Kapitel 6

Schwester Fidelma überquerte wieder den Hof, als Schwester Etromma sie einholte.

»Du solltest doch vor der Apotheke auf mich warten«, schalt sie ärgerlich. »Du hättest dich verlaufen können, die Abtei ist schließlich keine kleine Dorfkirche.«

Fidelma machte sich nicht die Mühe, sie darüber aufzuklären, daß sie sich die Wege zu und von einem Ort, den man ihr gezeigt hatte, leicht merken konnte. Auch erwähnte sie nicht, daß die Abtei zwar im Vergleich zu vielen Gotteshäusern in den fünf Königreichen sehr groß war, sie aber schon ausgedehntere Abteikomplexe in Armagh, Whitby und Rom gesehen hatte.

»Ich hatte gehört, du wurdest zum Kai geholt«, sagte sie.

Die Verwalterin schien zu erschrecken. »Wer hat dir das gesagt?«

Fidelma wollte ihr nicht verraten, daß sie Eadulf noch einmal aufgesucht hatte, und fuhr deshalb fort: »Ich war auf dem Wege zu Äbtissin Fainder. Ich habe noch ein paar Fragen an sie. Hast du die Novizin Fial gefunden?«

Schwester Etromma schaute einen Moment verlegen drein.

»Nein, ich konnte sie nicht finden.«

»Warum, in aller Welt, denn nicht?« Fidelma war empört.

»Anscheinend hat sie schon einige Zeit niemand mehr gesehen.«

»Was genau verstehst du unter >einiger< Zeit?«

»Man hat mir gesagt, sie sei seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen worden. Wir suchen weiter nach ihr.«

Fidelmas Augen funkelten gefährlich. »Bevor wir zur Äbtissin gehen, zeige mir bitte das Gästehaus, und zwar die Stelle, an der Bruder Eadulf geschlafen hat.«

Die Verwalterin brauchte nicht lange, um Fidelma zum Gästehaus zu führen. Der Schlafraum für die Gäste war nicht groß, er enthielt nur etwa ein halbes Dutzend Betten.

»In welchem Bett schlief Bruder Eadulf?« fragte Fidelma.

Schwester Etromma zeigte auf das letzte Bett in der Ecke.

Fidelma ging hin und setzte sich auf die Kante. Flüchtig schaute sie unter das Bett. Dort lag nichts.

»Natürlich ist das Bett noch mehrmals benutzt worden, seit der Angelsachse hier übernachtete«, erklärte die Verwalterin.

»Natürlich. Ist die Matratze seitdem gewechselt worden?«

Schwester Etromma schien verwirrt. »Die Matratzen werden gewechselt, wenn es nötig ist. Ich glaube nicht, daß wir diese ausgetauscht haben, seit der Angelsachse hier schlief. Warum?«

Fidelma zog die Decken von der Strohmatratze fort. Es war der übliche dünne Strohsack. Prüfend befühlte sie ihn hier und da.

»Wonach suchst du?« wollte die Verwalterin wissen.

Fidelma gab keine Antwort.

Sie hatte etwas Härteres in dem Stroh ertastet, und ihr Blick fiel auf ein Loch an der Seite der Matratze, wo die Naht geöffnet worden war. Sie lächelte. Sie kannte Eadulf besser als er sich selbst. Er war ein vorsichtiger Mensch, und in der Aufregung der letzten Wochen hatte er vergessen, wie vorsichtig er gewesen war.

Fidelma griff in die Matratze hinein, und ihre schlanken Finger erfaßten den kleinen Holzstab. Daneben spürte sie die weiche Pergamentrolle. Rasch zog sie beides heraus und hielt es der erstaunten Schwester Etromma hin.

»Das wirst du mir bezeugen, Schwester«, sagte Fidelma und stand auf. »Hier ist der weiße Amtsstab, den Bruder Eadulf bei sich führte zum Zeichen dafür, daß er als offizieller Gesandter des Königs von Cashel unterwegs war. Hier ist der Brief von der Hand desselben Königs an Erzbischof Theodor von Canterbury. Bruder Eadulf hatte sie aus Vorsicht in der Matratze versteckt.«

Schwester Etrommas Miene nahm einen seltsamen Ausdruck an, in dem Unsicherheit vorzuherrschen schien.

»Das sollten wir am besten zu Äbtissin Fainder bringen«, meinte sie schließlich.

Fidelma schüttelte den Kopf und steckte beides in ihr marsupium, die Ledertasche, die sie immer am Gürtel trug.

»Diese Dinge behalte ich. Du hast gesehen, woher ich sie genommen habe? Du wirst es mir bezeugen. Damit ist bewiesen, daß Bruder Eadulf ein fer taistil war, ein techtaire, ein Königsbote, und somit Angehöriger der königlichen Hofhaltung mit entsprechenden Schutzrechten.«

»Es hat keinen Zweck, daß du mir das Gesetz erklärst«, wandte Schwester Etromma ein. »Ich bin keine dalaigh

»Aber du wirst bezeugen können, wo ich diese Gegenstände gefunden habe«, erwiderte Fidelma. »Und jetzt ...«

Sie ging zur Tür, und Schwester Etromma trottete unglücklich hinterher.

»Wohin willst du jetzt, Schwester?« fragte sie. »Wieder zur Äbtissin?«

»Zur Äbtissin? Nein, die suche ich später auf«, antwortete Fidelma, die es sich anders überlegt hatte. »Zeig mir erst noch die Stelle, wo Gormgilla überfallen und getötet wurde.«

Schwester Etromma schien beunruhigt, als sie Fidelma weiterführte, durch noch mehr Gänge und zu einem kleinen Hof an der anderen Seite der Abtei, der dem Geruch nach wohl an die Küche und die Vorratsräume der Abtei grenzen mußte. An einer Seite des kleinen Hofs gab es zwei hohe Holztore, und Schwester Etromma ging geradewegs auf sie zu. Sie versuchte nicht, die schweren Eisenriegel zurückzuschieben, denn in einem der großen Tore befand sich eine kleine Tür, durch die sich ein Mensch gerade hindurchquetschen konnte. Sie öffnete die Tür und wies wortlos hinaus.

Fidelma kletterte hinaus - denn man mußte über das Unterteil der Tür steigen - und stand vor dem Fluß. Unmittelbar vor den Toren führte ein Weg an der Abteimauer entlang, der viel befahren und so breit war, daß ihn Frachtwagen benutzen konnten. Am Ufer war Erde aufgeschüttet, und dort hatte man einen hölzernen Kai erbaut. An ihm hatte ein ziemlich großes Flußschiff festgemacht, von dem mehrere Männer Fässer ausluden.

»Das ist unser eigener Kai, Schwester«, erklärte Etromma. »Hier werden Waren für die Abtei entladen. Weiter oben am Fluß befinden sich andere Kais für die Kaufleute der Stadt.«

Fidelma blieb einen Augenblick stehen und ließ ihr Gesicht von der Sonne bescheinen. Hier war es warm, trotz der leichten Brise, und erfrischend nach der Muffigkeit und Dunkelheit der Abteigebäude, aus denen sie gekommen war. Sie schloß einen Moment die Augen, atmete tief und entspannte sich. Danach schaute sie sich um. Die Verwalterin hatte recht. Auf dem Fluß lagen noch mehrere Schiffe an den Kais vertäut. Fearna, fiel ihr ein, war ja auch ein Handelszentrum, nicht nur der Königssitz der Ui-Cheinnselaigh-Dynastie, die über Laigin herrschte.

»Wo wurde der Mord verübt?«

Schwester Etromma zeigte auf den Kai der Abtei. »Genau hier.«

In der Abtei begann eine Glocke zu läuten. Überrascht blickte Fidelma auf. Es war doch wohl nicht ein Ruf zum Gebet? Gleich darauf rannte ein Mönch aus der Abtei auf Schwester Etromma zu.

»Schwester, ein Bote von flußaufwärts ist gekommen. Ein Schiff ist mitten im Fluß gesunken. Er meint, es könnte das Schiff sein, das vor kurzem vom Kai der Abtei abgelegt hat.«

»Gabrans Schiff?« Etromma war blaß geworden. »Ist der Bote sich sicher? Sind alle gerettet?«

»Nein, er ist sich nicht sicher, Schwester«, antwortete der Mönch. »Und mehr weiß er nicht.«

»Dann müssen wir sehen, was wir tun können.«

Sie wandte sich der Abtei zu, doch dann fiel ihr ein, daß Schwester Fidelma noch neben ihr stand, und sie zögerte.

»Entschuldige, Schwester. Anscheinend ist eins der Schiffe, die regelmäßig mit der Abtei Handel treiben, untergegangen. Als Verwalterin der Abtei muß ich mich darum kümmern. Der Fluß ist gefährlich.«

»Soll ich mitkommen?« fragte Fidelma.

Schwester Etromma schüttelte beunruhigt den Kopf. »Nein, ich muß gehen.«

Sie lief dem Bruder nach, der schon den Weg an der Abteimauer entlangeilte. Verblüfft beobachtete Fidelma ihren raschen Abgang. Dann wurde sie von einer Männerstimme abgelenkt, die ihren Namen rief. Sie drehte sich um und erblickte eine vertraute Gestalt, die auf dem Uferweg angeschlendert kam.

Es war der Krieger Mel, genau der, von dem Schwester Etromma gesagt hatte, er habe die Leiche des ermordeten Mädchens gefunden und ihren Tod zu Eadulf zurückverfolgt. Es traf sich gut, daß er jetzt gerade erschien und ihr die Mühe ersparte, ihn zu suchen. Sie ging ihm entgegen und erreichte ihn, als er eben die Planken des Kais betrat.

»So sehen wir uns wieder, Lady«, begrüßte er sie mit einem breiten Lächeln und blieb vor ihr stehen.

»Ja, so ist es. Man sagte mir, du heißt Mel.«

Der Krieger nickte freundlich. »Wie ich höre, bist du meiner Empfehlung gefolgt und wohnst mit deinen Begleitern im Gasthaus meiner Schwester Lassar. Ich dachte, du hättest noch einen dritten Mann bei dir? Lassar berichtete mir, daß nur du und zwei andere dort übernachten.«

Fidelma war klar, daß der Krieger genau beobachtete und sie ihre Worte vorsichtig wählen mußte.

»Zuerst waren wirklich drei Krieger bei mir. Einer mußte nach Cashel zurückkehren«, log sie.

»Nun, ich hoffe, dir gefällt die Unterkunft. Meine Schwester hat gutes Essen und bequeme Betten zu bieten.«

»Meine Gefährten und ich, wir fühlen uns wirklich sehr wohl im Gasthaus zum Gelben Berg. Aber es ist schön, daß ich dich hier treffe.«

Der Krieger runzelte leicht die Stirn. »Wieso, Lady?«

»Ich habe gerade in der Abtei mit den Leuten gesprochen, die mit dem kürzlichen Mord an einer jungen Novizin zu tun hatten«, erwiderte Fidelma. »Sie sagten mir, du seist ein wichtiger Zeuge im Prozeß gegen Bruder Eadulf gewesen.«

Der Krieger machte eine abwehrende Geste. »Ich war nicht unbedingt ein wichtiger Zeuge. Ich war lediglich der Hauptmann der Wache gerade an diesem Kai hier in der Nacht, als der Mord verübt wurde.«

»Kannst du mir genau beschreiben, was geschah? Ich nehme an, du weißt, weshalb ich mich dafür interessiere?«

Einen Moment schien der Krieger verlegen, doch dann nickte er.

»Gerüchte verbreiten sich schnell in dieser Stadt, Lady. Ich weiß, wer du bist und warum du hergekommen bist.«

»Wie kam es, daß du in der Nacht hier auf dem Kai warst?«

»Ganz einfach, ich hatte Wache, wie ich schon sagte. Wir waren zu viert hier.« Mit einer ausholenden Armbewegung wies er auf die ganze Ansammlung von Kais der Stadt Fearna.

»Geschehen hier so viele Verbrechen, daß man eine Wache aufstellen muß?« forschte Fidelma.

Mel lachte stolz.

»Überhaupt nicht - eben wegen der Wache. Als Hauptstadt der Könige von Laigin sind wir ein bedeutender Ort für den Handel flußauf. Es beruhigt die Kaufleute, wenn sie wissen, daß ihre Schiffe und Ladungen gut bewacht werden.«

Er schwieg, doch sie drängte ihn fortzufahren.

»Wie gesagt, wir waren in der Nacht zu viert auf Wache. Ich war der Hauptmann. Jedem war ein Abschnitt der Kais zugewiesen. Ich glaube, es war schon eine Weile nach Mitternacht, als ich von da kam.« Er zeigte auf einen kleinen Kai weiter flußabwärts von der Abtei. »Dort war einer meiner Männer postiert. Der nächste Wachmann stand weiter hier entlang. Ich machte also meine übliche Runde und kontrollierte meine Leute.«

»Wie war die Nacht?«

»Das Wetter war angenehm, es regnete nicht«, erinnerte er sich. »Aber der Himmel war bewölkt, deshalb war es dunkel. Wir hatten jedoch Fackeln«, setzte er hinzu.

»Die Sicht war also eingeschränkt«, stellte Fidelma befriedigt fest. »Auch mit einer Fackel kann man nicht weit sehen.«

»Das stimmt«, gab er zu. »Deshalb stolperte ich auch fast über die Leiche des Mädchens, bevor ich sie bemerkte.«

Fidelma hob die Augenbrauen. »Du bist darüber gestolpert? Heißt das, daß du sie selbst entdeckt hast? Ich dachte, es gäbe eine Zeugin für den Mord?«

Mel zögerte. »Die gab es auch. Die Sache ist etwas verwickelt, Schwester.«

»Wirklich? Dann erzähl mir die Geschichte so einfach wie möglich.«

»Ich ging hier lang und hielt meine Fackel hoch. Es war, wie gesagt, eine dunkle Nacht. Ich kam auf dem Uferweg an und wollte an dem Kai vorbei.«

»Lagen Schiffe an dem Kai vertäut?« fragte Fidelma dazwischen, der plötzlich ein Gedanke gekommen war.

»Ja, eins der Flußschiffe, die hier regelmäßig anlegen. Auf ihm war es dunkel, und es war auch niemand an Deck. Das war normal um die Nachtzeit. Wahrscheinlich schliefen alle unter Deck oder waren sinnlos betrunken.« Er grinste bei dieser Vorstellung. »Als ich weiterging, bemerkte ich eine Gestalt zu Pferde.«

»Wo hielt diese Gestalt?« fragte Fidelma. »Hier auf dem Weg?«

»Nein, drüben am Kai.«

»Was tat sie?«

»Anfangs verhielt sie sich so still, daß ich sie erst bemerkte, als sich das Pferd bewegte. Sie hatte keine Fackel, sondern war ganz in die Dunkelheit gehüllt. So entdeckte ich die Leiche.«

Fidelma unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer. »Bitte erklär mir das etwas ausführlicher.«

»Als ich die Gestalt erblickte, hob ich die Fackel und wollte sie anrufen, aber sie kam mir zuvor und erkundigte sich, wer ich sei. Es war Äbtissin Fainder, die da auf dem Pferd saß.«

Fidelma stutzte. »Äbtissin Fainder?« wiederholte sie verblüfft. »Sie hielt hier zu Pferde neben der Leiche in völliger Dunkelheit?«

»Das habe ich dir gerade erklärt.« Mel nickte. »Als ich mich zu erkennen gab, sagte sie: >Mel, dort liegt eine Leiche. Wer ist das?< Das waren ihre Worte. Ich tastete mich vor und schaute hin. Die Leiche befand sich im Schatten der Ballen, deshalb stolperte ich fast darüber. Ich sah gleich, daß es sich um ein junges Mädchen handelte und daß es tot war.«

»Was für Ballen? Zeig mir genau die Stelle, wo die Leiche lag.«

Mel wies dorthin, wo ein paar Ballen und Kisten am Kai aufgestapelt waren.

»Sie lag genau dort.«

Aufmerksam betrachtete Fidelma den Ort.

»Meinst du, daß diese Kisten und Ballen noch dieselben sind wie in jener Nacht?«

»Das wollte ich damit nicht sagen. Es sind andere, aber damals stapelten sich dort ähnliche Kisten und Ballen. Ich könnte schwören, daß sie genau denselben Platz einnahmen.«

Fidelma sah ihn kurz an. »Das könntest du beschwören, obwohl es dunkel war?«

»Ich mußte den Ort bei Tageslicht prüfen, um ihn dem Brehon zu zeigen.«

»Was hast du bei dem Fackellicht von der Leiche gesehen?«

»Bei dem Licht konnte man kaum etwas sehen. Das Mädchen hatte ein Kleid an, aber es war nicht die Kutte einer Nonne.«

»Aha. Sie wurde also erst später als eine Novizin der Abtei identifiziert?«

»Wahrscheinlich.«

»Was tat Äbtissin Fainder während der Zeit, in der du die Leiche untersuchtest?«

»Sie wartete, bis ich fertig war. Da ich für das arme Kind nichts mehr tun konnte, stand ich auf und erklärte der Äbtissin, daß das Mädchen tot war. Sie gab mir den Auftrag, die Leiche in die Abtei zu bringen, und sagte, sie würde den Arzt, Bruder Miach, suchen. Also ...«

»Moment mal«, unterbrach ihn Fidelma. »Hat dir Äbtissin Fainder gesagt, warum sie dort war und auf ihrem Pferd in der Dunkelheit unmittelbar neben der Leiche hielt?«

Mel schüttelte den Kopf. »Zu der Zeit nicht. Später, glaube ich, erklärte sie dem Brehon, Bischof Forbas-sach, daß sie auf dem Rückweg von einer entfernten Kapelle zur Abtei war und gerade durchs Tor wollte, als sie den dunklen Schatten der Leiche erblickte und darauf zu ritt und ich dann gerade auftauchte.«

Mit den Blicken maß Fidelma nachdenklich die Entfernung vom Tor der Abtei zu der Stelle, auf die Mel gezeigt hatte.

»Aber du konntest die Leiche im Schatten der Ballen kaum erkennen, obwohl du eine Fackel trugst und dicht davor standest? Mit der Äbtissin muß ich noch einmal reden«, murmelte sie. »Na, sprich weiter. Ich verstehe es immer noch nicht, denn mir hat man gesagt, es gäbe eine Augenzeugin der Mordtat.«

»Die gab es wirklich. Dazu komme ich gleich«, fuhr Mel fort. »Während die Äbtissin in die Abtei ging, wurde mir klar, daß ich Hilfe brauchte. Also wollte ich meine Leute wissen lassen, wo ich war. Ich schwang die Fackel als Signal für meinen Kameraden am nächsten Kai, und er kam zu mir. Da hörte ich ein Geräusch hinter den Ballen. Ich rief und leuchtete mit der Fackel. Das Licht fiel auf ein junges Mädchen, das hinter den Ballen stand.«

»Hattest du es vorher schon bemerkt?«

»Nicht in dieser Dunkelheit. Die Äbtissin hatte es auch nicht gesehen. Ich wollte wissen, wer die Kleine war, aber sie war völlig durcheinander und zitterte vor Angst. Erst nach einiger Zeit bekamen wir heraus, daß sie Fial hieß und das tote Mädchen ihre Freundin Gormgilla war. Sie erklärte mir, sie seien Novizinnen in der Abtei. Anscheinend war sie mit ihrer Freundin am Kai verabredet gewesen, und als sie kam, sah sie, wie Gormgilla mit einer männlichen Gestalt rang. Vor Furcht blieb sie stehen, und dann erhob sich der Mann von ihrer Freundin und lief fort in Richtung der Abtei. Das Mädchen sagte, sie hätte ihn als den angelsächsischen Mönch erkannt, der in der Abtei übernachtete.«

»Warum hat man das Mädchen nicht eher bemerkt?«

»Ich sagte schon, es war dunkel.«

»Du hieltest eine Fackel und hattest bereits eine Weile am Kai gestanden.«

»Fackeln geben nicht viel Licht.«

»Es war hell genug, daß die Äbtissin die Leiche vom Sattel aus auf mehrere Meter Entfernung sehen und hinreiten konnte. Anscheinend war es auch hell genug, daß dieses Mädchen Fial den Mörder erkennen konnte, und zwar ebenfalls aus einiger Entfernung. Hat man sie denn gefragt, warum sie nicht geschrien hat oder ihrer Freundin zu Hilfe gekommen ist?«

»Ich denke, daß man sie das bei der Verhandlung gefragt hat. Wahrscheinlich hatte sie solche Angst, daß sie sich nicht rühren konnte. Das gibt es.«

»Das gibt’s wohl. Aber warum trat sie nicht vor, als die Äbtissin angeritten kam oder als du erschienst? Warum hat sie nicht die Wache zu Hilfe gerufen?«

Mel dachte darüber nach und zuckte dann die Achseln.

»Ich bin kein dalaigh, Lady. Ich bin nur ein einfacher Hauptmann der Wache .«

Fidelma schaute ihn an und lächelte. »Jetzt nicht mehr. Du bist nun Befehlshaber der Palastwache. Wie bist du zu der Beförderung gekommen?«

Mel wurde nicht verlegen.

»Mir wurde mitgeteilt, der König habe sich über meine Wachsamkeit gefreut und ich solle Befehlshaber der Palastwache werden. Bischof Forbassach habe mich empfohlen.«

Fidelma schwieg einen Moment.

»Diese Fial tauchte also aus dem Nirgendwo auf ...«

»Hinter den Ballen am Kai«, verbesserte sie Mel.

»Sie sagt, sie hat in der Dunkelheit alles gesehen, aber getan hat sie nichts«, stellte Fidelma spöttisch fest. »Hat sie die Geschichte der Äbtissin Fainder bestätigt?«

Mel machte ein überraschtes Gesicht. »Ich wußte nicht, daß die Aussage der Äbtissin eine Bestätigung brauchte.«

»Alles, was mit einem unnatürlichen Tod zu tun hat, braucht eine Bestätigung, sogar die Aussage einer Heiligen«, erwiderte Fidelma kurz. Sie ging zu den Ballen hin und blickte von dort zum Tor der Abtei.

»Stellen wir uns das Ganze einmal vor«, begann sie ruhig. »Fial und das tote Mädchen sind Novizinnen in der Abtei. Fial sagt, sie hat sich mit ihrer Freundin hier am Kai verabredet. Lassen wir mal beiseite, daß es sich um eine sehr ungewöhnliche Zeit handelt - mitten in der Nacht. Fial erklärt uns, sie sei angekommen und habe gesehen, wie ihre Freundin von einem Mann überfallen wurde, in dem sie Bruder Eadulf erkannte. Dann rannte dieser zurück in die Abtei. Ist das soweit richtig?«

»Das ist die Geschichte, wie sie mir das Mädchen erzählt hat.«

»Um sich aber hinter den Ballen verstecken zu können - und ich gehe davon aus, daß du ihre Lage richtig bezeichnet hast -, muß Fial an ihrer Freundin vorbeigegangen sein, während diese überfallen wurde. Nur wenn sie vor ihrer Freundin oder mit ihr zugleich hier eingetroffen wäre und sich verborgen gehalten hätte, während Gormgilla angegriffen wurde, ergibt ihre Geschichte überhaupt einen Sinn.«

Mel runzelte die Stirn und blickte drein, als sei ihm die Bedeutung von Fials Schilderung soeben zum erstenmal aufgegangen.

»Es war dunkel«, vermutete er, »vielleicht lief sie in der Dunkelheit an ihrer Freundin und dem Angreifer vorbei?«

Fidelma lächelte spitz. Sie brauchte nichts zu sagen, um ihm die Schwäche seiner Erklärung darzutun. Sie kam nun zu dem offenkundigen Widerspruch.

»Es gibt einen sehr merkwürdigen Zeitunterschied zwischen der Mordtat, die das Mädchen beobachtete, und dem Moment, wo sie sich bemerkbar machte. Wir müssen davon ausgehen, daß der Mörder geflohen war, bevor Äbtissin Fainder eintraf. Sein einziger Weg vom Kai zum Tor der Abtei wäre sonst von ihr blok-kiert gewesen, denn sie hielt mit ihrem Pferd am Ende des Kais. Stimmst du mir zu?«

Mel nickte stumm.

»Also hatte Fial lange hinter den Ballen gewartet. Sie beobachtete den Mord, sie sah den Mörder weglaufen - in Richtung auf die Abtei, nach ihrer Aussage. Sie sah Äbtissin Fainder ankommen, sie sah, wie du erschienst und die Leiche untersuchtest, sie wartete, bis die Äbtissin in die Abtei ging und du deinen Kameraden herbeiriefst. Erst dann trat sie vor. Ist sie jemals gefragt worden, warum sie so lange in der Dunkelheit dastand und abwartete?«

»Damals habe ich nicht daran gedacht«, sagte Mel. »Ich trug die Leiche in die Abtei, und mein Kamerad brachte Fial mit. Äbtissin Fainder hatte den Arzt geweckt und die Verwalterin, Schwester Etromma. Sie waren anwesend, als ich Fial befragte. Da erklärte sie, der angelsächsische Bruder sei der Mann, der ihre Freundin überfallen und getötet habe. Fial blieb in der Obhut einer der Schwestern, während wir alle ...«

»Wir?« fragte Fidelma.

»Die Mutter Äbtissin, Schwester Etromma, ein Bruder namens Cett, ich und mein Kamerad ...«

»Vielleicht nennst du den Namen deines Kameraden?«

»Er hieß Daig.«

»Hieß?« Fidelma hatte die Betonung herausgehört.

»Er ertrank hier im Fluß nur ein paar Tage nach diesen Ereignissen.«

»Anscheinend haben die Zeugen in diesem Fall die Angewohnheit, zu verschwinden oder zu sterben«, bemerkte Fidelma trocken.

»Schwester Etromma führte uns in das Gästehaus. Der angelsächsische Mönch war da und tat so, als ob er schliefe.«

»Tat so?« fragte sie scharf. »Wie kannst du sicher sein, daß er nur so tat?«

»Wie sollte es sonst sein, wenn er doch gerade von dem Mord am Kai hereingekommen war.«

»Wenn er gerade von dem Mord am Kai hereingekommen war.« Fidelma wiederholte den Satz mit starker Betonung auf dem ersten Wort. »Könnte es nicht sein, daß er den Mord nicht begangen hatte und tatsächlich schlief?«

»Aber Fial hatte ihn doch erkannt!«

»Es hängt viel davon ab, was Fial gesehen hat, nicht wahr? Also lag der Angelsachse im Schlafraum im Bett?«

»Ja. Bruder Cett war derjenige, der ihn weckte. Im Lampenlicht stellte sich heraus, daß der Bursche Blut an seiner Kleidung hatte, und ein abgerissenes Stück Stoff wurde bei ihm gefunden. Später ergab sich, daß der Stoff von Gormgillas Kutte stammte. Auf ihm waren auch Blutflecke.« Mels Miene hellte sich auf. »Das beweist, daß ihre Freundin Fial die Wahrheit sagte, denn wie sonst sollte das Blut auf die Kleidung des Angelsachsen und das Stück Kutte in seinen Besitz gekommen sein?«

»Ja, wie wohl?« fragte Fidelma rhetorisch. »Hast du Bruder Eadulf verhört?«

Mel schüttelte den Kopf. »An der Stelle erklärte Äbtissin Fainder, daß sie die Angelegenheit übernehme, da sie die Abtei betreffe. Sie bat mich, Bruder Cett dabei zu helfen, den Angelsachsen in eine Zelle in der Abtei zu bringen. Das geschah, und man holte Bischof Forbassach, den Brehon. Mehr weiß ich nicht von der ganzen Sache, bis ich natürlich in der Verhandlung als Zeuge auszusagen hatte.«

»Warst du mit dem Gang der Verhandlung zufrieden?«

»Die Frage verstehe ich nicht.«

»Kam dir nicht der Gedanke, daß die Ereignisse, so, wie du sie geschildert hast, Widersprüche aufweisen und Fragen aufwerfen?«

Mel überlegte einen Moment.

»Es stand mir nicht zu, darüber nachzudenken, sobald die Verantwortlichen den Fall übernommen hatten«, meinte er schließlich. »Wenn es Fragen zu stellen gab, dann war es die Aufgabe des Brehons, Bischof Forbassachs, das zu tun und auf alles hinzuweisen, was nicht stimmte.«

»Aber Forbassach stellte keine Fragen?«

Mel wollte etwas sagen, doch plötzlich spähte er aufmerksam über Fidelmas Schulter. Sie wandte sich rasch um nach dem Ziel seiner Blicke und erkannte trotz der langen schwarzen Kutte ohne Schwierigkeit die Gestalt der Äbtissin Fainder, die auf einem kräftigen Pferd den Weg an der Abteimauer entlanggaloppierte. Offenbar war sie eben durch das Tor herausgekommen.

Fidelma verzog das Gesicht vor Ärger.

»Mit ihr wollte ich gerade ein Wort reden. Die Frau kann einen aufregen! Die Zeit drängt. Aber wahrscheinlich will sie sich um das gesunkene Schiff kümmern.«

Mel schaute zum Stand der Sonne auf.

»Um die Zeit reitet Äbtissin Fainder immer aus«, erklärte er. Dann malte sich Überraschung in seinen Zügen. »Gesunkenes Schiff? Was für ein Schiff ist gesunken?«

Fidelma ignorierte ihn für einen Augenblick, denn sie fand es seltsam, daß eine Äbtissin regelmäßig ihre Abtei verließ und ausritt. Mönche und Nonnen verzichteten weitgehend auf Pferde und dehnten ihr Armutsgelübde auch auf das Reisen aus, wenn sie nicht einen gewissen gesellschaftlichen Rang besaßen. Fidelmas Stellung als dalaigh im Range eines anruth gab ihr das Recht, zu Pferde zu reisen, das sie als Nonne nicht genossen hätte.

»Wo reitet sie jeden Tag um diese Zeit hin?« fragte sie.

Mel ließ ihre Frage unbeantwortet »Gesunkenes Schiff?« wiederholte er. »Was meinst du damit?«

Fidelma berichtete ihm von der Nachricht, die Schwester Etromma erhalten hatte, die daraufhin zur Hilfeleistung fortgeeilt war.

Es überraschte sie etwas, als Mel sehr ernst wurde und sich eilig entschuldigte.

»Du wirst mir verzeihen, Schwester, wenn ich gleich nachsehe, was da geschehen ist. Es gehört zu meinen Pflichten, mich um solche Vorfälle zu kümmern. Wir müssen dafür sorgen, daß der Fluß dadurch nicht für andere Schiffe blockiert wird. Entschuldige bitte.«

Schnell lief er den Uferweg entlang in die Richtung, die Schwester Etromma und ihr Begleiter wie auch Äbtissin Fainder eingeschlagen hatten.

Fidelma hatte keine Zeit, über deren Sorgen nachzugrübeln. Sorgfältig besah sie sich den Kai und die Umgebung, dann seufzte sie leise. Sie glaubte nicht, daß sie weitere Geheimnisse erfahren würde, wenn sie noch länger hierblieb. So machte sie sich auf den Weg zum Gasthaus.

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