Kapitel 10

Fidelma überquerte gerade den Hof, als Hufschlag am Tor des rath sie sich umwenden ließ. Er kündigte eine Reiterschar an, und Fidelma erkannte sofort Colla und Artgal an ihrer Spitze. Sie hielten und stiegen ab. Fidelma ging hinüber zu Colla, der seinen Sattelgurt lockerte.

»Also, Colla, was gibt es Neues?« fragte sie ohne Vorrede.

Der Tanist von Gleann Geis schaute mit säuerlicher Miene auf. Er war anscheinend wenig erfreut, sie zu sehen.

»Eine vergebliche Jagd«, verkündete er. »Ich hatte auch kaum etwas anderes erwartet.«

»Was hast du gefunden?« drängte sie.

»Sehr wenig«, meinte er wegwerfend. »Die Raben hatten sich satt gefressen. Kaum noch was zu sehen. Meine Männer und ich folgten einigen Spuren, aber die verloren sich bald auf dem steinigen Boden. Ich konnte lediglich feststellen, daß sie nach Norden führten.«

»Und?« forschte Fidelma. »Seid ihr ihnen nachgeritten?«

»Der Boden war steinig, wie ich schon sagte. Die Spuren waren bald verschwunden. Wir sahen uns so lange um, wie wir konnten, aber dann blieb uns weiter nichts übrig, als zurückzukehren.«

Unzufrieden kniff Fidelma die Augen zusammen.

»Soll ich das so nach Cashel berichten? Daß dreiunddreißig junge Männer hier in einem Ritualmord umgebracht wurden und nichts darüber festgestellt werden konnte?«

Colla richtete sich auf und blickte sie trotzig an.

»Ich kann keine Begründung aus dem Nichts hervorzaubern, Fidelma von Cashel. Selbst du hättest eine nicht vorhandene Spur nicht weiter verfolgen können.«

»Aber du sagst, die Spuren führten nach Norden? Wie weit seid ihr ihnen gefolgt?«

»Bis zu dem Ort, an dem sie nicht mehr sichtbar waren.«

»Welches Land liegt nördlich davon?« wollte Fidelma wissen.

»Die Corco Dhuibhne wohnen direkt nördlich von diesen Tälern.«

Fidelma preßte die Lippen zusammen.

»Sie sind ein ganz angenehmer Clan, und Fathan, ihren Fürsten, kenne ich. Diese Untat trägt nicht ihre Handschrift. Welche Länder liegen jenseits davon?«

»Nun, im Nordosten das Land deines Vetters, Congal von den Eoghanacht von Loch Lein, des Königs von Iarmuman. Findest du seine Handschrift darin?«

Fidelma mußte zugeben, daß sie das nicht tat.

»Aber dahinter liegt das Land der Ui Fidgente«, meinte sie nachdenklich.

Collas Augen verengten sich.

»Suchst du einen Sündenbock?« fragte er. »Die Ui Fidgente liegen zur Zeit am Boden. Dein Bruder hat sie bei Cnoc Äine besiegt. Sie sind schwach und zu keiner feindseligen Handlung fähig. Willst du sie bis zu ihrer Vernichtung verfolgen?«

»Nur, wenn sie für diese Übeltat verantwortlich sind«, erklärte Fidelma.

»Na, noch eins - sie sind ein christliches Volk, also sind sie doch wohl über jeden Verdacht erhaben?« höhnte Colla.

Artgal kam herbei, nahm das Pferd des Tanist und führte es in den Stall. Er entließ die anderen Krieger zu ihren Wohnungen.

Fidelma schaute Colla einen Moment an und sagte dann, wobei sie jedes Wort abwog: »Im Augenblick und ohne Beweise, Colla, können wir nicht sagen, wer den Mord an den jungen Männern begangen hat, außer daß die Art, in der die Leichen angeordnet wurden - unabsichtlich oder absichtlich - jeden, der sie fand, auf heidnische Symbolik hinweisen sollte.«

Sie dankte ihm kühl für seine Bemühungen und ging weiter ins Gästehaus.

Dort traf sie nur Eadulf an. Er saß am Tisch und bediente sich reichlich aus einem Krug mit kaltem Wasser.

»Geht es dir schon besser?« fragte sie aufmunternd.

Er zwang sich zu einem Lächeln. Sein Gesicht war noch blaß.

»Ein bißchen, aber nicht viel.«

»Hast du Lust, eine Einladung Laisres zu einem weiteren Fest anzunehmen?« fragte sie mit ernster Miene.

Eadulf stöhnte laut und stützte den Kopf in die Hände.

Fidelma lächelte schelmisch.

»Das dachte ich mir. Hab keine Angst, ich habe schon für uns beide abgelehnt.«

»Deo gloria!« intonierte er fromm.

»Wir brauchen einen ruhigen Abend, meine ich. Morgen sollten wir unsere Verhandlungen hier abschließen können, und dann brechen wir auf, suchen die Ebene ab und sehen zu, was wir über die hingeschlachteten jungen Männer herausfinden können.«

Eadulf war nicht begeistert.

»Ich dachte, wir warten auf Colla?« wandte er ein.

»Der ist schon zurück«, erklärte Fidelma kurz. »Er hat nicht mehr festgestellt, als wir schon wußten.«

Eadulf hob den Kopf und brachte es trotz seines Zustands fertig, interessiert auszusehen.

»Hat er die Spuren verfolgt?«

»Er sagt, sie hätten sich in den Bergen weiter nördlich verloren.«

»Aber du glaubst ihm das nicht?«

Fidelma setzte sich und goß sich einen Becher kaltes Wasser ein.

»Ich weiß es nicht. Er könnte die Wahrheit sagen. Das Tal hat steinigen Boden. Doch warum kommt er mit dieser Nachricht so bald zurück? Gäbe es ein Komplott, uns noch eine Weile zu beschäftigen, hätte er leicht ein paar weitere Tage mit einer vorgetäuschten Suche verbringen können, bevor er zurückkehrte.«

»Das ist wohl so«, gab Eadulf zu.

Bruder Dianach kam herein. Er wünschte ihnen höflich einen guten Abend.

»Geht ihr heute abend zum Fest?« fragte er unschuldig und blickte dabei den leidenden Eadulf direkt an.

»Nein«, erwiderte Fidelma kurz.

»Wenn ihr mich entschuldigt, dann nehme ich gleich ein Bad vor dem Fest.«

Sie antworteten nicht, und er zögerte nur kurz, bevor er in den Baderaum ging.

»Ein weiterer Gast ist im rath angekommen«, sagte Fidelma zu Eadulf, nachdem sie es im Nebenraum plätschern hörten.

»Ja? Wer denn?« Eadulf wunderte sich über ihren geheimnisvollen Ton.

»Ein junger Mann aus Ulaidh.« »Noch ein Besucher aus Ulaidh?« Eadulf war überrascht.

»Genauso habe ich auch reagiert. Er nennt sich Ibor von Muirthemne und sagt, er sei ein cennaige, ein Pferdehändler.«

»Das klingt so, als ob du ihm nicht glaubst?«

Fidelma nickte.

»Er kennt das Gesetz über den Handel mit Pferden aus Übersee nicht.«

»Müßte er das?«

»Jeder bewanderte Händler kennt die grundlegenden Gesetze.«

»Also ist er kein Pferdehändler. Wer ist er dann, und wozu ist er hier?«

»Ich wünschte, ich wüßte das. Seine Haltung ist die eines waffengewohnten Mannes. Und denke daran, bei den Leichen der jungen Männer haben wir den Halsreif eines Kriegers gefunden, und der war im Norden hergestellt worden. Ich vermute ...«

Die Tür ging geräuschvoll auf, und Cruinns korpulente Gestalt erschien.

»Ich höre, heute abend gibt es wieder ein Fest«, sagte sie zur Begrüßung. »Ich wollte sehen, ob ihr vorher noch etwas von mir braucht.«

»Bruder Eadulf und ich gehen nicht zu dem Fest«, erklärte ihr Fidelma.

Cruinns Augen verrieten ihre Überraschung. »Ihr geht nicht?« wiederholte sie, als wäre das etwas ganz Unerhörtes. »Aber es ist Laisre, der das Fest gibt.«

»Wir wollen deine Dienste nicht zu sehr in Anspruch nehmen«, versicherte ihr Fidelma, ohne auf ihr Mißfallen einzugehen. »Wenn du uns ein Essen mit kaltem Fleisch und Brot auf den Tisch bringen kannst, genügt das.«

Cruinn schaute in Eadulfs abgezehrtes Gesicht.

»Ich könnte auch eine heiße Brühe kochen, aus Lauch und Hafermehl, mit Kräutern daran.«

Eadulf leckte sich erwartungsvoll die Lippen.

»Das wäre genau das richtige, um einen rebellischen Magen zu beruhigen«, meinte er.

Die rundliche Frau eilte davon in die Küche, um das Essen zuzubereiten, während Fidelma und Eadulf am Tisch sitzen blieben.

»Ich nehme an, die anderen - Solin und der junge Mann - gehen zum Fest?« rief Cruinn über die Schulter zurück.

»Bruder Dianach ist im Baderaum. Er sagte aber, daß er geht«, erklärte ihr Fidelma. »Bruder Solin haben wir heute nachmittag noch nicht gesehen. Ich bin sicher, er wird auch hingehen.«

Fidelma erhob sich, stellte sich neben Cruinn und sah zu, wie sie mit geschickten Händen das Mahl bereitete.

»Hast du immer in Gleann Geis gelebt, Cruinn?« fragte sie plötzlich und setzte hinzu: »Ich habe gehört, es gibt viele Zugezogene im Tal.«

»Ich habe immer hier gelebt«, bestätigte die Frau. »Die du meinst, das sind die christlichen Frauen und ein paar Männer aus der Umgebung, die bei den ursprünglichen Siedlern im Tal eingeheiratet haben.«

»Magst du die Christen?«

Die füllige Frau lachte.

»Du könntest genausogut fragen, ob ich die Berge mag. Sie sind eben da. Was soll man weiter machen, als mit ihnen leben?«

»Du bist klug.« Fidelma lächelte. »Sehen alle Leute im Tal das so philosophisch wie du?«

Das verstand die Dicke nicht.

Fidelma versuchte, ihr die Frage einfacher zu stellen.

»Sind alle anderen im Tal derselben Meinung wie du? Oder fühlen sie sich den Christen gegenüber unsicher?«

»Wir sind sehr sicher hier in diesem Tal, denn es gibt nur zwei Wege hinein und zwei Wege hinaus«, erwiderte Cruinn, die die Frage mißverstanden hatte.

Fidelma wollte ihr schon erklären, daß sie nicht körperliche Furcht gemeint hatte, als ihr aufging, was Cruinn gesagt hatte.

»Zwei Wege? Ich dachte, es gäbe nur den einen Weg durch die Schlucht?«

»O nein, es gibt noch den Pfad am Fluß.«

»Doch mir wurde gesagt, der Fluß sei durch die Stromschnellen unpassierbar.«

»Das stimmt, aber es gibt einen kleinen Fußpfad neben dem Fluß. Er ist schwierig und stellenweise versteckt, weil er durch Höhlen verläuft, aber wer gut zu Fuß ist, kann es schaffen. Er führt in das Tal dahinter. Als Kinder haben ihn die meisten von uns ausprobiert. Aber niemand könnte .«

Die Frau hielt inne und kniff die Augen zusammen.

Sie hatte wohl plötzlich gemerkt, daß sie zu offen sprach. Ihre Verlegenheit wurde dadurch verdeckt, daß Bruder Dianach aus dem Baderaum kam und bestätigte, daß er auf das Fest gehen werde. Nach Bruder Solins Absichten gefragt, erwiderte er, daß er den Geistlichen eine Weile nicht gesehen hätte, aber davon ausginge, daß er auch teilnehmen werde.

Fidelma verkündete, sie werde vor ihrem abendlichen Bad noch einen kleinen Spaziergang machen. Sie versprach, bald zurück zu sein, und verließ das Gästehaus, während Cruinn das Abendessen vorbereitete.

Etwas widerstrebend entschloß sich Eadulf, nun ein Bad zu nehmen. Vielleicht würde ihn das ein wenig munterer machen.

Fidelma hatte inzwischen den rath verlassen. Sie wußte genau, wohin sie wollte. Sie brauchte fünfzehn Minuten bis hinunter zu Ronans Weiler. Vorher hatte sie sich beim Posten am Tor vergewissert, daß sowohl Ibor von Muirthemne als auch Murgal zum abendlichen Fest in den rath zurückgekehrt waren. Auf der Wiese neben Ronans Hof grasten zwei Pferde. Sie kletterte über die niedrige Steinmauer und gelangte auf die Wiese. Fidelma kannte sich mit Pferden aus. Sie hatte beinahe eher reiten als laufen gelernt. In dem berühmten Cuirrech, wo man seit unvordenklichen Zeiten jährlich große Pferderennen abhielt, wurde ihr Name immer noch mit Hochachtung genannt. Vor ein paar Jahren hatte sie dort den Mord an dem preisgekrönten Rennpferd des Königs von Laigin und seinem Jockey aufgeklärt.

Auf der Wiese befanden sich ein schwarzer Hengst und eine weiße Stute. Die Stute war scheu, doch der Hengst blieb brav stehen, als Fidelma ihm über Bug und Fesseln strich. Sie streichelte ihm sanft das Maul, bis er ihr erlaubte, es zu öffnen und seine Zähne zu besehen. Mit der Stute war es schwieriger, aber nach einer Weile schaffte es Fidelma, sie so weit zu beruhigen, daß sie sie sich ebenfalls genauer anschauen konnte.

»Was machst du da?« rief eine barsche Stimme.

Bairsech, Ronans Frau, stand in der Tür des Bauernhauses und betrachtete sie mit säuerlicher Miene.

»Ich sehe mir die Pferde an, Bairsech«, erwiderte Fidelma ungerührt. »Sind das die Pferde, die Ibor von Muirthemne gehören?«

Die Frau erkannte Fidelma, und ihre Miene verfinsterte sich noch mehr.

»Ja, das sind seine«, antwortete sie unwillig.

Fidelma spitzte die Lippen und betrachtete die Pferde.

»Hat er keine anderen bei sich?«

»Warum fragst du? Wenn du sie kaufen willst, er ist jetzt nicht hier, sondern oben im rath.«

»Tu mir den Gefallen«, antwortete Fidelma geduldig. »Hat er noch andere Pferde mitgebracht?«

»Nein, bloß diese beiden.« Bairsech war nach wie vor mißtrauisch. »Was geht dich das an?«

»Nichts«, erwiderte Fidelma. »Gar nichts. Ich sehe ihn sicher später im rath.«

Sie verließ die Wiese und machte sich an den Aufstieg zu Laisres Burg.

Als sie sie erreichte, hatte Eadulf inzwischen sein Bad genommen. Cruinn stellte gerade das Abendessen auf den Tisch. Von Bruder Dianach war nichts zu sehen. Eadulf berichtete ihr, Dianach sei zum Fest gegangen und Bruder Solin noch nicht ins Gästehaus zurückgekehrt. Fidelma überlegte einen Moment, ob sie erst ihr abendliches Bad nehmen sollte, entschied sich aber dafür, die Suppe nicht kalt werden zu lassen und später zu baden.

Cruinn fragte, ob sie noch etwas brauchten. Als sie das verneinten, wünschte sie ihnen einen guten Abend und ging.

Fidelma aß schweigend, Eadulf langte nur mäßig zu und trank nur Wasser, während Fidelma an einem Becher Met nippte.

»Worüber grübelst du nach, Fidelma?« brach Ea-dulf schließlich das Schweigen. »Ich weiß, daß deine Gedanken arbeiten, wenn du diesen abwesenden Blick hast.«

Sie holte ihren Blick aus der Ferne zurück.

»Ich denke an weiter nichts als daran, morgen vormittag die Angelegenheit mit Laisre abzuschließen, vorausgesetzt, Murgal und Solin sorgen nicht für weitere Verzögerung. Danach, wie ich schon sagte, müssen wir uns dem Geheimnis der hingemordeten jungen Männer zuwenden.«

»Meinst du wirklich, du kannst noch Hinweise finden, die Colla entgangen sind?«

»Ich meine gar nichts, bevor ich nicht die Beweislage geprüft habe. Dort jenseits der Schlucht lauert ein unheildrohendes, bedrückendes Geheimnis - eines, das mir ins Gesicht starrt und das ich trotzdem nicht lösen kann. Allerdings habe ich gerade etwas herausgefunden, was den seltsamen jungen Mann betrifft, der behauptet, er wäre Pferdehändler.«

Eadulf blickte interessiert auf.

»Außer der Tatsache, daß er das Handelsgesetz nicht kennt?« fragte er gespannt.

»Er hat nicht nur keine Ahnung vom Handelsgesetz, sondern das Vollblutpferd aus Britannien, das er angeblich hergebracht hat, um es zu einem hohen Preis zu verkaufen, das ist überhaupt kein Vollblutpferd.«

»Hast du es gesehen?«

»Ich bin zu Ronans Hof gegangen, wo Ibor untergekommen ist. Ich habe mir die beiden Pferde angesehen, die er mitführt, eine Stute und einen Hengst. Es sind beides keine jungen Pferde, sondern tüchtige Arbeitspferde. Sie sind ausgebildet, und zwar gut ausgebildet, als Kriegspferde. Beide tragen Narben und haben anscheinend schon in Schlachten Dienst getan.«

»Meinst du, daß er ein Betrüger ist?«

»Ich sage nur, daß keins der beiden Pferde das ist, für was er es ausgibt. Er sagt, er hätte ein Vollblutpferd aus Gwynedd, einem Königreich der Briten, mitgebracht. Solche Pferde sind kurzbeinig, haben einen breiten Bug, ein dickes, drahtiges Fell und ein dichtes Unterfell zum Schutz gegen die strengen Winter. Aber die Pferde, die er hier hat, sind überhaupt nicht reinrassig. Sie haben lange Beine und gehören zu der Art, wie sie aus Gallien eingeführt werden als Rennpferde oder für den Krieg. Seine Pferde sind zu alt, als daß sie einen Wert besäßen, der es rechtfertigen würde, daß er mit ihnen die weite Reise von Ulaidh in diesen entlegenen Winkel unseres Königreichs unternimmt. Mit anderen Worten: Ibor von Muirthemne ist ein Lügner!«

Sie beendeten die Mahlzeit in nachdenklichem Schweigen. Gedämpft klangen die Geräusche des Festes aus Laisres Halle herüber. Fidelma schlug vor, falls Eadulf es sich zutraue, sollten sie noch einmal eine Runde um die Mauern des rath machen, bevor sie sich schlafen legten. Eadulf hätte es vorgezogen, gleich zu Bett zu gehen, denn immer noch war ihm ein wenig schwindlig. Doch sein Schuldbewußtsein ließ ihn Fidelmas Vorschlag zustimmen. Wenigstens bestand zwischen ihnen eine Übereinstimmung, die es ihnen erlaubte, auch ohne Worte im Denken so verbunden zu sein, als ob jeder sofort wüßte, was dem anderen durch den Kopf ging.

Vom Gästehaus schlugen sie den Weg zu der Treppe ein, die zu dem Umgang auf der Mauer führte.

Oben an der Treppe bewegte sich ein Schatten. Sie hörten ein verlegenes Kichern, und die schlanke, kleine Gestalt eines jungen Mädchens verschwand in der Dunkelheit. Ein zweiter Schatten erschien, und eine barsche männliche Stimme rief sie an. Als sie sich zu erkennen gaben, tauchte die Gestalt Rudgals im flak-kernden Licht einer brennenden Fackel auf.

»Ihr seid also nicht auf Laisres Fest?« Der Wagen-bauer und zeitweilige Krieger schien durch ihr Auftauchen unangenehm berührt.

»Eins von Laisres Festen reicht mir«, beklagte sich Eadulf.

Rudgals Miene drückte Mitgefühl aus.

»Schlechter Wein«, lautete sein Urteil. »Das kommt zuweilen vor.« Dann wandte er sich an Fidelma und wechselte rasch das Thema. »Ich hörte von Artgal, daß auf der Ebene, wo ihr die Leichen entdeckt habt, nichts mehr zu finden war, jedenfalls nichts, was erklären würde, wie es zu dem schrecklichen Vorfall kam.«

Fidelma lehnte an den Zinnen und schaute hinaus in das abendliche Dunkel.

»Du bist Christ, Rudgal. Was hältst du von dieser Mordtat?«

Rudgal hüstelte nervös und sah sich um. Er senkte verschwörerisch die Stimme.

»Wie du sagst, Schwester, ich gehöre dem Glauben an. Das Leben war schwierig für diejenigen von uns, die in Gleann Geis diesen Weg gehen. Dann wurde es offenbar, daß wir zu einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung in diesem Tal geworden sind, und wir drängten den Fürsten und seine Versammlung, unsere Existenz anzuerkennen. Jahrelang wurden wir von ihm und seinem Rat abgewiesen. Dann schien ihm plötzlich eine Erleuchtung gekommen zu sein, denn er überstimmte seinen Rat und sandte eine Botschaft nach Cashel. Ich hätte nie gedacht, daß ich das noch erlebe. Es gibt aber nach wie vor viele hier, die den alten Bräuchen anhängen. Ich sage nur eins zu dieser Angelegenheit ...« Er hielt inne. »Zu diesem Ritualmord, wie ihr es nennt. Es gibt viele Leute, die es gern sehen würden, wenn die Anhänger des Glaubens entmutigt werden und die alten Bräuche sich wieder durchsetzen.«

Fidelma versuchte, in der Dunkelheit in Rudgals Miene zu lesen.

»Meinst du, die Tat wurde begangen, um die christliche Gemeinschaft hier einzuschüchtern?«

»Wozu sonst? Sie dient keinem anderen Zweck.«

»Aber wer waren die Opfer? Laisre sagt, in Gleann Geis werde niemand vermißt.«

»Das stimmt. Wir würden es bald merken, wenn einer aus unserem Volk fehlte. Vielleicht waren die Opfer Reisende, die abgefangen und niedergemacht wurden? Wer hat sie umgebracht? Ich denke, die Antwort liegt nicht weit von dem Ort, von dem das Lachen herüberschallt.«

Gerade hatte sich in der Festhalle brüllendes Gelächter erhoben.

»Wen beschuldigst du? Laisre? Oder Murgal?« forschte Eadulf. »Oder gibt es noch jemand anderen?«

Rudgal sah Eadulf kurz an.

»Es steht mir nicht zu, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Frag dich nur selbst: Wessen Interessen dient diese Tat? Laisre war derjenige, der gegen den Willen seines Rats dem Glauben etwas Freiheit gewähren wollte. Bedenke, wer sich gegen Laisre stellt. Mehr kann ich nicht sagen. Gute Nacht.«

Rudgal verschwand in der Dunkelheit.

»Es liegt eine gewisse Logik in dem, was er sagt«, meinte Eadulf nach kurzem Schweigen.

»Cui bono? >Wem nutzt das?< lautet eine alte Rechtsfrage. Cicero stellte sie einem Richter im alten Rom. Sie ist logisch, aber ist sie nicht zu logisch?«

Eadulf schüttelte verwirrt den Kopf.

»Das ist mir zu spitzfindig. Logik ist doch die Kunst, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen?«

»Aber die Logik kann oft auch die Wahrheit vor uns verbergen. Die Logik hemmt oft das Schöpferische des Verstandes, so daß wir einen geraden Weg entlanglaufen, während die Antworten auf unsere Fragen im Schatten der Waldlichtungen neben dem Weg liegen. Logik allein engt uns ein.«

»Denkst du, daß es noch eine andere Erklärung gibt?«

»Eins fällt mir auf: Wenn die Mordtat nur verübt wurde, um die Christen von Gleann Geis einzuschüchtern und niederzuhalten, warum hat man dann nicht ein paar Christen aus diesem Tal umgebracht? Warum vollzieht man das Ritual in dem Tal da draußen und benutzt die Leichen von Fremden? Warum verleiht man der Drohung nicht noch mehr Gewicht? Wie du siehst, hat die logische Deduktion ihre Schwächen.«

»Nun, dieselben Erkenntnisse immer wieder hin und her wenden, ohne etwas Neues hinzuzufügen, macht den Geist stumpf«, bemerkte Eadulf.

Fidelma lachte.

»Manchmal brauche ich deine Weisheit, Eadulf«, sagte sie. »Vollenden wir unseren Rundgang und gehen dann schlafen.«

Eadulf zögerte.

»Vielleicht will uns Rudgal auf eine falsche Fährte locken? Mit wem war er vorhin hier oben im Komplott?«

»Komplott ist kaum der richtige Ausdruck«, erwiderte Fidelma belustigt. »Selbst du mußt doch Orlas Tochter erkannt haben.«

Sie gingen rund um die Mauern und die Treppe wieder hinunter. Sie überquerten den Hof und lauschten den Geräuschen des Festes und der Musik, die aus der Festhalle drangen. Plötzlich trat Stille ein, und man hörte deutlich eine zornige Stimme und das Zuschlagen einer Tür. Fidelma zog Eadulf am Ärmel in den Schatten eines Gebäudes.

»Was ist?« flüsterte der Angelsachse verblüfft.

Fidelma schüttelte den Kopf und legte den Finger an die Lippen.

Auf der anderen Seite des Hofes öffnete sich die Tür des Gebäudes, in dem sich Murgals Wohnung und die Bibliothek befanden, und es war unverkennbar die untersetzte Gestalt Bruder Solins, die heraustrat und die Tür wieder zuschlug. Er hielt sich eine Wange, als schmerze sie ihn. Einen Moment blieb er im Lichtkreis der Öllampe über der Tür stehen, die sein zornerfülltes Gesicht beleuchtete. Er schaute sich um und prüfte, ob ihn jemand beobachtete. Seine Haltung verriet Anspannung und Ärger. Dann ordnete er seine Kleidung und fuhr sich durch sein zerzaustes Haar. Er reckte die Schultern und schritt zielbewußt über den Hof zur Festhalle.

Fidelma und Eadulf hatten sich tief in den Schatten gedrückt, so daß Bruder Solin sie nicht bemerkte. Sie warteten schweigend, bis er im Haus des Fürsten verschwunden war.

Eadulf schnitt eine Grimasse.

»Es war nur dieser eingebildete Trottel«, meinte er. »Vor dem hätten wir uns nicht zu verstecken brauchen.«

Fidelma seufzte leise.

»Manchmal erfährst du etwas, wenn jemand nicht ahnt, daß du da bist.«

»Nämlich?«

»Zum Beispiel stand Bruder Solin dort im Licht der Lampe. Was hast du bemerkt?«

»Daß er zornig war.«

»Stimmt. Was noch?«

Eadulf dachte einen Moment nach. »Sonst nichts, meine ich.«

»Ach, Eadulf! Ist dir nicht aufgefallen, daß anscheinend jemand Bruder Solin kräftig ins Gesicht geschlagen hatte? Hast du nicht den kleinen Blutfleck im Mundwinkel gesehen?«

Eadulf verneinte es.

»Und wenn das so ist, was sagt uns das?« wollte er wissen.

»Vorhin hatte Bruder Solin eine blutige Nase. Ich denke, jemand hatte ihn darauf geschlagen. Das sagt uns, daß jemand hier Bruder Solin aus Armagh nicht mag.«

Eadulf brach in ein spöttisches Gelächter aus.

»Das hätte ich dir auch so sagen können. Ich zum Beispiel mag ihn nicht.«

Fidelma schaute Eadulf belustigt an.

»Wohl wahr. Aber du bist nicht so weit gegangen, unseren frommen Kleriker tätlich anzugreifen. Zweimal hat er geblutet. Man hat ihm Wein ins Gesicht geschüttet. Schauen wir mal, ob wir den finden können, der das getan hat.«

Sie ging voran über den Hof zu der Tür, aus der Bruder Solin gekommen war. Sie wollte sie gerade öffnen, als sie aufflog und Orla heraustrat. Sie blieb verblüfft stehen.

»Was macht ihr denn hier?« fragte sie unfreundlich.

»Wir haben uns anscheinend verlaufen«, antwortete Fidelma gelassen. »Wohin führt diese Tür?«

Laisres Schwester sah sie finster an.

»Jedenfalls nicht ins Gästehaus, das ist sicher«, erwiderte sie. »Den Weg dahin konntet ihr kaum verfehlen. Man sieht es von hier.«

Fidelma wandte sich um und heuchelte Überraschung.

»Tatsächlich.« Unbeeindruckt fuhr sie fort: »Sag mal, hast du Bruder Solin gesehen? Ich möchte ihn sprechen.«

Orla warf verärgert den Kopf zurück.

»Ich habe ihn nicht gesehen. Ich will ihn auch nicht sehen. Ich habe dir schon heute nachmittag gesagt, daß mir dieses Schwein nicht zu nahe kommen soll. Wenn ihr mir jetzt Platz machen würdet ...?« »Wohnst du hier?« Mit dem vagen Gefühl, er müsse auch etwas sagen, versuchte Eadulf sie aufzuhalten.

Orla ignorierte seine Frage einfach.

»Ich habe zu tun, im Gegensatz zu euch«, sagte sie, drängte sich an ihnen vorbei und lief zur Festhalle.

Fidelma und Eadulf warteten, bis sie fort war.

»Sie muß Bruder Solin gesehen haben«, vermutete Eadulf.

»Vielleicht.«

»Aber sie kamen doch beide aus dieser Tür.«

»Sicher, doch die Tür führt in ein großes Gebäude mit mehreren Wohnungen, darunter auch Murgals. Außerdem befindet sich hier auch die Apotheke.«

Sie traten durch die offene Tür und standen in einem schwach erleuchteten Flur, in dem eine Öllampe tanzende Schatten warf. Die Türen an der einen Seite führten vermutlich in Wohnungen. Fidelma schaute hinüber zu der Treppe, die sie am Nachmittag mit Laisre zur Bibliothek hinaufgestiegen war.

Sie wollte schon vorschlagen, umzukehren, als von dort Schritte zu hören waren. Laisre bog plötzlich um die Ecke. Als er sie erblickte, blieb er überrascht stehen.

»Sucht ihr mich?« begrüßte er sie. Er hatte sich schnell gefaßt. »Oder braucht ihr noch mehr Bücher?«

Fidelma ließ sich schnell etwas einfallen.

»Ich wollte Bruder Eadulf nur zeigen, wo sich die Bibliothek befindet, falls wir morgen noch etwas nachschlagen müssen.«

»Ach so.« Laisre zuckte die Achseln. »Morgen ist genug Zeit zum Arbeiten. Ihr solltet beim Fest sein. Ja, ich weiß«, fuhr er hastig fort, »du hast mir von deinem religiösen geis erzählt.«

»Ich dachte, du wärst auf dem Fest«, konterte Fidelma. »Ich höre die Musik, also ist es noch im Gange.«

»Ich mußte das Fest für kurze Zeit verlassen«, erwiderte Laisre, »Murgal brauchte noch eine Anweisung für morgen. Er ist so früh nach Hause gegangen, daß ich sie ihm vorhin nicht mehr geben konnte. Ich gehe jetzt zurück zur Festhalle. Seid ihr sicher, daß ihr nicht mitkommen wollt?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Das geis dauert vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung«, erwiderte sie und wünschte, Ea-dulf würde nicht so verständnislos dreinschauen. »Wir hätten uns schon zur Ruhe begeben sollen, wollten nur noch einen Blick in das Haus mit der Bibliothek werfen.«

»Dann wünsche ich euch eine gute Nacht.«

Laisre nickte ihnen freundlich zu und verließ das Gebäude.

Fidelma und Eadulf standen am Fuße der Treppe. Laisre hatte die Tür nicht geschlossen, und so konnten sie sehen, wie er den gepflasterten Hof überquerte. Er war noch nicht weit gegangen, als eine rundliche Person aus dem Schatten auftauchte und sich ihm in den Weg stellte. Fidelma und Eadulf erkannten sofort Cruinn, die Verwalterin des Gästehauses. Sie schien aufgeregt und faßte den Fürsten sogar am Arm. Ihm war das anscheinend unangenehm, er blickte sich zur Tür um, doch Fidelma und Eadulf standen tief im Schatten. Laisre zog die dicke Verwalterin rasch zur Seite. Sie hörten noch, wie er leicht die Stimme hob, als wolle er sie beruhigen.

Fidelma legte den Finger an die Lippen und winkte Eadulf, ihr zu folgen. Sie wollte sich der Stelle nähern, an der Laisre und Cruinn miteinander sprachen. Doch da drang von irgendwo aus dem Gebäude eine andere Frauenstimme an ihre Ohren. Eine Tür öffnete sich im Flur und wurde wieder zugeschlagen. Fidelma schob Eadulf rasch hinaus in die Nacht und schloß die Tür hinter ihnen.

Laisre und Cruinn waren inzwischen verschwunden, und sie hatten sich erst wenige Schritte entfernt, als sich die Tür hinter ihnen öffnete und Rudgal herausgeeilt kam. Er zögerte und blieb stehen, als er sie erblickte.

»Ist Murgal hier eben vorbeigekommen?« fragte er atemlos.

»Nein, wir haben Murgal heute nachmittag noch gar nicht gesehen«, antwortete Fidelma.

Rudgal hob kurz dankend die Hand und stürmte davon.

»Das scheint hier ein ziemlich unruhiger Ort zu sein«, murmelte Eadulf und unterdrückte ein Gähnen.

Fidelma stimmte ihm zu, ohne es spaßig zu finden. Es wurde Zeit, schlafen zu gehen. Vielleicht war Bruder Solins nächtliches Abenteuer für sie ohnehin unwichtig.

Sie gingen zurück zum Gästehaus. Immer noch drangen die Geräusche des Festes von der Halle herüber. Eadulf wünschte Fidelma eine gute Nacht und begab sich sofort in seinen Schlafraum. Fidelma blieb noch eine Weile im Hauptraum des Gästehauses sitzen. Sie trank einen Becher Met und ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen. Am Ende mußte sie einsehen, daß Eadulf recht hatte. Es nützte nichts, dieselben Erkenntnisse immer wieder hin und her zu wälzen, ohne etwas hinzufügen zu können, was einen neuen Weg eröffnete. Schließlich ging sie zu Bett und schlief bald ein.

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