Kapitel 20

Die große Halle des Königs von Laigin war bis auf den letzten Platz gefüllt. Den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bildete Barran, der in seiner reichen Amtskleidung dasaß und dessen prunkvoller Amtsstab ihm nicht nur nach dem Gesetz die höchste Autorität verlieh, sondern auch als dem persönlichen Vertreter des Großkönigs. Neben ihm lüm-melte sich Fianamail in seinem Amtssessel. Er wirkte eher wie ein übelgelaunter Jüngling denn wie ein König. Im Vergleich zu Barran verdiente er kaum Beachtung, denn Barran beherrschte die Halle allein durch seine natürliche Haltung und Persönlichkeit.

An den Seiten der Halle saßen mehrere Schreiber, eifrig über ihre Tontäfelchen gebeugt, auf denen sie sich Notizen machen würden, bevor sie das endgültige Protokoll der Verhandlung auf Pergament übertrugen. Angehende wie ausgebildete Brehons waren vertreten, denen es darauf ankam, etwas von der Weisheit des Oberrichters zu lernen. Als es in der Stadt bekannt wurde, daß Barran die Verhandlung leiten werde, hatte sich jeder nach Möglichkeit in die Halle gedrängt, um ein so wichtiges Urteil zu hören.

An der rechten Seite der Halle hatte sich Bischof Forbassach niedergelassen; er hatte Abt Noe, Äbtissin Fainder, Schwester Etromma und mehrere andere wichtige Mitglieder der Abtei neben sich, darunter Bruder Cett und den Arzt, Bruder Miach.

Ihnen gegenüber, an der linken Seite der Halle, war der Platz für Schwester Fidelma und Eadulf. Hinter ihnen saßen ihre getreuen Gefährten Dego, Enda und Aidan.

Mel und seine Krieger waren anscheinend für die Sicherheit in der Königshalle verantwortlich, doch Fidelma fiel es auf, daß die Fianna-Krieger, die Barran von Tara herbegleitet hatten, an strategischen Punkten der Versammlung postiert waren.

Es war Mittag, und am Vormittag hatte sich viel ereignet. Barran hatte mehrere persönliche Aussprachen geführt. Jetzt war es an der Zeit, den Fall in öffentlicher Verhandlung zu klären.

Barran blickte hinüber zu seinem leitenden Schreiber und nickte kurz. Dieser erhob sich und klopfte dreimal mit seinem Amtsstab auf den Boden.

»Dieses Gericht ist zusammengetreten, um die abschließenden Plädoyers zu hören und Urteile zu sprechen in den Fällen des Todes einer gewissen Gormgilla, eines unbekannten Schiffers, eines Kriegers von Laigin namens Daig, des Bruders Ibar, Mönch in Fearna, und eines Kaufmanns von Cam Eolaing namens Gabran.«

Barran begann ohne weitere Vorrede.

»Mir liegt ein Plädoyer der dalaigh Fidelma von Cashel zur Verteidigung des Bruders Eadulf von Seaxmund’s Ham vor, eines angelsächsischen Gesandten in unserem Land. Sie beantragt, daß sein Schuldspruch durch die Gerichte von Laigin, sein Urteil und alle darauf folgenden Verstöße gegen die Gesetze von Laigin in seinem Bemühen, seine Unschuld zu erweisen, aufgehoben und aus den Gerichtsakten dieses Königreichs getilgt werden. Sie begründet ihren Antrag damit, daß Eadulf an allen ihm zur Last gelegten Vergehen unschuldig und alles darauf Folgende ein ungerechtes Vorgehen gegen ihn war. Der besagte Eadulf handelte in Selbstverteidigung und war dazu vom Gesetz berechtigt.«

Barran schaute hinüber zu Bischof Forbassach.

»Was erwiderst du auf diesen Antrag, Brehon von Laigin?«

Bischof Forbassach erhob sich. Er war etwas blaß, und seine Miene spiegelte seinen Verdruß. Er hatte an diesem Vormittag mehrere Stunden mit Barran und Fidelma zugebracht. Er räusperte sich und sagte dann ruhig: »Es gibt keinen Einwand gegen den Antrag der dalaigh von Cashel.«

Ein hörbares Raunen der Überraschung lief durch den Saal, als die Leute begriffen, was da gesagt worden war. Bischof Forbassach setzte sich wieder.

Barrans leitender Schreiber klopfte mit seinem Stab, um Ruhe zu gebieten. Barran wartete, bis das Murmeln verebbte, ehe er sprach.

»Damit erkläre ich den Schuldspruch und das Urteil gegen Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham in aller Form für null und nichtig. Er verläßt dieses Gericht ohne Schuld und ohne Beeinträchtigung seiner Ehre.«

Fidelma nahm impulsiv Eadulfs Hand und drückte sie, und Dego, Enda und Aidan schlugen ihm auf die Schulter.

»Weiterhin wird entschieden«, fuhr der Oberrichter fort und überging ihren Gefühlsausbruch, »daß der Brehon von Laigin dem besagten Eadulf einen Sühnepreis von acht cumals zu zahlen hat. Dieser Preis ist gesetzlich festgelegt, weil Eadulf als Gesandter zwischen Erzbischof Theodor von Canterbury und König Colgü von Cashel fungiert. Sein Sühnepreis ist halb so hoch wie der des Mannes, dem er dient. Erhebt der Brehon von Laigin einen Einwand dagegen?«

»Nein.«

Die Antwort wurde beinahe überhört, so schnell und verlegen wurde sie ausgesprochen. Wieder ging ein Raunen durch den Saal, als klar wurde, daß Bischof Forbassach sich bereit erklärte, Eadulf im Wert von vierundzwanzig Kühen zu entschädigen. Über die Höhe dieser Summe wunderte sich selbst Eadulf.

»Damit ist Eadulfs Schuld beseitigt«, verkündete Barran. »Aber es soll festgehalten werden, aus welchem Grunde dieser Schuldspruch und dieses Urteil widerrufen werden. Vor Beginn der Verhandlung haben ich und andere Zeugen eine Voruntersuchung vorgenommen. Dabei haben wir von einer Angelegenheit Kenntnis erhalten, die uns entsetzt und uns großen Kummer bereitet hat.

Der Flußschiffskapitän Gabran war an einem entarteten und perversen Handel beteiligt. Er machte sich das Leid in Not befindlicher Familien zunutze, indem er sie überredete, ihm ihre jungen Töchter zu verkaufen. Er holte die verängstigten Kinder, denn sie waren alle noch nicht im Alter der Wahl, aus Orten im nördlichen Bergland dieses Königreichs und brachte sie hinunter zum Fluß. Mit seinem Schiff beförderte er sie den Fluß hinab zum Seehafen am Loch Garman. Dort verkaufte er sie an Sklavenschiffe, die sie übers Meer schafften. Ja, er verkaufte die Mädchen in die Sklaverei.«

Der Schock und das Entsetzen über den Bericht des Oberrichters ließen eine eisige Stille im Saal eintreten.

»Wir hörten von der Zeugin Fial, einem der Mädchen, die dieses Grauen überlebten, daß Gabran zum Tier herabgesunken war und seine Gefangenen zur Befriedigung seiner eigenen sexuellen Gelüste mißbrauchte, und das, obgleich sie noch nicht volljährig waren.

Wir erfuhren, daß auf der verhängnisvollen Fahrt, durch die Eadulf zum unschuldigen Opfer wurde, Fi-als Gefährtin, ein Mädchen namens Gormgilla, von dem betrunkenen Gabran genommen wurde, während sein Schiff am Kai der hiesigen Abtei vertäut lag. Die Einzelheiten können wir erraten. Gabran vergewaltigte das Mädchen, und es wehrte sich. In seiner trunkenen Wut erdrosselte er sie. Es wurde beschlossen, die Schuld auf Eadulf von Seaxmund’s Ham zu schieben. Diejenigen, die diesen üblen Plan ersannen, nahmen in ihrem Hochmut an, er wäre nur ein durchreisender ausländischer Pilger und es würde niemandem auffallen, wenn er geopfert würde, um den Mörder zu dek-ken. Sie mußten eine Erklärung für den Mord finden, weil die Äbtissin und Mel hinzugekommen waren, bevor die Leiche beseitigt werden konnte.

Es war ein verbrecherischer Plan, aber er ging beinahe auf. Zum Glück hatten sie nicht erkannt, daß Eadulf von Seaxmund’s Ham nicht jemand war, über dessen Tod man schnell hinweggehen würde. Diese überhebliche Meinung wurde ihnen zum Verderben.«

Barran schaute hinüber zu Fidelma.

»Ich glaube, Fidelma von Cashel, du möchtest an dieser Stelle einige Bemerkungen machen?«

Fidelma erhob sich, und in der Halle herrschte ein erwartungsvolles Schweigen.

»Ich danke dir, Barran. Ich habe manches zu sagen, denn der Fall kann nicht einfach mit der Entlastung Bruder Eadulfs von Seaxmund’s Ham abgeschlossen werden.«

»Warum nicht?« fuhr Bischof Forbassach von der anderen Seite der Halle dazwischen. »Das war es doch, was du wolltest, oder nicht? Er bekommt seine Entschädigung.«

Fidelma schaute ihn aus funkelnden Augen an.

»Was ich von Anfang an wollte, war, daß die Wahrheit bekannt wird. Veritas vos liberabit ist die Grundlage unseres Rechts. Die Wahrheit macht euch frei - und bis wir nicht die ganze Wahrheit in dieser Angelegenheit kennen, ruhen Verdacht und Finsternis auf diesem Königreich.«

»Suchst du Vergeltung für unsere Fehler?« fragte Forbassach. »Gabran, der Sklavenhändler, ist tot. Das ist doch wohl Vergeltung genug?«

»So einfach ist das nicht«, erwiderte Fidelma. »Wir haben zwar von der Unschuld Eadulfs vernommen, aber was ist mit der Unschuld Bruder Ibars? Was ist mit dem Tod von Daig? Was ist mit der Unschuld von Gormgilla und zahllosen jungen Mädchen, deren zerstörtes Leben wir nicht wieder in Ordnung bringen können? Nicht Vergeltung ist nötig, um alle diese Tragödien aufzuklären, sondern die Wahrheit.«

»Soll das heißen, daß der Tod Gabrans, des Mannes, der diesen üblen Handel leitete, dich nicht zufriedenstellt, Schwester Fidelma?« Es war Abt Noe, der das sagte. Sein Ton war gemessen, und es war klar, daß er von dem Gang, den die Verhandlung nahm, ebensowenig angetan war wie Bischof Forbassach.

»Mich stellt die Wahrheit zufrieden«, wiederholte sie. »Hast du die Aussage Fials vergessen? Es war nicht Gabran, der sie aufforderte, falsch gegen Eadulf auszusagen. Er war betrunken oder bewußtlos geschlagen. Es war auch nicht der Schiffer, der am nächsten Tag ermordet wurde. Du erinnerst dich doch, wie Fial die Ereignisse beschrieben hat?«

Bischof Forbassach stieß einen erbitterten Seufzer aus.

»Wir brauchen uns nicht auf das Wort einer Mörderin zu verlassen.«

Mit wachsendem Zorn hob Fidelma den Kopf.

Abt Noe fuhr fort, bevor sie etwas erwidern konnte.

»Es war offensichtlich Fial, die Gabran tötete, und es ist klar, daß sie in großer Erregung handelte. Wir verstehen das und machen ihr daraus keinen Vorwurf. Mein Freund Forbassach will sie nicht verurteilen, dennoch ist das die Wahrheit. Begnüge dich damit, Fidelma.«

»Heute vormittag sind wir vor dem Oberrichter alle Aussagen durchgegangen, die in Cobas Halle gemacht wurden«, erwiderte Fidelma. »Ich meinte, es hätte sich klar ergeben, daß Fial Gabran nicht getötet hat.«

Bischof Forbassach explodierte fast vor Ärger.

»Noch eine Unschuldige, die du verteidigst?« höhnte er.

Barran beugte sich zu ihm vor. Sein Ton war sachlich und bestimmt.

»Ich würde dir raten, dir deine Worte und ihre Wahl besser zu überlegen, Brehon von Laigin. Ich erinnere dich daran, daß dies mein Gerichtshof ist und in ihm die Regeln der Höflichkeit zwischen den Parteien gelten.«

Fidelma warf Barran einen dankbaren Blick zu.

»Ich bin bereit, Forbassach zu antworten. Tatsächlich ist Fial eine weitere Unschuldige - und ich bin gewillt, alle zu verteidigen, die nicht der Verbrechen schuldig sind, die ihnen zu unrecht zur Last gelegt werden.«

»Wenn du die Absicht hast, die Wahrheit festzustellen, dann mußt du auch zugeben, daß du Fial nur verteidigst, weil du die Schuld an der Ermordung Ga-brans Äbtissin Fainder zuschieben willst!« Forbassach war mit zorngerötetem Gesicht aufgesprungen. Die Äbtissin, blaß geworden, versuchte ihn am Arm auf seinen Platz zurückzuziehen.

»Bischof Forbassach!« Jetzt kamen Barrans Worte wie ein Peitschenhieb. »Ich habe dich schon einmal gewarnt. Ich werde dich nicht noch ein weiteres Mal ermahnen, dein Benehmen gegenüber einer geachteten dalaigh bei Gericht zu mäßigen.«

»Im übrigen«, flocht Fidelma milde ein, »habe ich keineswegs die Absicht, die Äbtissin des Mordes an Gabran zu beschuldigen. Es ist offensichtlich, daß sie diese Tat nicht begangen hat. Du bist anscheinend entschlossen, die wirklichen Fragen zu umgehen, For-bassach.«

Bischof Forbassach ließ sich verlegen und beschämt auf seinen Sitz zurückfallen. Fidelma fuhr fort: »Die Person, die Gabran tötete, gehörte mit zu der Sklavenhandelsverschwörung und wurde damit beauftragt, weil Gabran zu einer Schwachstelle in dieser Verschwörung geworden war. Sein immer verderbteres Verhalten gefährdete das ganze Unternehmen. Um Gabran herum gab es zu viele Todesfälle, die unwillkommene Aufmerksamkeit erregten.

Die Vergewaltigung und Ermordung eines Mädchens am Kai der Abtei durch Gabran und der dumme Versuch, das Verbrechen einem unschuldigen Durchreisenden anzulasten, führten zu den darauf folgenden Mordtaten. Die Person, für die Gabran arbeitete, die wirkliche Macht hinter diesem üblen Unternehmen, sah schließlich ein, daß es an der Zeit war, sich der Dienste Gabrans zu entledigen - und zwar endgültig.«

Die Stille in der Halle war absolut. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich Abt Noe entschloß, sie zu brechen.

»Willst du behaupten, daß alle die Todesfälle zusammenhängen?«

»Der Mord an dem Schiffer folgte dicht auf den Tod Gormgillas. Wie lautete Fials Aussage, die wir heute vormittag gehört haben?«

Barran wandte sich an seinen Schreiber.

»Berichtige mich, wenn das Protokoll anders lautet«, wies er ihn an. »Nach meiner Erinnerung wurde sie von einem der Schiffsleute aus ihrem Gefängnis geholt und sah dabei in der anderen Kajüte Gabran bewußtlos liegen, entweder im Vollrausch oder niedergeschlagen. In der schwach beleuchteten Kajüte stand eine Gestalt in einer Mönchskutte mit herabgezogener Kapuze. Diese Person befahl ihr, den Angelsachsen als denjenigen zu identifizieren, der Gormgil-la getötet hätte. Habe ich es richtig wiedergegeben?«

Der Schreiber, der die Notizen vor sich verfolgt hatte, murmelte: »Verbatim et litteratim et punctatim«, und bekräftigte damit die Richtigkeit der Darstellung.

Fidelma dankte Barran dafür, daß er sie an das Protokoll erinnert hatte.

»Der Schiffer, der Fial freiließ, war übrigens derselbe, der am nächsten Tag ermordet wurde. Hier muß ich einige Vermutungen anstellen, aber sie stehen im Zusammenhang mit Tatsachen - mit Informationen, die Daig an seine Frau weitergab. Leider haben wir keine überlebenden Zeugen, die unabhängig davon jede Einzelheit bestätigen können. Darf ich so argumentieren?«

»Unter der Voraussetzung, daß es zur Aufklärung des Falles beiträgt«, antwortete Barran, »aber ich werde diese Vermutungen nicht als Beweise zur Verurteilung einer Person anerkennen.«

»Das brauchst du auch nicht zu tun. Ich nehme an, daß der Schiffer, der natürlich moralisch ebenso tief gesunken war wie Gabran, eine große Chance sah, zu Geld zu gelangen, wenn er das Verbrechen seines Kapitäns vertuschen half und Gabran danach erpreßte. Es kam zum Streit zwischen ihnen in einem Gasthaus der Stadt - dem Gasthaus zum Gelben Berg. Das kann Lassar, die Wirtin, bezeugen. Sie sah auch, wie Gabran dem Schiffer Geld gab, um ihn zum Schweigen zu bringen. Gabran behauptete später, es habe sich um den Lohn des Mannes gehandelt. Es war jedoch eine hohe Summe - zu hoch für den Lohn eines Schiffers.

Der Schiffer zog zufrieden ab mit seiner Beute, aber er ahnte nicht, daß Gabran kein so leichter Gegner war. Dieser folgte ihm aus dem Gasthaus, erreichte ihn am Kai und erschlug ihn. Es wäre einfach gewesen, wenn nicht Daig gerade vorbeigekommen wäre. Gabran hatte gerade genügend Zeit, wegzulaufen und sich zu verstecken, ehe Daig anlangte. Daig hörte sogar noch seine Schritte, verfolgte ihn aber in der falschen Richtung. Dann beging Daig seinen zweiten Fehler, indem er den Leichnam nicht gleich gründlich untersuchte.

Während Daig Gespenstern nachjagte, kehrte Ga-bran zum Leichnam seines Kameraden zurück und nahm ihm das Geld wieder ab. Er brachte auch die unverwechselbare Goldkette an sich, die der Schiffer um den Hals trug, und ging ins Gasthaus zurück, wo Daig ihn später zur Rede stellte. Ich glaube, Daigs Fragen versetzten ihn in Panik. Er suchte Schutz und lief in die Abtei zu seinem Auftraggeber. Er verlangte Hilfe und drohte, andernfalls alles zu gestehen.

Ich kann mir vorstellen, daß die betreffende Person mit dem Gang der Ereignisse nicht sehr zufrieden war. Vielleicht fiel zu diesem Zeitpunkt in der Abtei schon die Entscheidung, sich Gabrans später zu entledigen. Schließlich brachte dieser üble kleine Bursche das ganze Unternehmen in Gefahr.

Aber es gab noch ein weiteres Problem, und das konnte diese schreckliche Tat lösen helfen. Bruder Ibar war ebenfalls ein schwaches Glied in der Kette. O ja«, sagte sie, als sich ein Murmeln erhob, »Bruder Ibar spielte auch eine Rolle in diesem Geschäft, doch ich glaube, es war eine gänzlich schuldlose Rolle. Er hatte den Auftrag, Metallfesseln herzustellen. Er glaubte, sie seien für Tiere bestimmt. Das sagte er jedenfalls zu Eadulf, aber er hatte einen immer stärkeren Verdacht, wozu sie wirklich dienten. Und Ibar konnte natürlich die Person nennen, die ihm den Auftrag erteilt hatte. Diese Person nahm nun Gabran die Halskette und das Geld ab und versprach ihm, er bekomme beides wieder, wenn er bei dem Plan mitwirkte.

Der Plan war einfach: Sie schmuggelten Geld und Halskette in Bruder Ibars Zelle. Das übrige war Ga-brans Sache. Er sollte Daig erklären, Bruder Ibar habe versucht, ihm auf dem Markt die Goldkette zu verkaufen, und er habe sie als die erkannt, die sein Schiffer trug. Man durchsuchte Bruder Ibars Zelle und fand die eingeschmuggelten Beweisstücke. Damit war man Bruder Ibar los.«

Sie hielt inne und merkte, daß ihre Erzählung alle Anwesenden in ihren Bann geschlagen hatte. Selbst die Schreiber sahen sie mit großen Augen an.

»Verba volant, scripta manent«, ermahnte sie sie scharf. »Gesprochene Worte fliegen fort, geschriebene Worte bleiben.« Sie wollte das alles schriftlich festgehalten wissen. Es war eine verwickelte Geschichte, und sie wollte sich nicht wiederholen müssen. Die Schreiber beugten sich eifrig über ihre Notizen.

»Wir haben ein Sprichwort, man solle die Eier nicht zählen, bevor man das Huhn gekauft hat. War es etwas, was Gabran zufällig geäußert oder Ibar gesagt hatte, jedenfalls stieg in Daig der Verdacht auf, er habe den Falschen verhaftet. Wahrscheinlich äußerte Daig so etwas unbedacht gegenüber Gabran, denn kurz darauf fand Daig in einer dunklen Nacht an demselben Kai selbst den Tod.«

»Willst du behaupten, Daig wäre ermordet worden?« wandte Bischof Forbassach ein. »Es ist hinlänglich bekannt, daß es ein Unfall war. Er fiel, schlug mit dem Kopf auf und ertrank.«

»Ich bin der Meinung, daß Daig auf den Kopf geschlagen wurde, fiel und ertrank, alles in dieser Rei-henfolge, wenn er nicht schon tot war, als er ins Wasser stürzte. Das Motiv bestand darin, ihn daran zu hindern, seinem Verdacht weiter nachzugehen.«

Es trat eine Pause ein, in der sich ein Stimmengewirr erhob und langsam verebbte. Dann wandten sich alle Barran zu. Der leitende Schreiber klopfte mit seinem Stab.

»Fahre mit deinem Vortrag fort, Fidelma«, wies sie der Oberrichter an. »Ich erinnere dich aber daran, daß dies alles noch Vermutungen sind.«

»Dessen bin ich mir bewußt, Barran, doch ich bin sicher, daß ich am Ende meiner Darlegungen die Zeugen vorführen kann, die die Grundlagen meiner Vermutungen bestätigen werden. So hoffe ich ein Bild zu entwerfen, das keinen Zweifel mehr zuläßt.«

Barran gab ihr ein Zeichen weiterzusprechen.

»Meine unerwartete Ankunft störte einige dieser Pläne. Es wurde klar, daß Fial einem Kreuzverhör durch eine dalaigh, die nach Fehlern in ihrer Geschichte forschte, nicht standhalten würde, deshalb wurde sie wieder auf Gabrans Schiff geschafft. Man mußte sie loswerden. Doch Gabran, wollüstig, wie er war, beschloß, das arme Mädchen so lange zu benutzen, bis er von ihr genug hatte. Sie wurde wie ein Tier gehalten, unter Deck angekettet.«

»Bis Fial ihn tötete?« warf Abt Noe rasch dazwischen.

»Ich sagte bereits, daß sie ihn nicht getötet hat«, fauchte ihn Fidelma an.

Barran war verärgert.

»Du solltest den Ausführungen der dalaigh gut zuhören, Abt. Fidelma von Cashel hat dies bereits eindeutig dargelegt.« Er wandte sich an Fidelma. »Ich habe eine Frage.«

Fidelma sah ihn erwartungsvoll an.

»Solange Bruder Eadulf und Bruder Ibar am Leben waren, bildeten sie doch sicherlich eine Gefahr, denn sie hätten ihre Unschuld beweisen oder wichtige Informationen weitergeben können, die einen nachdenklichen Menschen dazu veranlassen könnten, Nachforschungen anzustellen. Nach unseren Gesetzen, die keine Todesstrafe kennen, wäre es zwecklos, die Schuld einem anderen zuzuschieben, denn es bestünde immer die Möglichkeit, daß er seine Unschuld an den Tag bringen könnte ...«

»Aber wer fragt nach der Unschuld eines Toten?« bemerkte Fidelma trocken.

»Hat also das Drängen der Äbtissin Fainder auf Bestrafung nach den Bußgesetzen, also auf die Todesstrafe, etwas damit zu tun? Oder die Tatsache, daß Bischof Forbassach offenbar seinen Eid als Brehon vergaß und in dieser Sache mit der Äbtissin übereinstimmte? Wenn das so ist, müssen wir auch berücksichtigen, daß Abt Noe den König Fianamail dahingehend beeinflußte, die Bußgesetze an die Stelle der Gesetze der Fene-chus zu setzen.«

Fidelma gab sich keine Mühe, zur Gegenseite hinüberzublicken.

»Das hat sehr wohl damit zu tun, Barran. Der Plan die Schuld auf Eadulf und Ibar zu schieben, hatte letztendlich zum Ziel, daß beide hingerichtet würden. Mortui non mordent!«

Barran schaute grimmig drein.

»Tote beißen nicht«, wiederholte er und genoß den Satz.

Bevor erneutes Murmeln einsetzen konnte, fuhr Fidelma fort: »Der Plan hätte trotz meines Eingreifens gelingen können, wäre da nicht der bo-aire von Cam Eolaing gewesen.«

Coba sah überrascht auf. Er hatte in gespannter Haltung dagesessen.

»Was hatte ich damit zu tun?«

»Du bist gegen die Anwendung der Bußgesetze. Aber weder Bischof Forbassach noch Äbtissin Fain-der ahnten, wie sehr du dagegen eingestellt bist und wie weit du gehen würdest, um das Rechtssystem dieses Königreichs zu wahren.«

Coba machte ein wehmütiges Gesicht.

»Ich bin zu alt, um mich an neue Anschauungen zu gewöhnen. Wie sagen doch die Brehons? Ein biegsamer Zweig ist dauerhafter als ein starrer Baum.«

»Eadulf verdankt deiner Starrköpfigkeit sein Leben, Coba. Du tatest das, was kein Mensch erwartete, indem du Eadulf befreitest und ihm Freistatt gewährtest.«

»Und dafür wirst du büßen müssen«, knurrte Bischof Forbassach mit einem zornigen Seitenblick.

»Das wird er nicht«, fuhr Barran scharf dazwischen. »Verteidigung des Rechts ist kein Verbrechen.«

Bischof Forbassach starrte den Oberrichter haßerfüllt an, schwieg aber klugerweise.

»Allerdings«, sprach Fidelma weiter, als hätte es keine Unterbrechung gegeben, »wurdest du mir dadurch für eine Weile verdächtig, Coba. Du hattest Eadulf Schutz gewährt und dann behauptet, er habe ihn mißbraucht und sei geflohen. Somit konnte er ungestraft niedergeschossen werden. Ich wußte, daß Eadulf einen guten Grund haben mußte, aus dem Bereich des maighin digona auszubrechen. Er kannte das Gesetz sehr gut. Ich dachte, du selbst hättest ihn dazu verleitet, die Freistatt zu verlassen. Erst als ich vor kurzem mit Eadulf sprach, wurde mir klar, daß du nicht daran beteiligt warst.«

Coba sah sie unsicher an und zuckte die Achseln. »Das freut mich.«

»Es war wieder Gabran, aber diesmal handelte er auf Anweisung seiner Auftraggeber, die herausbekommen hatten, wo sich Eadulf aufhielt. Gabran fuhr nach Cam Eolaing. Er kannte dort einen Krieger namens Dau, der in Cobas Diensten stand. Dau war käuflich und wurde gekauft. Gabran tötete den Wachposten am Tor und versteckte die Leiche, und dann erklärte er Eadulf, angeblich in deinem Namen, Coba, er sei frei und könne gehen. Aber es läuft nicht immer alles nach Plan. Als Gabran und Dau versuchten, Eadulf niederzuschießen, entkam er ihnen und verbarg sich in den Bergen. Nun wurde die Lage wirklich verzwickt für den Marionettenspieler.«

»Marionettenspieler?« Der Oberrichter runzelte die Stirn bei diesem ungewöhnlichen Ausdruck.

Fidelma lächelte entschuldigend. »Vergib mir bitte, Barran. Das Wort bezieht sich auf eine Art von Unterhaltung, die ich auf einer Pilgerfahrt nach Rom kennenlernte. Es bezeichnet jemanden, der andere manipuliert, aber selbst unsichtbar bleibt. Wir haben den alten Begriff seinm cruitte dara hamarc.«

Der alte sprichwörtliche Ausdruck stand für jemanden, der die Harfe spielt, ohne gesehen zu werden.

»Woher wußte dieser ... also dieser Marionettenspieler, daß Eadulf Zuflucht in meiner Burg gefunden hatte?« fragte Coba.

»Du hattest es ihm gesagt.«

»Ihm gesagt? Ich?«

»Du bist ein korrekter und moralisch denkender Mensch, Coba. Du gehorchst dem Gesetz der Fene-chus. Du hast mir berichtet, daß du gleich, nachdem du gehandelt und Eadulf Zuflucht gewährt hattest, einen Boten zur Abtei geschickt hast.«

»Das stimmt. Er sollte der Äbtissin melden, daß ich dem Angelsachsen Freistatt gewährt hatte.«

»Lügen!« schrie Äbtissin Fainder. »Ich habe keine solche Nachricht erhalten.«

Coba sah sie traurig an und schüttelte den Kopf.

»Mein Bote kam von der Abtei zurück und bestätigte, daß er die Botschaft ausgerichtet hatte.«

Alle Augen wandten sich nun der zitternden Äbtissin zu.

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