Kapitel 10

»Bist du die Frau, die Ärger mit Forbassach, dem Brehon von Laigin, hatte, wie?«

Die dünne, piepsige Stimme kam Fidelma irgendwie bekannt vor.

Sie blickte von ihrem Frühstück auf und sah sich einem dürren Individuum gegenüber, das sich über ihren Tisch beugte. Sonst hielt sich niemand im Hauptraum des Gasthauses auf, denn sie war früh zur Morgenmahlzeit heruntergekommen.

Stirnrunzelnd betrachtete sie das wenig einnehmende Äußere des Mannes. Er trug die Kleidung eines Flußschiffers. Dann ging ihr auf, daß es der kleine Mann war, der sich in betrunkenem Zustand über die Störung seines Schlafs beschwert hatte, als Forbassach in das Gasthaus stürmte. Noch nie war ihr jemand begegnet, der so wenig der allgemeinen Vorstellung von einem Flußschiffer entsprach. Er war schmächtig und knochig und hatte langes, glattes braunes Haar. Trotz seiner Hakennase, seiner dünnen roten Lippen und seiner dunklen, unergründlichen Augen war es klar, daß er in seiner Jugend gut ausgesehen haben mußte, doch jetzt wurden seine wettergebräunten Züge weniger vom Alter als von Ausschweifungen gezeichnet.

»Wie du siehst, habe ich keinen Ärger«, erwiderte Fidelma kurz und wandte sich wieder ihrem Teller zu.

Der Flußschiffer setzte sich unaufgefordert an ihren Tisch, anscheinend unbeeindruckt von ihrer unfreundlichen Antwort.

»Erzähl mir doch so was nicht«, spottete er. »Ich weiß schließlich, was ich letzte Nacht gesehen habe. Ein Brehon macht sich nicht mitten in der Nacht mit einem halben Dutzend Krieger auf den Weg, wenn er keinen Grund dafür hat. Was hast du angestellt?« Er grinste und entblößte eine Reihe schwärzlicher Zähne. »Komm schon, mir kannst du es verraten. Vielleicht könnte ich dir sogar helfen. Ich habe viele Beziehungen in Fearna - einflußreiche Beziehungen -, und wenn es sich für mich lohnt ...«

Der Flußschiffer schrie plötzlich auf und erhob sich anscheinend unfreiwillig mit schief gehaltenem Kopf von seinem Sitz. Dego hatte sein Ohr mit kunstgerechtem Griff gepackt.

»Ich glaube, du belästigst die Dame«, erklärte ihm Dego leise, aber drohend. »Möchtest du nicht woanders sitzen?«

Der Mann drehte und wand sich, bis er merkte, daß er es mit einem kräftigen jungen Krieger zu tun hatte. Mit seiner piepsigen Stimme setzte er zu einem Protestgeschrei an.

»Ich habe sie nicht beleidigt. Ich habe ihr meine Hilfe angeboten, und dann .«

Fidelma winkte lässig mit der Hand.

»Laß ihn los, Dego«, seufzte sie und erklärte dem Flußschiffer mit Bestimmtheit: »Deine Hilfe will ich nicht. Auf keinen Fall will ich für irgendeine Hilfe bezahlen, die du mir anbietest. Nun schlage ich vor, du folgst dem Rat meines Kameraden und suchst dir einen anderen Platz.«

Dego ließ das Ohr des Mannes los, der Flußschiffer rieb es und wich ein paar Schritte zurück.

»Das vergesse ich euch nicht«, jammerte er, immer außer Reichweite Degos. »Ich habe Freunde, und ihr werdet mir dafür bezahlen. Ihr denkt, mit mir könnt ihr es machen? Das haben andere auch schon versucht. Die wissen es inzwischen besser.«

Lassar war hereingekommen, um Fidelma zu bedienen, und hörte die Beschwerden des Mannes.

»Was ist denn los?« fragte sie.

Dego lächelte und setzte sich auf den Stuhl, von dem der Flußschiffer aufgestanden war.

»Ein Irrtum von mir«, erklärte er Lassar. »Ich hatte den Eindruck, daß der kleine Mann da«, mit dem Daumen wies er auf den Flußschiffer, »Schwester Fidelma mit unerbetenen Aufmerksamkeiten belästigte. Ich entschuldige mich für das Mißverständnis.«

Der Mann stand da und rieb sich noch immer das Ohr. Damit hörte er auf, als er den Namen vernahm, den er offensichtlich kannte. Fidelma fragte sich, woher.

»Ich bin sicher, der Bursche nimmt deine Entschuldigung an, Dego, und will nicht noch mehr Ärger machen«, sagte Fidelma bestimmt.

Der Flußschiffer zögerte einen Moment, dann nickte er ruckartig.

»Der Mensch kann sich ja mal irren. Das stimmt doch?« murmelte er.

Fidelma fiel plötzlich etwas ein.

»Ich habe dich schon einmal gesehen, nicht wahr?«

Der Kleine machte eine finstere Miene. »Nein!«

»Jetzt weiß ich’s! Du standest im Hof der Abtei und hast zugesehen, wie sie den Leichnam Bruder Ibars abnahmen.«

»Warum sollte ich das denn nicht? Ich treibe viel Handel mit der Abtei.«

»Interessierst du dich für das Makabre, oder geht dich das Schicksal Bruder Ibars besonders an?« erkundigte sich Fidelma mehr aus Instinkt denn einer Logik folgend.

Lassar hatte dem Gespräch verwundert zugehört. Jetzt schaltete sie sich ein.

»Gabran treibt eine Menge Handel den Fluß hinauf und hinunter. Stimmt das nicht?«

Der Mann drehte sich einfach um und verließ das Gasthaus, ohne eine der beiden Fragen zu beantworten. Lassar lächelte entschuldigend.

»Ich glaube, du hast seine Gefühle verletzt. Wenn du es wissen willst, Schwester, es war einer von Gabrans Männern, den Bruder Ibar beraubt und getötet hat.«

Dego sah Fidelma fragend an. »War es falsch, daß ich mich eingemischt habe?«

Sie schüttelte den Kopf und wandte sich an Lassar, die frisch gebackenes Brot auf den Tisch stellte.

»Von seiner Kleidung abgesehen, schaut er mir nicht gerade wie ein Flußschiffer aus.«

Die Wirtin zuckte die Achseln. »Aber er ist ein echter Mann des Flusses, Schwester. Er führt sein eigenes Schiff mit dem Namen Cag und treibt Handel den ganzen Fluß entlang. Ab und zu übernachtet er hier im Gasthaus, wenn er zuviel getrunken hat und den Weg zu seinem Schiff nicht mehr findet. In der Nacht, als sein Mann ermordet wurde, war er auch hier.«

»Die Cag? Ist nicht >Elster< ein merkwürdiger Name für ein Schiff?«

Für Lassar hatte die Eigenart des Namens nichts zu bedeuten. »Jeder nach seinem Geschmack, sage ich immer.«

Fidelma lächelte leise. »Ein weiser Spruch. Was weißt du über den Mord an seinem Besatzungsmitglied?«

»Ich weiß nichts aus erster Hand.«

»Du mußt aber doch Gerüchte darüber gehört haben«, beharrte Fidelma.

»Gerüchte stimmen nicht immer«, erwiderte die Wirtin.

»Damit hast du recht. Doch manchmal verhilft auch voreingenommnes Wissen dazu, die Wahrheit herauszubekommen. Was hast du gehört?«

»Ich weiß nur, daß der Schiffer am Tag nach der Ermordung des jungen Mädchens durch den Angelsachsen am Kai gefunden wurde. Einen Tag später entdeckte man bei Bruder Ibar einige Habseligkeiten des Toten, deshalb wurde er wegen dieses Verbrechens angeklagt und verurteilt.«

»Wer hat die Verhandlung gegen ihn geleitet?«

»Der Brehon natürlich, Bischof Forbassach.«

»Weißt du, ob Bruder Ibar jemals seine Schuld eingestanden hat?«

»Weder bei der Verhandlung noch danach, hat man mir gesagt.«

»Und der Beweis bestand darin, daß er im Besitz von Sachen war, die dem Schiffer gehörten?«

»Wenn du das genau wissen willst, mußt du jemanden fragen, der bei der Verhandlung dabei war. Ich habe jetzt zu tun.«

»Einen Moment noch! War dein Bruder Mel an der Festnahme Bruder Ibars beteiligt? Er war doch damals der Hauptmann der Wache, nicht wahr?«

Zu ihrer Überraschung schüttelte Lassar den Kopf.

»Mel hatte mit dem Fall Ibar nichts zu tun. Es war allerdings einer aus seiner Wache, der ihn festnahm. Er hieß Daig.«

Fidelma überdachte diesen Umstand schweigend und bemerkte dann leise: »An dem Kai bei der Abtei scheint der Tod häufig umzugehen. Das ist offenbar ein finsterer, unglückbringender Ort.«

Lassar verzog das Gesicht, während sie Teller einsammelte. »Da ist was Wahres dran. Schwester Etrom-ma und ihren schwachköpfigen Bruder hast du schon kennengelernt, nicht wahr?«

»Cett? Ja. Was haben die damit zu tun?«

»Damit nichts. Ich erwähnte sie bloß als Beispiele für Unglück. Hättest du gedacht, daß Schwester Etromma vom Königshaus von Laigin abstammt, von den Ui Cheinnselaigh?«

Fidelma überlegte, weshalb sie das nicht überraschte. Irgendwer hatte es ihr schon erzählt.

Lassar plauderte zutraulich weiter. »Weißt du, als die Ui Neill von Ulaidh einmal in unser Königreich einfielen, als Etromma noch ein Kind war, da wurden sie und ihr Bruder als Geiseln genommen. Bei der Gelegenheit soll Cett eine Verwundung erhalten haben, die ihn schwachsinnig machte. Eine traurige Geschichte.«

»Traurig schon, aber nicht einzigartig«, meinte Fidelma.

»Ach ja, aber wirklich einzigartig daran war, daß trotz Etrommas Abkunft aus dem Königshaus der damalige König Crimthann sich weigerte, das Lösegeld zu zahlen, und die beiden Kinder der zarten Fürsorge der Ui Neill überließ. Etrommas Zweig der Familie war arm und konnte das Lösegeld nicht aufbringen.«

»Wie ging es weiter?« fragte Fidelma interessiert.

»Nach einem Jahr brachte es Etromma fertig, mit ihrem Bruder aus dem Norden zu fliehen und hierher zurückzukehren. Ich glaube, sie war sehr verbittert. Beide traten in den Dienst der Abtei. Du hast also recht, dort ist viel Trauriges passiert.«

Lassar nahm die Teller und ging. Fidelma hing ihren Gedanken nach, dann erhob sie sich. Dego schaute sie fragend an.

»Wohin jetzt, Lady?«

»Ich gehe wieder zur Abtei und sehe zu, was ich noch in Erfahrung bringen kann«, erklärte sie ihm.

»Meinst du, daß Bischof Forbassach recht hatte und jemand Eadulf zur Flucht verholfen hat?« fragte Dego.

»Ich glaube, es wäre schwer, ohne Hilfe von außen aus der Zelle zu entkommen, in der er eingesperrt war. Aber wer ihm half und warum, das ist ein Geheimnis, das wir lüften müssen. Es gibt einen Menschen, der ihm vielleicht geholfen hat, und das ist ein Fürst namens Coba. Er hängt jedenfalls an den Gesetzen der Fenechus, nicht an den Bußgesetzen, die Fainder so liebt. Aber es wäre unklug, sich direkt an ihn zu wenden, für den Fall, daß ich mich täusche. Während ich in der Abtei bin, versuchst du möglichst viel über Co-ba zu erfahren. Mach es aber nicht zu auffällig.«

Dego neigte zustimmend den Kopf. »Eadulf hat sich auf etwas Gefährliches eingelassen, Lady. Denkst du, daß er versuchen wird, mit uns in Verbindung zu treten?«

»Ich hoffe es«, sagte Fidelma inbrünstig. »Ich wünschte mir, er würde sich Barran stellen und seine Unschuld beweisen. Bischof Forbassach hat recht, wenn er sagt, daß die Flucht als Schuldbekenntnis gewertet werden kann.«

»Aber wenn er nicht geflüchtet wäre, dann wäre er jetzt tot«, gab Dego trocken zu bedenken.

Einen Moment wallte Bitterkeit in Fidelma auf.

»Denkst du, ich hätte vergessen, daß ich mit all meiner Rechtskenntnis Eadulf nicht helfen konnte?« fuhr sie den Krieger an. »Vielleicht hätte ich tun sollen, was nun jemand anders getan hat.«

»Lady«, antwortete Dego rasch, »ich wollte dich nicht kritisieren.«

Fidelma legte ihm die Hand auf den Arm.

»Entschuldige meinen Ausbruch. Es war mein Fehler«, sagte sie reumütig.

»Wenn Eadulf es ein paar Tage vermeiden kann, wieder eingefangen zu werden, dann besteht die Aussicht, daß Aidan mit Brehon Barran zurückkommt«, sprach Dego ihr Mut zu. »Und in dem Fall kann die neue Verhandlung stattfinden, die du dir wünschst.«

»Aber wenn er nun frei entscheiden kann, wohin wird er sich wenden?« überlegte Fidelma. »Er könnte versuchen, ein Schiff zu erreichen und ins Land der Angelsachsen zu fahren, in seine Heimat.«

»Das Land verlassen, ohne dich zu benachrichtigen, Lady? Das würde er nie tun, zumal er nun weiß, daß du in Fearna bist.«

Damit konnte er Fidelma nicht trösten.

»Vielleicht hat er gar keine Wahl, aber ich hoffe, er zögert nicht meinetwegen. Lieber sollte er sich in den Bergen oder den Wäldern verbergen, bis die Suche nach ihm nachgelassen hat.« Sie hielt verlegen inne; eine dalaigh sollte nicht darüber nachdenken, wie man am besten dem Gesetz entgehen kann. »Wo ist übrigens Enda?«

»Er ging früh aus. Ich glaube, er sagte, er hätte etwas für dich zu erledigen.«

Sie konnte sich nicht erinnern, Enda einen Auftrag erteilt zu haben, und meinte achselzuckend: »Wenn ich euch nicht eher sehe, dann treffe ich euch hier im Gasthaus kurz nach dem Mittag.«

Sie ließ Dego weiter frühstücken und ging zielstrebig durch die Straßen zur Abtei.

Es war klar, daß die Nachricht von der Flucht Bruder Eadulfs sich in der ganzen Stadt verbreitet hatte, denn auf ihrem Wege starrten sie die Leute mit unverhohlenem Interesse an, und manche flüsterten mit ihren Nachbarn. Die Mienen reichten von Feindseligkeit bis zu einfacher Neugier. Nur ein- oder zweimal machten ein paar Leute ihrem Verdacht mit Schimpfworten Luft. Die ignorierte sie. Jeder Mensch in Fear-na wußte anscheinend, wer sie war und in welchem Verhältnis sie zu dem Angelsachsen stand, der am Mittag hatte gehängt werden sollen.

Im Innern wurde Fidelma von verschiedenen starken Gefühlen bewegt. Sie wußte, daß sie diese Empfindungen unter Kontrolle halten mußte, wenn sie noch etwas erreichen wollte. Unter Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft mußte sie ihren Geist von diesen Regungen frei halten. Wenn sie anders an Eadulf dachte als an einen Menschen, der dringend ihre Hilfe und ihre Erfahrung benötigte, dann konnte sie irre werden von der Angst, die dicht unter der Oberfläche ihres kühlen Äußeren brodelte.

Am Tor der Abtei begrüßte Schwester Etromma sie mit tiefem Mißtrauen.

»Du bist die letzte, die ich erwartet hätte«, erklärte sie grob.

»Ach ja? Und warum?« erkundigte sich Fidelma unschuldig, als die Verwalterin sie widerwillig einließ.

»Ich dachte, du würdest voller Freude nach Cashel zurückkehren. Der Angelsachse ist entkommen. Das wolltest du doch, oder nicht?«

Fidelma sah sie ernst an.

»Was ich wollte«, erwiderte sie mit scharfer Betonung, »war, daß Bruder Eadulf Gerechtigkeit fände und sich gegen die Beschuldigung rechtfertigen könnte. Was die freudige Rückkehr nach Cashel angeht, so werde ich diesen Ort nicht eher verlassen, bis ich herausgefunden habe, was hier mit Bruder Eadulf geschehen ist, und ich seinen Ruf wiederhergestellt habe. Eine Flucht ist kein Freispruch vor dem Gesetz.«

»Flucht ist besser als Tod«, antwortete die Verwalterin und wiederholte beinahe Degos Worte.

»Da ist etwas Wahres dran, aber es wäre mir lieber, seine Unschuld wäre erwiesen, als daß er zum Flüchtling würde, den jeder als außerhalb des Gesetzes stehend behandeln kann.«

»Jeder in der Abtei denkt, daß du bei seiner Flucht die Hand im Spiel hattest. War das so?«

»Du fragst sehr direkt, Schwester Etromma. Nein, ich habe Eadulf nicht geholfen zu entkommen.«

»Es wird schwierig sein, die Leute davon zu überzeugen.«

»Ob schwierig oder nicht, das ist die Wahrheit. Ich habe auch kein Interesse daran, meine Zeit damit zu verschwenden, Leute überzeugen zu wollen.«

»Hier wirst du vielleicht feststellen, daß Lügen dir Freunde gewinnen, die Wahrheit aber nur Haß hervorruft.«

»Da wir gerade von Haß reden, du magst Äbtissin Fainder nicht sonderlich, nicht wahr?«

»Es ist nicht erforderlich, daß eine Verwalterin die Äbtissin mag, der sie dient.«

»Gefällt dir die Art, wie sie die Abtei leitet? Ich meine diese Sache mit den Bußgesetzen.«

»Die Regel der Abtei ist verkündet worden. Ihr muß ich gehorchen. Aber ich weiß, worauf du hinauswillst, Schwester. Versuche mich nicht zu überreden, daß ich die Haltung der Äbtissin oder Bischof Forbassachs verurteile. Ob die Bestrafung nun nach den Bußgesetzen oder nach dem Gesetz der Fenechus erfolgt, vergiß nicht, daß der Angelsachse der Vergewaltigung und des Mordes für schuldig befunden wurde. Für dieses Verbrechen muß er nach dem Gesetz bestraft werden - ganz gleich, nach welchem Gesetz. Jetzt habe ich aber zu tun. Heute ist in der Abtei viel zu erledigen. Was ist der Zweck deines Besuchs?«

»Zuerst möchte ich die Äbtissin sprechen.«

»Es würde mich überraschen, wenn sie dich empfängt.«

»Dann machen wir doch die Probe darauf.«

Äbtissin Fainder empfing Fidelma doch. Sie saß wie gewöhnlich hinter ihrem Tisch, mit strenger Miene und mit Mißtrauen in den dunklen Augen.

»Schwester Etromma hat mir berichtet, daß du jede Kenntnis von der Flucht des Angelsachsen leugnest, Schwester Fidelma. Du erwartest doch nicht, daß ich dir das glaube?« lautete ihre bissige Einleitung.

Fidelma lächelte leise und nahm ungebeten Platz. Sie bemerkte das ärgerliche Zucken in der Miene der Äbtissin, doch in diesem Fall war Äbtissin Fainder zu klug, um etwas einzuwenden.

»Ich erwarte nicht, daß du irgend etwas glaubst, Mutter Äbtissin«, antwortete Fidelma gelassen.

»Aber du möchtest dein unschuldiges Nichtwissen vor mir verteidigen?« höhnte die Äbtissin.

»Ich muß gar nichts vor dir verteidigen«, entgegne-te Fidelma. »Ich bin lediglich gekommen, um deine Zustimmung dazu einzuholen, weiterhin Mitglieder dieser Gemeinschaft zu befragen.«

Überrascht lehnte sich Äbtissin Fidelma zurück.

»Zu welchem Zweck?« wollte sie wissen. »Du hast doch alle Fragen gestellt und deine Berufung beim Gericht eingelegt. Die Wahrheit kam heraus, als der Angelsachse aus seiner Zelle entfloh.«

»Gestern hatte ich nicht die Zeit, alle die Fragen zu stellen, mit denen ich die gegen Bruder Eadulf erhobenen Beschuldigungen klären wollte. Deshalb möchte ich heute damit weitermachen.«

Zum erstenmal schaute Äbtissin Fainder völlig verwirrt drein.

»Du vergeudest deine Zeit. Wie ich erfuhr, will Forbassach untersuchen, welchen Anteil am Entkommen des Angelsachsen du möglicherweise hast. Für mich ist seine Flucht ein klarer Beweis seiner Schuld. Wenn er gefaßt ist, wird man entsprechend mit ihm verfahren. Wer ihm zur Flucht verholfen hat, wird ebenfalls bestraft. Denke daran, Schwester Fidelma.«

»Die gerichtlichen Verfahrensregeln sind mir durchaus bekannt, Mutter Äbtissin. Aber bis Bruder Eadulf wieder eingefangen ist, habe ich Zeit, meine Aufgabe fortzuführen. Es sei denn, du weißt etwas, was ich nicht erfahren soll.«

Äbtissin Fainder wurde blaß und setzte zu einer Erwiderung an, als die Tür aufgerissen wurde. Fidelma fuhr herum.

Zu ihrer Überraschung war es der dürre, hagere Flußschiffer namens Gabran, der im Türrahmen stand. Er stutzte, erkannte sie und wurde verlegen.

»Tut mir leid, Lady«, entschuldigte er sich bei der Äbtissin. »Ich wußte nicht, daß du Besuch hast. Die Verwalterin sagte, du wolltest mich sprechen. Ich komme später noch einmal.«

Er ging und schloß die Tür, ohne Fidelma zu grüßen.

Mit leicht belustigter Miene wandte sich Fidelma wieder Äbtissin Fainder zu.

»Nun, das ist hochinteressant. Ich habe noch nie einen Flußschiffer gesehen, der solche Freiheiten in einer Abtei genoß, daß er die Privaträume der Äbtissin betreten konnte, ohne anzuklopfen.«

Äbtissin Fainder war irritiert. »Der Mann ist ein Flegel. Er hat kein Recht, hier so hereinzukommen«, erklärte sie nach kurzem Zögern. Es klang nicht sehr überzeugend. »Wer erlaubt dir überhaupt, mich danach zu fragen?«

Schwester Fidelma lächelte sanft, ohne darauf einzugehen.

Äbtissin Fainder wartete einen Moment, dann zuckte sie die Achseln.

»Der Mann treibt Handel mit der Abtei, das ist alles.« Es hörte sich wie eine Entschuldigung an. Fidelma schwieg, als erwarte sie, daß Äbtissin Fainder fortfahre.

»Bischof Forbassach hat dich letzte Nacht gesucht«, begann die Äbtissin. »Sobald entdeckt wurde, daß der Angelsachse geflohen war, oder vielmehr, daß man ihm zur Flucht verholfen hatte, ließ ich den Bischof holen. Er meinte, wenn jemand wüßte, wo der Angelsachse geblieben wäre, dann müßtest du das sein. Anscheinend hat er dich verfehlt.«

»Nein, das hat er nicht«, erwiderte Fidelma. »Er weckte mich mitten in der Nacht und suchte vergeblich nach Bruder Eadulf.«

Äbtissin Fainder riß die Augen auf. Sie hatte offensichtlich noch nichts von Forbassachs mitternächtlichem Besuch gehört.

»Er hat dein Zimmer durchsucht und nichts gefunden?« fragte sie unsicher.

»Du scheinst überrascht. Nein, er hat nicht Bruder Eadulf unter meinem Bett entdeckt, wenn du das meinst, Mutter Äbtissin. Wenn er Verstand besäße, hätte er das auch nicht erwartet. Bischof Forbassach hat nichts gefunden.«

»Nichts?« Äbtissin Fainder klang ungläubig, und sie grübelte sichtlich über diese Neuigkeit nach. Dann schien ihre hochmütige Haltung von ihr abzufallen.

Sie fügte sich. »Na gut, wenn du noch weitere Fragen stellen willst, dann fang an. Ich bin sicher, jeder in der Abtei hegt dieselbe Vermutung darüber, wer dem Angelsachsen zur Flucht verhalf.«

Fidelma erhob sich und meinte beiläufig: »Vielen Dank für deine Hilfe, Mutter Äbtissin. Es ist gut zu wissen, daß jeder in der Abtei dieselbe Vermutung hegt, wer Eadulf zur Flucht verhalf.«

Äbtissin Fainder war verblüfft. Fragend sah sie Fidelma an.

Fidelma entschied sich zu antworten.

»Wenn jeder in der Abtei eine Idee hat, wer Eadulf bei seiner Flucht behilflich war, dann werden sie es mir vielleicht mitteilen, damit wir dieses Geheimnis rasch lüften können. Vielleicht wissen sie sogar, wer das junge Mädchen wirklich getötet hat, dessen Ermordung man ihm zur Last legt.«

Äbtissin Fainder fand zu ihrer überlegenen Haltung zurück.

»Willst du trotz allem behaupten, daß der Angelsachse unschuldig ist?«

»Ich bin auch jetzt noch davon überzeugt, daß es so ist.«

Die Äbtissin schüttelte langsam den Kopf. »Eins muß ich dir lassen, Schwester Fidelma, du bist hartnäckig in deinem Glauben.«

»Ich freue mich, daß du soviel schon über mich weißt, Mutter Äbtissin. Du wirst auch noch merken, daß ich nie aufgebe, bis die Wahrheit ans Licht gekommen ist.«

»Die Wahrheit ist mächtig und setzt sich durch«, zitierte Äbtissin Fainder spöttisch.

»Ein weiser Spruch, nur stimmt er leider nicht immer. Aber er ist ein Ideal, für das man arbeiten kann, und das habe ich mein Leben lang getan.« Plötzlich setzte sie sich wieder und beugte sich über den Tisch vor. »Da sich die Gelegenheit bietet, muß ich dir ein paar Fragen stellen.«

Äbtissin Fainder wurde von diesem Kurswechsel überrascht. Sie machte eine Handbewegung, die man als Einladung deuten konnte.

»Ich nehme an, Schwester Fial ist weiterhin verschwunden?«

»Ich habe nicht gehört, daß man ihren Aufenthalt ermittelt hätte. Anscheinend hat sie sich entschlossen, die Abtei zu verlassen.«

»Was kannst du mir über diese geheimnisvolle junge Novizin Schwester Fial erzählen?«

Äbtissin Fainder verzog ärgerlich das Gesicht.

»Sie war zwölf oder dreizehn Jahre alt. Sie stammte aus den Bergen im Norden. Ich glaube, sie sagte, sie und Gormgilla kamen gemeinsam her, um dieser Gemeinschaft beizutreten.«

»Zwölf oder dreizehn Jahre ist weniger als das Alter der Wahl«, erinnerte sie Fidelma. »Die Mädchen waren ein wenig zu jung, um sich aus eigenem Antrieb einer Gemeinschaft anzuschließen. Oder haben ihre Eltern sie hergebracht?«

»Ich habe keine Ahnung. Schwester Fial war sehr bewegt, was ja auch natürlich war, da sie doch den Tod ihrer Freundin miterlebt hatte. Sie weigerte sich, weiterzureden, nachdem sie die Ereignisse jener Nacht ausführlich beschrieben hatte. Ich finde es nicht überraschend, daß sie uns verlassen hat. Wahrscheinlich ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt.«

Fidelma stieß einen Schrei aus, als ihr ein Gedanke kam. Die Äbtissin fuhr zusammen.

»Ein Kind unter vierzehn hat keine gesetzliche Verantwortlichkeit. Es muß das Alter der Wahl erreicht haben.«

Äbtissin Fainder wartete höflich. Ärgerlich führte Fidelma den Punkt weiter aus.

»Das bedeutet nach dem Gesetz, daß ein Kind in diesem Alter vor Gericht nicht aussagen kann. Das hätte ich in meiner Berufung geltend machen müssen. Die ganze Aussage Fials war bei Gericht nicht zulässig.«

Das schien die Äbtissin zu belustigen. »Da hast du unrecht, dalaigh. Bischof Forbassach hat es mir erklärt: Die Aussage eines Kindes in seiner eigenen Heimstatt darf gegen einen Verdächtigen verwendet werden.«

Fidelma war verwirrt. »Diese Auslegung des Gesetzes verstehe ich nicht. Wie konnte Fial, dieses Kind, sich in seiner eigenen Heimstatt befinden?«

Fidelma wußte natürlich, daß nach dem Gesetz das Zeugnis eines Kindes vor dem Alter der Reife unter bestimmten Bedingungen zugelassen war - wenn nämlich das Kind über etwas aussagte, was sich zum Beispiel in seinem eigenen Heim ereignet hatte und von dem es persönliche Kenntnis besaß. Nur in einem solchen Fall wurde die Aussage berücksichtigt.

Mit einem Lächeln überlegenen Wissens erwiderte Äbtissin Fainder: »Die Gemeinschaft bildet nach dem Urteil Forbassachs die Heimstatt ihrer Mitglieder. Das Kind war hier als Mitglied der Gemeinschaft. Dies war ihr Heim.«

»Das ist doch Unsinn!« fauchte Fidelma. »Das verdreht den Sinn des Gesetzes. Sie war als Novizin hergekommen, und nach dem, was gesagt wurde, hielt sie sich erst wenige Tage in der Abtei auf. Wie kann man nach dem Geist des Gesetzes da die Abtei als ihr eigenes Heim, als ihre Gemeinschaft bezeichnen?«

»Weil Bischof Forbassach es so entschied. Du solltest dich über dieses Gesetz mit ihm streiten und nicht mit mir.«

»Bischof Forbassach!« Fidelma verzog ärgerlich das Gesicht. Der Richter von Laigin hatte das Gesetz ganz erheblich gebeugt. Der Gedanke, daß ein unmündiges Kind ausgesagt hatte, war ihr erst jetzt gekommen; doch wenn Forbassach bereit war, das Recht so weit zu beugen, dann war es kein Wunder, daß er entschlossen war, seine früheren Urteile aufrechtzuerhalten. Wenn doch nur Barran über die Berufung entschieden hätte, dann wäre Eadulf jetzt frei, und ...

Äbtissin Fainder war bei ihrem spöttischen Ton errötet.

»Bischof Forbassach ist ein weiser und gerechter Richter«, verteidigte sie ihn. »Ich verlasse mich vollständig auf sein Wissen.«

Fidelma bemerkte, mit welcher Überzeugung die Äbtissin für den Brehon eintrat.

»Ihr scheint in dieser Abtei die Dienste Bischof Forbassachs häufig zu benötigen«, meinte Fidelma ruhig.

Die Äbtissin errötete noch tiefer.

»In den letzten Wochen haben mehrere Zwischenfälle den Frieden der Abtei gestört. Außerdem ist Forbassach nicht nur Brehon, sondern auch Bischof, und er hat seine Zimmer in der Abtei.«

»Forbassach wohnt in der Abtei? Das habe ich nicht gewußt«, warf Fidelma ein. »Nun, es ist schon ein eigenartiger Ort, an dem mehrere Menschen getötet wurden und andere verschwunden sind. Ich darf wohl annehmen, daß das nicht üblich ist?«

Äbtissin Fainder ignorierte ihren ironischen Ton.

»Deine Annahme ist richtig, Schwester Fidelma«, erwiderte sie kühl.

»Erzähl mir von Bruder Ibar.«

Einen Moment verschleierten sich die Augen der Äbtissin. »Ibar ist tot. Er hat seine gerechte Strafe just an dem Tag empfangen, als du hier ankamst.«

»Ich weiß, daß er gehängt wurde«, erklärte Fidelma. »Ich habe gehört, er soll einen Schiffer getötet und beraubt haben? Ich würde gern etwas über die Einzelheiten des Verbrechens erfahren.«

Äbtissin Fainder zögerte. »Ich verstehe nicht, was das mit deinem angelsächsischen Freund zu tun hat«, meinte sie.

»Tu mir den Gefallen«, bat Fidelma. »Ich finde es seltsam, daß es an jenem Kai drei Todesfälle in so kurzer Zeit gegeben hat.«

Äbtissin Fainder schaute entsetzt drein. »Drei Todesfälle?«

»Das Mädchen Gormgilla, der Schiffer und dann ein Wachmann namens Daig.«

Die Äbtissin runzelte die Stirn. »Daigs Tod war ein Unfall.«

Fidelma fragte sich, warum der Mund der Äbtissin auf einmal so verkniffen war.

»Daig gehörte der Wache an, die Bruder Ibar festnahm, und später wurde er selbst tot aufgefunden.«

»So war es überhaupt nicht!« Die Stimme der Äbtissin war schrill und überschlug sich fast.

»Ich dachte, ich hätte nur die Tatsachen festgestellt. Wie war es denn? Das möchte ich gern wissen.«

Wieder antwortete die Äbtissin erst nach kurzem Zögern.

»Gabran, der Flußschiffer, treibt regelmäßig Handel mit der Abtei. Das ist der Mann, der vorhin an meine Tür kam. Es war einer aus seiner Mannschaft, der umgebracht wurde. An seinen Namen kann ich mich nicht erinnern.«

»Das ist traurig«, bemerkte Fidelma eisig.

»Traurig?«

»Daß der Name eines Menschen, dessen Tod zur Hinrichtung eines Mönchs aus eurer Gemeinschaft führte, unbekannt bleibt.«

Äbtissin Fainder schaute unsicher drein; sie wußte nicht, ob Fidelma sie verspottete oder nicht.

»Schwester Etromma weiß den Namen sicher, wenn dir so viel daran liegt. Es ist ihre Aufgabe als rechtaire, so etwas zu wissen. Soll ich sie holen lassen?«

»Nicht nötig«, antwortete Fidelma. »Ich kann später mit ihr sprechen. Erzähl weiter.«

»Es ist eine scheußliche Geschichte.«

»Unnatürlicher Tod ist selten anders als scheußlich.«

»Der Schiffer soll betrunken gewesen sein. Er hatte im Gasthaus zum Gelben Berg gezecht und war auf dem Rückweg zu Gabrans Schiff. Es hatte für zwei Tage angelegt. Am Kai schlug ihm jemand mit einem schweren Stück Holz von hinten den Schädel ein. Der Mörder nahm der Leiche Geld und eine goldene Kette ab.«

»Gab es Zeugen für den Überfall auf den Mann?«

Äbtissin Fainder schüttelte den Kopf. »Niemand hat es wirklich gesehen.«

»Wie kam man dann auf Bruder Ibar?«

»Daig war Hauptmann der Wache. Er nahm Ibar gefangen.«

»Hauptmann? War das nicht Mels Stellung?«

»Fianamail hatte Mel bereits zum Befehlshaber seiner Palastwache ernannt.«

Fidelma überlegte einen Moment. »Ich hörte, der Mord an dem Schiffer geschah einen Tag nach dem Tod von Gormgilla?«

»Das stimmt. Fianamail gefiel das schnelle Handeln Mels, und er beförderte ihn noch am selben Morgen.«

»Mel wurde noch vor der Verhandlung gegen Bru-der Eadulf befördert?« Fidelma wiegte verwundert den Kopf. »Ein Brehon könnte das als Beeinflussung eines Zeugen werten.«

Äbtissin Fainder errötete wieder. »Bischof Forbas-sach tat das nicht. Er riet dem König, Mel zu befördern. Es ist mir schon mehrmals aufgefallen, daß du die Grundsätze und Handlungen des Brehons von Laigin in Zweifel ziehst. Du solltest daran denken, daß er auch Bischof ist und in Fragen des Glaubens wie des Rechts über dir steht. Ich würde es mir sehr überlegen, ehe ich .«

Sie bemerkte das Funkeln in Fidelmas Augen, deren Farbe sich von Grün zu kaltem Blau verändert hatte.

»Ja?« fragte Fidelma ruhig. »Ja?«

Äbtissin Fainder hob das Kinn. »Mir erscheint es moralisch nicht vertretbar, eine so angesehene Persönlichkeit wie Bischof Forbassach anzugreifen, noch dazu, wenn du nicht einmal aus diesem Königreich stammst.«

»Das Gesetz der Brehons ist das Gesetz, ganz gleich, in welchem der fünf Königreiche von Eireann man sich befindet. Als der Großkönig Ollamh Fodhla vor fast anderthalbtausend Jahren zuerst befahl, die Gesetze zu sammeln, wurde festgelegt, daß die Gesetze der Fene-chus in jedem Teil dieses Landes gelten sollten. Wenn ein Urteil falsch ist, dann ist es die Pflicht aller, vom niedrigsten bo-aire bis zum Oberrichter der fünf Königreiche, zu verlangen, daß die Irrtümer erläutert und berichtigt werden.«

Äbtissin Fainders Miene wurde äußerst angespannt, als sie Fidelmas eindringliche Worte vernahm. Klugerweise ging sie nicht weiter darauf ein.

»Nun«, sagte Fidelma und lehnte sich zurück, »du sagtest, daß Mel befördert und Daig jetzt Hauptmann der Wache an den Kais geworden war. Wie hat er Bruder Ibar gefangen? Du gebrauchtest den Ausdruck >gefangen<. Das Wort deutet daraufhin, daß Bruder Ibar Widerstand leistete oder zu fliehen versuchte.«

»Das war nicht der Fall. Als Daig die Leiche des Schiffers entdeckte, wußte er, daß es sich um ein Mitglied der Mannschaft Gabrans handelte. Er ließ Ga-bran holen, damit er den Mann identifizierte, und Ga-bran stellte fest, daß die Goldkette, die der Mann gewöhnlich trug, fehlte und ebenso einige Münzen, die ihm gerade als Lohn ausgezahlt worden waren. Die Wirtin Lassar bezeugte, daß der Schiffer kurz zuvor ihr Gasthaus mit reichlich Geld verlassen hatte. Ga-bran hatte ihm dort gerade seinen Lohn ausgehändigt. Deshalb hatte der Mann auch getrunken. Es war ein klarer Fall von Raub.«

»Nun gut, aber welcher Weg führte - ohne alle Zeugen - vom Überfall auf den Schiffer zu Bruder Ibar?«

»Einen Tag später wurde Ibar gefaßt, wie er auf dem Markt versuchte, die Goldkette des Schiffers zu verkaufen. Die Ironie des Zufalls wollte es, daß er sie Gabran selbst anbot. Der rief dann Daig, und daraufhin wurde Ibar verhaftet, für schuldig befunden, verurteilt und gehängt.«

Diese Schilderung stimmte Fidelma nicht glücklich.

»Es war eine Dummheit, falls Bruder Ibar schuldig war«, überlegte sie. »Ich meine den Versuch, die Goldkette des Opfers ausgerechnet seinem Kapitän zu verkaufen. Wenn Gabran dafür bekannt war, daß er Handel mit der Abtei trieb, hätte Ibar doch wissen müssen, daß Gabran die Kette erkennen würde? Er hätte sich einen weniger gefährlichen Weg gesucht, die Kette zu veräußern.«

»Es ist nicht meine Sache, zu erraten, was in Ibars Kopf vor sich ging.«

»Wie du gesagt hast, treibt Gabran seit geraumer Zeit Handel mit der Abtei. Wie lange war Bruder Ibar hier?«

Die Äbtissin machte eine verlegene Bewegung.

»Ich glaube, schon einige Zeit. Bereits bevor ich herkam.«

»Dann stimmt meine Vermutung. Was hatte Bruder Ibar zu der Beschuldigung zu sagen?«

»Er leugnete alles, sowohl den Mord wie den Raub.«

»Aha. Wie erklärte er, daß er im Besitz der Kette war?«

»Daran kann ich mich nicht erinnern.«

»Wozu brauchte Bruder Ibar so dringend Geld -wenn wir davon ausgehen, daß er den Schiffer ermordete und beraubte?«

Die Äbtissin zuckte die Achseln und schwieg.

»Und was passierte mit Daig? Wie kam er zu Tode?«

»Ich sagte doch schon, es war ein Unfall. Er ertrank im Fluß.«

»Ein Hauptmann der Flußwache ertrank?«

»Was willst du damit unterstellen?« fragte Äbtissin Fainder.

»Ich treffe nur eine Feststellung. Wie konnte jemandem, der die Fähigkeit zum Hauptmann der Wache an den Kais besaß, ein solcher Unfall zustoßen?«

»Es war dunkel. Ich glaube, er rutschte aus und fiel vom Kai. Dabei schlug er mit dem Kopf gegen einen Holzpfeiler und war bewußtlos. Deshalb ertrank er, ehe ihm jemand helfen konnte.«

»Gab es Zeugen für den Unfall?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Von wem hast du dann diese Einzelheiten?«

Äbtissin Fainder runzelte ärgerlich die Stirn. »Von Bischof Forbassach.«

»Also hat er diesen Todesfall auch untersucht? Wie lange nach Bruder Ibars Verhandlung ereignete sich dieser Unfall?«

»Wie lange? Soweit ich mich erinnere, kam Daig noch vor der Verhandlung zu Tode.«

Fidelma schloß einen Moment die Augen. Sie wollte sich von den Merkwürdigkeiten im Zusammenhang mit den Geschehnissen in der Abtei nicht mehr überraschen lassen.

»Davor? Dann erfolgte Daigs Aussage also nicht vor Gericht?«

»Es wurden nicht viele Beweise benötigt. Gabran war der Hauptzeuge. Er konnte den Ermordeten identifizieren. Er berichtete von dem fehlenden Geld und erkannte auch die Goldkette, die ihm Ibar verkaufen wollte.«

»Das paßt alles sehr gut zusammen. Dieser Gabran war der einzige, der das Motiv des Raubes für die Ermordung des Schiffers angab; er war der einzige, der behauptete, die Gegenstände seien gestohlen worden, und er war auch der einzige, der Bruder Ibar mit dem Verbrechen in Verbindung brachte. Und auf die Aussage dieses einen Mannes hin wurde Bruder Ibar gehängt. Beunruhigt dich das nicht?«

»Weshalb sollte es mich beunruhigen? Bischof For-bassach hatte keine Bedenken, die Aussage anzuerkennen. Außerdem war es nicht nur Gabrans Aussage. Als Daig hörte, daß Ibar versucht habe, die Goldkette zu verkaufen, ließ er Ibars Zelle hier in der Abtei durchsuchen, und dabei wurden die Kette und das Geld gefunden. Außerdem hat die Sache mit Ibar nichts mit dem Angelsachsen zu tun, Schwester. Was willst du beweisen? Ich hätte gedacht, es wäre jetzt deine Pflicht als dalaigh, uns dabei zu helfen, den Angelsachsen wieder einzufangen.«

Fidelma stand plötzlich auf. »Meine Pflicht als dalaigh besteht darin, die Wahrheit in dieser Angelegenheit zu ermitteln.«

»Du hast die Tatsachen vernommen, und es sind viele.«

»Die Unwahrheit reicht oft weiter als die Wahrheit«, sagte Fidelma; ihr war ein Ausspruch ihres Mentors, des Brehons Morann, eingefallen.

Von fern erklang eine Glocke, die zum mittäglichen Angelusgebet rief.

Äbtissin Fainder erhob sich ebenfalls. »Ich muß meinen Pflichten nachkommen.«

»Eine Frage noch zuvor: Wo finde ich die Zimmer des Abts Noe?«

»Noe?« Die Frage schien Äbtissin Fainder zu überraschen. »Dies ist nicht mehr der Hauptsitz des Abts, wenn er auch noch eine Wohnung hier hat. Er hat jetzt Räume im Palast des Königs inne, aber dort wirst du ihn nicht finden. Er ist gestern aus Fearna nach dem Norden abgereist. Man erwartet ihn erst nach einiger Zeit zurück.«

»Nach dem Norden?« Fidelma war enttäuscht. »Weißt du, wohin er wollte?«

»Die Reisen von Abt Noe gehen mich nichts an.«

Fidelma neigte den Kopf und verließ das Zimmer der Äbtissin. Als sie den kleinen viereckigen Hof erreichte, blieb sie instinktiv im Schatten einer Nische stehen. Kurz darauf kam die Äbtissin aus ihrem Zimmer und eilte über den Hof. Sie ging nicht zu der Kapelle, in der sich die Mitglieder der Gemeinschaft zum Mittagsgebet versammelten, sondern verschwand durch eine Seitentür.

Fidelma folgte ihr in einigem Abstand. Als sie die Holztür öffnete, stellte sie fest, daß es die Verbindungstür zu einem weiteren Hof war, zu dem, dessen Tor auf den Kai hinausging. Sie trat rasch hinter die Tür zurück, die sie etwas offen ließ, denn in der Mitte des Hofs stieg die Äbtissin gerade auf ihr Pferd. Sonst war niemand zu sehen. Dann ritt die Äbtissin im Schritt zum Tor hinaus. Fidelma war verblüfft, daß die Äbtissin ihre Abtei in dem Augenblick verließ, in dem die Angelusglocke die Gemeinschaft zur Andacht rief. Sie fragte sich, was wohl so wichtig wäre, daß sie fort mußte.

Fidelma lief rasch über den Hof zu dem noch offenen Tor zu den Kais. Sie schaute sich nach beiden Seiten um, aber von der Äbtissin und ihrem Pferd war nichts mehr zu sehen. Gleich hinter dem Tor mußte die Äbtissin ihr Pferd in Galopp gesetzt haben, so schnell war sie verschwunden. Doch zu ihrer Überraschung erblickte Fidelma Enda, der zu Pferde aus dem Schatten der Abteimauern auftauchte und gemächlich am Flußufer entlangtrabte. Offensichtlich folgte er der Äbtissin.

Ein befreites Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie hatte beinahe vergessen, daß sie Dego und Enda gebeten hatte, herauszufinden, wohin die Äbtissin immer ritt, und diesen Auftrag hatte sie nicht widerrufen. Endlich würde Enda sie verfolgen und das Geheimnis lüften können.

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