Sie ritten in Laisres rath ein. Dieselben beiden Stallburschen, die sie bei ihrer ersten Ankunft begrüßt hatten, nahmen ihnen die Pferde ab. Erst jetzt redete Or-la wieder mit ihnen.
»Laisre und Murgal wollen euch sofort sprechen. Sie sind im Ratssaal«, teilte sie ihnen kurz angebunden mit.
Weder Fidelma noch Eadulf sagten ein Wort, während sie Orla in den Ratssaal folgten.
Laisre saß in seinem Amtssessel, ihm gegenüber Murgal und Colla. Die drei waren offenbar in ein ernstes Gespräch vertieft. Sie schauten verblüfft auf, als Orla Fidelma und Eadulf hereinführte. Laisre stand die Abneigung ins Gesicht geschrieben, als sein Blick dem Fidelmas begegnete. Colla schien ein wenig überrascht von ihrem Erscheinen, während Murgals Miene spöttische Belustigung spiegelte.
»So«, sagte Laisre mit stiller Befriedigung, »du hast also unsere Flüchtlinge eingefangen, Orla?«
Fidelma zog verächtlich die Brauen hoch.
»Eingefangen? Hast du befohlen, mich festzunehmen, Laisre? Wenn ja - warum? Und wieso sollten wir geflohen sein?«
»Ich traf Fidelma und den Ausländer, als sie hierher zurückritten«, schaltete sich Orla hastig ein. »Fidelma sagte, hätte Murgal gründlicher nachgedacht, dann hätte er wissen können, weshalb sie den rath verlassen hätte.«
Laisre blickte seinen Druiden an.
»Wußtest du, daß Fidelma fort wollte?«
Murgal schüttelte empört den Kopf.
»Nein«, protestierte er. Doch plötzlich kniff er die Augen zusammen. »Ach, ich glaube, jetzt wird mir die Sache klar. Du warst draußen, um den Ritualmord zu untersuchen? Du hast Collas Bericht nicht getraut?«
»Du hast mir nicht getraut? Warum nicht?« fragte Colla, sichtlich gekränkt.
»Weil sie eine dalaigh ist.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Es ist die Pflicht eines dalaigh, Beweise selbst zu prüfen. Wie lautet der Dreisatz? Drei Pflichten hat ein guter Anwalt: Erstens, beurteile die Beweise selbst und verlaß dich nicht auf die Meinung anderer, wenn du dir selbst eine bilden kannst; zweitens, ein gerechtes Urteil und drittens ein starkes Auftreten. Ein guter dalaigh traut dem Urteil keines anderen, wenn er die Beweise selbst in Augenschein nehmen kann. Ja, ich hätte es wissen müssen, Laisre, daß sich Fidelma nicht daran halten würde, obwohl du ihr das Recht auf weitere Nachforschungen verweigert hast.«
Weder Colla noch Laisre schienen mit dieser Erklärung zufrieden.
»Fidelma von Cashel, ich habe dir gesagt, daß ich es nicht wünsche, daß du dich mehr mit den Angelegenheiten von Gleann Geis befaßt als unbedingt nötig«, dozierte Laisre verärgert. »Wir hätten unsere Verhandlungen heute vormittag abschließen können und du könntest schon auf dem Rückweg nach Cashel sein.«
»Wir werden unsere Verhandlungen abschließen, wenn die Morde aufgeklärt sind«, erwiderte Fidelma fest. Laisre schien entrüstet über ihren Widerspruch. Er wollte etwas sagen, doch Murgal kam ihm zuvor.
»Willst du damit behaupten, daß du für die Vorgänge hier eine Erklärung hast?« Der Druide sah sie mit unergründlicher Miene an. Fidelma ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Morgen früh sollte ich in der Lage sein, diese Frage zu beantworten. Morgen werde ich den Mörder Solins benennen und ebenso die Ursachen der anderen Todesfälle an diesem Ort. Heute haben wir schon einen langen Tag hinter uns. Wir sind weit geritten, deshalb werden wir uns jetzt ins Gästehaus zurückziehen. Weigert sich Cruinn weiterhin, uns zu bedienen? Wenn ja, würdet ihr bitte veranlassen, daß für unsere Bedürfnisse gesorgt wird? Ein Bad und etwas zu essen gehören nach dem Gesetz zu den Pflichten eines Gästehauses.«
Ihr heller Blick streifte die erstaunten Anwesenden. Sie stand auf und verließ den Raum. Auf ihr Zeichen eilte Eadulf ihr nach. Auf dem Hof holte er sie ein.
»Hast du bemerkt, wie Colla dich angesehen hat?« fragte er atemlos. »Indem du sagtest, daß du morgen alles aufklären wirst, hast du Colla und Orla geradezu dazu herausgefordert, heute nacht etwas gegen dich zu unternehmen.«
Fidelma lächelte grimmig.
»Ich hoffe, daß sie das tun. Das wäre der kürzeste Weg zu einer Lösung.«
»Die Nacht wird lang, bis Ibor hier eintrifft«, hielt Eadulf ihr entgegen und wurde blaß. »Ich hoffe, du meinst damit nicht, daß du keinen anderen Plan hast, als Orla und Colla zu einem Anschlag auf dein Leben zu provozieren, um damit ihre Schuld zu beweisen.«
»Siehe das apokryphe Buch von Jesus Sirach«, erwiderte Fidelma.
»Nämlich?« fragte Eadulf.
»Laß niemanden deine Gedanken wissen, sonst vertreibst du das Glück.«
Eadulf schnaubte verächtlich, zog es aber vor zu schweigen.
Sie gingen ins Gästehaus. Dort war außer ihnen niemand. Eadulf brachte ihre Satteltaschen in ihre Zimmer, und Fidelma kümmerte sich um das Feuer in der Küche, um Wasser zum Baden heiß zu machen. Sie mühte sich mit den Holzscheiten ab, als Rudgal erschien, einen Korb am Arm.
»Laß mich das machen, Schwester«, erbot er sich sofort und stellte den Korb auf den Tisch.
Mit einem dankbaren Lächeln erhob sich Fidelma aus ihrer knienden Haltung vor dem Herd.
»Diese Aufgabe überlasse ich dir gern, Rudgal. Ich nehme an, Cruinn ist uns immer noch böse?«
Rudgal ging daran, das Feuer zu schüren.
»Cruinn ist dem Fürsten und seiner Familie ergeben. Ich vermute, sie zürnt dir, weil du Lady Orla und ihren Mann beschuldigt hast.«
»Sie ist ziemlich dickköpfig für die Verwalterin eines Gästehauses«, meinte Eadulf, der gerade die Treppe herabkam. »Sie sollte sich ihrer Stellung bewußt sein und nicht Urteile über Leute fällen, die sie zu bedienen hätte.«
Rudgal schaute fast finster zu ihm auf.
»Ja, jeder sollte sich seiner Stellung bewußt sein«, murmelte er und wandte sich wieder dem Feuer zu.
Eadulf hatte beinahe vergessen, wie eigenartig sich Rudgal verhalten hatte, als er am vorigen Abend Es-nad bei ihm angetroffen hatte.
»Hast du uns etwas zu essen gebracht, Rudgal?« fragte Fidelma fröhlich, überging Rudgals Murren und beschäftigte sich mit dem Korb.
»Ja, Schwester«, antwortete Rudgal kurz. Das Feuer loderte nun hell. Rudgal stand auf und trat zum Tisch. »Das Wasser wird bald heiß sein. Wollt ihr vor oder nach dem Baden essen?«
»Wir nehmen erst ein Bad und essen danach.«
»Dann bereite ich das Bad vor«, erklärte Rudgal. »Paßt du inzwischen auf das Herdfeuer auf?«
Sobald er in einer der Badekammern verschwunden war, flüsterte Eadulf Fidelma zu: »Er scheint mir wegen irgend etwas zu grollen, und das hat wohl mit Es-nad zu tun. Meinst du, er könnte eifersüchtig sein oder so was? Nein, das wäre Unsinn.«
»Vielleicht kannst du herausfinden, was Rudgal hat«, sagte Fidelma. »Nachdem wir gegessen haben, solltest du Esnad aufsuchen und dich erkundigen, was das alles zu bedeuten hat.«
»Ich möchte dich aber hier nicht allein lassen, bevor Ibor eintrifft. Da du dich ja wohl als Köder benutzen willst, um Orla und Colla aus der Reserve zu locken, bist du in großer Gefahr.«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Wenn wir gebadet und gegessen haben, gehe ich in die Festhalle, das wird Orla und Colla verunsichern. Vor allen, die dort versammelt sind, können sie mir kaum etwas tun. Ich bin überzeugt, falls sie etwas unternehmen, dann in der Nacht, wenn alles ruhig ist.« Sie schenkte ihm ein schelmisches Lächeln. »Vielleicht droht dir größere Gefahr von Esnad als mir von Orla und Colla?«
Eadulf errötete heftig.
»Sie ist doch nur ein junges Mädchen«, murmelte er. »Aber du hast recht. Rudgals Verhalten verlangt nach einer Erklärung.«
Ungefähr eine Stunde später trennte sich Eadulf von Fidelma am Eingang zur Festhalle und machte sich auf zu Esnads Wohnung. Er erinnerte sich, daß sie sich in demselben Gebäude befand, in dem auch Murgals Bibliothek lag. In diesem Gebäude wohnten auch die Apothekerin Marga sowie Orla und Colla selbst. Als er den Hof überquerte, sah er Cruinn aus Margas Apotheke herauskommen und grüßte sie freundlich. Die Dicke fuhr herum, starrte ihn wütend an, sagte nichts und eilte davon. Es war deutlich, daß sie an ihrer Abneigung gegen ihn eisern festhielt.
Eadulf betrat das Haus. Zu seiner Überraschung stieß er in der Eingangshalle auf Laisre. Der Fürst schien ebenso verblüfft wie er und fragte ihn barsch, was er hier wolle. Eadulf hielt es nicht für angebracht, Esnad zu erwähnen, und erklärte als Ausflucht, er sei auf dem Wege zu Murgals Bibliothek. Laisre knurrte irgend etwas und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Ihm schien ebensoviel daran gelegen, von Eadulf wegzukommen, wie Eadulf von ihm.
Eadulf stieg die Treppe empor zu Esnads Wohnung. Er zögerte einen Moment, faßte Mut und klopfte an. Die Stimme des Mädchens forderte ihn zum Eintreten auf, er straffte die Schultern und öffnete die Tür.
Esnad saß auf einem Stuhl und blickte überrascht auf, doch dann lächelte sie fast besitzergreifend. Auf dem Tisch vor ihr lag ein Brandub-Brett, auf dem die Figuren aufgestellt waren. Sie hatte offensichtlich an einer Spieleröffnung geknobelt. Eadulf schaute sich um. Das Mädchen war allein. Im Kamin brannte ein Feuer, denn trotz des Sommers war es kühl. Draußen dunkelte es inzwischen. Esnad hatte schon eine Lampe angezündet.
»Ach, der Angelsachse! Ich habe bereits gehört, daß ihr zurückgekehrt seid. Bist du gekommen, um Bran-dub mit mir zu spielen?« begrüßte sie ihn.
»Hm, nicht unbedingt«, murmelte er und wußte nicht, womit er beginnen sollte.
»Keine Sorge, ich zeig dir, wie man das spielt.«
Eadulf wollte ablehnen, doch dann fiel ihm ein, daß er von Orlas Tochter sonst wohl nichts erfahren würde.
»Komm rein und mach die Tür zu«, sagte sie.
Er tat, wie ihm geheißen.
Sie blickte ihn mit forschender Miene an.
»Hast du noch nie Brandub gespielt?«
Eadulf wollte schon zugeben, daß er mit seinen Mitstudenten in Tuam Brecain kaum etwas anderes gespielt hatte. Er besann sich aber rechtzeitig und schüttelte den Kopf.
»Ich befolge deine Anweisungen«, versprach er und nahm ihr gegenüber Platz. Es war eine gute Gelegenheit. Im Laufe des Spiels würde er ihr Fragen stellen können.
Sie senkte den Blick nicht auf den Spieltisch.
»Du weißt, was Brandub bedeutet?«
»Ja, Schwarzer Rabe.«
»Aber weißt du auch, warum wir das Spiel so nennen?«
Er hatte die Erklärung schon mehrmals gehört, tat aber so, als wisse er es nicht.
»Der Rabe ist das Zeichen der Göttin des Todes und der Schlachten. Es ist das Zeichen für Gefahr. Das Ziel dieses Spiels ist es, den Angriff der feindlichen Kräfte des anderen Spielers zu überstehen - ein Spieler greift an, und der andere verteidigt sich. Deshalb benennen wir das Spiel nach dem Zeichen für Gefahr.«
Eadulf gab sich sehr interessiert und tat so, als habe er das alles noch nie gehört.
»Dort« - Esnad wies auf das Brett auf dem Tisch -»siehst du ein Spielbrett mit neunundvierzig Feldern, sieben mal sieben. Im mittelsten Feld steht die große Königsfigur, siehst du sie?«
Er nickte automatisch.
»Sie symbolisiert den Großkönig in Tara. Um den König herum stehen vier andere Figuren. Jede stellt einen Provinzkönig dar. Es sind die Könige von Cashel in Muman, von Cruachan in Connacht, von Ai-lenn in Leinster und von Ailech in Ulaidh.«
»Das verstehe ich«, sagte Eadulf.
»Auf jeder Seite des Brettes stehen zwei Angreifer, insgesamt acht. Der angreifende Spieler zieht sie über des Brett, wenn er nicht von den Provinzkönigen daran gehindert wird. Das Ziel besteht darin, den Großkönig in eine Ecke zu drängen, aus der er nicht mehr entkommen kann. Wenn das geschieht, ist das Spiel gewonnen. Kannst du mir folgen? Doch wenn der Angreifer die Verteidiger nicht überwinden kann, dann hat er verloren.«
»Ich verstehe.«
»Dann greife ich zuerst an«, sagte Esnad und lächelte mit gezwungener Liebenswürdigkeit. »Ich greife lieber an, als daß ich verteidige. Du verteidigst dich. Bist du bereit?«
Eadulf nickte.
Das Mädchen machte ein paar Züge, auf die Eadulf in entsprechender Weise reagierte. Er mußte zugeben, daß ihr Angriff zielstrebig war. Sie verfolgte zwar keine wohlüberlegte Taktik, ging aber Wagnisse ein, die sich manchmal auszahlten.
Esnad mußte sich bald sehr konzentrieren, denn Eadulf spielte wie gewohnt und hatte ganz vergessen, daß er angeblich ein Neuling bei diesem Spiel war, so hatte er sich darein vertieft.
»Du begreifst schnell, Angelsachse«, meinte sie schließlich mißgünstig, als er ihre Züge immer wieder parierte.
»Reines Glück, Esnad«, erwiderte er und merkte, daß er sich ein paar Fehler leisten mußte, sonst verlor sie die Lust am Spiel, bevor er etwas aus ihr herausholen konnte. Er war zufrieden, als sie nun ihre Figuren schnell und freudig zog, um seine »Fehler« auszunutzen.
Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln.
»Was habe ich gesagt?« meinte er, als er sich geschlagen geben mußte. »Zuerst war es einfach Glück. Gib mir Revanche mit einer zweiten Partie. Es macht mir nichts aus, wieder zu verteidigen.«
»Na gut.« Esnad lächelte ihn kokett an. »Aber spielen wir um irgendwas, das macht es interessanter.«
Eadulf runzelte die Stirn.
»Um einen Einsatz? An welchen denkst du?«
Esnad schob die Fingerspitze zwischen die Zähne und kaute darauf herum. Ihr Lächeln wurde breiter.
»Wenn ich gewinne, mußt du tun, was ich dir sage.«
Eadulf zögerte.
»Das finde ich nicht gut, ich weiß ja nicht, was du vorhast.«
»Ach, ich werde nichts von dir verlangen, was dir oder anderen schaden könnte«, antwortete sie fröhlich.
Eadulf zuckte die Achseln.
»Wenn es keinen Schaden bringt, dann nehme ich an. Aber wenn ich gewinne, was dann?«
»Du brauchst nur zu sagen, was du dann willst«, erwiderte Esnad mit einem herausfordernden Lächeln.
»Stell die Figuren auf«, sagte Eadulf brummig. »Ich überlege es mir.«
Das Spiel begann von neuem.
»Warum bist du so freundlich zu mir, da doch deine Mutter so aufgebracht ist gegen Schwester Fidelma und mich?« fragte Eadulf plötzlich mitten in einem Zug.
Esnad schaute nicht auf. Es schien sie gar nicht zu interessieren.
»Die Streitereien meiner Mutter sind nicht meine. Außerdem hat sie einen größeren Zorn auf deine Gefährtin Fidelma als auf dich. An deiner Stelle würde ich mir wegen meiner Mutter keine Sorgen machen. Ich tue es jedenfalls nicht.«
»Dein Vater ist Tanist, und deine Mutter ist seine Frau. Ihre Wünsche haben doch sicherlich Gewicht?«
»Was geht mich das an?«
»Sind dir ihre Angelegenheiten gleichgültig?«
»Ja, ziemlich. Ich will das Leben genießen, die Angelegenheiten von Gleann Geis sind mir völlig egal.«
Eadulf schwieg und erwog einen besonders gefährlichen Zug. Esnad schmollte, als sie feststellen mußte, daß er ihren Angriff abgewehrt hatte.
»Vielleicht heiratest du eines Tages einen Fürsten, und dann mußt du dich für solche Dinge interessieren«, meinte Eadulf und zog seine Königsfigur auf ein anderes Feld.
Das Mädchen lachte wegwerfend.
»Vielleicht«, gab sie zu. »Aber wenn ich einen Fürsten heirate, dann sorge ich dafür, daß ich mich nicht um so etwas zu kümmern brauche, denn die Probleme des Clans wären eben seine und nicht meine. Ich hätte andere.«
»Bereitet es deiner Mutter oder deinem Vater Sorgen, daß du dich nicht für die Vorgänge in Gleann Geis interessierst?«
»Darüber spreche ich nie mit ihnen.«
Eadulf sah sie scharf an und fand, es sei Zeit, ihr die entscheidende Frage zu stellen.
»Warum verfolgt dich Rudgal so eifersüchtig?«
Esnad hob den Blick. Sie war belustigt und schaute ihn schon wieder schmollend an.
»Du stellst eine Menge Fragen, Angelsachse. Warum konzentrierst du dich nicht auf das Spiel? Der Einsatz ist hoch.«
»Ich frage nur, weil Rudgal anscheinend einen Widerwillen gegen mich gefaßt hat, seitdem du neulich ins Gästehaus kamst. Ich möchte wissen, warum?«
»Ach, vergiß ihn«, seufzte das Mädchen. »Er bildet sich ein, er wäre in mich verliebt.«
Eadulf war überrascht von der Leichtfertigkeit, mit der sie mit dem Thema umging.
»Ich dachte, das wäre klar«, erwiderte Eadulf ernst. »Und du liebst ihn natürlich nicht?«
»Nein. Er ist zu alt und hat nicht die Mittel, mir ein sicheres Leben zu bieten. Seine sogenannte Liebe ist wie die eines Hundes für die Schafe, nicht die eines Lachses für den Fluß. Wenn ich jemanden heirate, dann aus anderen Gründen. Doch bevor ich alt werde und mich binde, möchte ich meinen Spaß haben.«
»Aber Rudgal ist doch nicht viel älter als ich«, wandte Eadulf ein.
Esnad lachte.
»Aber du bist viel interessanter als Rudgal, Angelsachse. Jetzt wollen wir lieber weiterspielen.«
Eadulf schwieg. Diese Esnad war ohne Zweifel recht lebenslustig. Leben bedeutete für sie anscheinend nichts weiter als die Jagd nach Vergnügen. Das war auch schon ihr ganzes Geheimnis. Er würde das Spiel beenden und sich so gut wie möglich aus der peinlichen Situation herauswinden müssen.
In der Festhalle spielten die Musiker noch immer muntere Weisen, die Instrumente versuchten das Gelächter und die Gespräche der Gäste zu übertönen.
Fidelma steuerte auf Murgal zu. Sie sah Orla und Colla an der gegenüberliegenden Seite des Saals; auch Rudgal und Ronan waren anwesend. Von Laisre war keine Spur, auch von niemandem sonst, den sie kannte. Murgal blickte beunruhigt auf, als sie sich zu ihm setzte.
»Ich hatte nicht erwartet, daß du heute abend zum Fest kommen würdest, Fidelma von Cashel«, stellte er fest.
»Es könnte gut mein letzter Abend in Gleann Geis sein«, antwortete sie ernst.
»Glaubst du wirklich, daß du morgen früh alles aufklären kannst?« fragte Murgal zweifelnd.
Fidelma lehnte den angebotenen Met ab und ging nicht auf seine Frage ein. Er wollte noch etwas sagen, doch plötzlich hörten die Musiker auf zu spielen, und es wurde still im Saal. Ronan trat vor und sang mit einer erstaunlich guten Tenorstimme für einen Bauern, der seine Zeit lieber im Dienst von Laisres Leibgarde verbrachte, ein Lied von Kriegern und Kampf.
»Mein gerader Speer ist aus rotem Eibenholz -Der Besieger polierter Speere -Er gehört mir zu Recht, und kein Krieger wage es Ihn zu beleidigen.
Mein scharfes Schwert ist aus blankem weißem Eisen -
Spalter der Rüstung des Feindes -
Es ruht still in seiner bronzenen Scheide aus Furcht, Blut zu vergießen.
Mein harter Schild ist aus goldener Bronze -Nie traf ihn ein Tadel -
Denn er beschützt mich vor allen Angreifern und ihren Waffen.«
Er setzte sich unter donnerndem Applaus, und Murgal schaute Fidelma schmunzelnd an.
»Neulich abend hast du ein schönes Lied gesungen. Singst du heute etwas anderes zu unserer Unterhaltung?«
Fidelma lehnte ab.
»Ein Lied muß im richtigen Augenblick aus der Seele schwellen und kann nicht zur bloßen Unterhaltung aus einem müden Gehirn herausgepreßt werden, um die Zeit zu vertreiben. Vielleicht kennst du noch ein Lied über Cashel zur Erheiterung?«
Murgal kicherte entwaffnend über ihre kleine Spitze.
»Diesmal nicht«, gestand er. Nach kurzem Zögern fragte er: »Spürst du die Spannung in der Halle heute abend?«
»Spannung?« wiederholte sie.
»Die Nachricht, daß du morgen früh enthüllen willst, wer Solin und die anderen ermordet hat, hat sich im ganzen rath verbreitet. Die Leute fragen sich, welche Namen du nennen wirst. Alle sind zutiefst beunruhigt.«
»Nur die Schuldigen haben etwas zu befürchten«, erwiderte Fidelma.
»Viele meinen, du wirst Unschuldige bezichtigen, um von deiner eigenen Schuld abzulenken und deiner Strafe zu entgehen. Nach ihrer Meinung bist du ja nur aufgrund einer Klausel des Gesetzes auf freiem Fuß. Manche glauben nach wie vor, daß du Solin getötet hast, weil ihr Rivalen in eurer Religion wart. Sie haben dir noch nicht verziehen, daß du versucht hast, Orla die Schuld an Solins Tod in die Schuhe zu schieben.«
»Dann habe ich wohl auch Dianach umgebracht und Artgal verschwinden lassen? Oder habe ich gar die dreiunddreißig jungen Männer eigenhändig niedergemacht?«
Murgal behielt die Fassung.
»Man traut einem Menschen alles mögliche zu, wenn man eine Abneigung gegen ihn gefaßt hat.«
»Tust du das auch?«
»Fidelma, ich bin Druide und Brehon. Erst war ich geneigt, dich so gering zu schätzen wie die meisten deines Glaubens: Kleinliche, bigotte Leute, anderen Überzeugungen gegenüber intolerant. Sie können niemanden leiden, der nicht genauso denkt wie sie. Dann stellte ich fest, daß du anders bist als jene deines Glaubens, die ich bis dahin kannte. Dir vertraue ich. Ich glaube, daß du von jeder Schuld frei bist. Vielleicht traust du mir, so daß ich dir helfen kann?«
Einen verwegenen Augenblick lang war Fidelma versucht, ihm alles zu sagen, was sie wußte. Sie öffnete schon den Mund, da erkannte sie die Gefahr. Sie klappte den Mund wieder zu. Murgal war plötzlich zu freundlich geworden. Was steckte hinter seiner veränderten Haltung?
In diesem Moment merkte sie, daß Laisre den Raum betreten hatte. Er trug einen Mantel, denn der Abend war kühl. Er ging hinüber zum Kamin, wo man vor einem geschnitzten hölzernen Wandschirm seinen Sessel aufgestellt hatte. Der Wandschirm war schulterhoch, um vor Zugluft zu schützen. Laisre ging hinter den Schirm zu einem kleinen Tisch, auf dem man während des Festes Mäntel und Waffen ablegte.
Fidelma folgte ihm mit nachdenklichen Blicken. Als er den Mantel abnahm, schaute er sie über den Wandschirm hinweg direkt an. Den unteren Teil seines Gesichts konnte sie nicht sehen, nur seine Augen und den oberen Teil des Gesichts, so daß sie seine Miene nicht erkennen konnte. Ihre Blicke begegneten sich, und sie spürte die Feindseligkeit in seinen Augen. Ein kalter Schauder überlief sie, dann wurde sie wieder ganz ruhig. Sie wandte sich erneut Murgal zu.
»Entschuldige«, sagte sie, »was meintest du eben?«
»Ich sagte, du solltest mir vertrauen, Fidelma von Cashel, denn ich könnte dir vielleicht helfen. Morgen mußt du deinen Verdacht begründen. Wenn du nach Cashel zurückreitest, ohne eine Erklärung für die Vorgänge hier abzugeben, wirst du großes Mißtrauen hinterlassen. Man wird dir weiter die Schuld an Solins Tod zuschreiben.«
Fidelma musterte Murgal einen Moment nachdenklich.
»Du und das Volk von Gleann Geis, ihr werdet morgen vormittag die Lösung all der Rätsel hier erfahren. Das schwöre ich.«
Sie sah, daß Eadulf in die Halle kam. Ihr fiel auf, daß sein Gesicht gerötet war und er irgendwie aufgewühlt wirkte.
Sie entschuldigte sich bei Murgal, erhob sich und ging hinüber zu ihm.
»Stimmt etwas nicht, Eadulf?« fragte sie neugierig. »Du machst so ein seltsames Gesicht.«
»Ob etwas nicht stimmt?« fragte er entrüstet. Er hatte anscheinend Mühe, seinen Zorn zu bändigen. »Bei dieser Esnad stimmt was nicht. Selbst die Prostituierte Nemon ist ehrlicher als sie.«
Fidelma legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Gehen wir ins Gästehaus, und du erzählst mir alles.«
»Weißt du, daß diese Göre versucht hat, mich in ihr Bett zu zerren?«
Fidelma warf ihm einen belustigten Blick zu.
»Sie ist jung und attraktiv«, meinte sie.
Eadulf gab einen unartikulierten Laut von sich.
»Ich nehme an, du warst von dem Angebot nicht begeistert?« fügte Fidelma mit einem mutwilligen Lächeln hinzu.
»Sie forderte mich auf, eine Partie Brandub mit ihr zu spielen, und bestand auf einer Wette. Wenn sie gewann, sollte ich mit ihr ins Bett gehen, und wenn ich gewann, erwartete sie, daß ich dasselbe von ihr verlangen würde.«
»Und hast du?«
Eadulf war entgeistert.
»Ob ich mit ihr ins Bett gegangen bin?« fragte er entsetzt.
»Nein, hast du die Partie gewonnen?«
Eadulf schüttelte heftig den Kopf.
»Ich sah, worauf das hinauslief, und konnte das Spiel gewinnen, aber ihre Erwartungen habe ich nicht erfüllt. Das hielt sie freilich nicht davon ab, den Versuch zu machen, mich trotzdem dazu überreden zu wollen. Ich bin ihren Fängen mit Mühe und Not entschlüpft.«
»Was wichtiger ist«, sagte Fidelma, als sie das Gästehaus betraten, »hast du herausgefunden, ob sie an der Politik ihrer Eltern beteiligt ist? In welchem Verhältnis steht sie zu Rudgal?«
»Sie kümmert sich um nichts weiter als fleischliche Lust.« Eadulf schnaubte angewidert. »Sonst kennt sie kaum etwas. Was Rudgal anbelangt, ich glaube, er ist dieser kleinen Schlampe blind verfallen. Mir tut der Mann leid.«
Fidelma entzündete die Lampe.
»Nun, wir sollten uns früh schlafen legen. Im Moment haben wir alles getan. Hoffen wir, daß Ibor vor dem Morgengrauen hier ist.«
Eadulfs Miene wurde besorgt.
»Wir spielen ein gefährliches Spiel, Fidelma. Diesen rath einzunehmen ist eine Sache, aber wir müssen auch in der Lage sein, das Rätsel zu lösen.«
Fidelma schien recht zufrieden.
»Ich denke, das kann ich - jetzt«, fügte sie mit Betonung hinzu. »Aber die Hauptgefahr droht heute nacht. Wenn jemand etwas gegen mich unternehmen will, dann in dieser Nacht. Wir müssen wachsam sein.«
Eadulf war beunruhigt.
»Ich werde wach bleiben«, versprach er. »Hab keine Angst.«
Es war noch dunkel, als Eadulf aus dem Schlummer geweckt wurde, in den er fast im selben Augenblick gefallen war, als er sich zwischen den Decken ausgestreckt hatte.
Mit klopfendem Herzen setzte er sich im Bett auf und bemerkte eine Gestalt, die sich über ihn beugte.
Im Dunkeln erkannte er Fidelma an ihrem Parfüm. Sie flüsterte ihm zu: »Jemand ist unten im Gästehaus. Ich hörte, wie er die Tür öffnete. Halte dich bereit, ich glaube, er kommt die Treppe herauf.«
Während Fidelma in ihr Zimmer zurückschlich, schwang sich Eadulf aus dem Bett und zog eilig seine Kutte über.
Er hörte, wie jemand leise die Treppe heraufstieg und durch eine knarrende Stufe verraten wurde.
Er stellte sich hinter die Tür und nahm einen der schweren eisernen Kerzenständer in die Hand. Sobald der Eindringling an seiner Tür vorbei war und Fidel-mas Zimmer zustrebte, wollte er hinaus und ihn von hinten angreifen. Kaum hatte er sich zu dieser Taktik entschlossen, als er hörte, wie die Schritte draußen auf dem Korridor stockten, und dann - dann bewegte sich die Klinke seiner eigenen Tür.
Mit klopfendem Herzen drückte er sich an die Wand und hob instinktiv den Kerzenständer zu seiner Verteidigung.
Knarrend ging die Tür auf.
Ein Schatten trat ein. Es war der Schatten eines kräftigen Mannes. In der Hand hielt er ein Schwert.
Eadulf wartete nicht länger. Er schlug mit dem Kerzenständer zu und traf den Kopf des Mannes. Der Mann grunzte leise, brach zusammen und fiel zu Boden. Das Schwert flog ihm scheppernd aus der Hand.
Einen Moment blieb Eadulf zitternd stehen.
Er hörte einen erregten Ausruf Fidelmas, dann eilte sie herbei.
»Wo bist du, Eadulf?« fragte sie angstvoll.
»Hier«, murmelte er, steckte eine Kerze auf den Ständer und suchte nach Feuerstein und Zunder. Das war schwierig in der Dunkelheit und brauchte seine Zeit. Erst mußte er die Metallschachtel mit dem vermoderten Buchenholz finden, das von Pilzen fast zu Pulver zerfressen war, den Feuerstein darüber halten und mit einem scharfen Stück Metall darauf schlagen, um Funken zu erzeugen. Hatten die Funken das Holz zum Glimmen gebracht, konnte er den Docht der Kerze damit entzünden. Als sie endlich brannte, konnten sie erkennen, wer da am Boden lag.
»Rudgal!« flüsterte Fidelma.
»Ich habe ihm tüchtig eins übergezogen«, gestand Eadulf. »Sein Schädel blutet. Ich werde ihn gleich verbinden.«
»Aber zuvor fesselst du ihm die Hände«, mahnte Fidelma. »Er ist nicht aus Freundschaft mitten in der Nacht mit dem Schwert in der Hand hier eingedrungen.«
Eadulf machte sich auf die Suche nach einer festen Schnur, fand sie in der Küche des Gästehauses, kehrte zurück und band damit dem Krieger die Hände zusammen. Dabei kam Rudgal stöhnend zu sich. Eadulf hob ihn aufs Bett, holte eine Schüssel mit Wasser und wusch die blutige Stelle an seinem Kopf. Rudgal öffnete die Augen, blickte um sich und bewegte die Arme.
»Lieg still!« fuhr ihn Eadulf an. »Deine Hände sind gebunden.«
Fidelma stand mit gefalteten Händen vor dem Krieger und betrachtete ihn forschend.
»Du hast uns einiges zu erklären, Rudgal«, meinte sie. »Hat dich jemand hergeschickt, um mich umzubringen, oder war das deine eigene Idee?«
Rudgal starrte sie verwirrt an.
»Dich umbringen, Schwester?« stöhnte er. »Ich verstehe dich nicht.«
Fidelma bewahrte Geduld.
»Ich nehme an, du bist nicht mitten in der Nacht mit blankem Schwert hier aufgetaucht, nur um nachzuschauen, ob es mir gut geht.«
Rudgal schüttelte langsam den Kopf.
»Dir, Schwester? Nach dir habe ich doch nicht gesucht, sondern« - er wies mit einer Kopfbewegung auf Eadulf - »nach dem Ausländer da. Ihn wollte ich umbringen.«
Eadulf sah ihn entsetzt an.
»Warum wolltest du Bruder Eadulf töten?« fragte Fidelma.
»Er weiß, warum«, antwortete Rudgal finster.
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Eadulf. »Was habe ich denn getan?« Dann stöhnte er. »Nun sag bloß nicht, es hat was mit dem albernen kleinen Mädchen zu tun?« »Du hast versucht, mir Esnad wegzunehmen!« schrie Rudgal und wollte sich aufrichten. »Sie hat mir erzählt, daß du gestern abend bei ihr warst. Ich bringe dich um.«
Eadulf schob ihn leicht zurück auf das Bett.
»Du mußt verrückt sein«, sagte er langsam. »Ich habe kein Interesse an dem Kind.«
»Rudgal, hör mir zu«, sagte nun Fidelma. »Eadulf will nichts von Esnad wissen. Wie dein Verhältnis zu ihr ist, das mußt du selber klären.«
»Aber er war gestern abend bei ihr.«
»Auf meine Anweisung«, antwortete Fidelma, die seine Logik allmählich begriff.
Rudgal lief rot an.
»Warum hast du ihm gesagt, er soll mit Esnad flirten?«
»Bei Christi Wahrheit!« fauchte Eadulf. »Wenn jemand geflirtet hat, dann Esnad. Du mußt doch wissen, Mann, was sie für eine ist.«
»Ich liebe sie!«
»Aber liebt sie denn auch dich?« knurrte Eadulf.
Rudgals Miene bewies, daß er die Frage nicht zu beantworten wagte.
»Rudgal«, sagte Fidelma, »wegen eines launenhaften Mädchens sollte man kein Blut vergießen.«
Der Krieger ließ sich nicht so leicht überzeugen.
»Esnad hat mir erzählt, daß er in ihrer Wohnung war. Sie zog mich damit auf, daß ...«
Fidelma gebot ihm mit der Hand zu schweigen.
»Aegra amans!« murmelte sie. Nur Eadulf verstand sie. Vergil hatte von besitzergreifender Liebe als einer Krankheit gesprochen.
Eadulf schaute sie säuerlich an.
»Amantes sunt amentes«, antwortete er. Verliebte sind Verrückte.
Rudgal verstand kein Wort.
»Es ist nichts zwischen Esnad und mir«, wiederholte Eadulf. »Warum klärst du deine Probleme nicht mit Esnad selbst?«
Rudgal grollte weiter.
»Das ist ein kluger Rat, Rudgal«, fügte Fidelma hinzu. »Wenn du glaubst, Esnad so sehr zu lieben, dann solltest du mit ihr darüber sprechen. Ihre Meinung muß dir doch mehr bedeuten als die Meinung jedes anderen?«
Rudgal ließ sich nicht besänftigen.
»Könnte es vielleicht sein, daß du weißt, daß sie deine Liebe nicht erwidert, und daß es deshalb für dich leichter ist, anderen die Schuld daran zu geben und zu behaupten, sie würden sie dir wegnehmen?« fuhr Fidelma fort. »Hat sie dir denn jemals gehört, daß sie dir jemand nehmen könnte?«
Ihre Worte trafen ins Ziel. Rudgal zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen.
»Es geht uns nichts an, was du tust, Rudgal«, redete Fidelma weiter, »aber ich an deiner Stelle wäre klug und würde mal darüber nachdenken. Du müßtest dir darüber klar werden, ob du Esnad wirklich liebst oder dich nur in sie verliebt hast. Das sind zwei verschiedene Dinge. Und wenn du Esnad liebst, dann liegt dir vor allem an ihrer Meinung und ihrem Glück.«
»Was habt ihr jetzt mit mir vor?« knurrte Rudgal und überging ihren Rat.
»Du hast gegen das Gesetz verstoßen, indem du einen Mordanschlag auf Eadulf unternommen hast«, erklärte ihm Fidelma. »Was wäre, wenn du ihn getötet hättest? Was meinst du, was wir mit dir tun sollten?«
»Ich kann mich auf Gründe dafür berufen«, behauptete Rudgal störrisch.
»Es gibt keine Gründe.« Seine Hartnäckigkeit brachte Eadulf auf.
Fidelma legte ihm die Hand auf den Arm und machte ihm ein Zeichen, ihr auf den Korridor zu folgen.
»Was schlägst du vor?« flüsterte er draußen.
»Wir können Rudgal nicht vor dem Morgen freilassen. Es kann gut sein, daß er aus Eifersucht den Verstand verloren hat. Auch für den Fall, daß etwas anderes als unglückliche Liebe hinter dem Überfall steckt, müssen wir ihn bis morgen früh hierbehalten. Wir lassen ihn in deinem Zimmer, und du ziehst in ein anderes. Ist er gut gefesselt? Seine wahren Motive können wir morgen ergründen.«
Als sie wieder in Eadulfs Zimmer kamen, zerrte Rudgal an seinen Fesseln.
»Lieg still«, befahl ihm Eadulf barsch, »wenn du nicht noch eins auf den Kopf kriegen willst.«
Rudgal starrte ihn böse an.
»Wenn ich die Hände frei hätte, Ausländer ...«
»Deswegen bleibst du ja auch gefesselt«, unterbrach ihn Fidelma. Mit einiger Mühe banden sie nun Rudgal auch die Füße zusammen, mit denen er kräftig ausschlug. Als er endlich an Händen und Füßen gefesselt war, fing Rudgal an zu schreien. Eadulf drückte ihm ein Handtuch auf den Mund und brachte ihn so zum Schweigen.
Rudgal brauchte noch ein paar Minuten, bevor er einsah, daß er keine Chance hatte, sich zu befreien, und ruhig auf dem Bett liegen blieb. Als er still geworden war, hörten Fidelma und Eadulf ein Geräusch im unteren Stockwerk.
Sie wechselten beunruhigte Blicke. Dann nahm Ea-dulf Rudgals Schwert in die eine Hand und die Öllampe in die andere und ging leise zur Tür. Fidelma folgte ihm und spähte ihm über die Schulter. So bewegten sie sich vorsichtig bis zum Treppenabsatz.
Unten am Fuß der Treppe stand jemand in der Dunkelheit. Eadulf hob die Lampe hoch.
Ihr Licht fiel auf Colla.
»Was willst du hier?« fragte Eadulf, seine Stimme war rauh vor Erregung. Dort stand genau der Mann, auf den sie gewartet hatten.
Colla schaute überrascht zu ihnen hinauf. Er stutzte, als er das Schwert in Eadulfs Hand erblickte.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er stockend.
»Was sollte denn nicht in Ordnung sein?« fragte Fidelma ruhig zurück.
»Ich kam gerade vorbei, und es schien mir, jemand hier riefe um Hilfe. Deshalb kam ich herein.«
Fidelma musterte den Tanist. Was er sagte, klang plausibel, denn Rudgal hatte beträchtlichen Lärm verursacht, bis sie ihn geknebelt hatten.
»Das war Eadulf«, log sie. »Er schrie im Schlaf auf, und ich ging hin, um zu sehen, ob er krank sei. Dann hörten wir unten ein Geräusch und dachten, jemand hätte eingebrochen .«
Eadulf nickte eifrig und überlegte, welche Buße er wohl für diese Unwahrheit zu leisten hätte.
»Das stimmt. Ich hatte einen Alptraum«, fügte er rasch hinzu.
Colla zögerte und zuckte die Achseln.
»Die Tür stand weit offen«, sagte er. »Ich mach sie zu, wenn ich hinausgehe.«
Einen Moment noch starrte er zu ihnen hinauf, dann verließ er das Gästehaus, wobei er die Tür hinter sich schloß. Sie hörten, wie er draußen jemanden begrüßte und sich leise mit ihm unterhielt. Eadulf trat rasch an ein Fenster im Obergeschoß, spähte hinaus auf den Hof und lauschte.
»Das war Laisre«, flüsterte er Fidelma zu. »Er ging anscheinend gerade am Gästehaus vorbei, sah Colla herauskommen und hat ihn wohl gefragt, was los ist. Jetzt sind sie beide weg.«
Fidelma seufzte tief.
»Ich nehme an, nun wird sich bis zum Morgengrauen nichts mehr ereignen«, bemerkte sie im Ton der Befriedigung. »Ich glaube, unser Geheimnis steht kurz vor seiner Aufdeckung.«