Kapitel 15

»Gabran?« Schwester Etromma schien überrascht, als sie Fidelma am Tor der Abtei gegenüberstand. »Wieso glaubst du, ich wüßte, wo er sich aufhält?«

Fidelma verlor etwas die Geduld mit der Verwalterin.

»Du bist die rechtaire der Abtei. Da Gabran regelmäßig mit der Abtei Handel treibt, nehme ich an, daß man dich als erste danach fragen sollte, wo er sich möglicherweise befindet.«

Schwester Etromma gab zu, daß das logisch wäre, breitete aber mit hilfloser Geste die Hände aus.

»Es tut mir leid, Schwester. Es sind schwierige Zeiten, und seit der Flucht des Angelsachsen gestern ist die Mutter Äbtissin besonders ...« Sie brach ab und verzog das Gesicht. »Wirklich, ich weiß nicht, wo er ist.« Ihr Ton wurde klagend. »Plötzlich suchen alle nach Ga-bran. Ich verstehe das nicht.«

»Alle?« fragte Fidelma rasch. »Wieso alle?«

Schwester Etromma korrigierte sich.

»Ich meine, heute haben mich schon mehrere Leute gefragt, ob ich wüßte, wo er ist. Unter anderen die Mutter Äbtissin. Ich habe ihr erst vor kurzem gesagt, daß ich nicht seine Hüterin bin.«

Fidelma zog zweifelnd die Brauen hoch bei der Vorstellung, die vogelähnliche, nervöse Verwalterin sollte so etwas Unerhörtes zu der hochmütigen Äbtissin gesagt haben.

»Also hat Äbtissin Fainder heute morgen nach ihm gefragt?« erkundigte sie sich nachdenklich.

»Gefragt, ob ich wüßte, wo er ist«, verbesserte sie die Verwalterin.

»Aber du hast keine Ahnung, wo er steckt?«

Schwester Etromma stieß einen Seufzer der Erbitterung aus.

»Der Mann wohnt auf seinem Schiff, sofern er nicht zu betrunken ist, um zu ihm zurückzufinden. Er stammt aus Cam Eolaing. Sein Schiff liegt nicht am Kai der Abtei, also wird er irgendwo auf dem Fluß sein, irgendwo zwischen Cam Eolaing und Loch Garman südlich von hier. Ich bin kein Augur, also kann ich dir auch nicht genau sagen, wo er sich befindet.«

Die Reizbarkeit der Verwalterin überraschte Fidelma.

»Vielleicht kannst du eine Vermutung wagen?« fragte sie freundlich.

Schwester Etromma wollte sich erst weigern, dann zuckte sie die Achseln.

»Äbtissin Fainder ist in Richtung auf Cam Eolaing weggeritten. Ich nehme an, dort sollte man wohl zuerst nach ihm suchen.«

Als Schwester Etromma sich abwenden wollte, hielt Fidelma sie zurück. »Es gibt noch ein paar Fragen, die ich dir stellen möchte, Schwester Etromma. Offensichtlich bist du gegen Äbtissin Fainder eingestellt. Warum?«

Die Verwalterin starrte sie trotzig an. »Ich dachte, das wäre klar.«

»Manchmal sind Dinge so klar, daß man sie übersieht.«

»Ich hatte ein Ziel vor meinen Augen. Kein sehr hohes Ziel. Soll ich den Menschen lieben, der es mir genommen hat?«

»Dann muß dir auch Abt Noe verhaßt sein, weil er Fainder hergebracht und dir als Äbtissin vor die Nase gesetzt hat?«

Schwester Etromma zuckte die Achseln. »Das ist mir jetzt gleich. Ich sagte dir schon, daß ich nun andere Pläne habe.«

»Was ist mit diesem Kaufmann Gabran?« wechselte Fidelma das Thema. »Er scheint ein besonderes Verhältnis zur Äbtissin zu haben. Neulich betrat er ihr Zimmer, ohne anzuklopfen.«

Schwester Etromma lächelte säuerlich. »Das kannst du seinem groben, ungehobelten Benehmen zuschreiben. Aber es stimmt, daß er wohl auch ein paar private Geschäfte für die Äbtissin erledigt. Er meint, das setze ihn in ein besonderes, vertrautes Verhältnis zu ihr. Er bringt ihr feine Waren wie Wein mit, wenn er vom Seehafen am Loch Garman zurückkommt.«

Fidelma wartete einen Moment, bevor sie ein anderes Thema aufgriff.

»In der Nacht, in der Gormgilla ermordet wurde .«

»Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß«, unterbrach sie Schwester Etromma eilig.

»Ich möchte noch etwas klären. Als Fainder ihre Leiche in die Abtei bringen und dich holen ließ, wo genau warst du da? Lagst du im Schlaf?«

Schwester Etromma schüttelte den Kopf. »Nein. Ich begegnete unserem Arzt, Bruder Miach, der zur Untersuchung der Toten gerufen worden war, auf meinem Weg von der Bibliothek zu meinem Zimmer.«

»Warum warst du so spät noch in der Bibliothek?«

»Wegen Abt Noe. Mich hatten die Stallburschen aufgehalten, die mich fragten, ob sie Bischof Forbas-sachs Pferd abzäumen sollten .«

Fidelma war verwirrt. »Ich dachte, du sprachst von Abt Noe?«

Schwester Etromma seufzte vor Ungeduld.

»Forbassach war spät in der Abtei angekommen und hatte den Stall in aller Eile verlassen. Er hatte ihnen nicht gesagt, was mit seinem Pferd geschehen sollte, ob er es an dem Abend noch brauchte. Er war offensichtlich ein ganzes Stück scharf geritten, denn das Pferd war schweißbedeckt. Ich gab den Stallburschen die nötigen Anweisungen und war auf dem Wege zu meinem Bett .«

»Wann war er in die Abtei zurückgekehrt? Vor Äbtissin Fainder oder nach ihr?« fragte Fidelma. Sie nahm als sicher an, daß Forbassach und Fainder getrennt von Raheen hergeritten waren, aber sie wollte Gewißheit.

»Es war einige Zeit, bevor Fainder verkündete, sie habe die Leiche des Mädchens entdeckt. Mir wurde gesagt, sie sei gerade bei der Abtei angekommen, als sie den Fund machte.«

Fidelma überlegte. Forbassach mochte wohl eingetroffen sein, bevor das Mädchen ermordet wurde. Sie fragte sich, ob das von Bedeutung war. Dann fuhr sie fort: »Du gingst also vom Stall zu deinem Zimmer?«

»Nein. Ich war auf dem Weg zu meinem Zimmer, als ich ein Geräusch in der Bibliothek hörte. Ich schaute hinein und sah Abt Noe. Ich fragte ihn, ob ich ihm helfen könne. Schließlich bin ich die Verwalterin.«

Fidelma suchte ihre Überraschung zu verbergen.

»Also war Abt Noe in jener Nacht auch in der Abtei? Ich dachte, seine Wohnung wäre in Fianamails Burg.«

»Er sagte, er sehe etwas in alten Büchern nach.«

»Wie lange warst du bei ihm, bevor du in dein Zimmer gingst?«

»Nur einige Augenblicke. Er erklärte mir ziemlich barsch, daß er meine Hilfe nicht brauche.«

»Und dann?«

»Dann ging ich weiter zu meinem Zimmer, bis ich, wie gesagt, Bruder Miach traf, der mir mitteilte, die Äbtissin sei zurück und eine junge Novizin der Abtei sei tot aufgefunden worden. Ich schloß mich ihm an, und das übrige weißt du.«

Fidelma schwieg einen Moment. Schwester Etrom-ma schaute sie forschend an.

»Beantwortet das deine Fragen?«

»Es hilft«, erwiderte Fidelma mit einem raschen Lächeln. »Es hilft mir sehr.«

Fidelma kehrte eilig zu dem Gasthaus zurück, wo inzwischen Dego und Enda die Pferde für die Suche nach dem Schiffer gesattelt hatten.

»Hast du erfahren, wo er ist?« begrüßte sie Enda, als sie in den Stall kam.

»Nicht genau. Aber als erstes reiten wir nach Cam Eolaing. Anscheinend sucht Äbtissin Fainder auch nach Gabran und ist uns vorausgeritten.«

»Äbtissin Fainder?« Das interessierte Dego. »Ich frage mich, weshalb sie Gabran sucht?«

Nachdenklich bestieg Fidelma ihr Pferd. Eine Antwort für ihn hatte sie auch nicht.

Eadulf fühlte sich in einer Falle gefangen. Er wußte, daß er von dem herankommenden Schiffer nichts Gutes zu erwarten hatte. Die Spannung, die in der Luft lag, teilte sich Dalbach mit.

»Du kennst meinen Vetter?«

»Ich weiß, daß er Gabran heißt und mich heute morgen umbringen wollte.«

»Ach, es ist also Gabran«, sagte Dalbach. »Der ist nicht mein Vetter, allerdings kenne ich ihn. Gabran ist ein Kaufmann, der hier manchmal vorbeikommt. Ich verstehe nicht, weshalb er dir etwas tun will, aber ich merke, daß du ihn fürchtest. Rasch - du findest hier eine Leiter zum Dachboden. Geh rauf und versteck dich - ich verrate dich nicht. Du kannst mir trauen. Beeil dich!«

Eadulf zögerte nur einen Moment. Er hatte keine andere Wahl. Der Schiffer mit dem Fuchsgesicht war schon fast an der Tür.

Er riß seinen Mantel vom Stuhl, stellte den Stuhl richtig hin, sprang zur Leiter und kletterte hinauf. Er wußte, daß sein Leben an einem dünnen Faden hing, denn der Schiffer war bewaffnet, und er selbst war schutzlos.

Er hatte gerade noch Zeit, sich auf den Holzplanken, die den Boden bildeten, lang hinzulegen, mit dem Gesicht nahe der Luke, so daß er einen Teil des Raumes einsehen konnte, als sich die Tür der Hütte auch schon öffnete.

»Guten Tag, Dalbach. Ich bin’s, Gabran«, rief der Schiffer beim Eintreten.

Dalbach ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

»Gabran, es ist lange her, seit du in meiner Hütte warst. Guten Tag. Komm und koste meinen Met und erzähl mir, was dich herführt.«

»Das mach ich gerne«, erwiderte der andere.

Der Mann verließ Eadulfs Gesichtskreis. Er hörte, wie etwas in einen irdenen Krug gegossen wurde.

»Auf deine Gesundheit, Dalbach.«

»Zur Gesundheit, Gabran.«

Einen Moment war es still, dann schmatzte Gabran anerkennend.

»Ich wollte mich hier in der Nähe mit einem Kaufmann treffen, der mir neue Ware aus Rath Loirc bringen sollte. Du hast wohl nichts von einem Fremden hier in der Gegend heute morgen gehört?« fragte er.

Eadulf erstarrte, unsicher, ob sein neuer Freund ihn verraten würde. »Ich habe heute von keinem Kaufmann hier gehört«, erwiderte Dalbach ausweichend.

»Na, ich muß zurück zu meinem Schiff und einen von meinen Leuten auf die Suche nach ihm schicken.« Er hielt inne und schien zu überlegen. »Waren andere Fremde hier? Es wird nach einem entkommenen Mörder, einem Angelsachsen, in dieser Gegend gesucht.«

»Ein Angelsachse, sagst du?«

»Ein Mörder, der aus Lord Cobas Burg geflüchtet ist und dabei einen Wachmann, der ihn aufhalten wollte, umgebracht und einen anderen bewußtlos geschlagen hat. Coba hatte dem Mann Freistätte gewährt, und so hat er ihm die Freundlichkeit vergolten.«

Eadulf knirschte mit den Zähnen bei den Lügen, die dem Mann so glatt von der Zunge gingen.

»Das hört sich schrecklich an«, sagte Dalbach leise.

»Das ist auch schrecklich. Coba läßt seine Leute nach ihm suchen. Na, wie gesagt, ich muß zurück zu meinem Schiff. Falls dir mein verirrter Kaufmann begegnet ... aber du sagst, du hast niemanden gesehen?«

»Ich habe niemanden gesehen«, bestätigte Dalbach. Eadulf hörte den trockenen Humor aus seiner Stimme heraus, mit dem er das »gesehen« betonte. Der Blinde log ja nicht.

»Na, schönen Dank für den Met. Ich schicke einen meiner Leute in die Berge, der soll den fehlenden Kaufmann und meine Ware auftreiben. Falls der inzwischen hierherkommt, sag ihm, er soll auf meinen Mann warten. Ich verliere ungern eine solche wertvolle .«

Er brach plötzlich ab. Eadulf konnte nicht sehen, was unten geschah, und erschrak.

»Wenn niemand hier war, wieso stehen dann zwei Schüsseln auf dem Tisch . mit den Resten von zwei Mahlzeiten?« In Gabrans Stimme schwang Mißtrauen.

Eadulf stöhnte innerlich. Er hatte die Suppe vergessen, die er gegessen hatte. Der Rest stand deutlich sichtbar auf dem Tisch.

»Ich habe nicht gesagt, daß niemand hier war.« Dalbachs Antwort kam rasch und sicher. »Ich dachte, du meinst Fremde. Es war keiner hier, den ich als Fremden ansehe.«

Es trat eine gespannte Pause ein. Die Erklärung schien Gabran zu genügen.

»Na, sei gewarnt. Der Angelsachse hat eine glatte Zunge, aber er ist ein Mörder.«

»Ich hab gehört, der Angelsachse wäre ein Mönch.«

»Ja, aber er hat ein junges Mädchen vergewaltigt und umgebracht.«

»Gott sei seiner Seele gnädig!«

»Gott mag ihm gnädig sein, aber wir sind es bestimmt nicht, wenn wir ihn fangen«, lautete die zornige Antwort. »Einen guten Tag, Freund Dalbach.«

Der Mann trat wieder in Eadulfs Gesichtsfeld, dann öffnete sich die Tür.

»Ich wünsch dir Erfolg bei der Suche nach deinem Freund, dem Kaufmann, Gabran«, rief Dalbach. Ihm antwortete ein Gemurmel.

Die Tür schloß sich. Eadulf wartete ein bißchen, dann schob er sich auf Knien zu einer kleinen Öffnung. Er sah den Schiffer Gabran auf dem Weg zum Wald davongehen. Er unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung und kehrte zur Leiter zurück.

»Ist er fort?« flüsterte Dalbach.

»Ja«, rief Eadulf leise hinunter. »Ich weiß nicht, wie ich dir dafür danken soll, daß du mich nicht verraten hast. Warum eigentlich?«

»Ja, warum eigentlich?« wiederholte Dalbach.

Eadulf stieg die Leiter herunter.

»Warum hast du mich geschützt? Wenn dieser Ga-bran dein Freund ist, warum hast du mich vor ihm versteckt? Du hast gehört, was er über mich gesagt hat. Ich bin ein Mörder, der anscheinend vor nichts zurückschreckt, um zu entkommen. Manch anderer hätte sich durch mich bedroht gefühlt.«

»Hast du das alles getan, was er von dir behauptet hat?« fragte Dalbach plötzlich.

»Nein, aber .«

»Bist du aus Cobas Burg geflüchtet und hast einen Wachmann erschlagen, wie er sagte?«

»Ich habe einen Bogenschützen bewußtlos geschlagen, aber ich habe keinen Wachmann getötet. Der Bogenschütze versuchte, mich zu töten. Es war Gabran selbst, der zu mir kam und mir erklärte, ich wäre frei und könnte gehen. Sobald ich aus den Wällen der Burg heraus war, versuchte er mich niederzuschießen.«

Dalbach stand einen Moment schweigend und nachdenklich da. Dann berührte er Eadulfs Arm.

»Wie gesagt, Blindheit beraubt einen Menschen nicht aller seiner Sinne. Oft werden die anderen dadurch noch schärfer. Ich versicherte dir schon, Bruder Eadulf, daß ich dir traue.« Sein Ton war ernst. »Was Gabran anbelangt, ist >Freund< wohl nicht der richtige Ausdruck. Sein Weg führt ihn immer mal vorbei, und dann schaut er herein und begrüßt mich. Ich weiß, daß er Handel treibt, und manchmal bringt er mir Geschenke von Freunden mit. Nun setz dich wieder, Bruder Eadulf, und dann beenden wir unser Mahl und sprechen über deinen Plan, nach Fearna zurückzukehren.«

Eadulf nahm wieder Platz. »Meinen Plan?« fragte er, noch vom Erscheinen Gabrans verwirrt.

»Bevor Gabran auftauchte, sprachen wir von deinem Plan, nach Fearna zu gelangen und deine Freundin aus Cashel zu suchen«, erinnerte ihn Dalbach.

»Vorher möchte ich noch mehr über diesen Gabran erfahren. Du erwähntest, daß er Kaufmann ist?«

»Ja, er ist Händler. Er besitzt ein eigenes Schiff und fährt den ganzen Fluß ab.«

»Ich bin mir sicher, daß ich ihn einmal in der Abtei Fearna gesehen habe.«

»Ohne Zweifel. Er treibt regelmäßig Handel mit der Abtei.«

»Aber warum kam er zu Cobas Burg und erklärte mir, ich wäre frei und könnte gehen? Ich dachte, er gehörte zu Cobas Leuten.«

»Vielleicht hat der Fürst von Cam Eolaing ihn dafür bezahlt, dich scheinbar zu entlassen und dann niederzuschießen«, vermutete Dalbach.

»Das könnte sein«, meinte Eadulf nach kurzem Nachdenken. »Aber warum sollte mich Coba zuerst aus der Abtei befreien, wenn er doch meinen Tod wollte?«

»Gabran steht wahrscheinlich jedem zu Diensten, der ihn bezahlt, also war es vielleicht auch jemand anderer. Aber das ist ein Geheimnis, das du ergründen mußt. Ich kann dir nur sagen, daß Gabran am ganzen Fluß entlang gut bekannt ist.«

»Du sagtest, er kommt oft hier vorbei.«

»Ich glaube, er hat eine Familie in den Bergen.«

Das interessierte Eadulf, und er sprach es auch aus.

»Oft kommt er von seinen Besuchen in den Bergen mit jungen Mädchen zurück. Ich nehme an, es sind Verwandte von ihm, die ihn hinunter zum Fluß begleiten.«

»Du nimmst es an? Stellt er sie dir nicht vor?«

»Er läßt sie im Wald dort drüben, wenn er mich besucht, aber ich höre ihre Stimmen in der Ferne. Er kommt wegen der Erfrischung, weißt du - ich halte immer Met bereit.«

»Sie kommen nie mit ihm zu deiner Hütte?«

»Niemals«, bestätigte Dalbach. »Aber wie willst du deinen Weg fortsetzen? Nach Gabrans Auftauchen meine ich, du solltest nicht mehr zögern. Wenn an Stelle von Gabran mein Vetter aus Fearna gekommen wäre, dann wärst du vermutlich entdeckt worden.«

»Wahrscheinlich ist es klug, hier nicht länger zu bleiben als notwendig«, stimmte ihm Eadulf zu.

»Dann nimm dir Kleidung von mir und einen Hut, damit du nicht gleich kenntlich bist.«

»Du bist gütig, Dalbach.«

»Nicht gütig, wenn auch die Weisen uns lehren, die Not eines anderen mit Güte zu sehen. Es befriedigt mich selbst, wenn ich ein klein wenig zur Gerechtigkeit beitragen kann.« Er stand auf. »Komm mit, ich zeige dir, wo ich meine überzählige Kleidung habe, und du suchst dir etwas für deinen weiteren Weg aus. Hast du dir überlegt, wie du dich Fearna annähern willst?«

»Wie ich mich annähern will?«

»Welchen Weg du dorthin einschlagen willst. Ich habe gehört, Brehon Bischof Forbassach ist schlau. Er wird sich sagen, daß du mit deiner Freundin Schwester Fidelma Verbindung aufnehmen willst, und deshalb auf dem Weg von Cam Eolaing her Wachen aufstellen. Es wäre besser, nach Norden zu gehen über die Berge und dann von Norden her auf Fearna zu. Aus der Richtung werden sie dich nicht erwarten.«

Eadulf überlegte kurz. »Das ist eine gute Idee«, meinte er.

»Die Nacht wird kalt, also versuch nicht, in den Bergen zu bleiben. Es gibt eine winzige Freistätte in der Kirche der heiligen Brigitta auf dem Südhang des Gelben Berges. Merk dir diesen Ort. Der Vorsteher, Bruder Martan, ist ein freundlicher Mensch. Wenn du ihm meinen Namen nennst, gibt er dir sicher ein warmes Bett und Essen.«

»Daran werde ich denken. Du bist einer freundlosen Seele ein guter Freund gewesen, Dalbach.«

»Wie heißt die Losung - justitia omnibus. Gerechtigkeit für alle oder Gerechtigkeit für niemanden«, erwiderte Dalbach.

Der helle Herbstmorgen mit scharfem Frost und klarem Himmel ging wie üblich über in einen trüben, unfreundlichen Tag. Kalte grauweiße Wetterwolken waren vom Südwesten aufgezogen und kündigten Regen an. Zuerst erschienen sie als sehr hohe, dünne Federwolken und schlossen sich dann zu dichten milchweißen Feldern zusammen, die nach Fidelmas Erfahrung bedeuteten, daß der Regen in spätestens zwölf Stunden einsetzen werde. Fidelma war mit Dego und Enda den Uferweg am Fluß in Richtung Cam Eolaing entlanggeritten. Ein paarmal hatten sie entgegenkommende Schiffer angerufen und sich nach Gabran erkundigt. Anscheinend war sein Schiff, die Cag, nicht auf der Fahrt flußabwärts gesehen worden, also lautete die logische Folgerung, daß es noch in Cam Eolaing vertäut lag.

Cam Eolaing war ein eigenartiger Treffpunkt von Flüssen und Bächen in einem Tal. An der Stelle, an der die meisten Wasserläufe zusammenkamen, bildeten sie fast einen See. Darin lagen eine Reihe von Inseln, die unbewohnt blieben, weil sie zu flach und sumpfig waren. Im Norden und Süden erhoben sich Berge, die das Tal schützten. Am Nordufer stand auf einem strategisch günstigen Berg eine Burg, die das Gebiet beherrschte. Fidelma vermutete, dies sei Cobas Burg, in der Eadulf am vorigen Tag eine Freistätte gefunden hatte.

Jenseits des Sees kam ein weiterer Wasserlauf von den Bergen herunter, in denen sein Ursprung verborgen war. Cam Eolaing beherrschte den Weg durch das Bergland nach Westen. Unterhalb der Burg standen, hauptsächlich am Nordufer des Flusses, mehrere Hütten.

Fidelma meinte, sie sollten eine Weile halten, und Dego ritt zu einem Hufschmied, der gerade das Feuer in seiner Schmiede entfachte, und zog Erkundigungen über Gabran und sein Schiff ein. Der kräftige Mann in der Lederjacke hielt nicht in seiner Arbeit inne und gab brummige Antworten. Er wies über den Fluß. Dego kam zurück und berichtete.

»Anscheinend vertäut Gabran sein Schiff gewöhnlich am Südufer des Flusses, Lady. Er wohnt dort drüben.«

Der Fluß war an dieser Stelle breit und ohne Furt.

»Wir müssen ein Boot suchen, das uns hinüberbringt«, sprach Enda das Offenkundige aus.

Dego zeigte auf eine Stelle ein Stück weiter am Ufer, an der mehrere kleine Boote an Land gezogen lagen.

»Der Schmied meint, jemand von dort wird uns hinüberrudern.«

Der Schmied behielt recht. Sie fanden bald einen Holzfäller, der sie für einen geringen Preis übersetzen wollte. Es wurde beschlossen, daß Enda bei den Pferden bleiben sollte, während Dego mit Fidelma auf die Suche nach Gabran ginge.

Sie waren schon mitten im Fluß, als der Holzfäller über die Schulter blickte und die Ruder ruhen ließ.

»Gabran ist nicht da«, verkündete er. »Wollt ihr trotzdem hinüber?«

Dego sah ihn finster an. »Nicht da? Wenn du das wußtest, warum hast du dann die Fahrt unternommen?«

Der Holzfäller schaute ihn mitleidig an. »Ich kann nicht um die Ecke gucken, mein aufgeregter Freund. Erst von hier in der Flußmitte kann ich die Liegeplätze hinter der kleinen Insel einsehen. Die Cag, das ist sein Schiff, liegt nicht dort. Also ist Gabran auch nicht da. Er wohnt nämlich auf dem Schiff.«

Auf diese Erklärung fand Dego nichts zu erwidern.

»Wir fahren dennoch weiter«, beharrte Fidelma. »Ich sehe da noch andere Hütten bei den Liegeplätzen, und vielleicht weiß jemand, wohin er ist.«

Der Holzfäller legte sich schweigend wieder in die Riemen. Er setzte sie an dem leeren Liegeplatz ab und zeigte auf eine Hütte, die Gabran gehörte, in der er aber, wie der Holzfäller behauptete, niemals wohnte. Fidelma nahm ihm das Versprechen ab, auf sie zu warten und sie zurückzurudern, wenn sie fertig wären. In der Hütte war niemand, doch eine vorbeikommende Frau mit einem Bündel Reisig auf dem Rücken blieb stehen, als sie sie sah.

»Suchst du Gabran, Schwester?« fragte sie respektvoll.

»Ja.«

»Er wohnt hier nicht, obwohl ihm die Hütte gehört. Er verbringt lieber die ganze Zeit auf seinem Schiff.«

»Aha. Wenn das Schiff nicht hier ist, heißt das also, daß er auch nicht hier ist?«

Die Frau bejahte diese Schlußfolgerung.

»Heute morgen war er noch hier, aber er hat ganz früh abgelegt. Es gab einige Aufregung bei der Burg des Fürsten heute morgen.«

»Hatte Gabran auch damit zu tun?«

»Das glaube ich nicht; es ging um einen geflohenen Ausländer. Gabran kümmert sich mehr um seinen Gewinn als darum, was in der Burg unseres Fürsten passiert.«

»Man sagte uns, daß die Cag heute nicht den Fluß hinuntergefahren sei.«

Die Frau deutete mit dem Kopf nach Norden.

»Dann fuhr sie aufwärts. Das ist klar. Ist was nicht in Ordnung, daß heute so viele Leute nach Gabran suchen?«

Fidelma hatte sich schon abgewandt, doch daraufhin schaute sie die Frau wieder an.

»So viele Leute?«

»Na, ihren Namen weiß ich nicht, aber es war eine vornehme Nonne hier. Sie erkundigte sich erst vor kurzem nach Gabran.«

»War es Äbtissin Fainder von Fearna?«

Die Frau zuckte die Achseln. »Die kenne ich nicht. Ich geh nicht nach Fearna - das ist so ein großer Ort mit so vielen Menschen.«

»Du sagtest, dich hätten heute noch mehr Leute nach Gabran gefragt?«

»Ein Krieger war auch hier. Er stellte sich als der Befehlshaber der Wache des Königs vor.«

»Hieß er Mel?«

»Das hat er nicht gesagt.« Sie zuckte wieder die Achseln. »Er war noch vor der vornehmen Nonne hier.«

»Und er suchte Gabran?«

»Er hatte es ganz eilig. War anscheinend schwer enttäuscht, als ich ihm sagte, wohin die Cag gefahren war. Flußaufwärts? fragte er. Flußaufwärts? Und dann sauste er los.«

»Aha. Ich nehme an, er hat nicht verraten, weshalb er Gabran sucht?«

»Der doch nicht.«

»Also werden wir Gabran weiter flußaufwärts finden?«

»Das hab ich schon gesagt.«

Fidelma wartete, doch als sie nichts weiter hörte, fragte sie: »Aber dieser Fluß hat hinter den Inseln anscheinend zwei Hauptläufe. Welchen sollen wir nehmen?«

»Du bist hier fremd, Schwester«, belehrte sie die Frau. »Für ein Schiff gibt es nur einen Weg. Der östliche Flußlauf ist für ein Schiff von der Größe der Cag nicht passierbar. Gabran fährt gewöhnlich nach Norden zu ein paar Siedlungen am Fluß und nimmt dort Waren an Bord, die er dann flußabwärts verkauft.«

Fidelma dankte ihr und ging mit Dego zum Boot des Holzfällers zurück.

»Wie es scheint, müssen wir noch weiter den Fluß hinauf hinter Gabran her reiten«, seufzte sie.

»Was meinst du, weshalb die Äbtissin nach ihm suchte?« fragte Dego auf dem Wege zum Boot. »Und Mel auch? Sind sie alle in die Sache verwickelt?«

Fidelma zuckte die Achseln. »Hoffen wir, daß wir das herausbekommen.« Sie erschauerte leicht. »Heute ist es bitter kalt. Ich hoffe, daß Eadulf irgendwo Schutz gefunden hat.«

Der Holzfäller lag, in seinen Wollmantel gehüllt, in seinem Boot und schien es trotz der Kälte gemütlich zu haben.

»Ich hab euch ja gesagt, daß Gabran nicht da ist.« Er grinste und reichte Fidelma die Hand zum Einsteigen in das leicht schaukelnde Boot.

»Ja«, antwortete sie kurz.

Schweigend ruderte er sie zurück über den Fluß.

Am Nordufer gab Dego dem Mann die Münze, die er verlangte, und sie gingen wieder zu Enda.

»Die Cag ist flußauf gefahren«, erklärte ihm Dego. »Wir reiten hinterher.«

Endas Miene war düster.

»Ich sprach mit der Frau des Holzfällers, während ihr da drüben wart«, berichtete er. »Der nördliche Arm des Flusses ist nur zwei oder drei Kilometer von hier noch schiffbar, und der südliche nur ungefähr einen Kilometer.«

»Na, das ist eine gute Nachricht«, antwortete Fidelma und saß auf. »Das bedeutet, daß wir die Cag ziemlich bald einholen.«

»Die Frau des Holzfällers sagte auch, daß noch ein Krieger hier war«, fügte Enda hinzu. »Er ließ sein Pferd ...«

»Wir wissen alles über ihn, es war Mel«, unterbrach ihn Dego und schwang sich in den Sattel.

»Anscheinend war noch ein Mann bei ihm, der an diesem Ufer auf ihn wartete, während er über den Fluß fuhr.«

Fidelma wartete geduldig und fragte dann gereizt: »Na, Enda, teilst du dein Wissen mit uns?«

»Ja, natürlich. Es war der Brehon, sagte die Frau. Bischof Forbassach.«

Eadulf hatte seinen neuen Freund Dalbach verlassen und stieg höher hinauf in die Berge. Die Luft war kalt, und von Südosten fauchte ein Wind heran. Er wußte, daß schlechtes Wetter im Anzug war. Aus dieser Höhe konnte er bereits die dunklen Regenwolken erkennen, die sich am südlichen Himmel sammelten.

Er hatte den Weg direkt nach Norden eingeschlagen, zu dem ihm Dalbach geraten hatte und der ihn zu einem Tal am östlichen Ende der nördlichen Berge führen sollte. Ein Stück hinter einem Gipfel konnte er sich nach Westen wenden und den Weg nach Fearna erreichen. Trotz seiner Blindheit kannte Dalbach anscheinend die Geographie seines Heimatlandes ebensogut wie ein Mensch mit Augenlicht. Die Erinnerungen waren in seinem Gedächtnis eingebrannt. Die Gegend, die Eadulf durchschritt, war eine öde Bergwelt, und er war Dalbach doppelt dankbar für seine Gastfreundschaft und für die warme Kleidung und die Stiefel, die er statt seiner abgenutzten wollenen Kutte und seiner Sandalen trug. Er war auch froh, daß ihm Dalbach einen wollenen Hut gegeben hatte, der seinen Schaffellmantel ergänzte, sich seinem Kopf anschmiegte und mit den Klappen die Ohren bedeckte. Der Wind in den Bergen schnitt wie ein Messer in die empfindlichen Körperteile.

Er marschierte mit gesenktem Kopf den Weg entlang, der gelegentlich zu verschwinden schien. Mehrmals mußte er stehenbleiben und sich vergewissern, daß er noch die richtige Richtung einhielt. Es war kein sehr begangener Weg, so viel konnte er erkennen. Nur ab und zu hob er den Kopf und spähte trotz des kalten Windes nach vorn, aber es war leichter, den Blick auf den Boden gerichtet zu halten. Bei einem dieser kurzen Blicke nach vorn sah er etwas, was ihn überrascht den Schritt verhalten ließ.

Ein Stück vor ihm stand ein Mann dicht neben dem Weg.

»Komm her!« schrie der Mann. »Ich warte schon auf dich.«

Fidelma und ihre Gefährten waren eine Stunde das Nordufer des Flusses entlanggeritten, als Dego die Zügel anzog und aufgeregt nach vorn zeigte.

»Das muß die Cag sein! Seht euch das Schiff an, das an der Anlegestelle dort hinter den Bäumen vertäut ist.«

Fidelma kniff die Augen zusammen. Nicht weit vor ihnen stand eine kleine Gruppe von Bäumen, und ein großes Flußschiff lag an dem Holzkai daneben. Dort war ein Pferd angebunden. Fidelma erkannte es sofort.

»Das ist das Pferd der Äbtissin Fainder«, erklärte sie ihren Begleitern.

»Dann gehe ich davon aus, daß wir Gabran endlich gefunden haben«, meinte Enda.

Die drei Reiter bewegten sich im Schritt weiter und hielten dort, wo das Pferd der Äbtissin friedlich graste. Der Holzkai war das einzige Zeichen von Zivilisation an der Stelle, in der Nähe gab es anscheinend weder Häuser noch andere Wohnstätten. Es war ein seltsam öder Platz.

Von der Cag kam kein Laut, und nichts bewegte sich. Fidelma fragte sich, wo die Mannschaft wohl wäre. Sie vermutete, alle befänden sich unter Deck und hätten ihre Ankunft nicht bemerkt. Sie banden ihre Pferde an, und Fidelma ging voran auf das Schiff. Es war ein langes Flachboot für die reine Flußschiffahrt, die offene See wäre zu stürmisch und gefahrvoll.

Fidelma blieb auf dem Deck stehen. Die Stille wirkte unnatürlich.

Vorsichtig schritt sie zu der Hauptkajüte, die zu dem erhöhten Achterschiff gehörte. Ihre Tür ging auf das Deck hinaus. Sie wollte schon klopfen, da hörte sie von innen ein schwaches Geräusch. Sie ahnte Schlimmes.

Mit einem warnenden Blick zu Dego und Enda faßte sie die Klinke, drückte sie sanft hinunter und riß die Tür auf.

Nichts hatte sie auf das Bild vorbereitet, das sich ihr drinnen bot.

Es gab viel Blut in der düsteren Kajüte. Die dunklen Flecken stammten von dem Leichnam, der auf dem Boden lag. Aber es war die Gestalt, die neben dem Kopf kniete, vor der sie sich entsetzte. Eine Gestalt mit einem blutigen Messer in der Hand.

An der Kleidung hätte Fidelma den Toten erkannt, auch wenn die im Todeskampf verzerrten Züge ihr nicht vertraut gewesen wären. Es war Gabran, der Kapitän der Cag. Aber die Gestalt, die ihm zu Häup-ten kniete, mit der Mordwaffe in der Hand, und jetzt in angstvollem Schrecken zu ihr aufblickte, war die Äbtissin von Fearna - Äbtissin Fainder.

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