Kapitel 17

Fidelma hatte Äbtissin Fainder, auf die Enda aufpaßte, auf dem Lukendeckel sitzen lassen und war in Ga-brans Kajüte zurückgekehrt. Sie blieb an der Tür stehen und zwang sich dazu, den blutigen Schauplatz zu betrachten. Der Flußschiffskapitän war mindestens ein halbes dutzendmal in die Brust und die Arme gestochen worden. Ohne Zweifel war es ein blindwütiger Angriff gewesen. Vorsichtig, um ihre Kleidung nicht mit Blut zu beflecken, trat sie neben die Leiche und untersuchte sie sorgfältig.

Die schlimmste Wunde war ein Schnitt durch die Kehle, als ob der Angreifer das Messer nach oben gestoßen und die ganze Länge der Klinge durch die Kehle geführt hatte. Die anderen Wunden an Brust und Armen waren anscheinend wahllos mit der Spitze des Messers beigebracht worden. Sie wiesen kein erkennbares Muster auf und hatten keine lebenswichtigen Körperteile verletzt. Der Stoß in die Kehle hingegen war allein schon tödlich, denn er hatte die Schlagader durchtrennt. Alle anderen Stiche zeugten von blinder Gewalt.

War Äbtissin Fainder einer solchen Tat fähig? Nun, jeder Mensch war unter entsprechenden Umständen zur Gewaltanwendung in der Lage, das wußte Fidelma. Aber welche Wut hatte Fainder getrieben? Während sie noch darüber nachgrübelte, wurde ihr klar, daß sie etwas betrachtete, ohne es richtig zu erfassen. Sie konzentrierte sich. Der Schnitt durch die Kehle stammte nicht von einem Messer. Jedenfalls bestimmt nicht von der kleinen Klinge, die der Äbtissin aus der Hand gefallen war.

Fidelma zwang sich dazu, näher heran zu gehen. Diesen Schnitt hatte ein Schwert ausgeführt. Daran gab es für sie keinen Zweifel, denn der nach oben gerichtete Stoß hatte nicht nur das Fleisch zerfetzt, sondern seine Wucht hatte auch die Kinnlade zerschmettert und ein paar Zähne aus dem Unterkiefer gebrochen. Eine solche Wunde erforderte einen kraftvollen Stoß.

Innerlich tadelte sie sich dafür, daß sie das nicht gleich bemerkt hatte. Sie blickte sich um, konnte jedoch keine Waffe entdecken, die diese schreckliche und tödliche Wunde hätte schlagen können. Sie nahm das kleine Messer, das die Äbtissin in der Hand gehalten hatte, und verglich seine Klinge mit dem halben Dutzend Einstichen in der Brust und den Armen des Mannes. Es war sofort ersichtlich, daß man mit dieser Waffe die unwesentlichen Wunden beibringen konnte, nicht aber die tödliche.

In ihrer gebückten Haltung fiel ihr noch etwas auf, das sie sonst leicht übersehen hätte. Es war ein kleines Büschel Haare. Der Vergleich ergab, daß es von Ga-brans Kopf stammte. Jemand mußte es gepackt und ausgerissen und dann fallen gelassen haben. An den Haarwurzeln klebte noch Blut.

Sie legte das Messer wieder hin und stand auf. Als sie zurücktrat, stieß sie mit dem Fuß gegen ein Stück Metall, das klirrend über die Planken schrammte. Sie blickte hinunter, und ihre Augen weiteten sich. Es war ein Paar Handschellen, klein und anscheinend als Handgelenkfesseln gedacht. Sie hatten auf dem Boden gelegen und waren offen, und der Schlüssel steckte noch im Schloß.

Sie wollte sich schon abwenden, als ihr noch etwas auffiel. An einem hervorstehenden Nagel am Bein eines Tisches, der zum Mobiliar der Kajüte gehörte, hingen ein paar Stoffasern. Jemand war eilig daran vorbeigegangen und mit seiner Kleidung an dem Nagel hängengeblieben. Die Fasern waren von dem braungefärbten groben Wollstoff, den die meisten Mönche trugen. Nachdenklich löste sie die Fasern ab und tat sie in ihre Tragetasche.

Fidelma erhob sich und überdachte die Situation. Dies waren mehrere Stücke eines Puzzles. Sie fügten sich zusammen zu einem Bild von Gabrans letzten Augenblicken. Wenn man Äbtissin Fainder glaubte, daß sie den Mord nicht begangen hatte, insbesondere auch, daß sie noch draußen vor der Tür Gabrans Fall gehört hatte, dann hieße das, daß der Mörder noch in der Kajüte gewesen wäre. Das war offenkundig unmöglich, denn sonst hätte Fainder den Mörder gesehen und wäre auch angegriffen worden. Fidelma spähte aufmerksam umher, ob es noch etwas gäbe, was das Geräusch eines schwer auf den Boden fallenden Körpers hätte verursachen können. Sie fand nichts als die Leiche Gabrans.

Das bedeutete, daß entweder Fainder aus naheliegenden Gründen log oder daß der Mörder in den wenigen Augenblicken entkommen war, bevor die Äbtissin die Tür öffnete. Wieder suchte sie die Kajüte sorgfältig ab.

Die kleine Luke im Deck war nicht gleich zu finden. Sie war eng, und als Fidelma den Deckel hob und in die Dunkelheit hinunterstarrte, konnte sie nichts sehen, und ihr war klar, daß sie sich auch nicht hindurchzwängen konnte.

Sie nahm eine Lampe von einem Seitentisch und kehrte auf das Hauptdeck zurück.

»Heb mal den Deckel an, Enda«, bat sie beim Näherkommen. Mit einem raschen Blick auf die Äbtissin überzeugte sie sich davon, daß diese keinen groben braunen Wollstoff trug, sondern eine feingewebte schwarze Wollkutte. Äbtissin Fainder stand von dem Lukendeckel auf und trat beiseite, und der Krieger hob ihn mit Leichtigkeit an.

»Was ist, Lady?« fragte Enda. »Hast du etwas gefunden?«

»Ich will mich nur mal umsehen«, erklärte sie.

Als sie die Stufen von der Luke zum unteren Deck hinunterstieg, bemerkte sie, daß dort bereits eine Laterne brannte. Die Stufen führten zu einer großen Kajüte, die vom Hauptladeraum durch ein Schott mit Luke getrennt war. Sie schaute hindurch und sah, daß der Laderaum offenstand und leer war.

Fidelma untersuchte nun die Kajüte, in die sie gelangt war. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, daß hier Gabrans Mannschaft schlief, wenn sie an Bord war.

Weiter hinten, wo das Schiff schmaler wurde, befand sich ein weiteres, ein kleines Schott. Der Raum dahinter entsprach Gabrans Kajüte darüber, und in ihn mußte die kleine Öffnung in Gabrans Kajütenboden führen. Sie entzündete ihre Lampe an der Laterne im Mannschaftsraum und öffnete die kleine Tür. Diese besaß ein Schloß, doch der Schlüssel steckte innen. Ihr fiel als seltsam auf, daß innen, gleich hinter der Schwelle, drei andere, verschiedene Schlüssel verstreut lagen.

Als nächstes bemerkte sie den Geruch, der noch schlimmer war als in der Mannschaftskajüte. In ihm mischten sich der scharfe Gestank nach Urin und der Schweiß von zusammengepferchten Menschen. Doch der Raum war winzig, nicht mehr als zwei mal zweieinhalb Meter groß. Er besaß keinerlei Einrichtung außer ein paar Strohmatratzen und einem alten ledernen Schmutzwassereimer. Fidelma war zu groß, als daß sie den engen Raum hätte bequem betreten können, denn er war deutlich weniger als zwei Meter hoch. Die kleine Leiter zu der Luke oben machte ihn noch kleiner.

Sie fragte sich, wozu dieser Raum diente. Eine Straf-kajüte? Aber für wen? Für Matrosen, die ihren Pflichten nicht nachkamen? Fidelma wußte, daß es solche Strafen auf Hochseeschiffen gab, aber nicht auf Flußschiffen, von denen die Mannschaften nach Belieben an Land gehen konnten. Sie hob die Lampe höher, und ihr Blick fiel auf zersplittertes Holz. Aus einem der dicken hölzernen Spanten des Schiffes hatte man etwas herausgerissen, was dort fest, sogar sehr fest, angebracht gewesen war. Ein Blick auf den Boden zeigte ihr ein Ende Kette und ein scharfes Stück Metall. Ohne Zweifel hatte jemand die Kette und ihre Befestigung mit diesem scharfen Metall aus dem Holz herausgelöst. Doch warum? Und wer? Sie trat von der Tür zurück, als sie Blutflecke innerhalb des Schotts bemerkte. Blutverschmierte Fußabdrücke liefen durch die Kajüte, wurden schwächer und verschwanden, bevor sie die andere Seite erreichten.

Fidelma sagte nichts, als sie aufs Deck zurückstieg und ihre Lampe löschte. Enda und die Äbtissin erwarteten sie mit Ungeduld. Sie gab Enda das Zeichen, den Lukendeckel wieder zu schließen, ging an die Seite des Schiffes und schaute ratlos in das schnell fließende Wasser. Auf dem Deck gab es keinerlei verschmierte oder blutige Fußspuren.

War es vorstellbar, daß Äbtissin Fainder die Wahrheit sagte? Sinn ergab das nicht. Konnte jemand Ga-bran getötet und dann, von Fainders Eintreffen überrascht, sich in die schaurige kleine Kajüte darunter geflüchtet haben und von dort durch die größere Kajüte, über die Leiter zum Deck und über Bord entkommen sein? Nein, dabei gab es eine Schwierigkeit. Der Lukendeckel war geschlossen, und man brauchte einige Kraft, um ihn wegzuziehen. Außerdem hätte das ein Geräusch verursacht, das die Äbtissin gehört und erwähnt hätte. Nachdenklich wandte sich Fidelma um, ging zum Hauptladeraum und schaute hinunter. Natürlich gab es dort auch eine Leiter. Auf diesem Wege konnte tatsächlich jemand an Deck gelangen.

Sollte diese Theorie stimmen, dann mußte der, der Gabran getötet hatte und auf diese Weise entkommen war, ein Zwerg sein, eine winzige, schmale Person, die durch die Luke von Gabrans Kajüte in den zellenartigen Raum darunter hinabschlüpfen konnte. Fidelma schüttelte den Kopf und wandte sich Äbtissin Fainder zu, die sich wieder auf den Lukendeckel gesetzt hatte.

»Enda«, redete sie den Krieger an, »siehst du mal nach den Pferden?«

Er schaute sie verwirrt an. »Die sind doch sicher, Lady, und ...« Dann erkannte er an ihrem stahlharten Blick, daß sie mit der Äbtissin allein sein wollte. »Natürlich«, sagte er und ging verlegen weg.

Fidelma trat der Äbtissin gegenüber.

»Ich meine, wir sollten ernsthaft miteinander reden, Mutter Äbtissin, und alle hochmütigen Auffassungen von Rang und Pflicht einmal beiseite lassen. Das würde mir meine Aufgabe erleichtern.«

Die Äbtissin stutzte bei diesem direkten Herangehen.

»Ich dachte, wir hätten ernsthaft geredet«, konterte sie leicht irritiert.

»Nicht ernsthaft genug, wie mir scheint. Natürlich wirst du dich durch einen dalaigh deiner Wahl vertreten lassen wollen .«

Die Miene der Äbtissin wurde wieder besorgt.

»Ich sage dir doch, daß ich mit diesem Mord nichts zu tun habe! Du glaubst doch nicht, daß man mich eines Mordes beschuldigt, den ich nicht begangen habe?«

»Warum nicht? Das ist anderen Leuten auch schon passiert«, antwortete Fidelma ungerührt. »Doch ich will nicht wissen, was du dem dalaigh, den du dir wählst, erzählst, sondern ich möchte von dir ein paar Fragen beantwortet haben, die meiner Ansicht nach die Dinge angehen, die sich in den letzten Wochen hier ereignet haben.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Ich kann bezeugen, ebenso wie meine Männer, daß wir dich fanden, wie du mit einem Messer in der Hand über Gabrans Leiche gebeugt standst«, erklärte ihr Fidelma hart.

»Ich habe dir alles gesagt, was du wissen mußt«, erregte sich die Äbtissin.

»Alles? Ich habe mit deiner Schwester Deog gesprochen.«

Die Wirkung auf die Äbtissin war erstaunlich. Sie wurde blaß und öffnete bestürzt die Lippen.

»Sie hat nichts zu tun mit ...«, wollte sie protestieren, doch Fidelma schnitt ihr das Wort ab.

»Überlaß es mir, zu beurteilen, was ich für meine Nachforschungen wissen muß. Machen wir doch Schluß mit den Ausflüchten. Gib mir endlich ein paar ordentliche Antworten!«

Ein schwerer Seufzer entrang sich der Äbtissin Fainder, und sie neigte nachgiebig den Kopf.

»Ich weiß, daß du aus einer armen Familie in Ra-heen stammst, das hat mir deine Schwester erzählt. Ich glaube, du warst Novizin in der Abtei Taghmon.«

»Du hast dich fleißig umgetan«, erwiderte die Äbtissin bitter.

»Dann hast du dich entschlossen, nach Bobbio zu gehen?«

»Ich wurde mit einem Auftrag zu dieser Gründung Columbans geschickt. Ich brachte der Bibliothek in Bobbio einige Bücher als Geschenk.«

»Was hat dich veranlaßt, dich der römischen Regel zuzuwenden?«

Äbtissin Fainders Stimme klang nun fanatisch.

»Als ich nach Bobbio kam, waren seit dem Tod Co-lumbans kaum vierzig Jahre vergangen. Viele Mönche und Nonnen dort meinten, die Regeln, die er nach dem Vorbild der irischen Häuser aufgestellt hatte, seien irregeleitet. Columban war zwar ein Heiliger, doch er stritt sich mit vielen seiner Anhänger. Noch bevor Columban über die Alpen nach Bobbio kam, hatte sich der heilige Gallus von ihm getrennt und ein eigenes Kloster gegründet. Ich schloß mich denen an, die gesehen hatten, wie die religiösen Gemeinschaften in den westlichen Kirchen geführt wurden, und dadurch zu der Auffassung gelangt waren, wir sollten die irische Regel aufgeben und die Regel des heiligen Benedikt von Nursia annehmen.«

»Also hast du es aus Überzeugung getan?«

»Natürlich.«

»Dann gingst du weiter nach Rom?«

»Der Abt von Bobbio bat mich, nach Rom zu gehen, um ein Nebenkloster zu unterstützen, das wir dort als Gästehaus für Pilger unterhielten.«

»Das klingt so, als wärst du nicht gern gegangen?«

»Zuerst nicht. Für den Abt war es ein Mittel, sich der Gegner seiner Leitung zu entledigen. Er war gegen die Regel des heiligen Benedikt.«

»Aber du gingst?«

»Ja. In persönlicher Hinsicht war es eine glückliche Zeit für mich. Ich führte das Gästehaus nach der Regel des heiligen Benedikt, und ich lebte und arbeitete im großen Zentrum der Christenheit. Dort konnte ich die Segnungen der Bußgesetze studieren.«

»Wie wurdest du mit Abt Noe bekannt?«

»Ganz einfach. Auf seiner Pilgerfahrt nach Rom im vorigen Sommer wohnte er in meinem Gästehaus.«

»Vorher kanntest du ihn nicht, und du bist auch nicht mit ihm verwandt?«

»Nein.«

»Trotzdem hat er dich dazu überredet, mit ihm nach Laigin zurückzukehren und Äbtissin von Fearna zu werden?«

»Er sprach von Fearna«, sagte die Äbtissin selbstzufrieden. »Ich habe ihn dazu überredet, mich mitzunehmen.«

»Wie kam es dazu?«

»Ich vermute, er schätzte die Art, wie ich mein Haus in Rom leitete.« Die Äbtissin wurde wieder vorsichtig.

»Er kannte deine Ansicht von den Bußgesetzen?«

»Wir redeten bis tief in die Nacht hinein über solche Dinge. Bei aller Bescheidenheit, ich habe ihn zu meiner Meinung bekehrt.«

»Wirklich? Du mußt es hervorragend verstehen, andere zu überzeugen«, bemerkte Fidelma.

»Das ist nicht so erstaunlich. Abt Noe ist ein sehr fortschrittlicher Mensch. Er teilte meine Vorstellung von einem Königreich, das nach den Bußgesetzen regiert wird, und wir sprachen davon, daß er der geistliche Berater des jungen Fianamail werden könnte. Als Berater und Beichtvater hätte er großen Einfluß in solchen Fragen.«

»So entwickelte Abt Noe plötzlich diesen Ehrgeiz. Wie kam es, daß du seine Nachfolgerin in Fearna wurdest, während doch der Brauch vorschreibt, daß ein Abt oder eine Äbtissin in derselben Weise gewählt werden muß wie ein Fürst oder ein anderer Anführer

- daß der Kandidat aus den fine, also der Familie des Vorgängers, nämlich seiner Gemeinschaft oder seinen Blutsverwandten, auszusuchen und von den derbhfine zu wählen ist?«

Äbtissin Fainder errötete und schwieg.

»Deine Schwester sagt, eure Familie sei nicht verwandt mit Noes Familie oder mit seiner geistlichen Gemeinschaft in Fearna. Auf diese Weise entspricht die kirchliche Organisation der bürgerlichen Organisation des Landes.«

»Je eher das verändert wird, desto besser«, fuhr die Äbtissin auf.

»Darin könnte ich dir sogar zustimmen. Die Ämter von Bischöfen und Äbten sollten nicht über Generationen in derselben Familie verbleiben. Um aber zur Wirklichkeit zurückzukehren - wie hat Noe deine Wahl ins Amt bewerkstelligt?«

Äbtissin Fainder schwieg einen Moment und sagte dann mit gepreßter Stimme: »Er ließ verlauten, ich wäre seine entfernte Kusine, und niemand wagte es, gegen seinen Wunsch zu handeln.«

»Nicht einmal die rechtaire, die Verwalterin der Abtei? Sie muß die Wahrheit gekannt haben. Sie ist mit der Familie des Königs verwandt.«

Die Äbtissin verzog das Gesicht zu einer Miene, die ihre geringe Meinung von Schwester Etromma ausdrückte.

»Sie ist ein einfaches Wesen und damit zufrieden, die Geschäfte der Abtei zu besorgen.«

Fidelma warf der Äbtissin einen langen forschenden Blick zu.

»In Wirklichkeit hast du Noe dadurch bekehrt, daß du seine Geliebte wurdest, nicht wahr?«

Mit dieser scharfen, unerwarteten Frage hatte sie die Äbtissin überrumpelt. Mit ihrem Erröten bestätigte sie Fidelmas Vermutung. Die schüttelte traurig den Kopf.

»Es geht mich nichts an, wie die Mönche und Nonnen in Laigin ihre Gemeinschaften leiten, aber es berührt natürlich den Fall Eadulf. Weiß Forbassach von deinem wirklichen Verhältnis zu Noe?«

»Er weiß es«, flüsterte die Äbtissin.

»Für den Brehon dieses Königreichs scheint der Bischof ein reichliches Maß an Rechtsbeugung hinzunehmen.«

»Mir ist nicht bekannt, daß Bischof Forbassach das Recht bricht oder beugt«, protestierte die Äbtissin.

»Ich meine, das weißt du sehr gut! Forbassach ist ebenfalls dein Geliebter, ist das nicht so?«

Die Äbtissin schwieg unsicher, dann verteidigte sie sich: »Ich glaubte Noe zu lieben, bis ich hierherkam und Forbassach kennenlernte. Das Zölibat ist ja auch nicht von der Kirche vorgeschrieben.«

»Das stimmt, abgesehen von der Regel, die du befolgst. Eure merkwürdige Dreierb eziehung müßt ihr mit eurem eigenen Gewissen abmachen und mit For-bassachs Ehefrau. Ich weiß, daß er verheiratet ist. Sie muß sich überlegen, ob dieses Verhältnis ein Scheidungsgrund ist oder ob sie sich stillschweigend mit der Situation abfinden will. Weiß Noe von Forbas-sach?«

»Nein!« Äbtissin Fainder war puterrot vor Beschämung. »Ich habe versucht, mit ihm zu brechen, aber ...«

»Das ist schwierig, nachdem er dich zur Äbtissin gemacht hat?« ergänzte Fidelma spöttisch.

»Ich liebe Forbassach.« Das klang fast trotzig.

»Aber es wird einen hübschen Skandal geben, besonders bei denen, die die Sache Roms und der Bußgesetze verfechten. Nur des Interesses halber, warum hast du dich geweigert, Daig als deinen Schwager und Deog als deine Schwester anzuerkennen? Ich kann nicht glauben, daß es zum Schutz deiner sozialen Stellung geschah.«

»Ich habe Deog regelmäßig besucht«, widersprach Fainder.

»Gewiß, aber heimlich und weil ihre Hütte ein abgelegener Ort ist, an dem du dich mit Forbassach treffen kannst.«

»Du hast deine Frage bereits selbst beantwortet. Du verstehst das nicht, weil du schon immer einen hohen sozialen Rang hattest. Wenn man den nicht hat und ihn endlich erlangt, dann tut man alles - wirklich alles -, um sich das zu erhalten, was man erreicht hat.«

Fidelma spürte die Heftigkeit in ihrer Stimme.

»Alles?« überlegte sie. »Mir fällt ein, daß Daigs Tod dir zum Schutz deiner Stellung recht gelegen kam.«

»Es war ein Unfall. Er ertrank.«

»Ich nehme an, du weißt, daß er allein auf Gabrans Wort hin gegen Bruder Ibar ausgesagt hat? Je länger er über den Fall nachdachte, desto weniger glaubte er an Ibars Schuld.«

Dieser plötzliche Themenwechsel Fidelmas verwirrte Äbtissin Fainder.

»Das stimmt nicht. Es war Daig, der Bruder Ibar festnahm.«

»Aber erst, nachdem Gabran gegenüber Daig behauptet hatte, daß Ibar schuldig sei. Hat Gabran Daig wirklich die Wahrheit gesagt? Und warum kam Daig, nachdem er seine Aussage gemacht hatte, so plötzlich zu Tode?«

Fainders Gesicht verzog sich jetzt vor Zorn.

»Es war ein Unfall. Er ertrank - das habe ich dir doch schon erklärt. Außerdem hat das alles nichts mit mir zu tun.«

»Vielleicht hätte Daig mehr Licht in die Sache bringen können. Wir wissen es nicht. Und nun ist wieder jemand tot, der uns mehr darüber hätte sagen können.« Sie wies auf Gabrans Kajüte.

Äbtissin Fainder stand auf und trat Fidelma gegenüber. Anscheinend versuchte sie etwas von ihrem früheren Hochmut zurückzugewinnen.

»Ich weiß nicht, was du damit meinst oder andeuten willst«, sagte sie kühl. »Ich weiß nur, daß du versuchst, deinen angelsächsischen Freund zu entlasten. Du willst mich beschuldigen und Bischof Forbassach mit hineinziehen, weil wir uns lieben.«

»Mir scheint«, unterbrach sie Fidelma gelassen, »daß bei allem, was in Fearna passiert, Leute die Gewohnheit haben, getötet zu werden oder zu verschwinden. Darüber würde ich an deiner Stelle mal nachdenken, wenn du so unschuldig bist, wie du behauptest.«

Äbtissin Fainder starrte Fidelma aus großen dunklen Augen an. Sie war blaß geworden. Sie trat einen Schritt vor und öffnete den Mund, doch da gellte ein schriller Schreckensschrei aus dem Wald am Ufer.

Einen Moment standen die Äbtissin und Fidelma wie erstarrt vor Überraschung. Der Schrei einer hohen weiblichen Stimme wiederholte sich.

Fidelma wandte sich zum Ufer um und sah eine kleine Gestalt aus dem Wald herausrennen, anscheinend blindlings, denn sie stürmte ans Ufer und hielt plötzlich an, als ihr der Fluß den Weg versperrte. Dann warf sie sich herum wie eine Schnepfe, schlug Haken, duckte sich und lief fort, so schnell sie konnte.

»Enda! Rasch!« rief Fidelma und rannte zum Ufer.

Sie hatte gesehen, daß es ein schmächtiges, zerlumptes, barfüßiges Mädchen war.

Enda hatte nicht weit von der Stelle gestanden, an der das Mädchen aus den Büschen herausgekommen war; er sauste los und holte es mühelos ein. Er packte es an einem seiner dünnen Arme und drehte es herum. Es schluchzte, weinte und schlug kraftlos mit der freien Hand auf ihn ein.

Fidelma war schon auf den Holzkai gesprungen und kam Enda zu Hilfe.

Als sie neben ihm stand, hörte sie, wie Pferde durch die Bäume und Büsche auf den Uferweg stürmten. Sie drehte sich um und schaute in die überraschten Gesichter von Bischof Forbassach und Krieger Mel, die ihre schnaubenden Rösser parierten.

Sie blickte wieder zu der zerlumpten Gestalt vor ihr.

»Sie sind hinter mir her! Laßt sie mich nicht umbringen! Ach, bitte, laßt sie mich nicht umbringen!« kreischte das Mädchen. Es war kaum mehr als dreizehn Jahre alt.

»Dann schlag nicht um dich«, versuchte Fidelma es zu beruhigen. »Wir tun dir nichts.«

»Sie bringen mich um!« schluchzte das Mädchen. »Sie wollen mich umbringen!«

Fidelma merkte, daß Äbtissin Fainder herbeigekommen war und hinter ihr stand.

Entsetzt stammelte die Äbtissin: »Das ist ja Schwester Fial. Wir haben dich schon gesucht, Schwester.«

Fidelma fiel das zerzauste Aussehen des Mädchens auf.

»Dein Kleid ist ganz naß«, meinte sie. »Bist du im Fluß geschwommen?«

Eadulf und seine beiden Schützlinge hatten lange Zeit gebraucht, bis sie die Berge überquert hatten, obgleich die Bezeichnung Berge etwas übertrieben war, denn sie erhoben sich kaum über vierhundert Meter. Die Schwierigkeit lag nicht in der Höhe, sondern in dem kahlen, felsigen Boden und darin, daß die Mädchen von ihren Strapazen erschöpft waren. Auch Eadulf selbst war nach wochenlanger Haft in der Zelle und trotz seiner Versuche, sich fit zu halten, nicht in bester körperlicher Verfassung. Beim Anstieg mußten sie häufig eine Ruhepause einlegen.

Sie hatten sich nach Norden gewandt, zum nordöstlichen Ende der Bergkette, und danach den Weg nach Südwesten eingeschlagen. In der Ferne konnte Eadulf den hohen Schatten des Gelben Berges erkennen, und das bestärkte ihn in der Ansicht, ihre größte Hoffnung, die Nacht einigermaßen geborgen und ohne Gefahr der Unterkühlung zuzubringen, bestünde darin, Dalbachs Rat zu folgen und in der kleinen Ordensniederlassung der heiligen Brigitta von Kildare am Südhang Schutz zu suchen. Doch der Nachmittag verging schnell. Es war noch ein weiter Weg, den sie bis zum Einbruch der Nacht zurückzulegen hatten.

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