Kapitel 16

»Komm her. Ich warte schon auf dich!« wiederholte der Mann, sprang von dem Felsen herab und kam auf Eadulf zu.

Erschrocken blieb Eadulf wie angewurzelt stehen und musterte den Mann, der auf einem Felsen oberhalb des Weges vor ihm gestanden hatte. Er war in grobe ländliche Tracht gekleidet. Seine gebräunte, wettergegerbte Haut kündete von einem Leben an freier Luft. Er hatte ein schweres Lederwams über seine dicke wollene Jacke gezogen, und seine derben Stiefel waren von der Art, wie Bauern sie trugen.

Eadulf wußte nicht, ob er fliehen oder sich stellen und zur Verteidigung bereitmachen sollte. Weiter hinten auf dem Weg sah er einen Karren mit einem schon angeschirrten Pferd davor und erkannte, daß Flucht zwecklos war. Er spannte die Muskeln zum Kampf an.

Der Mann blieb stehen und starrte ihn verärgert an.

»Wo ist Gabran? Ich dachte, diesmal käme er selber?«

»Gabran?« Eadulf sah sich unsicher um. »Er ist zurückgegangen zu seinem Schiff«, erklärte er wahrheitsgemäß. Das hatte er schließlich den Flußschiffer zu Dalbach sagen hören.

»Zurück zum Fluß?« Der Mann vor ihm spuckte neben den Weg. »Und hat es dir wohl überlassen, hier raufzukommen und die Ware abzuholen?«

»Er hat es mir überlassen, hier raufzukommen«, wiederholte Eadulf und blieb damit weiter bei der Wahrheit.

»Ich stehe schon seit zwei Stunden hier rum. Es ist kalt, und ich wußte nicht mehr, ob er mich hier bei Darach Carraig oder bei Dalbachs Hütte treffen wollte. Na, jedenfalls bist du jetzt hier.«

»Gabran hat mir nicht gesagt, daß ich früher hier sein sollte.« Eadulf faßte plötzlich Mut, denn das mußte wohl der Mann mit der Ware sein, den Gabran suchte, als er vorhin zu Dalbachs Hütte gekommen war. Anscheinend hatte der Mann die fast gleichen Namen Darach und Dalbach durcheinandergebracht.

»Sieht ihm ähnlich, anderen Leuten die Arbeit zu überlassen«, knurrte der Mann. Dann runzelte er die Stirn. »Du bist Ausländer, nicht wahr?«

Eadulf spannte sich leicht.

»Angelsachse, das höre ich an deinem Akzent«, fuhr der Mann mißtrauisch fort. Dann zuckte er die Achseln. »Na, kann mir egal sein. Ich nehme an, du bringst die Ware den ganzen Weg von hier bis ins Land der Angelsachsen, was?«

Eadulf beschränkte sich auf ein paar unverständliche Laute.

»Na«, redete der Mann weiter, »es ist kalt und spät, und ich will mich nicht länger hier rumtreiben als unbedingt nötig. Diesmal sind’s bloß zwei. Ich glaube, in Zukunft muß ich mich weiter weg umtun. Du hast wohl deinen Karren unten am Berg gelassen? Hat dir Gabran nicht gesagt, daß der Weg bis hier oben rauf befahrbar ist? Na, es geht auch so, weil’s bloß zwei sind. Ich treffe Gabran in Cam Eolaing, wenn er von der Küste zurückkommt, aber wenn du ihn siehst, dann sag ihm, es wird schwierig. Bezahlen kann er mich, wenn er zurück ist. Doch der Preis wird höher.«

Eadulf nickte wie zur Zustimmung. Weiter blieb ihm nichts übrig bei diesem absurden, verwirrenden Gespräch.

»Bist in Ordnung. Sie sind in der Höhle wie immer. Gabran hat dir erklärt, wo sie ist?«

Eadulf zögerte und schüttelte den Kopf. »Nicht genau«, sagte er.

Der Mann stöhnte ungeduldig, drehte sich um und zeigte ihm die Richtung. »Diesen Weg zweihundert Meter weiter, Freund. Rechts oben am Berg siehst du die kleine Felswand, die Granitklippe. Die Öffnung der Höhle kannst du nicht verfehlen. Da drin ist die Ware.«

Der Mann blickte zum Himmel auf und zog den Kragen fester zu. »Bald wird’s regnen, vielleicht mit Graupel bei dieser Kälte. Ich muß los. Vergiß nicht, Gabran zu berichten, was ich dir gesagt habe. Es wird schwierig.«

Er ging zu seinem Karren und kletterte rasch auf den Sitz. Er zog an den Leinen und lenkte das Gefährt auf einen schmalen, fast nicht erkennbaren Weg, der nach Osten über die welligen Berge abzweigte.

Verwirrt schaute Eadulf ihm nach.

Der Mann hatte ihn offensichtlich für einen von Gabrans Leuten gehalten. Er fragte sich, was für eine Ware der wohl in dieser gottverlassenen Gegend abholen sollte. Darach Carraig - der Eichenfelsen. Ein merkwürdiger Name. Er blickte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Gabran hatte gesagt, er werde jemanden schicken, der die Ware suchen sollte. Vielleicht war der dicht hinter ihm? Er sollte sich lieber rasch fortmachen, damit man ihn nicht einholte.

Eilig marschierte er auf dem Weg weiter. Er mußte wohl im Geiste zweihundert Meter abgezählt haben, denn er blieb stehen und schaute nach rechts auf den Berg. Nicht viel höher sah er Felsbrocken verstreut am Hang liegen, und dort war die Seite des Berges ausgehöhlt und bildete eine kleine Granitklippe. Er zögerte und spürte eine unüberwindliche Neugier. Er könnte doch wenigstens nachsehen, was für eine eigenartige Ware Gabran erwartete und warum sie in einer einsamen Höhle in einer noch einsameren Gegend des Landes hinterlegt wurde. Er schaute sich um. In der öden, sich verfinsternden Landschaft war niemand zu sehen.

Eadulf kletterte empor zu den Felsen, und hinter dem größten Granitbrocken entdeckte er ein klippenähnliches Stück schwarzen Felsen, das so unnatürlich aussah, als sei es von Menschenhand geformt worden.

Als er ihm näher kam, erkannte er den dunklen Eingang zu einer Höhle mit einer ebenen Felsplatte davor.

Dort verharrte Eadulf einen Moment, um Atem zu schöpfen nach dem kurzen, aber steilen Aufstieg, bevor er den nächsten Schritt tat. Die Höhle lag im Halbdunkel. Er spähte in den finsteren Hintergrund und wartete, bis sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten.

Ein plötzliches und ungewöhnliches Scharren ließ ihn zurückprallen in dem Glauben, ein Tier halte sich darin verborgen. Dann sah er, woher es kam, und vor Erstaunen blieb ihm der Mund offen.

Am hinteren Ende der Höhle saßen zwei menschliche Gestalten auf dem Boden, den Rücken an die Felswand gelehnt. An ihrer Haltung erkannte er, daß sie an Händen und Füßen gefesselt waren, und bei näherem Hinsehen merkte er, daß sie auch geknebelt waren. Es waren schmächtige Gestalten, so viel konnte er in der Dunkelheit feststellen, mehr aber nicht.

»Wer ihr auch seid«, rief er ihnen laut zu, »ich will euch nichts tun.«

Er ging auf sie zu.

Sofort erhob sich ein ersticktes, jammervolles Stöhnen, und die ihm zunächst sitzende Gestalt schien sich von ihm wegzukrümmen, wenn sie sich auch wegen der Fesseln nur wenig bewegen konnte.

»Ich will euch nichts tun«, wiederholte Eadulf. »Ich muß euch aber ans Licht bringen, damit ich euch sehen kann.«

Er kümmerte sich nicht um die tierartigen Laute, die seine Bewegungen begleiteten, beugte sich nieder und hob die nächste, sich windende, gefesselte Gestalt an. Halb trug, halb schleifte er sie zum Höhleneingang.

Zwei große, angstvolle Augen starrten ihn über dem schmutzigen Lappen an, der als Knebel diente.

Entsetzt trat Eadulf einen Schritt zurück.

Es war das Gesicht eines Mädchens von nicht mehr als zwölf oder dreizehn Jahren, das ihm voller Furcht entgegenschaute.

»Nun, Äbtissin Fainder«, sagte Fidelma langsam, während sie das Blutbad vor sich betrachtete, »ich glaube, du hast eine Menge zu erklären.«

Äbtissin Fainder erwiderte ihren Blick beinahe verständnislos. Dann schaute sie hinab auf den Leichnam Gabrans neben sich und auf das Messer in ihrer Hand. Mit einem seltsamen, tierartigen Stöhnen ließ sie das Messer fallen und sprang auf. Ihr Blick flackerte wild.

»Er ist tot«, sagte sie heiser.

»Das sehe ich«, antwortete Fidelma grimmig. »Warum?«

»Warum?« wiederholte die Äbtissin wie betäubt.

»Warum ist er tot?« drang Fidelma in sie.

Die Äbtissin blinzelte und starrte sie an, als verstünde sie nichts. Es dauerte etwas, bis sie ihre Sinne beisammen hatte.

»Woher soll ich das wissen?« begann sie und brach dann ab. »Du denkst doch nicht, daß ich ...? Ich habe ihn nicht getötet!«

»Bei allem schuldigen Respekt, Äbtissin Fainder«, schaltete sich Dego ein, der Fidelma über die Schulter schaute, »wir sind gerade an Bord gekommen, haben die Kajütentür geöffnet und sehen Gabran tot daliegen. Bei dem vielen Blut ist es klar, daß er erstochen wurde. Du kniest an seinem Kopf. Deine Kleidung ist blutverschmiert, und du hast ein Messer in der Hand. Wie sollen wir diesen Anblick deuten?«

Die Äbtissin schien zu sich zurückzufinden. Sie starrte Dego zornig an.

»Wie kannst du das wagen! Wer bist du, daß du die Äbtissin von Fearna eines gewöhnlichen Mordes beschuldigen willst?«

Als Fidelma die Situation bedachte, verzog sich ihr Mund in bissiger Ironie.

»Kein Mord ist gewöhnlich, Äbtissin, und dieser Mord am wenigsten. Nur ein Narr könnte das Offensichtliche übersehen. Willst du uns tatsächlich erzählen, du hättest nichts damit zu tun?«

Äbtissin Fainders Gesicht wurde bleich.

»Ich habe es nicht getan.« Ihre Stimme brach vor Erregung.

»Das sagst du. Komm heraus aufs Deck, und erkläre es mir.«

Fidelma trat von der Tür beiseite und winkte der Äbtissin, die Kajüte zu verlassen. Fainder ging auf das Deck hinaus und blinzelte ins Tageslicht.

»Es ist niemand weiter an Bord«, berichtete Enda mit etwas boshafter Freude. Er hatte das Schiff flüchtig abgesucht. »Du bist anscheinend allein hier, Mutter Äbtissin.«

Äbtissin Fainder setzte sich plötzlich auf einen Lukendeckel, schlang die Arme um den Leib, beugte sich vor und schaukelte leicht hin und her. Fidelma setzte sich neben sie.

»Das ist eine schlimme Sache«, sagte Fidelma sanft nach einer kurzen Pause. »Je eher wir eine Erklärung bekommen, desto besser.«

Äbtissin Fainder hob das Gesicht und schaute sie verängstigt an.

»Erklärung? Ich habe dir doch gesagt, daß ich es nicht getan habe! Was willst du noch für eine Erklärung?«

Es schwang so viel von ihrem früheren Ton in ihrer Stimme mit, daß Fidelma ungeduldig den Mund verzog.

»Glaub mir, Mutter Äbtissin, eine Erklärung ist notwendig, und es sollte schon eine sein, die mich zufriedenstellt«, erwiderte sie scharf. »Vielleicht erklärst du zuerst einmal, wieso du hier bist.«

Die Miene der Äbtissin veränderte sich schlagartig. Ihre frühere Arroganz brach wieder durch.

»Dein Ton gefällt mir nicht, Schwester. Willst du mich etwa beschuldigen?«

Fidelma blieb unbeeindruckt. »Ich brauche dich nicht zu beschuldigen. Die Umstände sprechen für sich. Aber wenn du mir etwas zu erzählen hast, dann tust du das am besten gleich. Als dalaigh habe ich zu berichten, was ich gesehen habe.«

Äbtissin Fainder starrte sie an, während ihr die Bedeutung dieser Worte aufging. Sie öffnete den Mund, doch für den Augenblick war sie sprachlos.

»Aber ich habe es nicht getan«, sagte sie schließlich. »Du kannst mich nicht beschuldigen. Das kannst du doch nicht!«

»Wie ich mich erinnere, hat Bruder Eadulf so ziemlich dasselbe gesagt«, hielt ihr Fidelma vor, »und trotzdem wurde er auf viel dünnere Beweise hin angeklagt und verurteilt. Und dich finden wir hier tatsächlich über die Leiche gebeugt, ein Messer in der Hand und von Blut besudelt.«

»Aber ich bin doch ...« Die Äbtissin schloß rasch den Mund, als sie begriff, von welchem Dünkel das zeugte, was sie hatte sagen wollen.

»Aber du bist die Äbtissin, während Bruder Eadulf nur ein durchreisender Ausländer war?« schloß Fidelma. »Nun, Äbtissin Fainder? Wir warten auf deine Geschichte.«

Ein Schauer durchlief die Äbtissin. Ihre hochmütige Haltung war dahin, und ihre Schultern erschlafften.

»Bischof Forbassach sagte mir, daß du Gabran beschuldigt hast, er habe dich gestern abend überfallen.«

Fidelma wartete geduldig.

»Bischof Forbassach meinte, in einer solchen Sache würdest du nicht lügen. Also kam ich her, um von Ga-bran eine Erklärung zu verlangen«, fuhr Äbtissin Fainder fort. »Ich konnte deine Geschichte nicht glauben, anders als Forbassach. Gabran hatte ...« Sie zögerte.

»Gabran hatte was?« fragte Fidelma.

»Gabran ist als Kaufmann am Fluß wohlbekannt. Er hat seit vielen Jahren mit der Abtei Handel getrieben, lange bevor ich Äbtissin wurde. Eine solche Beschuldigung macht unserer Abtei Unehre und muß untersucht werden. Ich kam her, um zu hören, was Gabran dazu zu sagen hatte.«

»Du kamst also her in der Hoffnung, daß sich meine Anschuldigung gegen Gabran als falsch erweisen würde? Sprich weiter.«

»Schließlich fand ich die Cag hier vertäut. Es war niemand in der Nähe. Ich ging an Bord und rief nach Gabran. Es kam keine Antwort. Ich glaubte eine Bewegung in der Kajüte zu vernehmen, also ging ich hin und klopfte an. Dann hörte ich etwas Schweres fallen . Jetzt weiß ich, daß es der Körper Gabrans war. Ich rief noch einmal und trat ein. Ich sah das gleiche Bild wie du. Ga-bran war tot und lag auf dem Rücken in der Kajüte. Überall war Blut. Ich dachte zuerst an den Mann und kniete bei ihm nieder. Ihm war nicht mehr zu helfen.«

»Vermutlich erklärst du damit auch, weshalb deine Kleidung blutverschmiert ist?«

»Ja, dadurch wurde meine Kutte blutig.«

»Was weiter?«

»Ich war entsetzt von den Messerstichen, die man ihm beigebracht hatte. Ich sah das Messer .«

»Wo war das Messer?«

»Es lag neben der Leiche. Ich sah es und hob es auf. Ich weiß nicht, warum ich das tat. Es war wohl eine unbewußte Reaktion. Ich kniete einfach da.«

»Und dann kamen wir.«

Zu Fidelmas Überraschung schüttelte Äbtissin Fainder den Kopf.

»Da war noch etwas, bevor ihr kamt.«

»Was war das?«

»In dem Moment schien es mir nicht wichtig, aber jetzt doch.«

»Weiter.«

»Ich hörte ein leises Plätschern.«

Fidelma zog eine Braue hoch. »Ein leises Plätschern? Wofür hieltest du es?«

»Ich meine, es war der Mörder, der das Schiff verließ.« Die Äbtissin erschauerte leicht.

Fidelma sah sie spöttisch an. »Das Schiff liegt an einer Anlegestelle vertäut. Warum sollte jemand das Schiff auf dem Wege über den Fluß verlassen, noch dazu bei diesem eisigen Wetter. Und wenn der Mörder den Schauplatz verlassen wollte, so hätte er mit deinem ganz in der Nähe angebundenen Pferd die beste Fluchtmöglichkeit gehabt. Ist es nicht so?«

Äbtissin Fainder fand auf Fidelmas erbarmungslose Logik nichts zu erwidern.

»Ich bin sicher, daß jemand auf dem Schiff war und sich ins Wasser gleiten ließ«, wiederholte sie hartnäk-kig.

»Das würde sicherlich deine Behauptung, du wärst unschuldig an diesem Verbrechen, unterstützen«, erklärte Fidelma, »doch ich muß sagen, daß es in höchstem Grade unwahrscheinlich ist, daß jemand zur Flucht vom Tatort diesen Weg wählen würde. Sieh nur!«

Sie zeigte auf die Flußseite des Schiffes. Der Fluß strömte schnell an dieser Stelle und war über zehn Meter breit.

»Wer das versuchen wollte, müßte schon ein guter Schwimmer sein. Kein vernünftiger Mensch würde diesen Weg einschlagen, wenn er nichts weiter zu tun brauchte, als auf der anderen Seite des Schiffes ans Ufer zu steigen.«

Fidelma kam plötzlich ein Gedanke.

»Wie konnte Gabran überhaupt das Schiff gegen eine solch starke Strömung hier heraufbringen?«

»Das ist ganz leicht«, erklärte Enda. »Als ich mich auf dem Schiff umsah, entdeckte ich die Befestigungen für die Zugleinen. Es ist üblich, Lady, Flußschiffe von ein paar Eseln flußaufwärts ziehen zu lassen, wo die Strömung zu stark ist. Sonst wird gestakt. So macht man das immer.«

Fidelma stand auf und schaute sich um. Enda hatte offensichtlich recht, aber trotzdem stimmte etwas nicht.

»Und wo sind die Zugtiere jetzt? Wer hat sie hergebracht und dann weggeführt? Wo ist überhaupt Gabrans Mannschaft?«

Sie setzte sich wieder auf den Lukendeckel und schloß kurz die Augen zum Nachdenken. Sie hatte das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Sie fragte sich, warum die Mannschaft Gabran allein gelassen und die Tiere fortgeschafft hatte, die das Schiff hierhergezogen hatten. Äbtissin Fainders Geschichte, wonach sie zufällig aufs Schiff gekommen und dann Gabran just im Moment seiner Ermordung angetroffen hatte, schien so weit hergeholt; ebensoweit hergeholt wie die Vorstellung, der Mörder sei entkommen, indem er in den schnell strömenden Fluß sprang. Es war Unsinn.

Andererseits hörte sich Eadulfs Geschichte vielleicht ebenso unsinnig an angesichts der Aussage dieses Mädchens Fial, das behauptete, den Tod seiner Freundin mit angesehen zu haben. Fidelma atmete tief aus.

»Nun, hier können wir im Augenblick nicht viel tun«, sagte sie und stand auf. »Dego, du reitest zurück nach Cam Eolaing und suchst Coba auf, wenn er da ist. Er sagte, er wolle zurück zu seiner Burg, und er ist der bo-aire dieses Gebiets. Er muß von dieser Sache unterrichtet werden. Wenn du ihn nicht in Cam Eo-laing antriffst, reite weiter nach Fearna, und hole Bischof Forbassach her.«

Äbtissin Fainder war in Sorge.

»Was hast du vor?« Sie versuchte forsch zu wirken, aber ihre Stimme zitterte.

»Ich habe vor, das Gesetz zu befolgen«, erwiderte Fidelma mit grimmigem Humor. »Es wird wohl an dem Brehon dieses Landes sein, darüber zu entscheiden, ob es das Bußgesetz sein soll, das du so magst, oder ob du nach unserem einheimischen Gesetz für schuldig befunden und bestraft wirst.«

Äbtissin Fainders Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Aber ich habe es doch nicht getan.«

»Das sagst du, Mutter Äbtissin«, entgegnete Fidelma mit berechtigter Bosheit. »Genauso, wie Bruder Eadulf sagte, er habe das nicht getan, was man ihm vorwarf!«

Eadulf nahm dem Mädchen, das er zum Eingang der Höhle getragen hatte, den Knebel ab. Die Kleine starrte ihn immer noch mit großen, runden dunklen Augen an, in denen sich ihre Furcht spiegelte. Trotz der eng angezogenen Fesseln zitterte sie spürbar.

»Wer bist du?« fragte Eadulf.

»Tu mir nicht weh!« wimmerte sie als Antwort. »Bitte tu mir nichts.«

Eadulf bemühte sich, ermunternd zu lächeln. »Ich habe nicht die Absicht, dir etwas zu tun. Wer hat dich hier in diesem Zustand zurückgelassen?«

Es dauerte einige Zeit, bis sie ihre Furcht überwunden hatte.

»Bist du einer von ihnen?« flüsterte sie.

»Ich weiß nicht, wer >sie< sind«, antwortete Eadulf, und dann fiel ihm die zweite gefesselte Gestalt in der Höhle ein, und er holte sie ebenfalls heraus. Auch sie war knapp dreizehn, ein halb verhungertes, ungepflegtes kleines Mädchen. Er nahm ihr den Knebel ab, und sie holte mit gierigen Atemzügen Luft.

»Du bist ein Angelsachse, also mußt du auch einer von ihnen sein«, rief das erste Mädchen angstvoll. »Bitte tu uns nichts.«

Eadulf hockte sich vor ihnen hin und schüttelte den Kopf. Er blieb ebenfalls vorsichtig, denn er hatte es sich zur Regel gemacht, niemandem die Fesseln abzunehmen, ehe er nicht wußte, weshalb man denjenigen gebunden hatte. Er hatte erlebt, wie ein junger Bruder von einer wahnsinnigen Frau getötet wurde, als er ihre Fesseln löste in der Annahme, er befreie sie von einem Peiniger.

»Ich habe keineswegs die Absicht, euch etwas zu tun. Aber sagt mir zuerst, wer ihr seid, warum ihr gefesselt seid und wer euch gefesselt hat.«

Die beiden Mädchen wechselten unsichere Blicke.

»Das mußt du doch wissen, wenn du einer von ihnen bist«, erwiderte das erste Mädchen trotzig.

Eadulf blieb geduldig. »Ich bin hier fremd. Ich weiß weder, wer ihr seid, noch, wer >sie< sind.«

»Aber du wußtest doch so viel, daß du die Höhle und uns darin gefunden hast«, widersprach ihm das zweite Mädchen, das anscheinend schneller denken konnte als seine Gefährtin. »Niemand hätte die Höhle nur zufällig entdeckt. Du mußt doch einer von ihnen sein.«

»Sollte ich jemand sein, der euch etwas tun will, dann habt ihr nichts zu verlieren, wenn ihr meine Fragen beantwortet«, erklärte ihnen Eadulf. Das jüngere Mädchen begann zu schluchzen. »Sollte ich aber«, setzte er schärfer hinzu, »einfach ein Fremder sein, der zufällig vorbeikam, dann könnte ich euch vielleicht aus eurer Not helfen, wenn ihr mir sagt, weshalb man euch an Händen und Füßen gebunden und in dieser Höhle zurückgelassen hat.«

Es dauerte noch etwas, bis die ältere der beiden zu einem Entschluß kam.

»Das wissen wir nicht«, meinte sie nach einigem Nachdenken.

Eadulf zog ungläubig die Brauen hoch.

»Es ist die Wahrheit, was ich dir sage«, beharrte das Mädchen. »Gestern holte uns ein Mann aus unseren Häusern ab. Er brachte uns hierher, fesselte uns und ging weg. Er sagte, es würde jemand kommen und uns auf eine lange Reise mitnehmen, und wir würden unsere Heimat nie wiedersehen.«

Eadulf sah die Kleine scharf an und versuchte zu ergründen, ob sie wirklich die Wahrheit sagte. Ihre Stimme war leise und tonlos.

»Wer war dieser Mann?« forschte er.

»Ein Fremder wie du.«

»Aber kein Ausländer«, fügte das zweite Mädchen hinzu.

»Ich glaube, das müßt ihr mir genauer erklären. Wer seid ihr, und woher stammt ihr?«

Die Mädchen schienen jetzt weniger furchtsam, nachdem er ihnen die erste Angst vor Mißhandlung genommen hatte.

»Ich heiße Muirecht«, sagte die ältere. »Ich stamme aus den Bergen im Norden von hier, mehr als einen Tagesritt weit.«

Eadulf wandte sich an die jüngere. »Und wie heißt du?«

»Mein Name ist Conna.«

»Stammst du aus demselben Ort wie Muirecht?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Nein«, schaltete sich Muirecht ein und nahm ihr die Antwort ab. »Ich hab sie nie gesehen, bis wir als Gefangene zusammenkamen. Unsere Namen haben wir uns erst jetzt genannt.«

»Wie geschah das? Warum wurdet ihr gefangen?«

Die Mädchen wechselten wieder Blicke und schienen sich wortlos zu einigen, daß Muirecht für beide sprechen sollte.

»Gestern früh, lange vor dem Morgengrauen, hat mich mein Vater geweckt ...«

»Und wer ist dein Vater?« fragte Eadulf dazwischen.

»Ein armer Mann. Er ist ein fudir, aber ein saer-fudir«, setzte sie rasch und stolz hinzu.

Eadulf wußte, daß die fudir die unterste Klasse der irischen Gesellschaft bildeten, nur wenig höherstehend als die Sklaven der angelsächsischen Gesellschaft. Sie setzten sich nicht aus Angehörigen der Clans zusammen, sondern waren gewöhnlich Flüchtlinge, Kriegsgefangene, Geiseln oder Verbrecher, denen die bürgerlichen Rechte zur Strafe aberkannt worden waren. Die fudirs teilten sich in zwei Unterklassen, die daer-fudir oder Unfreien und die saer-fudir, die zwar auch nicht ganz frei waren, aber nicht in der Leibeigenschaft standen wie die untere Schicht. Die saer-fudir waren gemeinhin keine Verbrecher und konnten deshalb bestimmte Rechte in der Gesellschaft zurückerlangen. Sie konnten Land bebauen, das ihnen von ihrem Lord oder König zugeteilt wurde, und in seltenen Fällen konnten sie aus der »unfreien« Klasse in die der ceile aufsteigen, der freien Clan-Mitglieder, und sogar den Rang eines bo-aire erlangen, eines landlosen Fürsten und Friedensrichters.

Eadulf gab den Mädchen zu verstehen, daß er sich in diesen Sachen auskannte.

»Mein Vater hat nur wenig Land«, fuhr Muirecht fort, »aber trotzdem verlangt der Gebietsherr das bia-tad, die Naturalabgabe. Zweimal im Jahr muß mein Vater seine Anleihe aus dem Gemeindevorrat zurückzahlen.«

Eadulf kannte diesen Brauch. Sowohl freie als auch unfreie fudir konnten Kühe, Schweine, Korn, Schinken, Butter und Honig aus dem gemeinsamen Vorrat des Clans ausleihen, unter der Voraussetzung, daß sie ein Drittel des Wertes alles dessen, was sie geliehen hatten, sieben Jahre lang jährlich zurückzahlten. Am Ende dieser Frist wurde das Vieh ohne weitere Zahlungen ihr Eigentum. Die freien fudir hatten außerdem dem Fürsten gegebenenfalls Kriegsdienst zu leisten oder in Friedenszeiten eine festgelegte Zahl von Tagen auf dem Land des Fürsten zu arbeiten. Eadulf kam aus einer Gesellschaft, in der offene Sklaverei normal war, und hatte das Recht einer unfreien Klasse, solche Anleihen aufnehmen und sich die Freiheit erarbeiten zu können, stets als ein merkwürdiges Prinzip betrachtet. Ihm war bewußt, daß ein Mann mit schlechtem Land und von geringer Tüchtigkeit durch eine solche Anleihe unter Umständen in noch tiefere Armut geraten konnte, statt sich aus ihr herauszuarbeiten.

»Sprich weiter«, sagte er. »Gestern weckte dich dein Vater in aller Frühe. Was geschah dann?«

Muirecht schluchzte bitterlich bei der Erinnerung.

»Er hatte gerötete Augen. Er hatte geweint. Er sagte mir, ich solle mich anziehen und mich auf eine lange Reise vorbereiten. Ich fragte, was für eine Reise. Er wollte nicht darauf antworten. Ich vertraute meinem Vater. Er führte mich aus der Hütte. Von meiner Mutter und meinem jüngeren Bruder war nichts zu sehen, sie kamen nicht zum Abschied. Draußen wartete ein Mann mit einem Karren.«

Sie zögerte und rief sich die Szene in die Erinnerung zurück.

Eadulf wartete geduldig.

»Mit mir passierte dasselbe«, murmelte Conna, das zweite Mädchen. »Mein Vater ist ein daer-fudir. Ich habe keine Mutter mehr, sie starb vor drei Monaten. Ich mußte für meinen Vater kochen und saubermachen.«

Muirecht verzog das Gesicht, und das jüngere Mädchen verstummte.

»Draußen vor der Hütte hielt mein Vater ...«, begann Muirecht und brach erneut in Tränen aus. »Er hielt mir die Arme fest, und der andere Mann fesselte und knebelte mich und warf mich auf seinen Karren. Durch einen Spalt sah ich, wie mein Vater einen kleinen Beutel mit klingendem Metall erhielt. Er drückte ihn an die Brust und lief in die Hütte zurück. Dann kletterte der Mann auf seinen Karren, warf Reisig auf mich und fuhr los.«

Plötzlich begann sie laut und lange zu schluchzen. Eadulf wußte nicht, wie er sie trösten sollte.

»Bei mir war es dasselbe«, ergänzte das kleinere Mädchen. »Ich wurde auf den Karren geladen und fand dieses Mädchen schon vor. Wir konnten nicht miteinander sprechen, denn wir waren ja gefesselt und geknebelt. Und seit gestern morgen haben wir nichts zu essen und zu trinken bekommen.«

Eadulf starrte sie fassungslos an, er vermochte das Schreckliche ihrer Erzählungen kaum zu begreifen.

»Wollt ihr mir damit sagen, daß eure beiden Väter euch tatsächlich an den Mann mit dem Karren verkauft haben?«

Muirecht konnte ihr Schluchzen nun unterdrücken und nickte trübe.

»Was sollen wir sonst glauben? Ich habe schon von armen Familien erzählen hören, die ihre Kinder verkaufen und sie in andere Länder bringen lassen in die . « Sie rang nach Worten.

»In die Sklaverei«, murmelte Eadulf traurig. Er wußte, daß das in vielen Ländern passierte. Jetzt wurde ihm klar, welchen Handel Gabran den Fluß entlang trieb. Er kaufte junge Mädchen von ihren Familien und brachte sie den Fluß hinunter nach Loch Garman an der Küste, wo sie als Sklavinnen in die angelsächsischen Königreiche oder ins Land der Franken verkauft wurden. Arme Leute verbesserten ihre bedrängte Lage oft dadurch, daß sie eine ihrer Töchter verkauften. Er selbst hatte einen solchen Handel beim Volk der fünf Königreiche von Eireann noch nicht erlebt, weil das Rechtssystem so angelegt war, daß es jeden Menschen vor äußerster Armut schützte, und weil die Vorstellung, daß ein Mensch einen anderen in völliger Knechtschaft hielt, nicht bekannt war. Die Enthüllungen der beiden Mädchen waren um so schok-kierender für Eadulf.

Eine Krähe, die kreischend von einem hohen Baum aufflog, ließ Eadulf zusammenfahren und aufblicken.

Ihm fiel ein, daß einer von Gabrans Leuten in die Berge kommen sollte, um die Mädchen abzuholen.

»Wir müssen diesen Ort verlassen, bevor die schlechten Leute kommen und euch holen«, sagte er, beugte sich nieder und schnitt mit seinem Messer die Fesseln der Mädchen an Händen und Füßen durch. »Wir sollten uns gleich aufmachen.«

Muirecht rieb ihre Handgelenke und Knöchel.

»Wir brauchen noch etwas Zeit«, wandte sie ein. »Meine Hände und Füße sind ganz taub.«

Conna folgte ihrem Beispiel, um den Kreislauf wieder in Gang zu bringen.

»Aber wir müssen uns beeilen«, mahnte Eadulf. Ihm war die Gefahr bewußt geworden, in der sie alle schwebten.

»Wohin denn?« protestierte Muirecht. »Zu unseren Vätern können wir nicht zurück ... nicht nach dem, was passiert ist.«

»Nein«, gab Eadulf zu und half ihnen auf. Sie stampften mit den Füßen, um das Blut in Bewegung zu bringen. Eadulf überlegte angestrengt. Nach Fearna konnte er die beiden Mädchen kaum mitnehmen. Dann erinnerte er sich plötzlich daran, was Dalbach ihm über die Gemeinschaft auf dem Gelben Berg erzählt hatte. »Kennt eine von euch diese Gegend hier?« fragte er die Mädchen.

Beide schüttelten den Kopf.

»So weit im Süden war ich noch nie«, erklärte Mui-recht.

»Es gibt einen Berg, der heißt Gelber Berg«, sagte Eadulf. »Er liegt westlich von hier, oberhalb von Fearna. Ich habe gehört, auf ihm steht eine Kirche, die der heiligen Brigitta geweiht ist. Dort könnt ihr Zuflucht finden, bis entschieden wird, was das beste für euch ist. Seid ihr bereit, mich dahin zu begleiten?«

Die beiden wechselten wieder einen Blick. Muirecht zuckte fast gleichgültig die Achseln.

»Was sollen wir sonst machen. Wir gehen mit dir. Wie heißt du, Fremder?«

»Mein Name ist Eadulf. Bruder Eadulf.«

»Dann hatte ich recht. Du bist doch ein Ausländer«, triumphierte Muirecht.

Eadulf lächelte wehmütig. »Ein Reisender auf dem Wege durch dieses Königreich«, meinte er mit trockenem Humor.

Als eine Schar Krähen in dem Tal unter ihnen ein mißtönendes Konzert anstimmte, blickte Eadulf besorgt hinunter. Etwas störte die Vögel, etwas oder jemand. Es wäre nicht gut, länger zu verweilen.

»Ich glaube, der Mann, auf den euer Gefangenenwärter wartete, nähert sich. Wir müssen so schnell fort, wie wir können.«

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