Kapitel 5

Als die Tür sich hinter ihr schloß und die Riegel knarrend vorgeschoben wurden, trat Fidelma in die Mitte des kleinen Raums und streckte dem jungen Mann, der sich rasch von seinem Schemel erhoben hatte, die Hände hin. Bruder Eadulf ergriff ihre Hände, und einen Moment schauten sich beide an. Kein Wort fiel, aber ihre Blicke trafen sich und drückten stumm ihre Besorgnis füreinander aus.

Eadulf wirkte abgemagert. Er hatte sich nicht regelmäßig rasieren dürfen, und deshalb bedeckten Stoppeln seine Wangen. Sein lockiges braunes Haar war ungekämmt und verfilzt, und seine Kleidung war schmutzig und roch. Eadulf bemerkte das Entsetzen in ihrer Miene und lächelte entschuldigend.

»Ich fürchte, die Gastfreundschaft in diesem Haus ist nicht gerade von der besten Art, Fidelma. Die gute Äbtissin hält nichts davon, Seife und Wasser an jemanden zu verschwenden, der nicht mehr lange in diesem Tal der Tränen zu verweilen hat.« Er hielt in-ne. »Aber ich freue mich so, dich noch einmal zu sehen, bevor ich diese Welt verlasse.«

Fidelma gab einen undefinierbaren Laut von sich, der vielleicht ein kleines Schluchzen war, dann versuchte sie tapfer, ihre Gefühle zu verbergen.

»Bist du sonst gesund, Eadulf? Hat man dich nicht mißhandelt?«

»Grob hat man mich behandelt ... zuerst«, gestand Eadulf gelassen. »Die Leidenschaften gehen hoch bei der Art von Verbrechen, das man mir zur Last legt. Es war ein junges Mädchen, das vergewaltigt und ermordet wurde. Aber wie geht es dir, Fidelma? Ich dachte, du wärst auf Pilgerreise in Iberia, zum Grab des heiligen Jakobus?«

Fidelma machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ich kam zurück, sobald ich die Nachricht erhielt. Ich eilte hierher, um dich zu verteidigen.«

Einen Moment lächelte Eadulf froh, dann wurde er wieder ernst.

»Hat man dir nicht gesagt, daß alles vorbei ist? Die sogenannte Gerichtsverhandlung dauerte nicht lange, und morgen habe ich eine Verabredung in dem Hof da unten.« Er nickte zu dem Fenster hin. »Hast du den Galgen gesehen?«

»Man hat es mir gesagt.« Fidelma sah sich um und setzte sich auf den Schemel, von dem Eadulf aufgestanden war.

Er nahm auf dem Bett Platz. »Hier vergesse ich schon meine Manieren, Fidelma. Ich hätte dich zum Sitzen auffordern müssen.« Das sollte spaßig klingen, aber seine Stimme war hohl und tonlos.

Fidelma lehnte sich zurück, faltete die Hände im Schoß und sah Eadulf forschend an.

»Hast du das getan, dessen man dich beschuldigt?« fragte sie abrupt.

Eadulf hielt ihrem Blick stand.

»Deus miseratur, ich habe es nicht getan! Darauf gebe ich dir mein Wort, obgleich ich fürchte, daß mein Wort in dieser Sache nicht zählt.«

Fidelma nickte kurz. Wenn Eadulf sein Wort gab, dann glaubte sie ihm.

»Erzähl mir die Geschichte. Ich verließ dich in Cashel, als ich abreiste, um das Pilgerschiff nach Iberia zu erreichen. Fang von da an.«

Eadulf schwieg einen Moment und sammelte seine Gedanken.

»Die Geschichte ist ziemlich einfach. Ich beschloß, deinem Rat zu folgen und zu Erzbischof Theodor nach Canterbury zurückzukehren. Ich war ja schon ein Jahr von dort fort. In Cashel hielt mich auch nichts mehr.«

Er schwieg; Fidelma bewegte sich zwar leicht auf dem Schemel, sagte aber nichts.

»Dein Bruder gab mir Botschaften für Theodor und für die angelsächsischen Könige mit.«

»Mündlich oder schriftlich?« erkundigte sich Fidelma.

»Die eine Botschaft an Theodor war schriftlich abgefaßt. Die anderen Botschaften an die Könige trug er mir nur mündlich auf, einfach Grüße und Freundschaftsbekundungen.«

»Wo befindet sich die schriftliche Botschaft jetzt?«

»Meine persönliche Habe wurde von der Äbtissin beschlagnahmt.«

Fidelma überlegte einen Augenblick. »Hattest du irgend etwas bei dir, was dich als techtaire auswies?«

Eadulf kannte das Wort und lächelte.

»Er gab mir einen weißen Amtsstab mit. Da fällt mir ein, den und den Brief habe ich wohl aus meiner Reisetasche genommen und sicherheitshalber unter dem Bett im Gästehaus versteckt.«

»Also hat man sie wahrscheinlich inzwischen zu deinen anderen Habseligkeiten getan?«

»Das nehme ich an. Dein Bruder wollte mir ein gutes Pferd leihen. Aber da ich nicht wußte, wann und wie ich es ihm zurückgeben könnte, nahm ich lieber einen Platz auf einem Frachtwagen an, den mir ein hierherreisender Kaufmann anbot. Ich wußte, ich würde auf einem Lastkahn flußabwärts fahren können und an der Küste ein angelsächsisches Handelsschiff für die Überfahrt in die Heimat finden. Bis hierher kam ich ohne jeden Zwischenfall.«

Er überlegte einen Moment, um die Ereignisse in der richtigen Reihenfolge zu berichten.

»Am späten Nachmittag erreichte ich die Abtei und bat natürlich um Unterkunft für eine Nacht, da ich annahm, ich würde am nächsten Morgen ein Flußschiff finden. Ich sprach mit der rechtaire, Schwester Etromma, die mich nach meinen Absichten fragte. Ich erklärte ihr, ich sei auf dem Weg zurück nach Canterbury. Ich hielt es nicht für notwendig, ihr zu sagen, daß ich Botschaften für den Erzbischof bei mir hatte. Sie wies mir ein Bett im Gästehaus an. In der Nacht schlief dort niemand anders. Ich besuchte den Abendgottesdienst, aß eine Mahlzeit und ging zu Bett. Ach, Schwester Etromma stellte mich auch der Äbtissin Fainder vor ... Doch die schien sehr beschäftigt, oder aber sie mag keine Angelsachsen. Sie ignorierte mich mehr oder weniger.«

»Was dann?«

»Ich lag in tiefem Schlaf. Es muß am frühen Morgen gewesen sein, vielleicht eine Stunde vor Sonnenaufgang, da wurde ich aus dem Bett gerissen. Um mich herum war Geschrei, und ich wurde gestoßen und geschlagen. Ich wußte nicht, was los war. Ich wurde hierhergeschleppt und in eine Zelle gesperrt .«

Fidelma beugte sich interessiert vor.

»Hat dir niemand erklärt, was vor sich ging? Hat man dich irgendwie beschuldigt oder dir gesagt, weshalb man dich zu einer solchen Stunde aus dem Bett holte?«

»Keiner sagte mir etwas, außer daß mir alle Beschimpfungen entgegenschrien.«

»Wann hast du zuerst erfahren, welche Beschuldigung gegen dich erhoben wird?«

»Erst nach langer Zeit. Ich würde sagen, es war gegen Mittag, als dieser riesige Bruder Cett hier in diese Zelle trat. Ich wollte wissen, was los war, aber gleich danach kam Äbtissin Fainder mit einem jungen Mädchen herein. Das Mädchen trug die Kutte einer Novizin, obgleich es noch sehr jung schien.«

»Was weiter?«

»Das Mädchen zeigte einfach auf mich. Niemand sagte etwas, und dann wurde es aus der Zelle geführt.«

»Die Kleine hat nichts gesagt? Kein einziges Wort?« forschte Fidelma.

»Sie hat einfach auf mich gezeigt«, wiederholte Eadulf. »Dann brachte die Äbtissin sie weg. Niemand sprach, und Bruder Cett ging auch hinaus und verschloß die Tür.«

»Wann hat man dir denn mitgeteilt, welches Verbrechen man dir zur Last legt?«

»Das hat man mir erst zwei Tage später erklärt.«

»Du warst hier zwei Tage eingesperrt, ohne daß dir irgend jemand etwas gesagt hat?« Fidelma wurde laut vor Zorn.

Eadulf grinste trübselig. »Und ohne Essen und Wasser«, setzte er hinzu. »Ich erwähnte schon, daß die Gastfreundschaft der Abtei nicht eben die beste ist.«

Fidelma starrte ihn entsetzt an. »Was?«

»Erst nach zwei Tagen kam Bruder Cett wieder herein und brachte mir Waschwasser und etwas zum Essen. Eine Stunde später erschien ein großer, leichenblasser Mann mit einer spröden Stimme und stellte sich als ein Brehon des Königs vor.«

»Bischof Forbassach!«

»Ja, er nannte sich Bischof Forbassach. Kennst du ihn?«

»Er ist mein Gegner von früher her. Aber erzähl weiter.«

»Es war dieser Forbassach, der mir erklärte, ich sei angeklagt, eine junge Novizin der Abtei vergewaltigt und dann erdrosselt zu haben. Ich war sprachlos. Ich sagte ihm, ich sei zur Abtei gekommen, um eine Mahlzeit und eine Unterkunft für die Nacht zu erbitten. Dann sei ich geweckt, ergriffen und zwei Tage lang in diese Zelle gesperrt worden. Er erwiderte, ich sei im Bett gefunden worden mit Blut auf meiner Kleidung und mit einem abgerissenen Stück von dem blutigen Gewand der Novizin.« Er verzog den Mund. »Ich glaubte es schlau anzustellen, als ich spöttisch zu dem Bischof sagte, er hätte doch behauptet, das Mädchen sei erdrosselt worden, wenn ich also voller Blut gewesen wäre, dann wäre das doch wohl ein Wunder. Da erklärte mir der Bischof, woher das Blut käme. Die Novizin war eine zwölfjährige Jungfrau. Als krönenden Abschluß informierte mich der Bischof dann noch darüber, daß es eine Augenzeugin meiner Untat gäbe.«

»Ich fürchte, das ist eine ziemlich vernichtende Beweislage, Eadulf«, meinte Fidelma. »Hast du eine Ahnung, wie das alles zustande kommt?«

Eadulf senkte den Kopf. »Überhaupt keine. Ich dachte, es wäre alles nur ein böser Traum«, murmelte er.

»Stimmt es, daß du Blut auf deiner Kleidung hattest?«

»Mir fiel das Blut an meiner Kleidung auf, kurz nachdem ich hierhergebracht worden war. Ich dachte einfach, es wäre mein eigenes Blut, denn die Leute, die mich wegschleppten, schlugen und traten mich. Ich hatte auch eine Rißwunde im Gesicht.«

Fidelma sah die kleine vernarbende Wunde. »Und das abgerissene Stück von der Kutte?«

Eadulf zuckte die Achseln. »Davon wußte ich nichts, bis mir bei der Gerichtsverhandlung ein Stück Tuch vorgehalten wurde. Ich kannte es nicht.«

»Und die Augenzeugin?«

»Das junge Mädchen? Die log oder irrte sich.«

»Hattest du sie schon einmal gesehen? Ich meine, bevor sie dich beschuldigte?«

»Ich glaube nicht. Ich nahm an, es sei dasselbe junge Mädchen, das man in meine Zelle geführt und das auf mich gezeigt hatte. Ich muß zugeben, daß ich nach all den Schlägen noch nicht ganz auf der Höhe war. Sie erschien bei der Verhandlung und wurde Fial genannt.«

»Du sagtest, du hättest am Gottesdienst teilgenommen und zu Abend gegessen, ehe du zu Bett gingst. Hast du Fial dabei gesehen?«

»Meines Wissens nicht, aber sie könnte mich gesehen haben. Merkwürdigerweise kann ich mich an gar keine jungen Novizinnen in der Kapelle erinnern, jedenfalls nicht an so junge wie sie. Fial war höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt.«

»Hast du mit irgend jemandem gesprochen außer mit der Verwalterin und der Äbtissin?«

»Ich habe mich kurz mit einem jungen Bruder unterhalten. Er hieß Ibar.«

Fidelma hob überrascht den Kopf. »Ibar?« Unwillkürlich ging ihr Blick zum Fenster, und sie dachte an den Leichnam am Galgen.

»Es hieß, er habe einen Tag nach meinem angeblichen Mord an dem jungen Mädchen einen Flußschiffer umgebracht«, bestätigte Eadulf. »Heute früh haben sie ihn gehängt.« Plötzlich erschauerte er. »Irgend etwas stimmt hier nicht, Fidelma. Ich meine, du solltest diesen Ort sofort verlassen, ehe dir etwas zustößt. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen ...«

Fidelma beugte sich vor und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.

»Was hier auch immer nicht stimmen mag, Eadulf, sie würden nicht wagen, mir etwas anzutun, aus Furcht vor einer Vergeltung, der sie nicht gewachsen wären. Wer >sie< auch sein mögen. Mach dir keine Sorgen um meine Sicherheit. Außerdem habe ich zwei Krieger meines Bruders bei mir.«

Eadulf schüttelte hartnäckig den Kopf. »Trotzdem ist deine Sicherheit an diesem Ort der Finsternis nicht gewährleistet, Fidelma. Etwas Böses geht in dieser Abtei um, und es wäre mir lieber, wenn du mich verloren gibst und um deiner Sicherheit willen nach Cashel zurückkehrst.«

Fidelma schob trotzig das Kinn vor. »Hör auf mit diesem Gerede, Eadulf. Ich bin hier, und ich bleibe hier, bis wir die Angelegenheit geklärt haben. Nun konzentriere dich. Erzähl mir von deiner Gerichtsverhandlung.«

»Die Zeit verging, ich verlor den Überblick. Bruder Cett brachte mir nur ab und zu etwas Essen, und waschen durfte ich mich, wenn es ihm gerade gefiel. Er liebt es, anderen weh zu tun. Ein böser Mensch. Nimm dich vor ihm in acht.«

»Ich habe gehört, er sei etwas einfältig.«

Eadulf lächelte schief. »Einfältig? Ja. Er gehorcht, wenn ihm etwas befohlen wird, und etwas Schwieriges kann er nicht verstehen. Aber wenn ihm geheißen wird, er solle Schmerzen zufügen, dann genießt er das. Er fungierte als Henker bei . « Eadulf zeigte zum Fenster, und Fidelma erriet den Rest.

Angewidert rümpfte sie die Nase. »Ein Mönch als Henker? Gott sei seiner irregeleiteten Seele gnädig. Aber du wolltest von der Verhandlung erzählen.«

»Ich wurde hinuntergebracht in die Kapelle, und Bischof Forbassach führte den Vorsitz zusammen mit Äbtissin Fainder. Dazu kam noch ein Mann, der ebenso finster und starr dreinschaute wie Forbassach. Es war ein Abt.«

»Abt Noe?«

Eadulf bejahte mit einem Nicken. »Kennst du den auch?«

»Beide, Bischof Forbassach und Abt Noe, sind meine Gegner von früher her.«

»Bischof Forbassach wiederholte die Beschuldigungen, und ich wies sie zurück. Forbassach meinte, es würde mir schlimm ergehen, denn ich vergeudete die Zeit des Gerichts. Ich wies die Beschuldigungen erneut zurück, denn was sollte ich sonst tun als die Wahrheit sagen?« Eadulf schwieg einen Moment nachdenklich. »Schwester Etromma wurde als Zeugin vernommen. Sie berichtete, wie sie mich in der Abtei aufgenommen hatte. Dann identifizierte sie die Leiche des ermordeten Mädchens als eine gewisse Gormgilla, die als Novizin in die Abtei eintreten wollte .«

Fidelma unterbrach ihn.

»Einen Augenblick, Eadulf. Wie lauteten ihre Worte genau? Über Gormgilla, meine ich.«

»Sie sagte, Gormgilla sei eine Novizin .«

»Das hast du eben anders ausgedrückt. Du hast gesagt, >die als Novizin in die Abtei eintreten wollte.< Warum hast du diese Worte gebraucht?«

Eadulf zuckte verlegen die Achseln. »Ich glaube, so hat sie es gesagt. Kommt es darauf an?«

»Durchaus. Aber erzähl weiter.«

»Das war alles, was Schwester Etromma mitzuteilen hatte, außer dem Hinweis, daß Gormgilla erst zwölf Jahre alt war. Dann wurde das andere Mädchen aufgerufen .«

»Welches andere Mädchen?«

»Das in meine Zelle kam und auf mich zeigte.«

»Ach ja, Fial.«

»Sie stellte sich dem Gericht als Novizin in der Abtei vor. Sie erklärte, sie sei Gormgillas Freundin gewesen. Sie setzte hinzu, sie habe mit ihr verabredet, daß sie sich kurz nach Mitternacht am Kai treffen wollten.«

»Warum?«

Eadulf schaute Fidelma verständnislos an. »Warum?« wiederholte er.

»Hat man sie denn nicht gefragt, warum sie sich mit einer jungen Novizin nach Mitternacht am Kai treffen wollte? Wir reden von Zwölfjährigen, Eadulf.«

»Keiner hat sie danach gefragt. Sie sagte einfach, sie sei zum Kai gegangen und habe gesehen, wie ihre Freundin mit einem Mann kämpfte.«

»Wie hat sie das gesehen?«

Eadulf war verblüfft, Fidelma bewahrte Geduld.

»Es war nach Mitternacht«, erläuterte sie. »Vermutlich war es dunkel. Wie konnte sie das alles sehen?«

»Ich nehme an, der Kai war von Fackeln erhellt.«

»Hat man das nachgeprüft? Und konnte man bei dem Fackelschein das Gesicht des Mannes deutlich erkennen? Hat man sie gefragt, wie dicht sie dran war und wo das Licht brannte?«

»Nichts von alledem. Sie sagte nur aus, sie habe ihre Freundin mit einem Mann kämpfen sehen.«

»Kämpfen?«

»Sie sagte, der Mann habe ihre Freundin erwürgt«, fuhr er fort. »Dann sei er aufgestanden und zur Abtei gerannt. Sie hätte mich als diesen Mann erkannt. Sie sagte, der Mann sei der fremde Angelsachse gewesen, der sich in der Abtei aufhielt.«

Fidelma stutzte wieder. »Sie gebrauchte die Worte >der fremde Angelsachse

»Ja.«

»Und du behauptest, du hättest sie vorher nie gesehen? Nie mit ihr gesprochen?«

»Das stimmt.«

»Woher wußte sie dann, daß du ein Angelsachse bist?«

»Wahrscheinlich hat man es ihr gesagt.«

»Genau. Und was hat man ihr noch alles gesagt?«

Eadulf blickte sie traurig an. »Schade, daß du bei der Verhandlung nicht dabei warst.«

»Vielleicht. Du hast noch nicht erwähnt, wer dich vor Gericht vertreten hat.«

»Niemand.«

»Was?« Sie explodierte vor Zorn. »Du hattest keinen dalaigh, der dich verteidigte? Hat man dir keinen angeboten?«

»Ich wurde nur zur Verhandlung geführt. Ich hatte keine Gelegenheit, um einen Rechtsbeistand zu bitten.«

Zum erstenmal erhellte eine leichte Hoffnung Fi-delmas Gesicht.

»Hier ist vieles schief gelaufen, Eadulf. Bist du sicher, daß Bischof Forbassach dich nicht gefragt hat, ob du einen Verteidiger möchtest oder dich selbst verteidigen willst?«

»Da bin ich sicher.«

»Was wurden noch für Beweise gegen dich vorgebracht?«

»Ein Bruder Miach sagte aus. Es hieß, er sei hier der Arzt. Er erläuterte im einzelnen, wie das Mädchen vergewaltigt und erdrosselt wurde. Dann wurde ich gefragt, ob ich noch weiter leugne, und ich bejahte das. Da erklärte Forbassach, der Fall werde nach den kirchlichen Gesetzen entschieden und nicht nach den Gesetzen der Brehons von Eireann. Ich solle gehängt werden. Das Urteil werde dem König selbst zur Bestätigung vorgelegt. Vor ein paar Tagen kam die Bestätigung des Königs, und so werde ich morgen Bruder Cett dort unten auf der Plattform begegnen.«

»Nicht, wenn es noch Gerechtigkeit gibt, Eadulf«, erwiderte Fidelma fest. »Nach dem, was du mir berichtet hast, sind noch viele Fragen zu stellen.«

Eadulf verzog traurig den Mund. »Vielleicht ist es jetzt etwas zu spät dafür, Fidelma?«

»Nein. Ich lege Berufung ein.«

Zu ihrer Überraschung schüttelte Eadulf den Kopf.

»Du kennst die Äbtissin nicht. Sie hat großen Einfluß auf Bischof Forbassach. Die Leute hier leben in ständiger Angst vor ihr.«

Das interessierte Fidelma. »Woher weißt du das?«

»Da ich hier schon ein paar Wochen eingesperrt sitze, habe ich ein Gespür für das wenige entwickelt, was mir zugetragen wird. Selbst der unsägliche Bruder Cett versorgt mich auf seine wortkarge Art mit Informationen. Wenn diese Abtei ein Spinnennetz ist, dann sitzt die Äbtissin in seinem Zentrum wie eine hungrige schwarze Spinne.«

Fidelma lächelte, denn das erschien ihr als eine treffende Beschreibung der Äbtissin Fainder.

Sie stand langsam auf und sah sich in der Zelle um. Sie enthielt nichts außer einem Schemel und einem Bett mit einem Strohsack und einer Decke. Eadulf besaß nur die Kleidung, die er anhatte.

»Du meintest, die Äbtissin müsse deine Reisetasche und den Amtsstab und den Brief von Colgü an Theodor haben?«

»Wenn das alles nicht unter dem Bett im Gästehaus geblieben ist.«

Fidelma ging zur Tür, hämmerte dagegen und rief nach Schwester Etromma. Dann wandte sie sich zu Eadulf um und lächelte ihm aufmunternd zu.

»Gib die Hoffnung nicht auf, Eadulf. Ich werde die Wahrheit herausbekommen und zusehen, daß ich Gerechtigkeit finde.«

»Dabei will ich dir helfen, aber ich erwarte nichts mehr an diesem Ort.«

Es war der stämmige, finstere Bruder Cett, der die Tür öffnete und beiseite trat, um Fidelma auf den dunklen Gang hinauszulassen. Er schlug die Zellentür zu und schob die Riegel vor.

»Wo ist Schwester Etromma?« wollte Fidelma wissen.

Der Riese antwortete nicht, sondern hob nur die Hand und zeigte den Gang entlang.

Fidelma folgte seinem Wink und fand Schwester Etromma, die am Ende der Treppe in einer Fensternische mit Bank wartete. Das Fenster blickte auf den Fluß. Kähne fuhren darauf, es schien eine belebte Wasserstraße zu sein. Schwester Etromma war so versunken in diesen Anblick, daß Fidelma hüsteln mußte, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.

Sie wandte sich um und sprang sofort auf.

»Ist dein Gespräch mit dem Angelsachsen befriedigend verlaufen?« fragte die Verwalterin der Abtei rasch.

»Befriedigend? Kaum. Bei dem Verfahren sind viele ««befriedigende Dinge vorgefallen. Wie ich hörte, hast du als Zeugin ausgesagt?«

Schwester Etrommas Miene wurde abweisend. »Ja.«

»Es hieß, du habest das Opfer, Gormgilla, identifiziert. Ich wußte nicht, daß du sie kanntest.«

»Ich kannte sie nicht.«

Fidelma war verblüfft. »Wie konntest du sie dann identifizieren?«

»Ich sagte dir schon, sie war eine jungen Novizin in der Abtei.«

»Allerdings. Dann kann ich also annehmen, daß du als Verwalterin der Abtei sie mit den anderen Novizinnen begrüßt hast, als sie in der Abtei eintraf? Wann ist sie denn dieser Gemeinschaft beigetreten?«

Schwester Etrommas Miene wurde unsicher.

»Ich weiß nicht mehr recht ...«

»Ich brauche eine genaue Aussage, Schwester«, fuhr Fidelma sie bissig an. »Sag mir bitte genau, wann du das tote Mädchen Gormgilla zum erstenmal gesehen hast.«

»Ich ... ich sah sie erst, als ihr Leichnam in die Totenhalle der Abtei gebracht wurde«, gestand die Verwalterin.

Fidelma starrte sie einen Moment verdutzt an. Dann schüttelte sie den Kopf. Vielleicht sollte sie sich daran gewöhnen, daß dieser Fall verblüffende Wendungen nahm.

»Du sahst sie zum erstenmal, nachdem sie schon tot war? Wie konntest du sie dann als Novizin der Abtei identifizieren?«

»Die Äbtissin sagte mir, das wäre sie.«

»Aber du hattest kein Recht, sie mit einer Aussage vor Gericht zu identifizieren, wenn du sie nicht persönlich kanntest.«

»Ich würde nie am Wort der Äbtissin zweifeln. Außerdem erklärte Fial, sie sei ihre Freundin und mit ihr in die Abtei gekommen, um als Novizin einzutreten.«

Fidelma hielt es für zwecklos, der Verwalterin die Regeln für eine Zeugenaussage klarzumachen.

»Deine Aussage ist gerichtlich wertlos. Wer hat dieses Mädchen vor ihrem Tod gesehen? Sie ist doch nicht einfach so in der Abtei aufgetaucht?«

Schwester Etromma blieb hartnäckig. »Die Äbtissin hat es mir gesagt, und ich sage es dir. Außerdem nimmt die Vorsteherin der Novizinnen die Neuankömmlinge in Empfang und bildet sie aus. Sie müßte das Mädchen gesehen haben.«

»Aha. Jetzt kommen wir der Sache näher. Warum hat die Vorsteherin der Novizinnen nicht ausgesagt? Wer ist diese Frau, und wo finde ich sie?«

Schwester Etromma zögerte. »Sie befindet sich auf einer Pilgerfahrt nach Iona.«

Fidelma stutzte. »Und wann hat sie die angetreten?«

»Ein oder zwei Tage vor dem Mord an Gormgilla. Deshalb war es normal, daß ich als Verwalterin der Abtei die Aussage machte. Wahrscheinlich hatte die Äbtissin von der Vorsteherin der Novizinnen erfahren, daß das Mädchen zu ihren Schützlingen gehörte.«

»Genau darum besitzt deine Aussage keine gesetzliche Grundlage. Du hast nur wiederholt, was man dir gesagt hatte, nicht, was du weißt.« Fidelma war zornig darüber, daß man das gesetzlich übliche Verfahren anscheinend völlig mißachtet hatte. Es waren bestimmt genügend Verstöße gegen die Rechtsordnung vorgekommen, mit denen eine Berufung zu begründen war.

»Aber Fial war auch Novizin und hat ihre Freundin identifiziert«, wandte Schwester Etromma ein.

»Dann müssen wir Schwester Fial finden, denn ihre Aussage ist von entscheidender Bedeutung für den ganzen Fall. Suchen wir sie doch gleich.«

»Nun gut.«

»Außerdem möchte ich die anderen Zeugen sprechen. Da war noch ein Bruder Miach, glaube ich?«

»Der Arzt?«

»Ja, der. Aber vielleicht befindet er sich auch gerade auf einer Pilgerfahrt?« fügte sie sarkastisch hinzu.

Schwester Etromma überhörte das.

»Seine Apotheke liegt ein Stockwerk tiefer. Ich bringe dich zu ihm und mache mich dann auf die Suche nach Schwester Fial.«

Sie wandte sich um und ging die Treppe hinunter. Fidelma folgte ihr.

Fidelmas Gedanken überstürzten sich. Noch nie in all ihren Jahren als dalaigh hatte sie so offenkundige Verletzungen der Verfahrensregeln erlebt. Sie meinte schon genügend Argumente für eine Berufung und Neuverhandlung des Falles zu haben. Sie konnte kaum glauben, daß der Brehon von Laigin bei einer solchen Farce den Vorsitz geführt hatte. Er mußte doch die Regeln für Zeugenaussagen kennen.

Das Hauptproblem war anscheinend der Augenzeugenbericht der Novizin Fial. Der wäre der wesentliche Hinderungsgrund für einen zu erwirkenden Freispruch Eadulfs. Ihre Aussage als Augenzeugin war verheerend für Eadulf. Doch die Schilderung der Ereignisse hörte sich bizarr an.

Fidelma hatte viele Fragen an Fial. Warum hatten sie und ihre Freundin sich mitten in der Nacht am Kai verabredet? Und wie konnte sie das Gesicht des Mörders in der Dunkelheit der Nacht so deutlich wahrnehmen, daß sie ihn wiedererkannte? Wer hatte ihr gesagt, er sei ein fremder Angelsachse? Ging man von Eadulfs Worten aus, dann hatte er Fial vorher weder gesehen noch gesprochen. Hatte man ihn ihr gezeigt? Wenn ja, wer?

Fidelma seufzte tief, denn sie wußte, sie konnte einzelne Aussagen zerpflücken und Verfahrensverstöße bemängeln, doch die wesentlichen Tatsachen blieben. Eadulf war von einer Augenzeugin erkannt worden. Er war mit Blut auf seiner Kleidung und einem abgerissenen Stück der Kutte des Mädchens gefunden worden. Wie konnte sie diese Beweise widerlegen?

Die Apotheke war ein großer Raum mit Steinmauern, Holztüren und Fenstern mit Läden, die auf einen Kräutergarten hinausgingen. Getrocknete Kräuter und Blumen baumelten in Büscheln an den Holzbalken, und in einer Ecke brannte ein Feuer in einem Herd, über dem ein großer schwarzer Eisenkessel hing. Darin brodelte eine fürchterlich riechende Brühe. Auf den Regalen ringsum standen Krüge und Kästen.

Ein älterer Mann drehte sich um, als Schwester Etromma eintrat. Er hielt sich leicht gebeugt, und sein grauweißes Haar ging in einen wallenden Bart über. Seine Augen waren hellgrau, sein Blick kalt und tot.

»Was ist?« Sein Ton war schrill und verdrossen.

»Dies ist Schwester Fidelma von Cashel, Bruder Miach«, machte Schwester Etromma sie bekannt. »Sie muß dir ein paar Fragen stellen.« Dann setzte sie, zu Fidelma gewandt, hinzu: »Ich verlasse dich jetzt und suche Schwester Fial.«

Fidelma begegnete dem mißtrauischen Blick des ältlichen Arztes.

»Was willst du?« fauchte er. »Ich bin sehr beschäftigt.«

»Ich werde dich nicht lange von deiner Arbeit abhalten, Bruder Miach«, beruhigte sie ihn.

Er schnaubte verächtlich. »Dann erklär dein Anliegen.«

»Mein Anliegen ist das einer dalaigh, einer Anwältin bei Gericht.«

Seine Augen zogen sich leicht zusammen. »Und was hat das mit mir zu tun?«

»Ich möchte dir ein paar Fragen stellen zu der Verhandlung gegen Bruder Eadulf.«

»Gegen den Angelsachsen? Was ist damit? Wie ich höre, wollen sie ihn hängen, wenn sie es nicht schon getan haben.«

»Noch haben sie ihn nicht gehängt«, versicherte ihm Fidelma.

»Dann stell deine Fragen.« Der Alte war ungeduldig und reizbar.

»Es heißt, du hast in der Verhandlung ausgesagt?«

»Natürlich. Ich bin der Arzt der Abtei. Wenn es einen verdächtigen Todesfall gibt, werde ich dazu befragt.«

»Dann berichte mir, was du ausgesagt hast.«

»Der Fall ist abgeschlossen und erledigt.«

Fidelma erwiderte scharf: »Ich sage, wann der Fall abgeschlossen und erledigt ist, Bruder Miach. Du beantwortest meine Fragen.«

Der Alte fuhr zusammen; er war es wohl nicht gewohnt, daß man in diesem Ton mit ihm sprach.

»Man brachte mir die Leiche eines jungen Mädchens zur Untersuchung. Ich erklärte dem Brehon, was ich festgestellt hatte.«

»Und das war?«

»Das Mädchen war tot. Sie hatte Druckstellen am Hals. Offensichtlich war sie erdrosselt worden. Außerdem gab es klare Anzeichen dafür, daß sie vorher vergewaltigt worden war.«

»Und worin bestanden diese klaren Anzeichen?«

»Das Mädchen war noch unberührt gewesen. Das überrascht nicht, denn es soll ja erst zwölf Jahre alt gewesen sein. Durch den Geschlechtsverkehr war es zu einer erheblichen Blutung gekommen. Es gehörten keine großen medizinischen Kenntnisse dazu, das Blut festzustellen.«

»Es war also Blut an ihrer Kleidung?«

»Ja, und zwar an der Stelle, wo man es nach Lage der Dinge zu erwarten hatte. Es gab keinen Zweifel, was geschehen war.«

»Keinen Zweifel? Du sagst, es war eine Vergewaltigung. Könnte es auch anders gewesen sein?«

»Meine liebe ... dalaigh«, der alte Arzt schlug einen mitleidigen Ton an. »Bringe etwas Phantasie auf. Ein junges Mädchen wird erdrosselt, nachdem es Geschlechtsverkehr hatte; ist es da wahrscheinlich, daß es etwas anderes als eine Vergewaltigung war?«

»Das ist immer noch mehr eine Meinung als ein wirklicher medizinischer Beweis«, entgegnete Fidelma. Der alte Arzt antwortete nicht, also stellte sie ihre nächste Frage. »Kanntest du die Kleine?«

»Sie hieß Gormgilla.«

»Woher wußtest du das?«

»Man hat es mir gesagt.«

»Aber du hattest sie noch nie in der Abtei gesehen, ehe sie dir als Leiche gebracht wurde?«

»Ich hätte sie auch nur gesehen, wenn sie krank gewesen wäre. Ich glaube, es war Schwester fitromma, die mir ihren Namen nannte. Übrigens hätte ich sie wohl über kurz oder lang sowieso gesehen, wenn sie nicht ermordet worden wäre.«

»Weshalb meinst du das?«

»Ich glaube, sie gehörte zu den Nonnen, die sich gern selbst für das bestrafen, was sie für ihre Sünden ansehen. Mir fiel auf, daß sie wunde Stellen an beiden Handgelenken und an einem Knöchel hatte.«

»Wunde Stellen?«

»Anzeichen dafür, daß sie sich gefesselt hatte.«

»Fesseln? Nicht im Zusammenhang mit ihrer Vergewaltigung und Ermordung?«

»Diese wunden Stellen rührten von Banden her, die sie offensichtlich einige Zeit vor ihrem Tod getragen hatte. Sie hatten nichts mit ihren anderen Verletzungen zu tun.«

»Gab es Anzeichen von Geißelung?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Manche dieser sich selbst kasteienden Asketen verwenden Fesseln einfach dazu, mit dem Schmerz das zu sühnen, was sie für ihre Sünden halten.«

»Findest du nicht, daß eine solche Selbstkasteiung, wie du es nennst, bei einem so jungen Mädchen seltsam ist?«

Bruder Miach blieb ungerührt. »Ich habe schon schlimmere Fälle erlebt. Religiöser Fanatismus führt oft zu erschreckender Selbstquälerei.«

»Hast du auch Bruder Eadulf untersucht?«

»Bruder Eadulf? Ach, du meinst den Angelsachsen. Weshalb sollte ich?«

»Ich habe gehört, man habe ihn mit Blut an der Kleidung gefunden und mit einem abgerissenen Stück der Kutte des Mädchens. Vielleicht wäre es angebracht gewesen, ihn zu untersuchen, um festzustellen, ob sein Aussehen mit der Annahme übereinstimmt, er habe das Mädchen überfallen.«

Der Arzt schnaubte wieder. »Nach dem, was ich gehört habe, bedurfte es keiner Worte von mir, um ihn zu verurteilen. Wie du sagst, er hatte Blut an der Kleidung und ein Stück der blutgetränkten Kutte des Mädchens bei sich. Er wurde auch von jemandem erkannt, der ihn den Mord begehen sah. Weshalb sollte ich ihn da noch untersuchen?«

Fidelma unterdrückte einen Seufzer. »Es wäre ... angebracht gewesen.«

»Angebracht? Pah! Wenn ich mein Leben lang nur das getan hätte, was angebracht war, wären mir Hunderte von Patienten gestorben.«

»Bei allem Respekt, das ist wohl kaum ein passender Vergleich.«

»Ich bin nicht hier, um mich mit dir über Ethik zu streiten, dalaigh. Wenn du mit deinen Fragen fertig bist, mache ich mich wieder an meine Arbeit.«

Fidelma beendete das Gespräch mit einem kurzen Wort des Dankes und ging. Aus dem Arzt war nicht mehr herauszuholen. Von Schwester Etromma war noch nichts zu sehen. Sie wartete einige Minuten vor der Apotheke, dann kam ihr ein Gedanke. Zu Fidel-mas Talenten gehörte die fast unheimliche Fähigkeit, sich an jedem Ort zurechtzufinden, den sie einmal betreten hatte. Gedächtnis und Instinkt versetzten sie in die Lage, zu den Stätten in der Abtei zurückzukehren, zu denen man sie geführt hatte. So wartete sie nicht länger auf Schwester Etromma, sondern wanderte durch die Gänge zurück zum Zimmer der Äbtissin Fainder.

Sie öffnete die Tür zum stillen Innenhof der Abtei und überquerte ihn langsam. Der Leichnam des Mönchs hing immer noch an dem hölzernen Galgen. Wie hieß er doch - Bruder Ibar? Seltsam, daß er auf demselben Kai einen Flußschiffer beraubt und ermordet haben sollte, nur einen Tag nach der Vergewaltigung und Ermordung Gormgillas.

Plötzlich blieb sie mitten auf dem Hof stehen.

Bruder Ibar war einer der zwei Menschen in der Abtei, mit denen Eadulf sich am Abend seiner Ankunft etwas länger unterhalten hatte.

Sie kehrte um und schritt rasch die Treppe zu dem dumpfigen Gang hinauf, der zu Eadulfs Zelle führte. Bruder Cett war fort, an seiner Stelle hielt ein anderer Mönch die Wache.

»Was willst du?« knurrte er grob, als er aus der Dunkelheit auftauchte.

»Erstens möchte ich von dir ein besseres Benehmen sehen, Bruder«, entgegnete Fidelma scharf. »Zweitens möchte ich, daß du mir diese Zellentür hier öffnest. Ich habe die Vollmacht der Äbtissin.«

Überrascht trat er einen Schritt zurück.

»Ich habe keinen Befehl ...«, brummte er mürrisch.

»Ich erteile dir den Befehl, Bruder. Ich bin eine dalaigh. Bruder Cett hatte nichts dagegen, als ich vorhin mit Schwester Etromma hier war.«

»Schwester Etromma? Mir hat sie nichts gesagt. Sie ist mit Cett zum Kai runtergegangen.«

Der Mönch überlegte sich die Sache, während Fidelma ungeduldig wartete. Sie glaubte schon, er werde sich hartnäckig weigern. Doch dann setzte er sich widerwillig in Bewegung und zog die Riegel zurück.

»Ich rufe dich, wenn ich wieder gehen will«, erklärte ihm Fidelma erleichtert und trat in die Zelle.

Eadulf blickte überrascht auf.

»Ich habe nicht damit gerechnet, dich so schnell wiederzusehen ...«, begann er.

»Ich muß dir ein paar weitere Fragen stellen. Ich möchte mehr über diesen Bruder Ibar wissen. Wir haben nicht viel Zeit, denn sie wissen nicht, daß ich noch einmal zu dir gekommen bin.«

Eadulf zuckte die Achseln. »Da gibt es nicht viel zu berichten, Fidelma. An dem Tag, an dem ich ankam, saß er beim Abendessen im Speisesaal neben mir. Wir unterhielten uns kurz. Dann sah ich ihn nicht wieder -na, bis heute morgen dort unten.« Er nickte zum Hof hin.

»Worüber habt ihr miteinander gesprochen?«

Eadulf schaute sie nachdenklich an.

»Er fragte mich, woher ich komme. Ich erklärte es ihm. Er sagte, er stamme aus dem Norden dieses Königreichs und sei von Beruf Schmied. Er war stolz auf seinen Beruf, aber enttäuscht, weil er in der Abtei nichts Besseres zu tun bekam, als Fesseln für Tiere anzufertigen. Seit der Ankunft von Äbtissin Fainder war er unglücklich. Ich erinnere mich, daß ich ihn damit tröstete, daß viele Gemeinschaften Tiere zu ihrer Ernährung brauchten und jede Aufgabe die Erfüllung wert sei. Er meinte .«

»Weiter habt ihr nichts besprochen? Nur über Allgemeines geredet?« Fidelma bemühte sich, ihre Enttäuschung nicht durchblicken zu lassen.

»Ach, er fragte mich noch nach einigen Gebräuchen bei den Angelsachsen, das war alles.«

»Gebräuchen bei den Angelsachsen? Welche?«

»Warum die Angelsachsen Sklaven hielten. Eine merkwürdige Frage, fand ich.«

»Sonst nichts?«

Eadulf schüttelte den Kopf. »Er war anscheinend unzufrieden mit der Arbeit, die er verrichten mußte. Das hat ihn wohl bis zu seinem Ende beschäftigt. Das letzte, was ich von dem armen Burschen hörte, war der Ruf: >Fragt nach den Handschellen.< Ich glaube, da war er bereits nicht mehr ganz bei Sinnen. Es ist schrecklich, den Strick des Henkers schon zu spüren .«

Fidelma war sichtlich enttäuscht und merkte nicht, wie Eadulf die Stimme versagte. Sie hatte gehofft, der verstorbene Bruder Ibar hätte etwas gesagt, was sich als ein Faden erweisen würde, mit dem sie das ganze eigenartige Netz aufräufeln und entwirren könnte. Sie zwang sich, Eadulf ein Lächeln zu schenken.

»Macht nichts, ich werde dich bald wiedersehen.«

Sie klopfte an die Tür.

Der mürrische Bruder hatte wohl davor gewartet, denn die Tür ging sofort auf, und er ließ sie hinaus.

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