übelnehmen, wenn du dich mit uns einläßt nach dem, was vorgefallen ist.«

»Sollen sie doch«, erklärte das Mädchen wegwerfend. »Mir macht das nichts aus. Ich bin alt genug, für mich selbst zu entscheiden.«

»Dem kann man nicht widersprechen«, meinte Fidelma.

Das Mädchen hatte den Korb geleert. Nun war genug da für ein annehmbares Abendessen.

Es war offensichtlich, daß sich Esnad in Fidelmas Gegenwart gehemmt fühlte und daß sie anscheinend mit Eadulf allein sprechen wollte. Das reizte Fidelmas Neugier, und zugleich amüsierte es sie, daß Eadulf durch Esnads Aufmerksamkeiten in Verlegenheit geriet. Trotzdem hoffte sie, Eadulf würde merken, daß Esnad mit ihm reden wollte.

Sie erhob sich lächelnd.

»Ich habe Murgal versprochen, etwas mit ihm zu bereden«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Blick zu Eadulf.

Der Angelsachse sah sehr beunruhigt aus, begriff aber wohl, daß er bleiben und herausbekommen sollte, was Esnad von ihm wollte.

Esnad war sichtlich erfreut.

»Ich hoffe, ich störe euch nicht in euren Plänen«, meinte sie kokett.

»Überhaupt nicht«, antwortete Fidelma. »Ich bin bald zurück, also hebt mir etwas von diesem ausgezeichneten Abendbrot auf.«

Sie verließ das Gästehaus und trat auf den Hof hinaus, auf dem es bereits zu dunkeln begann.

Einige Augenblicke wanderte sie ziellos umher und überlegte, ob Esnad etwas zur Aufklärung der geheimnisvollen Vorfälle in Gleann Geis beitragen könnte. Dann nahm sie denselben Weg, auf dem sie in der vorigen Nacht Bruder Solin gefolgt war. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie sah, wie eine rundliche Frauengestalt das Gebäude verließ, in dem sich Murgals Wohnung befand. Sie eilte über den Hof. Die Gestalt war unverkennbar. Fidelma beschleunigte ihren Schritt.

»Cruinn!«

Die Verwalterin blieb stehen und blickte sich um. Als sie Fidelma erkannte, wollte sie weitergehen, doch Fidelma vertrat ihr den Weg.

»Cruinn, warum kommst du nicht ins Gästehaus?« fragte Fidelma vorwurfsvoll. »Warum bist du derart wütend auf mich?«

Cruinn schaute sie finster an.

»Du solltest die Gesetze der Gastfreundschaft kennen, du bist doch eine dalaigh. Du hast deinen Gastgeber beleidigt, weil du seine Schwester beleidigt hast.«

»Das ist ungerecht«, erklärte Fidelma. »Ich weiß, daß Orla hier sehr geachtet ist, aber ich konnte nur die Wahrheit sagen. Ich wurde selbst zu Unrecht beschuldigt.«

»Du bist der Gerechtigkeit nur durch eine geschickte Auslegung des Gesetzes entgangen«, entgeg-nete Cruinn scharf, sehr zu Fidelmas Erstaunen.

»Du scheinst auf einmal viel vom Gesetz zu verstehen, Cruinn«, erwiderte sie. »Wo hast du das gelernt?«

Selbst im Dämmerlicht sah Fidelma, daß Cruinn einen Moment verlegen wurde.

»Ich wiederhole nur, was alle sagen. Wäre Artgal nicht so töricht gewesen, die Kühe anzunehmen, hätte sich seine Aussage beweisen lassen.«

»Ich habe Bruder Solin nicht getötet.«

Cruinn wandte sich rasch ab.

»Ich habe viel zu tun«, murmelte sie. »Aber im Gästehaus brauchst du nicht auf mich zu warten. Es gibt nur wenige Leute, die deine Anwesenheit hier gutheißen, Fidelma von Cashel. Je eher du Gleann Geis verläßt, desto besser.«

Cruinn eilte davon in die Dunkelheit. Fidelma sah ihr nach. Es war entmutigend, wie schnell manche Leute aufgrund von falschen Informationen und Vorurteilen ihre Haltung änderten.

Eine Tür öffnete sich, und ein Lichtschein fiel auf den Hof, er kam aus Margas Apotheke. Zwei Personen standen in der Tür, Marga und Laisre. Der Lichtschein erfaßte Fidelma. Laisre erstarrte, als er sie bemerkte. Dann verbeugte er sich vor Marga.

»Vielen Dank, Marga. Wie oft muß ich den Aufguß trinken?«

»Nur einmal abends, Laisre.«

Die hübsche Apothekerin ging ins Haus und schloß die Tür, so daß kein Licht mehr den Hof erhellte.

Laisre kam auf Fidelma zu.

»Nun, Fidelma von Cashel«, begrüßte er sie kühl, »ich habe gerade von Murgal gehört, daß du dich meinem Befehl widersetzt und vorhin den rath verlassen hast.«

»Es war kein Befehl, wenn ich mich recht erinnere. Du sagtest nur, es wäre dein Wunsch«, erwiderte Fidelmatrocken.

Laisre schnaubte zornig.

»Werde nicht spitzfindig. Ich billige es nicht, daß du den rath verläßt.«

»Wenn ich den rath nicht verlassen hätte, meinst du, daß Bruder Dianach dann noch leben würde?«

»Du bringst den Tod mit. Die Raben des Todes kreisen ständig über deinem Kopf«, knurrte Laisre säuerlich.

»Glaubst du wirklich, daß ich für sämtliche Todesfälle der letzten Tage hier verantwortlich bin?«

»Ich weiß nur, daß es solche Todesfälle in unserer Gemeinschaft nie gegeben hat, bevor du herkamst. Je eher du verschwindest, desto besser.«

Er drehte sich abrupt um und eilte zur Festhalle.

Fidelma seufzte und beschloß, ins Gästehaus zurückzukehren. Sie hatte Esnad sicher genug Zeit gelassen, Eadulf alles zu sagen, was sie auf dem Herzen hatte.

Sie wollte gerade die Tür öffnen, als diese aufflog und Esnad herausstürmte; beinahe hätte sie Fidelma umgerannt.

Einen Augenblick später stürzte eine andere Person aus dem Gästehaus und rief: »Esnad! Warte doch!«

Rudgal eilte vorbei, ohne Fidelma zu bemerken.

Fidelma starrte ihm verblüfft nach. Sie ging ins Haus und schloß die Tür hinter sich. Eadulf saß noch dort, wo sie ihn verlassen hatte. Das Essen hatte er kaum angerührt.

Er blickte mit sichtlicher Erleichterung auf.

»Was ist passiert?« fragte Fidelma. »Esnad kam heraus und hat mich fast umgerannt. Dann kam Rudgal, er lief ihr anscheinend nach.«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Eadulf. »Langsam glaube ich, daß hier der Wahnsinn umgeht.«

»Warum war Esnad so scharf darauf, dich allein zu sprechen? Ich dachte, sie hätte dir etwas Wichtiges mitzuteilen, was uns weiterhelfen könnte.«

Eadulf schüttelte den Kopf.

»Sie war mehr darauf aus, mir Fragen zu stellen. Sie wollte wissen, wer ich sei, wo ich herkomme und wie das Leben im Land des Südvolks so ist.«

Fidelma war enttäuscht.

»Das war alles?«

Eadulf wurde verlegen.

»Nein, nicht ganz. Sie wollte wissen, warum ich mit dir unterwegs bin und wie unser Verhältnis ist.«

Fidelma lächelte schelmisch. »Unser Verhältnis?«

»Du weißt schon«, antwortete er lahm.

Fidelma beschloß, ihn nicht weiter zu necken.

»Was meinst du, weshalb sie sich danach erkundigte? Verfolgte sie einen bestimmten Zweck?«

Eadulf war ratlos.

»Ich konnte keinen feststellen. Wenn sie älter wäre ...«

Fidelma schaute ihn scharf an. In ihren Augen blitzte immer noch der Schalk.

»Wenn sie älter wäre?« fragte sie. »Denk dran, sie ist bereits über das Alter der Wahl hinaus.«

Eadulf, rot vor Verlegenheit, wandte ein: »Sie ist doch noch ein Kind.«

»Vierzehn ist in diesem Land das Alter der Reife, Eadulf. In dem Alter kann ein Mädchen heiraten und seine eigenen Entscheidungen treffen.«

»Aber .«

»Du hattest das Gefühl, daß sie dir mehr als nur Freundschaft entgegenbrachte?«

»Ja, das hatte ich. Um die Wahrheit zu sagen, mir ist schon früher aufgefallen, daß sie ziemlich kokett ist und gern mit mir anbändeln würde. Na, das ist wahrscheinlich nur eine vorübergehende Verliebtheit«, schloß er. Es klang nicht sehr überzeugt.

Fidelma konnte nicht umhin, über seine Verwirrung zu lächeln.

»Wichtige Mitteilungen hatte sie also nicht? Na gut. Aber was wollte Rudgal hier und was bedeutete die Szene eben?«

»Er kam wohl her, weil er versprochen hatte, uns was zum Abendessen zu bringen. Er weiß ja, daß Cruinn sich weigert, das Gästehaus zu betreten.« »Und warum ist er Esnad hinterhergerannt?«

»Keine Ahnung. Er kam herein, und als er sah, daß sie uns bereits versorgt hatte, war er sehr verärgert.«

»Wie hat sie reagiert?«

»Ich glaube, sie war nicht sonderlich erfreut, ihn zu sehen. Sie ging sofort weg.«

»Und er lief ihr nach«, überlegte Fidelma laut. »Sehr interessant.«

Eadulf stand auf.

»Ich verstehe das alles nicht, aber essen wir endlich. Es wird spät, und wenn du immer noch meinst, wir sollten uns morgen auf die Suche nach Ibor von Mu-irthemne machen ...?«

Fidelma bestätigte mit einem Nicken, daß sie das vorhatte.

»In dem Fall sollten wir etwas essen und früh zu Bett gehen. Wer weiß, was der morgige Tag uns bringt.«

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