Kapitel 8

Es war am späten Abend, als schließlich das Berufungsgericht in der großen Halle der Burg Fianamails von Laigin zusammentrat. Bei der Begegnung in der Kapelle der Abtei hatte Fidelma viel Energie aufwenden müssen, um Fianamail und seinen Brehon, Bischof Forbassach, dazu zu bringen, die Anhörung abzuhalten. Bischof Forbassach und Äbtissin Fainder hatten sich heftig gegen eine solche Anhörung ausgesprochen, doch Fidelma hatte darauf hingewiesen, daß der junge König ihr sein Wort gegeben hatte, im Falle des Auftauchens juristischer Einwände gegen den Verlauf der Gerichtsverhandlung - abgesehen von allgemeinen Einwänden gegen die Anwendung der Bußgesetze - würde er die Prüfung dieser Einwände anordnen. Bischof Forbassach wollte sofort wissen, was für Einwände das wären, doch Fidelma erklärte ihm, daß diese Beweismittel nur bei einer förmlichen Anhörung vorzulegen seien.

Widerstrebend hatte Fianamail eingesehen, daß er sein Versprechen halten mußte. Die Abtei war offensichtlich nicht der geeignete Ort für die Berufungsverhandlung, weil mehrere Schreiber und Gerichtsbeamte herbeigerufen werden mußten. In so kurzer Frist war das nur in der großen Halle der Burg möglich.

Die Halle wurde von flackernden Fackeln erhellt, die in eisernen Haltern an den Wänden standen, und von einem Feuer in der Mitte erwärmt. Fianamail saß auf dem Podium in seinem Amtssessel aus geschnitztem Eichenholz. Zu seiner Rechten hatte Bischof For-bassach, der Brehon von Laigin, seinen Platz.

Äbtissin Fainder wohnte der Verhandlung bei und hatte zu ihrer Unterstützung ihre Verwalterin, Schwester Etromma, und - was Fidelma merkwürdig vorkam - den gräßlich aussehenden Bruder Cett mitgebracht. Bruder Miach begleitete sie ebenfalls. Mehrere Mönche, Nonnen, Schreiber und Angehörige der Hofhaltung des Königs waren anwesend wie auch Krieger, unter ihnen Mel. Inmitten anderer Zuschauer entdeckte Fidelma Coba, den Ortsfürsten, der so heftig gegen die Einführung der Bußgesetze auftrat. Dego und Enda saßen im Hintergrund und beobachteten das Verfahren.

Es war kein Gerichtshof im eigentlichen Sinne, denn bei einer Berufung zur Aufschiebung der Vollstreckung eines Urteils brauchte der Angeklagte nicht anwesend zu sein, es gab keinen Vertreter der Anklage, und gewöhnlich wurden auch keine Zeugen vernommen. Alles hing von der Fähigkeit des dalaigh ab, das Verfahren der Beweisaufnahme beim vorhergehenden Prozeß in Zweifel zu ziehen oder die unangemessene Härte des Urteils in Frage zu stellen.

Fidelma hatte ihren Platz vor dem Podium eingenommen. Ruhe trat ein, als Bischof Forbassach sich erhob und die Versammlung zur Ordnung rief.

»Wir sind hier, um das Plädoyer der dalaigh von Cashel anzuhören. Du kannst beginnen«, erklärte er Fidelma und setzte sich wieder.

Zögernd stand Fidelma auf. Mit wachsendem Erstaunen hatte sie bemerkt, daß Forbassach offensichtlich den Vorsitz bei der Verhandlung führte.

»Habe ich das so zu verstehen, daß du den Vorsitz bei dieser Anhörung führst, Forbassach?« fragte sie.

Bischof Forbassach starrte seine alte Gegnerin mit eisigem Blick an. Er war ein unversöhnlicher Charakter, und sie spürte, daß er sich über ihre Verwirrung freute.

»Das ist ein merkwürdiger Beginn eines Plädoyers, Fidelma. Muß ich eine solche Frage beantworten?«

»Die Tatsache, daß du die Verhandlung gegen Bruder Eadulf geleitet hast, schließt doch wohl aus, daß du dein eigenes Verhalten bei dieser Verhandlung beurteilst.«

»Wer besitzt denn eine größere juristische Autorität in diesem Königreich als Bischof Forbassach?« schaltete sich Fianamail gereizt ein. »Ein Richter niederen Ranges hat kein Recht, ihn zu kritisieren. Das solltest du doch wissen.«

Fidelma mußte zugeben, daß das stimmte und sie es übersehen hatte. Nur ein Richter von höherem oder gleichem Rang konnte das Urteil eines anderen Richters aufheben. Doch wenn Forbassach in diesem Fall urteilte, wäre das eine weitere Ungerechtigkeit.

»Ich hatte gehofft, Forbassach hätte den Rat anderer Richter eingeholt. Ich sehe hier nur Forbassach sitzen und nicht einmal einen ausgebildeten dalaigh, der mit ihm das Beweismaterial beurteilen könnte. Wie kann ein Richter über seine eigenen Urteile befinden?«

»Ich werde deine Einwände berücksichtigen, Fidelma, wenn du sie zu Protokoll geben willst.« Bischof Forbassach lächelte triumphierend. »Jedoch kann ich als Brehon von Laigin niemand anderem das Recht zubilligen, den Vorsitz in diesem Gerichtshof zu führen. Sollte ich davon zurücktreten, könnte man behaupten, daß ich damit zugäbe, in diesem Fall befangen zu sein. Solche Einwände von dir werden abgelehnt. Nun möchte ich dein Plädoyer hören.«

Fidelmas Mund wurde schmal, und sie blickte hinüber zu Dego, der als verwirrter Zuhörer im Hintergrund saß. Er fing ihren Blick auf und verzog tröstend das Gesicht. Ihr war nun klar, daß man schon voreingenommen gegen sie war, noch ehe sie ihr Plädoyer begonnen hatte. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als so gut zu argumentieren, wie sie nur konnte.

»Brehon von Laigin, ich lege bei dir förmliche Berufung ein mit dem Ziel, die Hinrichtung Bruder Ea-dulfs, des Angelsachsen, aufzuschieben, bis eine ordentliche Untersuchung und eine neue Verhandlung stattgefunden haben.«

Forbassach betrachtete sie mit unverändert säuerlicher Miene. Fidelma kam seine Haltung beinahe verächtlich vor.

»Eine Berufung muß sich auf Beweise stützen, daß es bei der ersten Verhandlung Unregelmäßigkeiten gegeben habe, Fidelma von Cashel«, bemerkte Forbas-sach trocken. »Wie begründest du deine Berufung?«

»Es gab verschiedene Unregelmäßigkeiten bei der Vorlage der Beweise im Laufe der Verhandlung.«

Forbassachs Miene wurde noch unangenehmer.

»Unregelmäßigkeiten? Zweifellos unterstellst du, daß solche Unregelmäßigkeiten darauf zurückzuführen sind, daß ich den Vorsitz bei der Verhandlung führte?«

»Ich weiß sehr wohl, daß du den Vorsitz bei der Verhandlung führtest, Forbassach. Ich habe bereits meinen Einwand dagegen erhoben, daß du dein eigenes Verhalten beurteilst.«

»Was wirfst du mir also vor? Was genau?« Sein Ton war kalt und drohend.

»Ich werfe dir überhaupt nichts vor, Forbassach. Du solltest dich im Recht genügend auskennen, um meine Worte nicht falsch zu interpretieren«, fauchte Fidelma. »Eine Berufung besteht lediglich darin, dem Gericht Tatsachen vorzulegen und Fragen zu stellen. Die Antworten hat das Gericht zu suchen.«

Bei dieser spitzen Entgegnung zogen sich Bischof Forbassachs Augen zusammen.

»Dann laß uns deine sogenannten Tatsachen hören, und deine Fragen darfst du auch stellen, dalaigh. Es soll nicht heißen, ich sei kein fairer Richter.«

Fidelma hatte das Gefühl, gegen eine Mauer von Granit anzurennen, und bemühte sich um innere Festigkeit.

»Ich lege Berufung ein aufgrund juristischer Unregelmäßigkeiten. Dazu nenne ich die folgenden Punkte.

Erstens diente Bruder Eadulf als Gesandter zwischen König Colgü von Cashel und dem Erzbischof Theodor von Canterbury. Er genoß den Schutz und die Vorrechte, die mit diesem Rang verbunden sind. In dem Verfahren wurde dieser Rang nicht berücksichtigt. Er führte einen Brief und den weißen Amtsstab eines ollamh, eines Königsboten, bei sich, der nicht gerichtlich verfolgt werden darf.«

»Ein weißer Amtsstab? Eine Botschaft?« Bischof Forbassach schien belustigt. »Sie wurden in der Verhandlung nicht vorgelegt.«

»Bruder Eadulf wurde dazu keine Gelegenheit gegeben. Ich lege sie jetzt vor ...« Fidelma wandte sich um und nahm die Gegenstände von der Bank, auf die sie sie getan hatte. Sie hielt sie zur Prüfung hin.

»Nachträgliche Beweise sind keine Beweise«, lächelte Bischof Forbassach. »Deine Beweise sind unzulässig. Wenn du solche Stücke aus Cashel mitbringst .«

»Ich fand sie im Gästehaus der Abtei, wo Bruder Eadulf sie gelassen hatte«, erwiderte Fidelma voller Zorn über Forbassachs Versuch, sie abzuweisen.

»Woher sollen wir das wissen?«

»Schwester Etromma war bei mir, als ich sie in der Matratze des Bettes entdeckte, das sie mir als das von Bruder Eadulf benutzte gezeigt hatte.«

Bischof Forbassach schaute zu Schwester Etromma hinüber.

»Tritt vor, Schwester. Stimmt das?«

Schwester Etromma hatte offensichtlich Angst vor Bischof Forbassach und warf auch einen furchtsamen Blick auf die Äbtissin, als sie sich erhob.

»Ich begleitete die Schwester zum Gästehaus, und sie beugte sich über die Matratze und hielt mir dann diese Gegenstände hin.«

»Hast du wirklich gesehen, wie sie sie gefunden hat?« forschte der Brehon.

»Sie stand mit dem Rücken zu mir und drehte sich dann vom Bett weg und zeigte sie mir.«

»Also kann sie die Gegenstände bei sich gehabt und nur so getan haben, als ob sie sie fände?« vermutete Bischof Forbassach befriedigt. »Die Beweise können nicht anerkannt werden.«

Fidelma war empört.

»Ich protestiere! Als dalaigh habe ich geschworen, dem Recht zu dienen, und deine Unterstellung verletzt meine Ehre!«

»Als Brehon habe ich denselben Eid geschworen, und trotzdem wagst du es, meine Urteile anzufechten!« fauchte Forbassach. »Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Fahre fort mit deinem Plädoyer.«

Fidelma schluckte schwer und bemühte sich, ihre Gefühle zu meistern. Wenn sie die Beherrschung verlor, nützte das niemandem, am wenigstens Eadulf.

»Zweitens wurde Bruder Eadulf aus dem Schlaf gerissen, mißhandelt und in eine Zelle geschafft, ohne daß ihm gesagt wurde, wessen er beschuldigt wurde. Er wurde zwei Tage in der Zelle ohne Essen und Trinken gelassen. Erst als Forbassach kam und ihm erklärte, welches Verbrechen ihm zur Last gelegt wurde, erfuhr er, weshalb er in Haft war. Kein Anwalt, kein dalaigh, wurde zu seiner Verteidigung bestellt, ihm wurde auch nicht gestattet, die Beweise zu prüfen. Er wurde nur gefragt, ob er sich schuldig bekenne.«

»Wenn er unschuldig gewesen wäre, hätte er seine Beweise vorlegen können«, murrte Bischof Forbas-sach. »Alles, was du vorbringst, beruht lediglich auf der Aussage des Angelsachsen. Diese Behauptungen werden zurückgewiesen. Sprich weiter.«

Fidelma fuhr hartnäckig fort.

»Dann kommen wir zu den Unregelmäßigkeiten in den Zeugenaussagen. Schwester Etromma trat auf und identifizierte das tote Mädchen. Wie konnte sie es identifizieren, wenn sie es noch nie gesehen hatte, ehe sie die Leiche erblickte? Ihr war gesagt worden, es handle sich um eine Novizin der Abtei. Aber sie wußte das nicht aus eigener Kenntnis.«

»Die Vorsteherin der Novizinnen hatte es ihr gesagt.«

»Die war bereits auf einer Pilgerfahrt. Selbst wenn es so war, du kennst das Gesetz, Forbassach. Sie kannte das Mädchen nicht aus eigener Erfahrung. Etrom-mas Aussage war nach den Regeln des Verfahrens ungültig.«

»Darüber entscheidet der Richter«, erwiderte Bischof Forbassach knapp. »Ich hielt die Frage der Identifizierung nicht für wichtig. Solange das Mädchen überhaupt identifiziert wurde, war es gleichgültig, von wem.«

»Wir sprechen von den Regeln des Verfahrens«, antwortete Fidelma. »Aber kommen wir zum nächsten Zeugen - dem Arzt, Bruder Miach, der die Leiche untersuchte. Er schwor, daß das Mädchen vergewaltigt worden sei. Gewiß, es war eine Jungfrau, die kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Soviel hätte er uns als Arzt sagen sollen. Aber unser Arzt fügte seinem Untersuchungsergebnis noch eine Meinung hinzu, und die lautete, daß das Mädchen vergewaltigt worden war. Nun behaupte ich nicht, daß es nicht so ist, aber eine Meinung ist kein Beweis und hätte nicht als solcher angenommen werden dürfen. Die Untersuchung kann nicht zweifelsfrei feststellen, welche Art von Geschlechtsverkehr vor dem Tode des Mädchens stattgefunden hat. War es das Verbrechen des focloir oder des sleth, war es gewaltsame Vergewaltigung oder Vergewaltigung durch Überredung? Darauf hätte hingewiesen und das hätte erwogen werden müssen.

Nun weiter zur Aussage von Schwester Fial, der Hauptzeugin - einer Augenzeugin. Sie sagt, sie sei eine Freundin des toten Mädchens. Sie traten zusammen als Novizinnen in die Abtei ein. Beide hatten noch nicht das Alter der Wahl erreicht. Schwester Fial erklärt, sie hätte mit dem toten Mädchen verabredet, sich mit ihm an dem Kai außerhalb der Abtei zu einer Zeit zu treffen, die deutlich nach Mitternacht gelegen haben muß. Bei der Verhandlung hat niemand sie gefragt, warum und zu welchem Zweck. Ist es nicht seltsam, daß zwölf- oder dreizehnjährige Novizinnen zu dieser Nachtzeit außerhalb der Abtei am Kai herumwandern? Hat man diese wichtigen Fragen gestellt? Nein, das hat man nicht.

Weiter sagt Fial, sie habe dort unten am Kai in der Dunkelheit gesehen, wie ein Mann ihre Freundin überfiel und erdrosselte. Sie kann nur einen Meter vom Schauplatz entfernt gewesen sein. Was tut sie bei diesem Anblick? Sie bleibt einfach bei den Ballen stehen und sieht zu, wie ihre Freundin angegriffen und erwürgt wird. Sie sieht, wie der Mann zur Abtei zurückläuft und hineingeht. Das alles im Dunkeln. Sie steht da und weiß nicht, was sie machen soll - wie lange, das erfahren wir nicht. Wir können sie auch nicht danach fragen, denn Schwester Fial ist anscheinend aus der Abtei verschwunden. Sie steht da und macht keine Anstalten, zu ihrer Freundin zu gehen. Die Äbtissin kommt dazu, und sie bleibt immer noch stumm im Schatten, während Mel die Leiche untersucht. Erst nach langer Zeit tritt sie vor und erzählt ihre Geschichte.«

Fidelma hielt inne. Tiefes Schweigen war eingetreten.

»Dann haben wir noch die Aussage von Mel, dem Hauptmann der Wache, der zum Kai kommt und sieht, wie Äbtissin Fainder dort zu Pferde hält und auf die Leiche hinabschaut. Zu keinem Zeitpunkt wurde die Äbtissin aufgefordert, zu ihrer Rolle in dem Fall auszusagen. Sie weist Mel auf die Leiche hin. Dann übernehmen Mel und sein Kamerad Daig den Fall und hören später von Fial, unserer verschwundenen Zeugin, daß sie in dem Täter den angelsächsischen Mönch, der sich in der Abtei aufhält, erkannt habe.

Eadulf wird im Bett liegend aufgefunden. Entgegenkommenderweise hat er ein Stück der blutgetränkten Kutte des ermordeten Mädchens bei sich im Bett und macht keinen Versuch, es zu verstecken.«

Forbassach lächelte verbissen.

»Ich glaube, damit hast du deine eigenen Argumente widerlegt, dalaigh. Es ist klar erwiesen, daß der Angelsachse mit blutbefleckter Kleidung im Bett lag und daß daraus seine Schuld unwiderleglich hervorgeht.«

»Ich meine, daß die Unregelmäßigkeiten schwerer wiegen als die Beweise und daß diese Unregelmäßigkeiten aufgeklärt werden müssen, bevor die Blutflecke berücksichtigt werden. Ich habe bereits von den Umständen seiner Festnahme gesprochen, die, das wiederhole ich, nicht dem Gesetz entsprechen. Er wird in der Abtei festgehalten. Wir kennen das Ergebnis. Was wir nicht wissen, ist, wie die verschwundene Zeugin Fial den angelsächsischen Bruder identifizierte. Woher weiß sie überhaupt, daß er ein angelsächsischer Bruder ist, wenn Bruder Eadulf, wie er sagt, das Mädchen nicht ein einziges Mal gesehen hat, als er in die Abtei kam. Er redete mit wenigen Leuten - mit der Äbtissin, Schwester Etromma und mit einem Bruder namens Ibar. Nur sie wußten, daß er Angelsachse ist, denn er spricht ein ausgezeichnetes Irisch. Niemand hat das Mädchen gefragt, wie es den Angelsachsen in der Dunkelheit erkennen konnte. In diesem Fall gibt es zu viele Fragen, die nicht gestellt und schon gar nicht beantwortet wurden.«

Fidelma hielt kurz inne, als wolle sie Atem schöpfen.

»Aus diesen Gründen, Brehon von Laigin, wende ich mich direkt an dich mit dem Ersuchen, das Urteil über Bruder Eadulf so lange auszusetzen, bis eine ordentliche, unparteiische Untersuchung und eine faire, gerechte Verhandlung stattgefunden haben.«

Bischof Forbassach wartete einen Moment, als gebe er ihr Gelegenheit fortzufahren, und dann fragte er scharf: »Hast du noch weitere Gründe vorzubringen, dalaigh von Cashel?«

Fidelma schüttelte den Kopf. »In Anbetracht der kurzen Zeit, die man mir gewährt hat, ist das alles, was ich im Augenblick vorbringen kann. Ich meine, es sollte genügen, die Hinrichtung um wenigstens einige Wochen aufzuschieben.«

Bischof Forbassach beriet sich eilig im Flüsterton mit Fianamail. Fidelma wartete geduldig. Der Bischof wandte sich wieder ihr zu.

»Ich werde meine Entscheidung morgen früh verkünden. Wenn ich allerdings«, er blickte Fianamail mürrisch an, »allein zu entscheiden hätte, würde ich sagen, die Berufung ist abgelehnt.«

Obwohl sonst so selbstbeherrscht, trat Fidelma einen Schritt zurück, als hätte sie jemand vor die Brust gestoßen. Sie mußte sich zwar eingestehen, daß sie von Anfang an geahnt hatte, Bischof Forbassach wolle sein ursprüngliches Urteil aufrechterhalten. Trotzdem hatte sie gehofft, er werde, um den Schein zu wahren, die Hinrichtung um ein paar Tage verschieben. Offensichtlich lag Fianamail mehr daran, sich an die leere Form der Rechtsprechung zu klammern, als Forbas-sach. Auf die Vorführung einer so schreienden Ungerechtigkeit war Fidelma nicht vorbereitet.

»Warum sagst du, daß du meine Berufung ablehnen würdest, Forbassach?« fragte sie, als sie die Stimme wiedergefunden hatte. »Ich würde gern die Begründung erfahren. Würde der gelehrte Richter mir erläutern, weshalb er die Berufung verwirft?«

Ihr Ton war ruhig und bescheiden.

Bischof Forbassach nahm ihren Tonfall fälschlich als ein Eingeständnis der Niederlage. Seine Miene wurde etwas hochmütig.

»Ich sagte schon, daß ich die Entscheidung morgen verkünde. Aber erstens war ich der Richter in der Verhandlung gegen den Angelsachsen. Ich erkläre, ihm wurde jede Achtung bezeugt und jede Gelegenheit zur Verteidigung gegeben. Er behauptet, das war nicht so. Damit steht sein Wort, als das eines Ausländers, gegen meins. Ich spreche als Brehon von Laigin. Es gibt kaum einen Zweifel, welches Wort zu gelten hat.«

Fidelmas Augen zogen sich zornig zusammen. Sie kochte innerlich.

»Du lehnst meine Berufung ab, weil du der Richter bei der ersten Verhandlung warst? Ich habe dich nicht gebeten, über diese Berufung zu entscheiden. Ich sehe, daß du nur deine eigenen Interessen absichern willst ...«

»Fidelma von Cashel!« Es war Fianamail, der sie unterbrach. »Du sprichst mit meinem Brehon. Selbst deine Verwandtschaft mit dem König von Muman gibt dir nicht das Recht, Beamte meiner Hofhaltung zu beleidigen.«

Fidelma biß sich auf die Lippen. Sie erkannte, daß ihr Zorn sie fortgerissen hatte.

»Ich nehme diese Worte zurück. Doch von Anfang an war ich der Meinung, daß ein Richter, der über sich selbst urteilt ... eben ungewöhnlich ist. Ich würde gern wissen, welche anderen Gründe - abgesehen von der Abneigung eines Richters, irgendeinen Fehler zuzugeben, den er gemacht haben könnte - es dafür gibt, meine Berufung abzulehnen?«

Bischof Forbassach beugte sich vor.

»Ich würde sie ablehnen, weil du keine wirklich relevanten Tatsachen vorzuweisen hast. Du hast lediglich eine Reihe schlauer Fragen gestellt.«

»Fragen, die zur Zeit keine Antwort finden«, fuhr ihn Fidelma an. »Das ist die Grundlage für meinen Antrag, den Antrag, das Urteil auszusetzen, bis diese Fragen beantwortet werden können.«

»Unbeantwortbare Fragen haben keinen Einfluß auf die ursprünglichen Entscheidungen des Gerichts. Du sagst, der Angelsachse war ein Königsbote. Wo war sein weißer Amtsstab? Jetzt holst du ihn hervor wie eine Zauberin, und deine einzige Zeugin kann nicht beschwören, daß du ihn dorther genommen hast, wo du ihn gefunden haben willst.«

»Ich kann ihn vorweisen .«

»Alles, was du vorweisen kannst«, unterbrach sie Bischof Forbassach, »ist kein gültiges Beweismittel, denn niemand weiß, ob du es nicht selbst hierhergebracht hast. Es ist kein Beweismittel, weil wir nicht wissen, ob der Angelsachse es bei sich trug. Was die Zeugen anbelangt, so ziehst du sowohl ihre Kenntnisse als auch ihre Ehrlichkeit in Zweifel.«

»Das tue ich nicht!« protestierte Fidelma.

»Aha.« Bischof Forbassach lächelte siegesgewiß. »Nimmst du die Bemerkungen, die du über sie gemacht hast, zurück?«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Das tue ich nicht.«

»Dann mußt du ihre Aussagen in Zweifel ziehen.«

»Nein. Ich habe eine Reihe von Fragen aufgezählt, die man ihnen bei der Verhandlung hätte stellen müssen.«

»Wir haben ihre Aussagen bei der ursprünglichen Verhandlung gehört und sahen keinen Grund, sie ins Kreuzverhör zu nehmen«, erklärte Forbassach entschieden. »Sie alle sind von einwandfreiem Charakter und haben unserer Meinung nach die Wahrheit gesagt. Die Zeugin Schwester Fial hat den Angelsachsen deutlich erkannt. Sie war Augenzeugin seines abscheulichen Verbrechens. Wagst du es, die Glaubwürdigkeit eines dreizehnjährigen Kindes in Zweifel zu ziehen, das gerade die Vergewaltigung und Ermordung seiner noch jüngeren Freundin mit angesehen hat? Was ist das für eine Gerechtigkeit, Fidelma von Cashel? Wir haben hier in Laigin offensichtlich andere Maßstäbe als eure Gerichte in Cashel, wo ihr, wie man sagt, die Zuschauer mit Spott und juristischen Spitzfindigkeiten ergötzt. Hier halten wir die Wahrheit nicht für ein juristisches fidchell-Spiel.«

Fidchell war ein Brettspiel, das geistige Beweglichkeit erforderte. Fidelma war stolz darauf, wie gut sie es beherrschte.

Fianamail legte Bischof Forbassach die Hand auf den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Brehon zog ein säuerliches Gesicht und nickte. Der junge König stand plötzlich auf.

»Die Anhörung ist damit beendet. Der Gerechtigkeit halber hat mein Brehon, Bischof Forbassach, mich gebeten, den Fall mit mir zu besprechen, damit das Urteil, zu dem wir gelangen, vollkommen gerecht ausfällt. Er wird unsere Antwort auf diese Berufung morgen früh verkünden. Die Verhandlung ist nunmehr abgeschlossen.«

Dunkle Verzweiflung überkam Fidelma für einen Augenblick, während sie auf ihren Stuhl zurücksank.

»Die Gerichte von Laigin sind in die Finsternis zurückgefallen!« rief eine durchdringende männliche Stimme. Sie nahm kaum wahr, daß es der bo-aire Co-ba war, der aufstand und aus der Halle stürmte.

Fianamail zögerte, verärgert über diesen Zwischenfall, und verließ dann mit finsterer Miene den Saal. Bischof Forbassach blieb einen Moment unentschlossen stehen, dann trat die Äbtissin zu ihm. Triumphierend wandte er sich ihr zu, und gemeinsam gingen sie hinaus. Als auch die anderen sich zerstreuten, kam Dego zu Fidelma und legte ihr mit verlegen-tröstender Geste die Hand auf die Schulter.

»Du hast dein Bestes getan, Lady«, murmelte er. »Sie sind darauf aus, daß Bruder Eadulf sterben soll.«

Fidelma hob den Kopf, spürte, daß ihr Tränen in die Augen traten, und schämte sich ihrer nicht.

»Dego, ich weiß nicht, was ich noch legal tun kann, um ihn zu retten. Es bleibt keine Zeit.«

»Aber sie verkünden das Urteil erst morgen. Es besteht noch Hoffnung, daß sie für deine Berufung entscheiden.« Überzeugt klang er nicht.

»Du hast gehört, wie Brehon Forbassach mich abfahren ließ. Nein, er wird bei dem Urteil bleiben, das er einmal gesprochen hat.«

Widerwillig stimmte ihr Dego zu. »Da hast du recht, Lady. Bischof Forbassach hat seine Voreingenommenheit deutlich gezeigt. Hast du gesehen, wie er mit der Äbtissin Fainder wegging und beide lächelten und er ihre Hand hielt? Die stecken unter einer Decke.«

»Uns bleibt nur noch die Hoffnung, daß der Oberrichter von Irland, Barran, selbst herkommt und dieser üblen Ungerechtigkeit Einhalt gebietet«, meinte Fidelma.

Dego schüttelte traurig den Kopf. »Dann gibt es keine Hoffnung, Lady. Aidan braucht noch mindestens drei Tage, um Barran zu suchen und herzubringen, vielleicht sogar eine ganze Woche, und Glück muß er auch noch haben.«

Fidelma erhob sich und bemühte sich, ihre Fassung wiederzuerlangen.

»Ich muß zur Abtei und Eadulf sagen, er solle sich auf das Schlimmste gefaßt machen.«

»Wäre es nicht besser, du wartest, bis morgen früh die Entscheidung formell verkündet wird?«

»Ich kann mir nichts vormachen, Dego, und Eadulf kann ich auch nichts vormachen.«

»Soll ich mitkommen?«

»Nein, Dego, aber vielen Dank. Das ist etwas, was ich am besten allein tue. Ich glaube, Eadulf sähe morgen gern ein paar freundliche Gesichter, wenn das Schreckliche geschieht. Wenigstens kann er im Beisein von Freunden sterben und nicht nur unter Feinden. Ich werde um die Erlaubnis bitten, dabeisein zu dürfen, sobald das Urteil gefällt ist. Werdet ihr, Enda und du, mich begleiten?«

Dego zögerte keinen Moment.

»Natürlich. Gott vergebe ihnen, wenn sie deine Berufung tatsächlich verwerfen, Lady. Ich habe manchen tapferen Mann in der Schlacht sterben sehen, und ich habe auch selbst viele getötet. Aber in der Kampfeswut, mit heißem Blut, Männer, die frei waren und mit Schwert und Lanze in der Hand, die sich verteidigten, im Kampf Mann gegen Mann, unter Gleichen. Doch das hier ... das ist eine üble Sache, einem Menschen nur noch die Würde eines armen Kalbs im Schlachthaus zu lassen. Dafür muß man sich schämen.«

»Das ist nicht unsere Art der Bestrafung«, pflichtete ihm Fidelma bei. Dann seufzte sie tief. »Man kann wahrscheinlich der Meinung sein, daß jemand, der einen Mord begeht, einem anderen Menschen Leid und Tod zufügt, nicht unser Mitgefühl verdient, aber .«

»Das ist noch kein Grund, daß wir auf die Stufe des Mörders hinabsteigen und unseren Mord mit kaltblütigen Ritualen verhüllen«, unterbrach sie Dego. »Und du meinst doch sicher nicht, daß du jetzt Bruder Eadulf dieses Verbrechens für schuldig hältst?«

Fidelma kämpfte mit ihren Gefühlen und schüttelte rasch den Kopf. Sie hoffte, daß ihre Augen nicht zu sehr glänzten.

»Ich weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, ob Eadulf schuldig ist oder nicht. Ich glaube, daß er unschuldig ist. Ich vertraue seinem Wort. Aber Worte genügen dem Gesetz nicht. Nach meinem Wissen kann ich nur sagen, daß es zu viele Fragen gibt, die hätten beantwortet werden müssen, und jetzt . jetzt scheint es zu spät dazu zu sein. Geh ins Gasthaus zurück, Dego. Ich werde dich und Enda bald dort treffen.«

Langsam schritt sie durch die Stadt auf die Abtei zu, von düsteren Gedanken bedrückt. Sie wußte nicht, was sie Eadulf sagen sollte. Es konnte nur die Wahrheit sein. Sie hatte das Gefühl, völlig versagt zu haben. Sie zweifelte nicht daran, daß Bischof Forbassach trotz Fianamails Versuch, sich diplomatisch zu geben, die Berufung ablehnen werde. Die herausfordernde Art, in der er auf alle ihre Fragen reagiert hatte, zeigte deutlich, daß er darauf aus war, den Forderungen der Äbtissin Fainder nach Anwendung dieser grausamen neuen Strafen nachzukommen.

Wenn sie nur mehr Zeit hätte! Die Beweise enthielten zu viele unglaubwürdige Stellen. Doch Bischof Forbassach gab sich anscheinend keine Mühe, dem nachzugehen. Zeit! Darauf lief alles hinaus. Und wenn morgen die Sonne im Zenit stand, sollte das Leben ihres guten Freundes und Gefährten ausgelöscht werden, weil sie keinen Erfolg gehabt hatte.

Während sie sich den Toren der Abtei näherte, war sie entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie die Zuversicht verloren hatte. Schließlich konnte schon irgendein kleiner Zufall eine Verzögerung bewirken. Trotzig hob sie das Kinn.

Als Schwester Etromma das Tor öffnete, sah sie seltsam ängstlich aus. Sie hatte die Halle des Königs verlassen und war in die Abtei zurückgeeilt, sobald Bischof Forbassach seine Meinung verkündet hatte.

»Es tut mir leid, Schwester. Ich konnte nur die Wahrheit sagen. Du standest wirklich mit dem Rük-ken zu mir, als du diese Gegenstände fandest, und ich konnte nicht schwören, ich habe gesehen, wie du sie aus dem Versteck holtest. Bischof Forbassach stellte so scharfe Fragen .«

Mit einer Handbewegung beruhigte Fidelma die besorgte Verwalterin. Sie gab ihr keine Schuld. Hätte sie Fidelma unterstützt, hätte Bischof Forbassach zweifellos einen anderen Weg gefunden, die Beweisstücke zurückzuweisen.

»Es war nicht dein Fehler, Schwester. Außerdem ist ja noch keine Entscheidung verkündet worden«, antwortete Fidelma in möglichst gleichmütigem Ton.

Schwester Etromma schaute nicht weniger bestürzt drein.

»Aber du weißt doch sicher, daß das Urteil längst feststeht?« fragte sie. »Bischof Forbassach hat es selbst gesagt.«

Fidelma bemühte sich, zuversichtlich zu erscheinen.

»Es liegt jetzt am König und seinen Ratgebern. Trotz Forbassach behaupte ich weiterhin, daß es Fragen gibt, die gestellt werden müssen, und jeder unvoreingenommene Richter weiß, daß man ohne Antworten auf diese Fragen einem Menschen nicht das Leben nehmen kann.«

Schwester Etromma senkte den Kopf. »Das ist wohl so. Glaubst du wirklich, daß die Hinrichtung des Angelsachsen noch verschoben wird?«

Fidelmas Stimme war angespannt. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht.

»Ich hoffe es. Aber es steht mir nicht zu, die Entscheidung des Richters vorauszusagen.«

»Ja, eben«, murmelte die Verwalterin. »Das ist hier kein glücklicher Ort mehr. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich mich auf die Insel Mannanan Mac Lir zurückziehen und die Sorgen dieser Abtei hinter mir lassen kann. Doch ich nehme an, du willst den Angelsachsen sprechen?«

»Ja.«

Sie wandte sich um und ging wieder voran durch die Abtei und in den Haupthof. Die Sonne stand schon tief, und die Abtei lag im Dämmerlicht. Der Hof wurde aber von vielen Fackeln erhellt. Zwei Männer holten den Leichnam Bruder Ibars vom Galgen herunter, während zwei andere, darunter ein Mönch, ihnen zusahen. Sie schauten von ihrer grausigen Arbeit auf, und einer grinste sie an.

»Wir schaffen Platz für morgen«, rief er ihr zu. Es war ein Mann mit groben Zügen in Arbeitskleidung. In der Nähe hatte man Sackleinen auf den Steinplatten ausgebreitet als Unterlage für den Leichnam. Kein Holzsarg stand für Bruder Ibar bereit, stellte Fidelma fest, nur Sackleinwand und wahrscheinlich eine rasch ausgehobene Grube in dem Bruch am Flußufer. Die beiden schwarzgekleideten Arbeiter erinnerten sie eher an Raben mit den Knochen ihres Opfers denn an Leichenbestatter bei ihrer Tätigkeit.

Fidelma blieb stehen, und ihr Blick fiel auf den Mönch, der die anderen beaufsichtigte. Es war die stämmige, kriegerische Gestalt des Bruders Cett. Er maß sie mit einem schiefen Blick und entblößte seine brüchigen schwarzen Zähne. Sie hatte noch kaum einen Menschen gesehen, der so tierisch wirkte. Sie erschauerte. Neben ihm stand ein kleiner, drahtiger Mann in Schifferkleidung. Solche Hosen und Jacken aus Leder und Halstücher aus Leinen wurden gewöhnlich von Flußschiffern getragen. Er blickte nicht auf, als sie den Hof überquerten.

»Wir wollen zur Zelle des Angelsachsen, Cett«, rief ihm Schwester Etromma im Vorbeigehen zu.

Der Riese knurrte, was wohl Zustimmung bekunden sollte, doch der Laut konnte alles mögliche bedeuten. Die Verwalterin nahm es als Einwilligung, denn sie schritt weiter, und Fidelma folgte ihr schnell.

Sie stiegen die Treppe zu der Zelle empor, vor der ein anderer Mönch auf einem Holzschemel unter einer flackernden Fackel saß und sein Kruzifix betrachtete, das er in beiden Händen auf dem Schoß hielt. Er sprang auf, als sie sich näherten, und erkannte Schwester Etromma sofort. Wortlos schob er die Riegel an der Zellentür zurück.

Schwester Etromma wandte sich an Fidelma. »Rufe, wenn du wieder gehen willst. Ich habe anderes zu tun und kann nicht warten.«

Fidelma trat in die Zelle. Eadulf erhob sich, um sie zu begrüßen. Seine Miene war düster.

»Eadulf ...«, begann sie.

Er schüttelte rasch den Kopf. »Du brauchst es mir nicht zu sagen, Fidelma. Ich sah vom Fenster, wie du mit der anderen Schwester über den Hof kamst, und ich kann mir denken, wie das Ergebnis lautet. Hätte die Berufung Erfolg gehabt, hätte wohl Bischof For-bassach dich begleitet und dich nicht mit einer so traurigen Miene vorausgeschickt.«

»Es ist noch nicht sicher«, entgegnete Fidelma schwach. »Das Urteil über die Berufung wird Forbas-sach morgen früh verkünden. Es gibt noch ein wenig Hoffnung.«

Eadulf wandte sich dem Fenster zu. »Das bezweifle ich. Ich habe von Anfang an gesagt, über diesem Ort liegt etwas Böses, das mein Ende bestimmt.«

»Unsinn!« fuhr Fidelma hoch. »Du darfst nicht aufgeben.«

Eadulf blickte über die Schulter zurück und lächelte trübe.

»Ich glaube, ich kenne dich lange genug, Fidelma, so daß du mir nichts vormachen kannst. Ich lese es in deinen Augen. Du betrauerst schon meinen Tod.«

Rasch berührte sie seine Hand. »Sag das nicht!«

Zum erstenmal hörte er ihre Stimme brechen und wußte, daß sie den Tränen nahe war.

»Es tut mir leid«, murmelte er verlegen. »Das war dumm von mir.« Er merkte, daß sie ebensosehr Halt brauchte wie er, um dem Schrecklichen entgegenzugehen. Eigensüchtige Gefühle kannte Eadulf nicht. »Also wird Bischof Forbassach morgen früh über deine Berufung befinden?«

Sie nickte, sprechen konnte sie nicht.

»Gut. Dann nehmen wir es, wie es kommt. Könntest du inzwischen Schwester Etromma bitten, mir Wasser und Seife zu verschaffen? Ich möchte anständig aussehen, was der Morgen auch bringen mag.«

Fidelma spürte, wie Tränen in ihren Augen brannten. Plötzlich nahm Eadulf sie in die Arme, preßte sie fest an sich und schob sie dann fast gewaltsam weg.

»So! Nun geh, Fidelma. Überlaß mich meinen Meditationen. Ich sehe dich morgen früh.«

Sie verstand ihn. Es gab zu viel zwischen ihnen, als daß sie bleiben dürfte. Im nächsten Moment würden sie beide die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren. Sie drehte sich um und rief rauh nach dem Mönch draußen. Gleich darauf knirschten die Riegel, und die Tür flog auf. Sie warf keinen Blick zurück in die Zelle, als sie ging.

»Bis morgen, Eadulf«, murmelte sie.

Bruder Eadulf gab keine Antwort, und die Zellentür schlug hinter ihr zu.

Fidelma kehrte nicht sofort zum Gasthaus zurück, sondern ging am Flußufer entlang und fand schließlich einen einsamen Platz am Ende der Kais, wo sie sich in der Dunkelheit auf einem Baumstamm niederließ. Der Mond schien leuchtend hell, seine Strahlen tanzten geheimnisvoll auf den Wellen. Sie saß still da, heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hatte zuletzt geweint, als sie ein junges Mädchen war. Sie unternahm nicht einmal den Versuch, sich der Meditationstechnik dercad zu bedienen, um ihre stürmischen Gefühle zu dämpfen. Seit sie wußte, welche Gefahr Eadulf drohte, hatte sie sich bemüht, sie zu beherrschen. Ihm half sie nicht, wenn sie ihnen nachgab. Sie mußte stark bleiben, sich von ihren Gefühlen lösen, um logisch denken zu können.

Doch sie war hin- und hergerissen zwischen schrecklicher Verzweiflung und tiefer Empörung. Seit sie Eadulf kannte, hatte sie versucht, ihre Gefühle zu verbergen, sogar vor sich selbst. Sie trug ihre Pflicht wie eine Last: Pflicht gegenüber dem Glauben, dem Gesetz, den fünf Königreichen und ihrem eigenen Bruder. Jetzt, in dem Augenblick, da sie aufgehört hatte, ihre Gefühle zu leugnen, und sich selbst gegenüber zugab, wieviel Eadulf ihr bedeutete, drohte die Gefahr, daß er ihr für immer entrissen wurde. Es war . so unfair. Sie wußte, wie banal sich das anhörte, aber ihr fiel kein anderer Ausdruck ein, trotz ihrer Kenntnis der Philosophen des Altertums. Die würden ein so schändliches Schicksal damit erklären, daß die Götter es anders gewollt hätten. Das konnte sie nicht hinnehmen. Vergil schrieb: Fata viam invenient - die Götter werden einen Weg finden. Sie mußte einen Weg finden. Sie mußte es einfach.

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