Kapitel 4

Aus der Nähe erschien die Abtei Fearna noch bedrohlicher als aus der Ferne. Eine unheilvolle Aura umgab das Gebäude, hing so greifbar wie Spinnweben an seinen Mauern. Das Gefühl war unwirklich, fast ätherisch, aber es war da und hüllte alles ein wie ein kalter Nebel. Das Haupttor hatte zwei mächtige Flügel aus dunklem Eichenholz mit eisernen Angeln. Am rechten Flügel war eine große Bronzefigur angebracht. Fidelma erkannte darin das berühmte Engelsbildnis, das Maedoc geschaffen hatte, mit kunstvoll gearbeiteten Flügeln und einem Schwert in der rechten Hand. Das Gesicht war rund mit großen Augen ohne Höhlen, die ihm einen beinahe boshaften Ausdruck verliehen. Sie hatte gehört, das Bild werde »Unsere Liebe Frau des Lichts« genannt und stelle eine Schutzgestalt dar.

Fainder, Äbtissin von Fearna, wirkte ebenso eindrucksvoll und bedrohlich. Das mußte sich Fidelma eingestehen, obgleich sie sofort eine unerklärliche Abneigung gegen diese Frau empfand. Von dem Augenblick an, als sie in das Zimmer geführt wurde, in dem die Äbtissin kerzengerade in einem hohen, geschnitzten Eichensessel vor einem langen Holztisch saß, der ihr als Schreibtisch diente, spürte Fidelma die Ausstrahlung ihrer Gegenwart. Hochmütig und streitsüchtig, vermittelte sie selbst im Sitzen den Eindruck, von großer Statur zu sein, was von ihrer Hagerkeit noch verstärkt wurde. Doch als sie sich erhob, um Fidelma zu begrüßen, bestätigte sich dieser Eindruck nicht. Die hochgewachsene Fidelma überragte die nur mittelgroße Äbtissin. Der Anschein von Größe entstand einfach nur durch ihre Persönlichkeit und ihre Haltung, durch nichts weiter.

Die Hand, die sie Fidelma entgegenstreckte, war kräftig, mit hervortretenden Knochen und schwieliger Haut, wie sie eher einer Landarbeiterin als einer Nonne gehören mochte. Fainder war dunkelhaarig, und Fidelma schätzte sie auf Mitte Dreißig. Ihr Gesicht war ebenmäßig, doch mit etwas harten Zügen. Die schwarzen Augen lagen tief in den Höhlen, und eines schielte ganz leicht. Aber nicht dadurch wirkte sie unheimlich, sondern weil sie selten zwinkerte. Selbst mit dem kleinen Fehler schien sich der Blick der dunklen Augen in Fidelmas Gesicht zu bohren und wich nicht. Ein schwächerer Charakter als Fidelma hätte wohl die Augen verlegen niedergeschlagen.

Als Äbtissin Fainder sprach, klang ihre Stimme weich moduliert und mild und wiegte einen in trügerischer Sicherheit. Doch Fidelma, die ihre Menschenkenntnis über Jahre geschult hatte, spürte die harten Töne hinter der sanften Sprache. Fainder würde kei-nen Widerspruch gegen ihre Meinung dulden, dessen war sich Fidelma absolut sicher.

An der Art, wie ihr die Äbtissin die Hand hinhielt, erkannte Fidelma, daß sie sich nach römischer Sitte verneigen und den Amtsring küssen sollte. Sie nahm jedoch die Hand und neigte nur leicht den Kopf nach Sitte der irischen Kirche.

»Stet fortuna domus«, sprach sie feierlich.

Für einen Moment funkelten Äbtissin Fainders Augen vor Ärger, doch der Ausdruck schwand so schnell, daß nur ein scharfer Beobachter ihn bemerkt hätte.

»Deo juvante«, antwortete sie kurz, nahm wieder ihren Platz ein und winkte Fidelma zu einem Stuhl vor dem Tisch. Fidelma setzte sich.

»Du bist also Fidelma von Cashel?« Die Äbtissin lächelte, doch ihre schmalen, blutleeren Lippen öffneten sich dabei nur leicht. »Als ich in Rom war, wurde auch von dir gesprochen.«

Fidelma antwortete nicht. Dazu hatte sie nichts zu sagen. Statt dessen wies sie auf das Pergament mit Fia-namails Anweisung und Siegel.

»Ich komme in einer äußerst dringenden Angelegenheit, Mutter Äbtissin.«

Die Äbtissin nahm keine Notiz von dem Pergament, das ihr vorgelegt worden war. Sie saß aufrecht im Sessel, die Hände mit den Flächen nach unten auf dem Tisch, in derselben Haltung wie beim Eintritt Fi-delmas.

»Du hast einen Ruf als dalaigh, Schwester«, fuhr Fainder fort. »Doch bist du auch eine Nonne. Ich habe gehört, du hast dich veranlaßt gefühlt, die Abtei Kildare zu verlassen, weil du anderer Meinung warst als die Äbtissin Ita.«

Sie hielt inne in Erwartung einer Antwort, doch hatte sie ihre Bemerkung als Feststellung formuliert. Fidelma äußerte sich nicht dazu.

»Wenn man Nonne wird, Fidelma von Cashel«, sagte die Äbtissin mit leichter Betonung des Titels, der Fidelma als Prinzessin der Eoghanacht zustand, »dann hat man in erster Linie die Pflicht, den Regeln des Ordens zu gehorchen. Die oberste Regel ist der Gehorsam, denn es ist die Pflicht einer Nonne, nicht einmal in Gedanken anderer Meinung zu sein, nicht zu sagen, was man will, und nicht mit völliger Freizügigkeit zu reisen. Die Beachtung der Regel ist das Kennzeichen eines gottgefälligen Lebens.«

Fidelma wartete geduldig, bis die Äbtissin ihre Predigt beendet hatte, und dann sprach sie deutlich und mit Bedacht.

»Ich bin hier in meiner Eigenschaft als dalaigh, Mutter Äbtissin, und mit Vollmacht meines Bruders Colgü, des Königs von Cashel. Was ich dir vorgelegt habe, ist die Vollmacht König Fianamails von Laigin.«

Äbtissin Fainders Ton wurde noch strenger, und sie schenkte dem Pergament wie bisher keinen Blick.

»Du bist jetzt eine Nonne in der Abtei Fearna -meiner Abtei -, und jede Nonne ist zum Gehorsam verpflichtet, Schwester.«

»Wir sind hier nicht in Rom, Mutter Äbtissin«, erwiderte Fidelma in ruhigem Ton, dessen Schärfe aber eine deutliche Warnung vermittelte. »Wie ich höre, bist du erst kürzlich von dort zurückgekehrt, und da ist es verzeihlich, daß dir die Gesetze dieses Landes nicht mehr ganz im Gedächtnis sind. Ich bin hier als dalaigh mit dem Grad eines anruth. Ich brauche dich sicher nicht an das Gesetz über Ränge und Vorrechte zu erinnern?«

Inhaberin eines akademischen Grades, der nur einen Grad unter dem höchsten lag, den die weltlichen und kirchlichen Hochschulen verliehen, besaß Fidelma als Rechtsgelehrte wie auch als Schwester eines Königs einen höheren Rang als eine Äbtissin.

Zum erstenmal blinzelte Fainder. Es war eine eigenartig drohende Geste, als wenn eine Schlange für einen Moment die Augen verhüllt.

»In dieser Abtei«, sagte Fainder leise, »richtet sich unser Leben nach den Bußgesetzen. Gott sei Dank haben wir mit Fianamail auch einen fortschrittlichen König, der eingesehen hat, wie weise es ist, die Regeln der Bußgesetze als christliche Lebenspflicht auf das ganze Volk auszudehnen.«

Fidelma stand auf, beugte sich vor und nahm bedachtsam das ungelesene Pergament von Äbtissin Fainders Tisch. Ihre Geduld war erschöpft.

»Nun gut. Ich fasse das als Weigerung auf, der Vollmacht des Rates des Oberrichters und des Großkönigs Folge zu leisten. Du erweist deiner Abtei einen schlechten Dienst, Fainder. Es überrascht mich, daß du eine richterliche Untersuchung auf dich laden willst, indem du meine Vollmacht und die Anweisung deines Königs Fianamail mißachtest.«

Fidelma hatte sich schon zur Tür gewandt, als Äbtissin Fainders Stimme sie mit einem eigenartigen Stakkato zurückhielt.

»Halt!«

Die Äbtissin saß noch in derselben Haltung da, die Hände auf dem Tisch. Fidelma schien es, als sei ihr Gesicht zu einer Maske erstarrt, jede Linie war scharf eingegraben.

Fidelma wartete an der Tür.

»Vielleicht« - die Äbtissin suchte anscheinend nach einer Formulierung, mit der sie aus der Klemme herauskommen konnte, in die Fidelmas Weigerung, sich einschüchtern zu lassen, sie gebracht hatte -, »vielleicht habe ich meine Worte nicht ganz passend gewählt. Zeig mir die Vollmacht von Fianamail.«

Fidelma kehrte zum Tisch zurück und legte das Schriftstück wortlos wieder vor die strenge Frau hin. Fainder las es rasch, wobei ein flüchtiger Schatten über ihr Gesicht lief. Dann blickte sie zu Fidelma auf.

»Gegen die Vollmacht meines Königs kann ich keinen Einwand erheben. Ich informiere dich lediglich darüber, wie diese Abtei geführt wird, und über mein Bestreben, sie auch weiter nach den Bußgesetzen zu führen.«

Nachdem sie eine Formulierung gefunden hatte, die ihr recht war, ging Fainder wieder zu dem sanften, begütigenden Ton über, der sofort Fidelmas Mißtrauen erregte.

»Dann habe ich also deine Erlaubnis, Bruder Eadulf aufzusuchen und meine Untersuchung zu führen?«

Äbtissin Fainder wies auf den Stuhl, von dem Fidelma gerade aufgestanden war.

»Setz dich wieder, Schwester, und wir besprechen die Angelegenheit dieses Angelsachsen. Worum geht es dir bei ihm?«

»Mir geht es um Gerechtigkeit«, erwiderte Fidelma und hoffte, daß die Wärme, die sie auf ihren Wangen spürte, nicht als verlegenes Erröten erschien.

»Du kennst diesen Angelsachsen also? Natürlich«, wieder öffneten sich die Lippen zum Lächeln, »ich hörte in Rom, daß du in Begleitung eines angelsächsischen Bruders warst. War es vielleicht derselbe Mann?«

Fidelma ließ sich auf dem Stuhl nieder und sah die Äbtissin gelassen an.

»Ich kenne Bruder Eadulf seit der Synode in der Abtei von Whitby. Seit dem vorigen Jahr diente er als Gesandter Theodors von Tarsus, des Erzbischofs von Canterbury im Land der Angelsachsen, bei meinem Bruder, dem König von Cashel. Mein Bruder hat mich hergeschickt, damit ich seine Verteidigung übernehme.«

»Verteidigung?« Äbtissin Fainder rümpfte die Nase. »Du hast doch wohl erfahren, daß er schuldig gesprochen und mit der seinem Verbrechen angemessenen Strafe belegt wurde? Die Bußgesetze sehen die Todesstrafe vor, und die Hinrichtung findet morgen mittag statt.«

Fidelma beugte sich leicht vor.

»Da er der Gesandte eines Königs und eines Bischofs ist, besitzt er nach unserem Gesetz gewisse Rechte, die nicht verletzt werden dürfen. Ich habe die Erlaubnis, seinen Fall zu untersuchen, um festzustellen, ob es Gründe für eine Berufung gibt, obgleich man wohl keine Berufung gegen den hier spürbaren Wunsch nach Rache einlegen kann.«

Wieder blieb Äbtissin Fainders Gesicht ohne Regung, sie beherrschte jede Reaktion, die Fidelmas Stich hervorrufen könnte.

»Vielleicht kennst du die Art des furchtbaren Verbrechens nicht, dessen der Angelsachse für schuldig befunden wurde?«

»Man hat es mir gesagt, Mutter Äbtissin. Der Bruder Eadulf, den ich kenne, könnte das Verbrechen nicht begangen haben, das man ihm vorwirft.«

»Nein?« Die düstere Miene der Äbtissin Fainder wurde spöttisch. »Wie viele Mütter, Schwestern oder ... Geliebte ... von Mördern mögen das wohl schon behauptet haben?«

Fidelma machte eine Bewegung des Unbehagens. »Ich bin nicht ...«, setzte sie an. Dann hob sie trotzig das Kinn, entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen. »Ich würde mit meiner Untersuchung gern so bald wie möglich beginnen.«

»Nun gut. Schwester Etromma ist die Verwalterin der Abtei, sie wird dich dabei unterstützen.«

Die Äbtissin langte nach einer Handglocke. Ihr Läuten war kaum verklungen, als eine Nonne eintrat. Sie war klein und blond, mit angenehmen Zügen, doch sie trippelte wie ein Vogel, die Hände in den Falten ihrer Kutte verborgen. Es war dieselbe Frau, die Fidelma am Tor der Abtei empfangen und zum Zimmer der Äbtissin Fainder geleitet hatte. Äbtissin Fain-der wandte sich an sie.

»Schwester, du hast schon die Bekanntschaft unserer ... unserer hochstehenden Besucherin gemacht.« Nur das winzige Zögern verriet die Ironie der Äbtissin. »Ihr wird jede Unterstützung gewährt, die sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden braucht. Sie untersucht das Verbrechen des Angelsachsen, um sicherzugehen, daß wir gegen kein Gesetz verstoßen haben.«

Schwester Etromma sah Fidelma überrascht mit großen Augen an, dann wandte sie sich mit einer ruckartigen Kopfbewegung zur Äbtissin zurück.

»Ich werde mich darum kümmern, Mutter Äbtissin«, murmelte sie. Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Das ist ungewöhnlich, nicht wahr? Der Angelsachse ist doch schon verurteilt.«

»Du wirst dich darum kümmern, Schwester Etromma«, fuhr die Äbtissin sie an, »denn sie besitzt eine Vollmacht vor Fianamail, der wir uns anscheinend beugen müssen.«

Die kleine Verwalterin senkte den Kopf. »Fiat voluntas tua, Mutter Äbtissin.«

»Ich sehe dich sicher später noch, Schwester Fidelma; vielleicht in der Kapelle zum Gebet?«

Fidelma verneigte sich vor der Äbtissin, ließ ihre Frage aber unbeantwortet.

Schwester Etromma eilte ihr voran. Außerhalb des Zimmers der Äbtissin entspannte sich die Verwalterin merklich.

»Womit kann ich dir dienen, Schwester Fidelma?« fragte sie mit weniger atemloser Stimme als zuvor.

»Ich möchte sofort mit Bruder Eadulf sprechen.«

Schwester Etrommas Augen weiteten sich. »Mit dem Angelsachsen? Den willst du aufsuchen?«

»Ist das ein Problem? Die Äbtissin hat gesagt, ich solle jede Unterstützung erhalten.«

»Natürlich.« Schwester Etromma sah verwirrt aus. »Daran habe ich nicht gleich gedacht. Komm, ich zeige dir den Weg.«

»Bist du hier schon lange Verwalterin?« fragte Fidelma, während sie durch die düsteren, gewölbten Gänge der Abtei schritten.

»Ich bin hier rechtaire seit zehn Jahren. In die Abtei kam ich schon als Kind, mit meinem Bruder zusammen.«

»Zehn Jahre rechtaire«, überlegte Fidelma. »Das ist eine ganz schöne Zeit. Kennst du Äbtissin Fainder schon lange? Ich weiß, daß sie erst kürzlich aus Rom zurückgekehrt ist, aber kanntest du sie, bevor sie dorthin ging?«

»Als sie vor drei Monaten in die Abtei kam«, sagte Schwester Etromma, »war sie den meisten von uns fremd. Vor ihr war Noe unser Abt. Wir sind ein gemischtes Haus, weißt du. Wie Kildare.«

Fidelma quittierte das mit einem kurzen Lächeln.

»Ich weiß. Warum hat sich Abt Noe entschlossen, von der Leitung des Klosters zurückzutreten?«

»Es war der König selbst, der Noe ersuchte, sein geistlicher Berater zu werden, so hat man es uns jedenfalls erzählt. Er hat noch Zimmer in der Abtei, aber meist hält er sich im Königspalast auf. Die Leitung der Abtei ging an Fainder über, die dann zu unserer Äbtissin ernannt wurde.«

Spürte Fidelma eine leichte Bitterkeit in ihrem Ton?

»Warum wurde Fainder dazu ernannt, wenn sie vorher gar nicht dieser Gemeinschaft angehörte?«

Schwester Etromma gab darauf keine Antwort.

»Als rechtaire der Abtei seit zehn Jahren, könnte man meinen, hättest du einen größeren Anspruch darauf gehabt?« drang Fidelma in sie.

»Sie war ein Schützling Abt Noes in Rom.«

»Ich wußte nicht, daß Noe jemals Geistlicher in Rom war.«

»Er machte nur eine Pilgerreise und hielt sich nicht lange dort auf. Da lernte er die Äbtissin kennen, glaube ich, und brachte sie mit zurück als seine Nachfolgerin. Nach seiner Rückkehr kündigte er an, er wolle sich aus der Abtei zurückziehen.«

»Das ist ungewöhnlich«, bemerkte Fidelma. Dann fiel ihr eine andere Möglichkeit ein. »Ist Fainder vielleicht mit Noe verwandt?«

Die Bevorzugung von Verwandten war auch in religiösen Häusern nicht unbekannt, und oft gelangten Äbte, Äbtissinnen und sogar Bischöfe durch dasselbe Nachfolgesystem ins Amt wie die Könige und der Adel. Sie mußten von entsprechender Abstammung sein und wurden dann von ihren derbhfine gewählt, die sich gewöhnlich aus drei Generationen einer Familie zusammensetzten, die von einem gemeinsamen Urgroßvater abstammte. Oft wurden auf diese Art und Weise Söhne, Enkel, Neffen und Vettern oder Kusinen zu Nachfolgern von Äbten oder Äbtissinnen gemacht.

Als Etromma nicht auf ihre Frage reagierte, stellte Fidelma eine andere.

»Bist du zufrieden mit der Art, wie die Äbtissin das Kloster leitet? Ich meine, gefällt dir Fainders Bestreben, nach den Bußgesetzen und nach der römischen Form der Verwaltung zu herrschen? Es überrascht mich, daß Abt Noe diese neue Entwicklung absegnet, denn ich dachte immer, er wäre ein Anhänger der Regel Colmcilles.«

Schwester Etromma blieb einen Moment stehen und veranlaßte Fidelma, dasselbe zu tun. Die Verwalterin schaute sich um, als fürchte sie heimliche Lauscher, ehe sie antwortete.

»Schwester«, flüsterte sie, »es ist nicht klug, hier von solchen Konflikten zu reden. Über die Differenzen zwischen der irischen und der römischen Kirche wird an diesem Ort nicht gesprochen. Seit Fainder unsere Äbtissin geworden ist, hat sie Macht und Reichtum erlangt. Es ist nicht angebracht, Kritik zu äußern.«

»Reichtum?« forschte Fidelma.

Schwester Etromma zuckte die Achseln. »Die Äbtissin verachtet materiellen Besitz nicht, wenn sie auch anderen die Strenge der Bußgesetze predigt. Seit ihrer Ankunft hier scheint sie ein großes Vermögen erworben zu haben. Vielleicht sollte man an die Reichen und Mächtigen denken, die sie begünstigen. Aber mir steht es nicht zu, Kritik zu üben.«

Fidelma war es klar, daß die Verwalterin einen Groll gegen die Äbtissin hegte.

Doch Fidelma wollte die Frage der Vorurteile Schwester Etrommas nicht weiter verfolgen. Ihr lag mehr daran, zu erfahren, wie es Eadulf erging.

Schwester Etromma lief rasch den Gang weiter.

»Weißt du, was mit Bruder Eadulf geschehen ist?« Fidelma griff dieses Thema nach einer kleinen Pause auf.

»Er soll morgen hingerichtet werden.«

»Ich meine die Dinge, die zu seinem Prozeß geführt haben.«

»Ich weiß, daß er bei seiner Ankunft ganz angenehm wirkte und unsere Sprache gut beherrschte.«

»Du bist ihm also begegnet, als er hier ankam?«

»Bin ich nicht die rechtaire der Abtei? Es ist meine Pflicht, alle Reisenden zu begrüßen, besonders diejenigen, die unsere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen wollen.«

»Wann kam er denn hier an?«

»Vor ungefähr drei Wochen. Er stand am Tor und bat um Unterkunft für eine Nacht. Er sagte, er wolle auf einem Flußschiff hinunter zum Loch Garman fahren. Dort wollte er ein Schiff suchen, das ihn ins Land der Angelsachsen zurückbrächte. Viele angelsächsische Schiffe laufen heutzutage Loch Garman an.«

»Was geschah dann?«

»Davon weiß ich nur wenig. Er kam, wie gesagt, am späten Nachmittag an, und ich gab ihm ein Bett im Gästehaus. Er nahm am Gottesdienst teil und aß eine Mahlzeit. In der Nacht wurde ich von der Äbtissin geweckt. Anscheinend war die Leiche einer jungen Novizin am Kai außerhalb der Abtei gefunden worden. Der Hauptmann der Wache hatte sie entdeckt. Von den Schiffen, die dort anlegen, wird viel gestohlen. Ein ausgedehnter Handel läuft über die Stadt. Deshalb wird an den Kais ständig Wache gehalten. Dieses junge Mädchen war vermutlich vergewaltigt und dann erdrosselt worden. Es wurde Alarm geschlagen. Die Äbtissin forderte mich auf, sie zu dem Nachtlager des Angelsachsen zu führen.«

Fidelma runzelte die Stirn. »Warum zu dem Angelsachsen? Wieso verfiel die Äbtissin gerade auf ihn?«

Schwester Etromma blieb ungerührt. »Ganz einfach. Er war erkannt worden.«

»Erkannt? Von wem und wie?« Fidelma bemühte sich, ihr Entsetzen nicht zu verraten.

»Der Hauptmann der Wache hatte der Äbtissin erklärt, daß der Angelsachse der Täter sei. Ich führte die Äbtissin, den Hauptmann der Wache und ein paar andere ins Gästehaus. Der Angelsachse war im Bett und tat so, als ob er schliefe. Als man ihn aus dem Bett holte, fand man Blutflecke an ihm und ein Stück Stoff, das von der Kutte der toten Novizin abgerissen war.«

Fidelma unterdrückte ein Stöhnen. Das sah übler aus, als sie sich vorgestellt hatte.

»Das ist schlimm genug, aber du hast mir noch nicht gesagt, wie er erkannt wurde. Ich verstehe nicht, wie der Hauptmann der Wache behaupten konnte, der Angelsachse sei der Täter, wenn er, wie du sagst, nicht auf frischer Tat ertappt, sondern schlafend im Gästehaus gefunden wurde. Wie heißt übrigens dieser Hauptmann der Wache? Mit dem möchte ich sprechen.«

»Sein Name ist Mel.«

Diese Auskunft überraschte Fidelma.

»Ist das derselbe Mel, der jetzt die Palastwache Fia-namails befehligt? Der Bruder von Lassar, der Wirtin des Gasthauses zum Gelben Berg?«

Schwester Etromma schaute sie verblüfft an. »Den kennst du also schon?«

»Ich wohne im Gasthaus zum Gelben Berg.«

»Nach seiner erfolgreichen Festnahme des Angelsachsen hat ihn der König befördert. Vorher war er Hauptmann der Wache am Hafen.«

»Eine schöne Beförderung«, bemerkte Fidelma trocken.

»Fianamail ist manchmal großzügig denen gegenüber, die ihm gute Dienste leisten«, meinte die Verwalterin. Hörte Fidelma einen leicht ironischen Ton heraus?

»Ich frage dich nochmals, was hat den Hauptmann der Wache so unfehlbar ans Bett Bruder Eadulfs geführt, der dann auch noch die belastenden Beweisstücke bei sich hatte?«

Schwester Etromma verzog das Gesicht. »Es hieß, ein Mönch sei gesehen worden, wie er vom Kai zur Abtei rannte, kurz bevor die Leiche entdeckt wurde.«

»Wie viele Mönche gibt es in der Abtei Fearna? Einhundert? Zweihundert?« Fidelma konnte den Zweifel in ihrer Stimme nicht verbergen.

»Fast zweihundert«, erklärte Schwester Etromma ungerührt.

»Zweihundert? Aber die Spur führte geradewegs zu dem Angelsachsen. Das war anscheinend ein großartiges Stück Aufklärungsarbeit von Seiten des Hauptmanns der Wache.«

»Nicht so ganz. Hat man dir das nicht berichtet?«

Fidelma bereitete sich auf eine neue Enthüllung vor. »Es gibt vieles, was man mir nicht berichtet hat. Was genau meinst du?«

»Nun, es gibt eine Augenzeugin der Tat.«

Fidelma schwieg einen Moment. »Eine Augenzeugin?« fragte sie langsam. »Die die Vergewaltigung und den Mord gesehen hat?«

»Allerdings. Es war noch eine andere Novizin dort am Kai zusammen mit der, die umgebracht wurde.«

»Willst du damit sagen, daß diese Novizin ... Wie heißt sie?«

»Die Augenzeugin?«

»Ja.«

»Fial.«

»Und wie heißt das ermordete Mädchen?«

»Gormgilla.«

»Willst du also sagen, daß Fial tatsächlich beobachtete, wie ihre Freundin Gormgilla vergewaltigt und ermordet wurde, und Bruder Eadulf als den Täter erkannte?«

»Ja, so war es.«

»Und sie hat ihn deutlich erkannt? Ohne jeden Zweifel?«

»Sie war sich völlig sicher. Es war der Angelsachse.«

Fidelma spürte, wie Verzweiflung sie überkam. Bisher hatte sie gedacht, es sei alles ein absurder Irrtum. Auch als sie die Anklage gegen Eadulf erfuhr, den Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes, noch dazu eines zwölfjährigen Mädchens, also eines Mädchens vor dem Alter der Wahl, hatte sie ihre Meinung nicht geändert, denn sie glaubte fest an Eadulf. Es lag einfach nicht in seiner Natur, so etwas zu tun. Es mußte ein törichter Irrtum sein, eine Verwechslung von Personen oder eine falsche Verbindung von Tatsachen.

Jetzt stand sie einer überwältigenden Masse von Beweisen gegenüber, nicht nur den materiellen Beweisen von Blutflecken und zerrissener Kleidung, sondern vor allem der Aussage einer Augenzeugin. Für Eadulf sah es verheerend aus. Was würde Oberrichter Barran sagen, wenn er auf ihr Verlangen nach Fearna käme und feststellen müßte, daß sie keine Gründe für eine Berufung zu bieten hätte? Könnte es sein, daß Eadulf trotz ihres Glaubens an ihn schließlich doch schuldig war? Nein! So gut kannte sie Eadulf doch wohl?

Schwester Etromma führte sie durch eine gewölbte Tür in einen großen viereckigen Hof. Dort erblickte Fidelma eine hölzerne Plattform. Sie brauchte nicht zu fragen, wozu die gräßliche Vorrichtung diente. Die Leiche eines jungen Mönchs hing reglos an einem Strick vom Galgen herab. Niemand war zu sehen.

Einen schrecklichen Augenblick lang schien es Fidelma, als erstarre ihr Blut zu Eis, denn sie glaubte, es wäre Eadulfs Leiche und sie wäre allen Versicherungen zum Trotz zu spät gekommen. Sie blieb jäh stehen und starrte benommen hinüber.

Als Schwester Etromma merkte, daß sie ihr nicht folgte, kam sie zurück. Sie machte ein unglückliches Gesicht und vermied es, die Leiche anzusehen.

»Wer ist das?« fragte Fidelma, die inzwischen erkannt hatte, daß der Tote die Tonsur des heiligen Johannes trug und nicht die des heiligen Petrus wie Eadulf.

»Das war Bruder Ibar«, erklärte die Verwalterin leise.

»Aus welchem Grunde wurde er hingerichtet?«

»Mord und Diebstahl.«

Fidelmas Mund wurde schmal. »Kommt diese Art der Bestrafung nach den Bußgesetzen hier in der Abtei jetzt in Mode?« fragte sie bitter. »Kennst du die Einzelheiten seines Verbrechens?«

»Ich wohnte seinem Gerichtsverfahren bei, Schwester. Die ganze Gemeinschaft tat das, auf Befehl von Äbtissin Fainder. Es war das erste Verfahren, das zu einer Hinrichtung nach den neuen Bußgesetzen führte, und er gehörte unserer Gemeinschaft an.«

»Du hast Mord und Diebstahl erwähnt?«

»Bruder Ibar wurde schuldig befunden, unten am Kai der Abtei einen Flußschiffer getötet und beraubt zu haben.«

»Wann war das?«

»Vor ein paar Wochen.«

Fidelma betrachtete den sanft schaukelnden Leichnam.

»Es gibt anscheinend viele Todesfälle am Kai der Abtei«, überlegte sie laut. Ihr kam ein Gedanke. »Du sagtest, vor ein paar Wochen hätte Ibar einen Flußschiffer am Kai getötet und beraubt? War das vor oder nach dem Verbrechen, das Bruder Eadulf zur Last gelegt wird?«

»Ach, danach. Gleich am nächsten Tag.«

»Ungewöhnlich, nicht wahr? Zwei Mordtaten am selben kleinen Kai innerhalb von zwei Tagen, und dann werden zwei Mönche zum Tode verurteilt, und einer ist bereits tot.«

Schwester Etromma runzelte die Stirn. »Aber zwischen den beiden Ereignissen bestand kein Zusammenhang.«

Fidelma wies angeekelt auf den Leichnam.

»Wie lange soll er dort noch hängen?«

»Bis Sonnenuntergang. Dann wird er abgeschnitten und draußen in ungeheiligtem Boden begraben.«

»Wie gut kanntest du ihn?«

»Nicht sehr gut. Er war ziemlich neu in der Gemeinschaft. Ich glaube, er stammte aus Rathdangan, nach Norden zu. Von Beruf war er Schmied. Als Schmied hat er auch in der Gemeinschaft gearbeitet.«

»Warum hat er den Flußschiffer getötet und beraubt?«

»Man nimmt an, daß ihn die Habgier getrieben hat. Er hat einen Beutel Goldmünzen und eine goldene Kette erbeutet, nachdem er den Mann erstochen hatte.«

»Wozu braucht ein Schmied, der in dieser Abtei arbeitet, noch Geld? Ein Schmied wird so hoch geachtet, daß er jeden Preis für seine Arbeit verlangen kann. Sein Sühnepreis beträgt zehn seds, genausoviel wie der eines aire-echta, eines Brehons von geringer Qualifikation.«

Schwester Etromma zuckte ausdrucksvoll die Achseln. »Hier wird es kühl, Schwester«, sagte sie, »gehen wir lieber weiter.«

Fidelma folgte ihr über den Hof, den an allen vier Seiten hohe Gebäude umstanden, und durch eine weitere kleine Tür. Schwester Etromma stieg die Steinstufen empor über zwei Stockwerke in einen hochgelegenen Gang. Das Gebäude war feucht und roch muffig. Fidelma empfand tiefe Niedergeschlagenheit. Die Düsternis, die so bedrohlich und bedrückend auf dem Ort lastete, ließ in ihr nicht das Gefühl aufkommen, im Hause einer Gemeinschaft zu weilen, die sich dem christlichen Leben widmete. Es umgab sie eine Atmosphäre nahenden Unheils, die sie sich schwer erklären konnte.

Schwester Etromma ließ Fidelma verschnaufen, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann führte sie sie einen schmutzigen Gang entlang, der an einer kleinen Eichentür mit eisernen Riegeln endete.

Dort tauchte plötzlich ein riesiger Schatten aus der Dunkelheit auf.

»Wer ist da?« fragte eine rauhe Stimme. »Bist du das, Etromma?«

»Ja«, antwortete die Verwalterin. »Bei mir ist Schwester Fidelma, eine dalaigh, die die Erlaubnis der Äbtissin hat, den Gefangenen zu verhören.«

Fidelma spürte den Geruch von Zwiebeln im Atem des stämmigen Mannes, der näher trat und sie musterte.

»Na gut«, brummte er. »Wenn Etromma das sagt, dann darfst du rein.« Die Gestalt verschwand wieder in der Dunkelheit.

»Wer war das?« flüsterte Fidelma, beeindruckt von der riesigen Statur des Wächters.

»Das war mein Bruder Cett, der jetzt als Gefängniswärter dient«, erwiderte Etromma.

»Dein Bruder Cett?« fragte Fidelma, die sich über das Pronomen wunderte.

Schwester Etrommas Ton blieb kühl. »Mein leiblicher Bruder wie auch mein Bruder im Glauben. Mein armer Bruder ist eine schlichte Seele. Als Kinder gerieten wir in einen Überfall der Ui Neill, und er wurde am Kopf verwundet, so daß er jetzt nur noch einfache Arbeiten verrichten kann und solche, die viel Kraft erfordern.«

Schwester Etromma schob die eisernen Riegel an der Zellentür zurück.

»Ruf mich, wenn du wieder gehen willst. Bruder Cett oder ich sind in Hörweite.«

Sie öffnete die Tür, und Fidelma trat in die Zelle. Einen Augenblick blinzelte sie in den Lichtstrahl, der durch das vergitterte Fenster in der gegenüberliegenden Wand fiel.

Eine überraschte Stimme rief aus: »Fidelma! Bist du das wirklich?«

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